Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2017
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ISBN Printausgabe 978-3-499-25722-3 (3. Auflage 2013)
ISBN E-Book 978-3-644-40019-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40019-1
«Wie lange bleiben Sie drüben auf der Insel?», fragte der Mann im blauen Overall und hielt seinen Quittungsblock vor den dicken Bauch. Der Wind griff ihm zwischen die dünnen Blätter, und ein paar Regentropfen ließen die Kugelschreiberschrift verlaufen. Der Junge neben ihm musterte die Besucherin neugierig.
«Ich hab keine Ahnung», musste Finja zugeben.
«Ab dem 28.12. wird es hier proppevoll, die Garagen sind dann alle reserviert. Wenn Sie also bis ins neue Jahr bleiben, kann ich Ihnen nur einen Außenstellplatz anbieten.» Der Blick, den er nun auf Finjas BMW-Flitzer warf, sprach Bände. Er war es wahrscheinlich gewohnt, dass Besitzer solcher Wagen besonderen Wert auf eine Fünf-Sterne-Unterkunft für ihren fahrbaren Untersatz legten, mit Heizung womöglich und Ferrari-Postern an den Wänden.
«Nicht so schlimm», fand Finja. Dann folgte sie dem blonden Jungen, der auf einem Fahrrad voranfuhr und ihr eine etwas matschige Parklücke am Ende des Grundstückes zuwies. Es blieb nicht mehr viel Zeit, in zwanzig Minuten ging die Fähre, und der Weg von den Garagen zum Anleger führte ein ganzes Stück den Deich entlang. Finja schnappte ihren Rollkoffer und die Handtasche, schloss den Wagen ab und kehrte dem Auto den Rücken zu.
Sie stieg den grünen Wall hinauf, auf dessen anderer Seite aufgewühlte, graubraune Gischt an den Grassoden leckte. Es waren nur wenige Menschen am Hafen unterwegs. Die meisten sahen wie Einheimische aus, obwohl Finja sich nicht ganz sicher war, ob man das wirklich an Äußerlichkeiten erkennen konnte. Ein Insulaner hatte ihr mal erzählt, die Touristen unterschieden sich darin, dass sie wetterfeste Anoraks in Marinefarben und Wollmützen trügen, um nicht als Urlauber entlarvt zu werden. Die Tarnung würde aber spätestens dann auffliegen, wenn sie laut «Moin, moin!» riefen. Das sagte an der Küste nämlich eigentlich niemand. Hier war man nicht so redselig und beließ es bei einem einzelnen herausgepressten «Moin» – wenn überhaupt.
«Warten Sie», hörte sie plötzlich eine Kinderstimme hinter sich. Der Junge mit dem Fahrrad hatte ihre Verfolgung aufgenommen. Schwer musste er gegen den Wind antreten, eine Böe wehte ihn fast vom schmalen Kamm des Deiches. Angestrengt atmend blieb er schließlich vor Finja stehen. «Mein Vater schickt mich. Sie haben Ihr Handy im Wagen liegenlassen!»
So? Hatte sie das? «Ist der Parkplatz bewacht?»
«Klar», nickte der Junge. «Mein Vater und ich drehen alle zwei Stunden eine Runde. Dann haben wir noch Videokameras, Alarmanlagen und vor allen Dingen Käpt’n Blaubär!»
«Käpt’n Blaubär?»
«Unsere Dogge. Die ist nachts zwischen den Wagen unterwegs. Da traut sich keiner übern Zaun.» Er sah ein bisschen stolz aus. «Was ist jetzt? Sie können mir auch Ihre Wagenschlüssel geben, dann hole ich das Ding raus und bringe es Ihnen. Mit dem Rad bin ich schneller.»
Finja überlegte. Brauchte sie ihr Handy überhaupt? Hatte sie es vielleicht sogar in unbewusster Absicht auf der Mittelkonsole liegenlassen? Weil Marcus bislang nicht angerufen hatte. Seit vier Stunden lag zu Hause dieser Zettel auf dem Küchentisch. Wenn er gewollt hätte, dass sie bleibt, hätte das Handy längst geklingelt. Aber womöglich war ihm bislang noch nicht einmal aufgefallen, dass sich seine Frau aus dem Staub gemacht hatte. Einen Tag vor Heiligabend.
Mist, es wäre so einfach gewesen, wenn sie sich hätte rausreden können. Hektik am Hafen, Handy vergessen, keine Zeit, es zu holen. Dank des blonden Jungen hier musste sie sich nun eingestehen, dass es anders war.
«Ist schon okay. Auf der Insel hat man doch sowieso einen miesen Empfang.» Finja holte ihr Portemonnaie heraus und drückte dem Jungen zwei Euro in die Hand. «Dafür, dass du bei diesem Schmuddelwetter hinter mir hergeradelt bist.»
Die Münze war schnell in der Hosentasche verschwunden. Mit dem Wind im Rücken fuhr der Junge davon.
Finja marschierte weiter Richtung Fähre. Kein Handy, kein Laptop, keine Termine, so lief es sich ausgesprochen leicht. Ein zerrupfter Tannenbaum, behängt mit kahlen Glühbirnen, tanzte windschief am Molenkopf. Dahinter lag das kleine weiße Schiff in der Nordsee. Ein Mitarbeiter der Reederei, der es wohl gut mit den Reisenden meinte, beschallte den Hafen mit einer scheppernden Version von Last Christmas. Wirklich weihnachtlich stimmte das nicht. Dazu fehlte der Schnee, dazu fehlte die Ruhe, und – ja, leider – dazu fehlte vor allem Marcus. Der Regen machte Finja nichts aus, im Gegenteil, mit seiner Hilfe konnten sich die Tränen auf dem Gesicht wenigstens tarnen.
Villa Seemannsbraut hieß Finjas Quartier. Es war ein geducktes Backsteinhäuschen mit Holzveranda davor, eigentlich keine echte Villa, aber sehr einladend. Das Apartment befand sich im ersten Stock, und es gab in den zwei Zimmerchen mit Kochecke und Bad keinen Winkel, in dem nicht mindestens ein Leuchtturm zu sehen war. Die Topflappen, die Garderobenhaken, die Bettwäsche, sogar das Toilettenpapier war mit einem rot-weißen Leuchtturm bedruckt.
«Schön hier», lobte Finja, denn Herr Dierksen hatte ihr den schweren Koffer nach oben getragen und dabei mehrfach erwähnt, dass seine Frau und er erst im November alles renoviert hätten. Und zwar mit der eigenen Hände Arbeit. Er sei ein geschickter Handwerker und seine Frau eine tolle Innenarchitektin. Und Finja käme nun als Erste in den Genuss der neu gestalteten Räume.
«Und Sie wollen Weihnachten wirklich ganz allein feiern?», fragte er, als er ihr die Schlüssel überreichte.
«Ich hatte in den letzten Wochen viel um die Ohren und freue mich auf ein paar ruhige Tage», erklärte Finja. Sie hoffte nur, er würde jetzt nicht auf die Idee kommen, sie aus Mitleid zu sich und seiner Frau einzuladen, obwohl es sie schon interessiert hätte, ob es bei den Dierksens auch Christbaumkugeln mit Leuchtturmmotiv gab.
«Das Großstadtleben ist bestimmt stressig», vermutete ihr Vermieter. «Was machen Sie denn beruflich, wenn ich fragen darf?»
«Ich bin Journalistin.»
«Eine rasende Reporterin!»
«Kennen Sie die Barbara?»
Dierksen nickte beeindruckt. «Die liest meine Frau immer. Daher hat sie auch die tollen Dekoideen für unser Haus.»
Finja nahm sich vor, mit der Kollegin der Wohnseiten mal ein ernstes Wörtchen zu reden.
«Falls Ihnen doch langweilig wird: Morgen an Heiligabend spielt der Musikverein im Kurpark, danach geht’s in die Inselkirche, alle Jahre wieder sozusagen. Und das Museum ist auch gleich nebenan im Pfarrhaus. Falls Sie sich als Zeitungsfrau mehr für solche geschichtlichen Dinge interessieren. Da ist eigentlich immer geöffnet, wenn nicht, klingeln Sie nebenan einfach bei der Pastorin. Die hat den Schlüssel.»
«Vielen Dank für die Tipps», sagte Finja brav.
«Und einkaufen müssen Sie heute bis achtzehn Uhr. Danach ist alles dicht, und ich glaube nicht, dass morgen noch jemand seinen Laden aufschließt. Lohnt sich nicht bei den paar Leuten.» Er grinste schief. «Wir sind hier eben nicht in Ihrer Großstadt.»
«Zum Glück nicht.»
Genau diese Worte hatte Dierksen wohl hören wollen, zufrieden nickte er Finja zu und verabschiedete sich. Seine schweren Schritte ließen die Holztreppe knarren.
Finja schaute sich um. Es gab einen Radiowecker und einen kleinen Fernsehapparat, das war es an Kommunikationstechnik.
Ein ziemlich dünner Draht zur Außenwelt, dachte sie.