Als Ravensburger E-Book erschienen 2012
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2012 Ravensburger Verlag GmbH
Zitate aus Ulf Diederichs (Hg.): Französische Märchen, Bd 1: Märchen vor 1800. Übersetzt von Felix Karlinger, Ernst Tegethoff u.a. Eugen Diederichs Verlag München 1989, Seite 374, 310, 288
Landkarte: Gottfried Müller
Lektorat: Iris Praël
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH
ISBN 978-3-473-38452-5
www.ravensburger.de
ES TRETEN AUF
DIE VERSAILLER GESELLSCHAFT
Monsieur de Buffon
Naturforscher, Verfasser der „Allgemeinen und speziellen Geschichte der Natur“ (Histoire naturelle générale et particulière)
Thomas Auvray
Schüler der königlichen Zeichenakademie, Assistent von Monsieur de Buffon
Charles Auvray
Thomas’ Vater, Handschuhfabrikant
Jeanne de Vaubernier
angehende Mätresse von König Louis XV.
Monsieur du Barry
Kuppler und Intrigant mit Kontakten zum Königshof
Claire de Tremins
Nichte des Grafen de Tremins
Monsieur de l’Averdy
Königlicher Finanzkontrolleur, zuständig für die Finanzierung der Jagden auf die Bestie im Gévaudan
DIE OFFIZIELLEN BESTIENJÄGER
Capitaine Duhamel
Befehlshaber über ein Regiment von Dragonern
Die Herren d’Enneval
Vater und Sohn, zwei normannische Wolfsjäger
Monsieur Antoine
Erster Arkebusier und Zweiter Jäger des Königs
IM GEVAUDAN
Etienne Lafont
Syndicus der Diözese von Mende, verantwortlich für die Organisation der Jagden
Madame de Morangiès
Adelsherrin im Schloss von Besset
Eric de Morangiès
ihr junger Neffe, Schloss von Saint-Alban
Adrien Bartand
sein Bediensteter
Jean-Joseph d’Apcher
Marquis (Markgraf), Schloss de Besque
Belle
das Rabenmädchen
Jean Chastel
Besitzer des Gasthauses La Vache Blanche
Thérèse Chastel
seine Frau
Marie, Delphine, Camille
ihre Töchter
Pierre, Bastien, Antoine
ihre Söhne
CHAPITRE I
LA BETE FEROCE
Eine wilde Bestie, unbekannt in unseren Breiten, tauchte hier auf, und niemand weiß, woher sie gekommen ist. Wo immer sie sich zeigt, hinterlässt sie eine blutige Spur der Grausamkeit.
Doch Gottes Gerechtigkeit, so sagt der heilige Augustinus, lässt niemals zu, dass Unschuldige Qual erdulden. Nur wer gefehlt hat, muss leiden. Dieser Grundsatz lässt euch keinen Zweifel: Euer Unglück kann nur aus euren Sünden kommen.
Gabriel-Florent de Choiseul-Beaupré, Bischof von Mende
Aus dem Hirtenbrief, Dezember 1764
ROTE NARZISSEN
Anne versuchte so leise wie möglich nach der Waffe zu greifen. Doch ihrer Großmutter entging das leise Geräusch von Metall, das an der Steinwand der Bauernhütte kratzte, nicht. „Wo willst du schon wieder hin, Kind?“
Anne zuckte ertappt zusammen und schloss die Hand fester um die Lanze. Nun, eine richtige Lanze war es nicht, nur ein Hütestock, an dessen Spitze ein kurzes Messer befestigt war.
„Ich sehe nur nach dem Vieh, Mémé.“
Die Alte ließ die hölzernen Klöppel, mit denen sie gerade ein Spitzenband knüpfte, in den Schoß sinken. „Schon wieder? Was ist heute nur los mit dir, Anne? Du willst doch nicht etwa aufs Feld?“
„Nein, nur in den Stall.“
„Wo ist dein Vater? Warum geht er nicht?“ Die heisere Stimme schraubte sich in die Höhe. „Jacquot!“
„Pssst! Sei doch ruhig! Du weckst nur die Kleinen auf.“ Sofort tat ihr der grobe Tonfall leid. Natürlich hatte die Alte vergessen, wo ihr Sohn heute war, in letzter Zeit vergaß sie fast alles sofort wieder. Es war ein Wunder, dass sie sich immer noch an die komplizierten Klöppelmuster erinnerte. Und natürlich machte sie sich Sorgen – in diesen Tagen lebten alle in Angst vor dem, was draußen in den Wäldern lauerte.
„Papa ist auf der Versammlung im Dorf – wegen der großen Treibjagden, das weißt du doch“, setzte Anne freundlicher hinzu. „Dieser Dragonerkapitän mit seinem Regiment will alle Männer aus den Dörfern zusammenziehen.“ Mit einer Hand schlang sie sich hastig ihr Wolltuch um die Schultern und legte es über die Haare.
„Du bleibst gefälligst hier, Mädchen! Ich erlaube dir nicht …“
„Ich komme doch sofort wieder.“
Ihre Großmutter setzte schon zum Schimpfen an, aber vor Aufregung musste sie husten.
„Vorsicht!“, rief Anne, doch es war schon zu spät. Die Klöppelrolle rutschte der Alten vom Schoß und mit der Rolle das zarte Spitzengewebe, das gerade erst zu einem Muster wurde.
Anne legte die Lanze auf dem Boden ab und stürzte zum Feuerplatz. Einen der rollenden Klöppel erwischte sie gerade noch rechtzeitig, bevor er der Glut zu nahe kam. Mémé fror so leicht und rückte deshalb mit ihrem Stuhl immer viel zu nahe an die Flammen der großen Ofenstelle.
„Beinahe wäre das gute Garn verbrannt. Warum musst du dich nur immer sofort aufregen?“
„Warum?“, krächzte die Alte. „Bilde dir bloß nicht ein, ich würde nicht merken, wie du ständig versuchst dich davonzustehlen. Gib’s zu, du willst doch nur wieder zu diesem Kerl aus der Fremde, der dir schöne Augen macht.“
Schimpfend beugte sie sich vor und tastete auf dem Boden nach ihrem Klöppelzeug. Es war schon zwanzig Jahre her, dass sie ihr Augenlicht verloren hatte. Doch für ihre Kunst brauchte sie es nicht. Ihre knotigen Finger vollbrachten kleine Wunder aus feinster Spitze – Wunder, die der Bauernfamilie Tanavelle zusätzliches Geld brachten.
„Lass!“, murmelte Anne. „Ich hebe es auf.“
Hastig sammelte sie die verstreuten Gegenstände auf. Das Garn hatte sich verheddert, das Spitzenband hatte sich an einer Stelle von den Stecknadeln gelöst, Ascheflocken hingen an dem durchbrochenen Gewebe. Behutsam pustete Anne sie weg, dennoch blieben graue Schmutzspuren zurück. Bevor sie das Spitzenband wieder glatt zog, betrachtete sie das Muster. Es waren Lilien – die Blumen der Jungfrau Maria. Schon seit Monaten klöppelte Mémé nur diese Blumenformen und betete dabei ununterbrochen, als versuche sie auf diese Weise, einen Schutzzauber für die Familie zu weben.
„Was willst du überhaupt schon wieder im Stall?“, schnappte die Alte nun. „Jacquot sagte, die Kuh kalbt noch nicht.“
„Und was, wenn Papa sich irrt? Nach trächtigen Kühen kann man nicht oft genug sehen.“ Es kostete sie viel, so ruhig zu antworten. Alles in ihr wollte aufspringen und zum Tor laufen, um sicher zum zehnten Mal an diesem Tag Ausschau zu halten – nach zwei Männern. Wenn es zwei Männer wären, wüsste sie, dass alles gut werden würde.
„Die Kuh ist schon einmal aus dem Stall entwischt“, sprach sie im Plauderton weiter. „In den letzten Tagen benimmt sie sich wie eine Verrückte. Ich wette, wenn sie könnte, würde sie sogar durchs Fenster klettern, um ins Freie zu kommen.“
„Ja, wie die Herren, so die Tiere.“ Mémé schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Jacquot ist ebenso. Und du bist fast noch schlimmer als dein Vater. Ihr seid beide leichtsinnig und könnt nicht still sitzen. Immer raus! Immer dorthin, wo die Musik spielt!“ Verächtlich spuckte sie ins Feuer. „Denkt jemand dabei an mein armes altes Herz? Als du gestern so lange fort warst, wäre ich fast gestorben vor Angst. Ich dachte schon …“
„Das sind doch Hirngespinste, Mémé, hör auf damit!“ Aber ihr Blick fiel auf die Lanze. Sie haben es nicht weit und sind nicht in Gefahr. Nicht zwei kräftige, mit Lanzen und Stöcken bewaffnete Männer.
Dennoch fröstelte sie und wandte sich rasch ab. Sie wollte nicht daran denken, nicht heute, nicht seit gestern Abend. Alles, was sie sehen wollte, war Adriens Lächeln. Sie dachte an das Flüstern, das an ihrem Ohr gekitzelt hatte, und spürte sofort wieder dieses kleine, glühende Glück in ihrem Bauch, das sie wärmte und atemlos machte.
„Womit soll ich aufhören?“, beharrte die Alte starrsinnig. „Mit dem Fürchten oder mit dem Beten? Du hast doch gehört, was der Pfarrer gesagt hat. Eine Strafe Gottes ist über uns gekommen, hat er gesagt, eine Strafe für die Sünden der Menschen. Also bleib hier! Das Ungeheuer jagt die Sünder und es wird sie alle finden und zerreißen …“
„Ich bin aber keine Sünderin, und auch die armen Kinder, die die Bestie gefressen hat, waren es ganz sicher nicht. Ich muss jetzt nach der Kuh sehen. Du weißt genau, dass vier hungrige Mäuler auf die Milch warten. Hier, bevor du das Garn entwirrt hast, bin ich wieder da.“
Sie schob die Rolle, auf der das halb fertige Spitzenband mit winzigen Nadeln festgesteckt war, wieder auf den Schoß der alten Frau.
Doch bevor sie davonrennen konnte, schnappte die Großmutter nach ihrem Handgelenk und zerrte sie nach unten, bis Anne nichts anderes übrig blieb, als vor ihr auf die Knie zu gehen. Ihre Großmutter glich einer verdorrten Wurzel, aber wenn sie so wütend war wie jetzt, hätte sie immer noch ein bockendes Maultier am Strick halten können.
„Was bildest du dir ein, du hochmütiges Gör? Die Kinder büßen für die Sünden ihrer Eltern! Und du willst keine Sünderin sein, Anne? Alle Menschen sind Sünder von Geburt an, merk dir das, und ihr jungen Mädchen ganz besonders. Sieh mich gefälligst an!“
Trockene, kräftige Hände legten sich schmerzhaft fest um ihr Gesicht, zwangen sie, den Blick zu heben. Es war unheimlich, in die blinden Augen zu schauen, zwei granitgraue, stumpfe Scheiben. „Oh, ich kenne euch jungen Leute. Ihr habt alle zusammen keinen Anstand mehr und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Deine Mutter war mit dir schwanger, noch bevor Jacquot wusste, wie ihm geschah. Bilde dir also bloß nicht ein, ich wüsste nicht, warum du hier im Zimmer herumrennst wie eine rollige Katze. Du willst zu dem Kerl, mit dem du schon seit dem Sommer herumschwänzelst. Wartet er unten auf dich?“
„Was denkst du nur!“, stieß Anne hervor. Viel zu dicht neben ihr knisterte das Feuer und wärmte ihre linke Schulter, aber ihr war auch aus einem anderen Grund plötzlich so heiß, dass ihr der Schweiß ausbrach. Ich bin keine Sünderin. Weil wir verlobt sind, ist es vor Gott kein Unrecht. Dennoch schämte sie sich, dass sie hier, von Angesicht zu Angesicht mit ihrer alten Großmutter, wieder an die Stunden mit Adrien denken musste. Seine warme Haut an ihrer kühlen und seine Lippen …
Sie hatte das Gefühl, dass die blinden Augen direkt in sie hineinsehen konnten.
„Ich habe doch nur getanzt, na und?“, setzte sie trotzig hinzu.
„Getanzt!“, spottete Mémé. „Wenn er ein anständiger Kerl wäre, hätte er dich längst geheiratet. In deinem Alter hatte ich schon sechs Kinder. Wenn ein Mann eine Frau will, dann zögert er nicht.“
Anne machte sich grob los. Das Schlimme war, dass ihre Großmutter es stets schaffte, mit einem Wort, einem Satz oder nur einem spöttischen Lachen den Zweifel anzufachen. Jetzt sah sie die anderen Mädchen vor sich und sich selbst in ihrer Mitte, unscheinbar mit ihrem mausbraunen Haar und der Haut, die selbst im Winter sonnenverbrannt wirkte. Und sie fragte sich tatsächlich, warum Adrien, der alle Mädchen hätte haben können, ausgerechnet sie heiraten wollte.
„Außerdem kennst du ihn doch kaum. Immer unterwegs, der Kerl, und alle paar Wochen schneit er rein wie aus dem Nichts und tut so, als wäre er nie weg gewesen. Woher willst du wissen, dass er nicht in jedem Dorf eine sitzen hat?“
„Das ist nicht wahr, er …“
Mémé winkte ab. „Er macht dir nur Hoffnungen, um dich ins Heu zu kriegen. Und eins kannst du mir glauben: Nicht jeder ist danach so anständig wie dein Vater, der sein Mädchen vor den Pfarrer geführt hat, bevor man den dicken Bauch sah. Und besonders hübsch bist du ja auch nicht …“
„Woher willst du das wissen?“, fauchte Anne.
Mémés heiseres Lachen ging in ein Husten über. „Ich habe immer noch Ohren. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Burschen dir nachpfeifen. Und ich habe auch noch keinen gehört, der Lieder auf deine Schönheit gesungen hätte.“
Das reichte! Anne sprang auf. „Adrien wird mich heiraten! Heute auf der Versammlung wird er Vater fragen.“
Jetzt war es raus – und Mémés zufriedenes Lächeln zeigte ihr wieder einmal, dass ihre Großmutter zwar vergesslich war, aber immer noch schlau wie ein Fuchs. Jetzt war sie nicht mehr nur auf die Alte wütend, sondern vor allem auf sich selbst.
„Ach, da lang läuft der Hase“, stellte Mémé mit einem listigen Grinsen fest. „Na, aber selbst wenn der Kerl dir nicht nur Honig ums Maul geschmiert hat, um dich rumzukriegen: Glaubst du wirklich, dein Vater wird dich einem fahrenden Hungerleider zur Frau geben?“
Diesmal war Anne besonnen genug, um sich zusammenzureißen. „Er hat Arbeit!“, erwiderte sie betont ruhig. „Beim Grafen de Morangiès, das hat er mir gestern gesagt.“
„Warum fragt er dich dann jetzt erst?“
Weil ich endlich so klug war, mit einem anderen zu tanzen, dachte Anne. Weil er gestern begriffen hat, dass ich nicht ewig warte und dass auch andere Füchse um den Hühnerstall schleichen. „Na, weil er sicher sein wollte, dass er genug Geld für die Hochzeit und ein Haus hat. Du wirst es schon noch merken: Adrien ist ein anständiger Kerl. Außerdem ist er großzügig und stark und freundlich zu allen Kindern. Er ist ehrlich, er meint es ernst mit mir und …“
„… du hast dein Herz verloren.“ Mémé schüttelte mit einem tiefen Seufzer den Kopf. „Ach, ma puce, du denkst, das Leben ist nur zum Tanzen und Küssen da, du wirst dich noch wundern. Aber wer hört schon auf eine alte Vettel wie mich, was? Das glaubst du doch, dass deine Mémé nicht mehr ganz richtig ist?“
Anne antwortete nicht und für einige Augenblicke war die Stille schwer und dicht, nur das Knistern des Feuers füllte den Raum. Dann seufzte Mémé wieder, ihre Schultern sanken ein bisschen herab. Nachdenklich wandte sie ihr Gesicht dem Feuer zu, als würde sie die Flammen betrachten. Oder ihre Erinnerungen an eine bessere Zeit, dachte Anne. Als sie selbst noch jung war und das schönste Mädchen im Gévaudan. Seltsamerweise verflog ihr Zorn bei diesem Gedanken. Stattdessen ergriff sie Zärtlichkeit für die kleine, zähe Gestalt neben dem Feuer.
„Ach, ihr Jungen macht doch längst, was ihr wollt!“, sagte die Alte nach einer Weile. Und zu Annes Überraschung klang ihre Stimme diesmal sanfter. „Falls es wirklich so ist, wie du sagst, mache ich dir ein Spitzenband zur Hochzeit. Aber wenn du mit deinem Adrien nicht glücklich wirst – dann denk an meine Worte!“
Anne brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was die Großmutter ihr auf ihre verdrehte Art sagen wollte. Wenn Mémé nicht gegen die Heirat war, dann würde ganz sicher auch ihr Vater Ja sagen!
„Ein Spitzenband?“, rief sie und lachte. „Oh ja, aber eines mit Narzissen statt Lilien, Mémé! Und du wirst sehen – schon im nächsten Winter hast du einen Urenkel.“
Mémé schnaubte und winkte ab. „Ach, rede keinen Unsinn, im nächsten Winter bin ich längst schon bei Gott dem Herrn.“
Aber Anne entging nicht, dass ein Lächeln die faltigen Züge erhellte.
Sie hob die Lanze auf und machte, dass sie zur Tür kam, bevor Mémé sich wieder an den eigentlichen Grund des Streits erinnerte. Ihre Holzschuhe klapperten auf der Stiege, die von den Wohnräumen zum Stall im unteren Teil des Hauses führte. Erst als ihr der warme Duftdampf von Kuhfell und der stechende Ziegengeruch in die Nase stiegen, hielt sie inne und schloss die Augen. Ihre Hand glitt zum Hals und streichelte die Haut, so wie Adrien es gestern getan hatte. Adrien.
Der leise Zweifel, den der Streit mit Mémé in ihr geweckt hatte, verschwand und sie lächelte bei der Erinnerung an Musik und Tanz.
Männergesichter tauchten vor ihr auf: ein Bursche mit einem netten Lächeln, ein Soldat, der sie herumgewirbelt hatte, und ein reisender Herr mit einem teuren Mantel. Doch ihre Gesichter verloschen und zurück blieb nur Adrien – seine Augen, braun wie Wildkastanien, die sichelförmige Narbe, die seinen linken Mundwinkel ständig leicht zum Lächeln brachte, und das lockige, dunkle Haar, das er im Nacken mit einem Lederband bändigte. Sie legte die Wange an den Stock.
„… que Ricdin-Ricdon je m’appelle“, sang sie leise das Lied, mit dem er sie so oft zum Lachen brachte und das nur ihnen beiden gehörte. Fast konnte sie wieder das Flüstern an ihrem Ohr spüren, nachdem er sie grob aus den Armen des Soldaten gezogen hatte. Sie war erschrocken über seine Wut gewesen, fast ein wenig fremd war er ihr erschienen, und seine Hand hatte sich schmerzhaft fest um ihren Arm geschlossen. Aber auch seinen Zorn und die Eifersucht hatte sie genossen. Willst du mich, Anne? Ich werde mit deinem Vater sprechen. Gleich morgen. Wenn du mich nur willst!
„Adrien Bartand“, flüsterte sie, „und Anne – seine Frau.“
Aber nur, wenn Vater zustimmt.
Das Klappern einer Tür ließ sie herumfahren. Ihr Vater sah immer zuerst nach dem Vieh, bevor er in die Stube ging. Aber die Hoffnung, dass er mit Adrien zurückgekehrt war, um das Heiratsversprechen mit Schnaps zu besiegeln, wurde enttäuscht.
Kalter Wind pfiff durch den Türspalt, der wie ein scharfer Schnitt im Dunkel des Stalls gleißend weiß wirkte. Und die trächtige Kuh war fort! Anne packte die Lanze fester und stürzte durch die Stalltür in den Hof.
Auf ihrem Gesicht glühte noch die Wärme des Feuers und ließ den Wind doppelt so eisig erscheinen. Es war ein klirrend kalter Januar. Schnee fiel in großen, trockenen Flocken vom Himmel und überdeckte bereits wieder alle Spuren. Das verrückte Tier hatte das Hoftor aufgedrückt. Das hatte gerade noch gefehlt! Anne lief zum Tor. Als sie vorhin hier gewesen war, um nach den Männern Ausschau zu halten, konnte man noch den Weg erkennen, der bergab zum Dorf führte. Nun waren die Häuser nicht mehr zu sehen, nur den Glockenturm der Kirche konnte sie talabwärts im Nebel erahnen. Die Berge, die man an klaren Tagen in der Ferne sehen konnte, waren ganz verschwunden. Anne zögerte nur einen Augenblick, bevor sie das Tor aufstieß. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie den Hof verließ und die Grenze zwischen Sicherheit und Wildnis überschritt. Aber dann hob sie entschlossen das Kinn. Sie wäre nicht Anne Tanavelle gewesen, wenn sie die Kuh draußen in der Kälte gelassen hätte!
Schon nach wenigen Schritten umgab sie milchiges Weiß. Schneefinger schienen nach ihr zu greifen. Fröstelnd hastete sie bergauf und versuchte dabei ihre Holzschuhe nicht zu verlieren.
Dann sah sie das Tier – hellbraunes Fell, zwei Hörner mit schwarzen Spitzen. Vor lauter Erleichterung zitterten ihr die Knie. Die Kuh war noch nicht weit gekommen, sondern trottete gerade auf einige der zerfransten Buchen auf der Anhöhe zu.
„Na warte!“, murmelte Anne und rannte wieder los. Schnee rutschte ihr in die Schuhe, Kälte biss in ihre Finger. Zu dumm, dass sie ihre Fäustlinge zu Hause gelassen hatte! Atemlos erreichte sie die Anhöhe und stieß einen leisen Pfiff aus. Das kleine Aubrac-Rind blieb auf der Stelle stehen und äugte träge zu seiner Herrin hinüber. Der Strick baumelte ihm um den Hals, ein wolliges Ohr zuckte. Das weiße Fell, das Augen und Maul umrandete, und die schwarze Nase ließen das Tiergesicht wie eine Gauklermaske erscheinen.
Anne raffte den Rock und stapfte weiter, die Lanze benutzte sie als Stock. Unter der Schneedecke traf das Holz felsigen Untergrund. Mit klappernden Zähnen erreichte sie das Tier und griff nach dem Strick. Doch sie hatte die Rechnung ohne ihre verrückte Kuh gemacht. Die warf sich mit einem Satz herum und trabte schwerfällig ein Stück davon. Anne musste sich beherrschen, um nicht loszubrüllen.
„Jolie!“, rief sie der Kuh leise hinterher. „Komm her, Jolie – meine Hübsche!“, lockte sie das Rind. Und tatsächlich blieb das Rind wieder stehen und wandte den Kopf. Anne war mit wenigen Schritten bei ihm, erwischte den Strick und versetzte ihm mit der Lanze einen kleinen Schlag auf die Kruppe. „Dummes Tier!“, schimpfte sie. „Was suchst du hier draußen? Wenn die Wölfe dich und dein Kalb fressen, haben wir keine Wintermilch.“
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich ein ganzes Stück vom Haus entfernt hatte. Der Wind rauschte lauter als zuvor in den Baumkronen, Schnee knisterte, als ein jäher Windstoß über die Kuppe wehte. Ein Geräusch ließ sie erschrocken herumfahren. Es war nur ein Rabe, der davonflatterte, aber Anne ertappte sich dabei, wie sie sich an die Kuh drängte, ihre Hand in das wollige Fell gekrampft.
Ich wette, dieses Ungeheuer, vor dem sich alle fürchten, ist nur ein gewöhnlicher Wolf. Das hatte Adrien gesagt. Der Gedanke an ihn war wie ein sicherer Ort.
„Sei kein Feigling, Jolie!“, raunte sie der Kuh zu. „Los, zurück in den Stall!“
Es war beruhigend zu sehen, wie der kleine Hof mit jedem Schritt bergab näher kam. Mémé hatte sicher in ihrer Arbeit innegehalten und lauschte besorgt auf die Schritte ihrer Enkelin.
„Ich komme schon“, flüsterte Anne und zog ungeduldig am Strick.
Ein grober Schlag gegen die Schulter nahm ihr den Atem und ließ sie straucheln. Erst dachte sie, die Kuh sei gestolpert und hätte sie dabei gestoßen, aber im selben Moment wurde der Strick mit einem schmerzhaften Ruck durch ihre geschlossene Faust gerissen. Sie verlor das Gleichgewicht, hart schlug ihr Knie gegen den Fels, aus dem Augenwinkel sah sie die Kuh davonstürmen. Doch neben ihr waren immer noch Atem, Fell und Wärme, eine Gegenwart. Mit einem Keuchen wälzte sie sich herum. Ihr Schuh blieb im Schnee stecken. Ein Schemen huschte am Rand ihres Gesichtsfeldes davon. Irgendetwas umkreiste sie. Doch erst als sie das Knurren hörte, begriff sie. Ohne nachzudenken, riss sie die Lanze hoch. Holz traf mit einem dumpfen Laut. Der Geruch nach wildem Tier stach ihr in die Nase. Fangzähne blitzten auf, viel zu nahe an ihrem Hals – und schnappten genau in dem Augenblick zu, als sie den Arm hochriss und sich zur Seite warf. Die Fänge gruben sich in ihren Arm. Ein greller Schmerz durchzuckte sie. Mit aller Kraft schlug sie mit der Faust und traf. Der Biss lockerte sich, das Untier ließ los und wich zurück. Und während sie sich verzweifelt auf die Knie hochrappelte, erkannte sie mit absoluter Sicherheit, dass es kein Wolf war, kein Wolf sein konnte.
Die wilde Bestie, hörte sie Mémé flüstern. La Bête Féroce! Es war seltsam, dass sie kein Entsetzen verspürte, nicht einmal Angst, sie wusste nur, dass sie nicht sterben durfte – nicht heute, nicht hier, nicht ohne das Spitzenband aus Narzissen und Adriens Kuss am Hochzeitstag. Der Schrei, der jetzt aus ihrer Kehle kam, war rau und dunkel und gab ihr die Kraft, das Holz hochzureißen und nach dem Ungeheuer zu stoßen. Das Messer an der Spitze traf auf Widerstand. Mit aller Kraft stieß sie noch einmal zu, kam tatsächlich auf die Beine – und sah voller Entsetzen, wie das Messer sich löste und in den Schnee fiel. Die Bänder, die das Messer am Stock fixiert hatten, waren aufgegangen.
Ihr zweiter Schuh rutschte ihr vom Fuß. Geistesgegenwärtig packte sie ihn, schleuderte ihn gegen den breiten Schädel der Bestie und drehte sich um. Barfuß rannte sie weiter, den Stock fest in der Hand. Eiswind wehte ihr in die Augen und nahm ihr die Sicht. Flocken schmolzen auf ihrer Stirn. Sie spürte Kälte an ihrer Schulter und etwas Nasses, erst warm, dann kühl im Wind. Sie war verletzt, schlimm sogar, aber sie spürte keinen Schmerz, nur eine Schwere, die an ihren Beinen zerrte, als würde sie durch zähen Moorgrund stapfen. Ich muss es bis zum Stall schaffen!
Schnee stob auf, als das Ungeheuer sie wieder zu Fall brachte, der Stock glitt aus ihrer Hand. Aber sie kämpfte und schrie mit aller Kraft, trat mit bloßen Füßen, schlug, kratzte und biss. Einmal schmeckte sie drahtiges Fell zwischen den Zähnen, einmal streiften Reißzähne über ihren Handrücken und glitten wieder ab. Sie riss die Arme hoch, um der Bestie die Augen auszukratzen und erschrak, als sie ihre Hände sah. Es sah aus, als trüge sie rote Handschuhe aus Blut. Das Zögern kostete sie einen wertvollen Augenblick. Krallen kratzten über ihr Schlüsselbein, das Gewicht des Raubtiers drückte ihr die Luft aus der Lunge. In diesem Augenblick wusste sie, dass sie verloren hatte. Fuchsrote Augen starrten sie an und das Knurren klang wie ein Wort: Sünde. Sie presste die Lider zusammen, um nicht in diese Augen blicken zu müssen. Aber auch hinter ihren geschlossenen Lidern schienen sie zu glühen wie zwei untergehende Sonnen. Heilige Muttergottes, rette mich!, flehte sie in Gedanken. Ich wollte nicht, ich wollte nie …
Sie versuchte zu schreien, als etwas hart gegen ihre Kehle schlug und ihr die Stimme und den Atem nahm. Ihr Kopf fiel zur Seite. Es wurde warm an ihrem Kinn, ihrem Hals. Sie tastete mit der Hand danach und fand eine Wunde, doch seltsamerweise fühlte sie keinen Schmerz. Benommen blinzelte sie. Vom Kampf zerwühlter Schnee türmte sich neben ihr auf. Sie bildete sich ein, Narzissen wie aus Spitze und Eiskristallen zu sehen; gleichzeitig zog eine Zukunft an ihr vorbei, die niemals sein würde: Adrien und sie an einem milden Frühlingsmorgen, wie sie in Sonntagskleidung die Dorfkirche betraten. Ihr erstes Kind, das sie in den Armen hielt, an einem Schneetag wie heute. Mémé, die ihren Urenkel in der Wiege segnete. Sie sah das zweite Kind und das dritte. Sie sah Weihnachtsfeste und Sommerernten, Tänze am Johannesfeuer und Mondstunden mit Adrien hinter den zugezogenen Bettvorhängen. Tag um Tag rann unwiderruflich in den Schnee und versickerte für immer. Neue Narzissen erblühten an dieser Stelle wie Grabblumen für die geraubten Jahre. Sie waren schön und unberührt – und so rot wie die Augen des Todes.