Kilometer 123

Eingegangene Nachrichten

Ester

Warum ist dein Handy seit gestern Nachmittag aus? Muss dich dringend sprechen. Ruf mich an.

 

Ester

Bitte, bitte, bitte. Wo steckst du?

Warum meldest du dich nicht?

 

Ester

Was ist los? Warum lässt du mich warten?

Ich muss dich unbedingt sprechen.

 

Ester

Ich möchte gerne wissen, was mit dir los ist. Zwing mich nicht, deine Frau anzurufen! Ruf an! Es geht mir sehr schlecht.

«Was?»

«Da Ihr Mann sicherlich längere Zeit hier im Krankenhaus bleiben muss, rate ich Ihnen, seine persönlichen Sachen mitzunehmen.»

«Der Anzug ist hin, den könnt ihr wegwerfen. Auch die Schuhe.»

«Gut. Aber ich meinte nicht nur seine Kleidung.»

«Sondern?»

«Nun, er hatte seine Brieftasche dabei, das Handy, die Schlüssel …»

«Ich verstehe.»

«Wenn Sie bitte mitkommen wollen, dann händige ich Ihnen die Sachen aus.»

«Können Sie sie mir nicht hierherbringen?»

«Das geht leider nicht. Sie müssen die Empfangsbestätigung unterschreiben. Und da wäre der Abgleich.»

«Welcher Abgleich?»

«Das ist Vorschrift, Signora. Ihr Mann hatte seine Brieftasche im Jackett. Darin befand sich ziemlich viel Geld, dreitausend Euro, wenn ich mich recht erinnere, außerdem zwei Kreditkarten, die Bankkarte, ein Scheckheft, der Führerschein … Bei der Einlieferung wird alles dokumentiert, damit es bei der Rückgabe keine Missverständnisse gibt … Verstehen Sie?»

«Ja, ist gut. Ich komme mit.»

– Ja. Wer ist da?

– Sind Sie Signora Davoli?

– Ja. Aber wer sind Sie?

– Ich heiße Ester Russo.

– Wer?

– Ester Russo. Wir haben uns mal kennengelernt, erinnern Sie sich nicht?

– Ach ja, natürlich. Wie geht es Ihnen?

– Gut. Und Ihnen?

– Danke gut. Was kann ich für Sie tun?

– Eigentlich wollte ich Ihren Mann sprechen.

– Giulio?

– Hm, ja.

– Sagen Sie mir, worum es geht, ich gebe es dann weiter.

– Ich bin Anwältin, Signora, vielleicht habe ich Ihnen das bei unserer Begegnung nicht gesagt. Ich unterliege der anwaltlichen Schweigepflicht, daher …

– Ich verstehe.

– Ist Ihr Mann zu Hause?

– Nein.

– Wissen Sie, ob er noch dieselbe Mobilnummer hat?

– Ja.

– Er hat kein zweites Handy?

– Soweit ich weiß, nicht.

– Denn ich habe ihn angerufen, und er antwortet nicht.

– Er kann nicht antworten.

– Warum nicht?

– Sie wissen es nicht?

– Was?

– Es stand sogar im «Messaggero»!

– Was denn?

– Um Gottes willen! Wie geht es ihm?

– Er ist Gott sei Dank nicht in Lebensgefahr. Er hat eine Gehirnerschütterung, eine Fraktur des Kiefers und drei gebrochene Rippen. Und er kann momentan nicht sprechen.

– O Gott, wie furchtbar!

– Ich wusste gar nicht, dass Sie so eng mit Giulio befreundet sind.

– Nein … es ist nur … wir haben eine sehr gute Beziehung … beruflich … und eine so unerwartete Nachricht … Sie verstehen …

– Ich verstehe.

– In welchem Krankenhaus liegt er?

– Warum möchten Sie das wissen?

– Ich muss ihn besuchen … es gibt da ein schwerwiegendes Problem, seine Arbeit betreffend, für das eine Lösung hermuss …

– Die Ärzte haben vorläufig alle Besuche verboten, sie befürchten Komplikationen wegen der Kopfverletzung … Darum habe ich Ihnen eben angeboten, Ihre Nachricht weiterzugeben. Ich kann jederzeit zu ihm, wenn es wichtig ist …

– Sehr wichtig.

– Nun, dann …

– Hören Sie, dann machen wir es so: Bitte sagen Sie ihm, dass er sich, sobald er kann, unverzüglich mit mir in Verbindung setzen soll, egal auf welchem Weg.

– Wie sagten Sie, war Ihr Name?

– Ester Russo.

– Ich richte es ihm aus.

– Vielen Dank, Signora. Das ist wirklich sehr freundlich.

– Nein.

– Wie Sie meinen.

Schwerer Verkehrsunfall

9. Januar 2008  Bei Kilometer 123 der Via Aurelia, Richtung Rom, wurde gestern kurz nach Mitternacht ein Panda von einem auffahrenden Auto mit hoher Geschwindigkeit gerammt. Am Steuer des Pandas saß der bekannte Bauunternehmer Giulio Davoli.

Der auffahrende Wagen fuhr sofort weiter, Davoli aber verlor die Kontrolle über sein Auto und stürzte die Böschung hinunter. Der Fahrer eines vorbeikommenden Autos leistete Erste Hilfe, Davoli wurde ins Krankenhaus gebracht, wo die Ärzte noch keine gesicherte Diagnose stellen wollten.

Die Redaktion hält es für geboten, den Namen des Retters zu nennen, es ist Signor Anselmo Corradini aus Rom. In Zeiten zunehmenden Rowdytums im Verkehr, wo Menschen bei schweren Unfällen einfach weiterfahren, hat er angehalten und unverzüglich Hilfe geleistet. Mehr noch: Da der Krankenwagen sich verspätete, zögerte Corradini nicht, den Verletzten in sein Auto zu tragen und selbst ins Krankenhaus zu fahren.

– Ja, das bin ich.

– Sind Sie derjenige, der Erste Hilfe …

– Herrje! Das ist jetzt schon der vierte Anruf! Was ist los mit euch, habt ihr zu viel Zeit?

– Bitte entschuldigen Sie, ich wollte nur wissen, ob Sie das waren oder nicht.

– Ich war’s nicht. Ich hab nicht mal ’n Auto!

[…]

– Hallo, spreche ich mit Anselmo Corradini?

– Ja.

– Bitte entschuldigen Sie, aber haben Sie letzte Nacht einem Autofahrer geholfen, der …

– Ja, das war ich. Sind Sie Journalistin?

– Ja, ich bin von den «Radionachrichten».

– Wollen Sie mich interviewen?

– Gerne, wenn Sie so freundlich wären …

– Kein Problem. Wann wollen Sie vorbeikommen?

– Wir müssen uns nicht treffen. Ich kann das Interview auch am Telefon führen. Jetzt sofort, wenn Sie einverstanden sind.

– Gut. Ich würde nur gerne vorher ein Glas Wasser trinken. Ich bin ein bisschen aufgeregt, wissen Sie.

– Ja natürlich, ich warte.

[…]

– Hier bin ich wieder.

– Einen Moment noch, Signor Corradini, die Kollegen von der Regie fragen gerade, ob Sie uns den Namen des

– Ich habe ihn ins American Hospital gebracht.

– Danke. Fangen Sie an zu erzählen.

– Also, ich kam aus Grosseto, mit meiner Frau und meinem Sohn Nicola, er ist sechs Jahre alt und geht in die erste Klasse. Wir waren zu Besuch bei der Schwester meiner Frau in Grosseto, der es gerade nicht gut geht. Und es regnete. Es war nicht angekündigt, dass es regnen würde. Da kam ganz schön was runter, die Sicht war schlecht … Ist das okay so, Signorina? Hallo? Hallo? Verdammt, die Leitung wurde unterbrochen.

«Warten Sie, ich sehe nach. Das ist Zimmer 210. Aber Besuche sind momentan leider nicht gestattet.»

«Was soll das heißen?»

«Das heißt, dass Besuche nicht gestattet sind.»

«Aber ich bin seine Cousine!»

«Selbst wenn Sie seine Schwester wären …»

«Aber Giuditta geht auch zu ihm, wann sie will.»

«Wer ist Giuditta?»

«Seine Frau.»

«Signora Davoli hat eine Sondergenehmigung.»

«Ich muss ihn aber unbedingt sehen!»

«Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. So lautet die Anordnung. Guten Tag.»

«O Gott! Was soll ich denn jetzt machen? Wie soll ich das aushalten?»

«Bitte machen Sie hier keine Szene. Und vor allem fangen Sie jetzt nicht an zu weinen!»

[…]

«Signora?»

«Ja?»

«Beruhigen Sie sich. Ich habe gehört, was Schwester Matilde eben gesagt hat. Sie ist ein Biest. Wenn Sie wollen …»

«Entschuldigung, wer sind Sie?»

«Ich heiße Giacomo, ich bin Pfleger hier. Ich betreue Signor Davoli.»

«Sie könnten mich zu ihm bringen?»

«Nein. Das wäre zu gefährlich. Außerdem kann er nicht sprechen, wegen des gebrochenen Kiefers. Er kann aber schreiben. Wenn ich ihm etwas ausrichten soll …»

«Natürlich.»

«Himmel, das ist zu schön, um wahr zu sein. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Hier, nehmen Sie das.»

«Danke. Und seien Sie unbesorgt.»