Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel «Someday Jennifer» bei HarperAvenue / HarperCollins Publishers, Canada.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2020
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Someday Jennifer» Copyright © 2019 by Finnjewel Oy
Redaktion Silke Jellinghaus
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ISBN 978-3-644-40235-5
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40235-5
An einigen Tagen brauchte ich drei, manchmal vier Songs, bis ich es aus dem Bett schaffte, und an jenem Freitag, dem Tag, an dem die Zeitmaschine bei mir ankam, hatte ich bereits drei Songs auf Total 80 s FM verdöst, weil sie einfach nicht den richtigen … Wumms hatten.
Ich habe gar nichts gegen Paula Abdul, und es gibt sicher auch den richtigen Moment und den richtigen Ort für Phil Collins, aber das ist nicht 7.30 Uhr an einem Freitagmorgen. Und «Wake Me Up Before You Go-Go» von Wham ist selbst für den Halbschlaf ein bisschen zu platt … Schnarch … Im Ernst, wer auch immer den Algorithmus programmiert hat für Total 80 s FM – einem dieser Internetsender ohne DJ –, muss einen ziemlich trockenen Humor haben.
Ich hatte mir schon oft geschworen, mich in die Playlist des Senders zu hacken – das wäre ganz einfach gewesen –, aber dann hatte ich es doch nicht getan.
Aber um 8.30 Uhr, als sich der Radiowecker mit den ersten Akkorden von «Happy Hour» von den Housemartins wieder einschaltete, wachte ich doch mit so etwas wie einem Lächeln auf den Lippen auf.
Wenn ihr den Song nicht kennt, beendet sofort alles, was ihr gerade tut, und hört ihn euch auf Spotify an.
…
Wippt ihr schon mit den Zehen? Versteht ihr, was ich meine?
Ich war wach. Ich griff nach meinem Handy. Ein halbes Dutzend Facebook-Benachrichtigungen – die meisten von Facebook selbst über Veranstaltungen, die mich interessieren könnten – und zwei Likes für mein Foto vom nebelverschleierten Sibelius-Denkmal, über dem die Sonne durch die Wolken bricht und mein grinsendes Gesicht davor bescheint. Lässig, ein Typ beim Morgenspaziergang. Ein echtes digitales Meisterstück, wenn ich das selbst so sagen darf.
Ich habe mal irgendwo gelesen, dass in den letzten zehn Jahren mehr Fotos auf Facebook gepostet worden sind, als zuvor auf allen Kameras zusammen aufgenommen wurden. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder wie man so etwas messen kann. Aber es ist irgendwie befriedigend zu wissen, dass zwei Menschen, mit denen ich mal zusammengearbeitet habe, in dem beinahe unendlichen Strom bunter Pixel ausgerechnet mein Foto gelikt haben. Da war es ja die über zehn Versuche wert, die ich gebraucht hatte, um den Aufnahmewinkel richtig hinzukriegen.
Ich scrollte meine Twitter-Timeline herunter, aber nach der Lektüre einiger digitaler Wutausbrüche wechselte ich zu Instagram. Drei weitere Likes für mein Sibelius-Foto. Nett. Ich öffnete meinen E-Mail-Account. Nichts Interessantes in meiner Inbox, nur ein paar Angebote von Unternehmen, die mich wissenließen, dass sie mich als Kunden schätzten. Immer dasselbe.
Ich stand auf und ging unter die Dusche. Dann schaute ich mich im Spiegel an. Keine Rasur vonnöten. Anziehen musste ich mich auch noch nicht.
Stattdessen machte ich mir Frühstück. Das verspeiste ich immer am Tresen vor dem Fenster. Ich aß stets zwei Scheiben Toast – eine mit Käse, eine mit Schinken – und trank dazu eine Tasse Kaffee, dabei las ich die Zeitung. Die gedruckte. Ich liebe den Geruch von Druckerschwärze, das Rascheln der Seiten beim Umblättern, wie sich das Papier anfühlt.
Ich schaute aus dem Fenster, um nachzusehen, wie das Wetter war, und sah den alten Mann, der gerade seinen Morgenspaziergang machte. Ich habe vielleicht so meine Angewohnheiten, aber nach ihm und seinen Spaziergängen konnte man die Uhr stellen. Ich überlegte, wohin er wohl ging, ob er ein Ziel hatte oder ob er das Haus nur verließ, um seiner Frau zu entkommen. An manchen Tagen überlegte ich, ob er vielleicht ein ehemaliger sowjetischer Spion war, der geheime Nachrichten empfing und tote Briefkästen kontrollierte. Heute beschloss ich, dass er ein alter Feuerwehrmann war, der immer noch seine Runden drehte. Was auch immer, in jedem Fall war er ein Gewohnheitstier. Stell dir bloß mal vor, so in deinen Gewohnheiten festgefahren zu sein, dachte ich und richtete mein Messer so aus, dass es akkurat im rechten Winkel zur Thekenkante lag.
Dann wandte ich mich wieder der Zeitung zu.
Darin sah es finster aus.
Diplomatische Verwerfungen herrschten zwischen Washington und Moskau. «Säbelrasseln», nannten sie es. Die Börsen schienen nervös, und die Experten warnten vor einer neuen Rezession – «Mit dem Aufschwung kann es nicht so weitergehen», verkündeten sie (schon wieder). Die Verschmutzung der Weltmeere hatte einen Punkt erreicht, von dem aus es laut Umweltschützer «kein Zurück mehr gab». Ich überblätterte die Sportseiten und wandte mich den Comicstrips zu – zum Glück war immer noch das gute alte Phantom da draußen unterwegs und rettete die Welt. Für den Rest meines Frühstücks widmete ich mich dem Kreuzworträtsel. Ich schaffte immerhin ein paar der schwierigeren Antworten, und dann machte ich mir den Spaß, die Lücken mit irgendwelchen Zufallsworten auszufüllen, die gerade hineinpassten. In meinen Kreuzworträtseln gab es keine leeren Kästchen, niemals. Schließlich kommt ja keiner vorbei und kontrolliert die Lösung, oder?
Nach dem Frühstück zog ich mich an und ging wie die meisten Menschen direkt zur Arbeit. In meinem Fall bedeutete das, dass ich aus der Küche ins Wohnzimmer ging, wo mein Schreibtisch, der Computer und der orthopädische Bürostuhl standen.
Ich war nämlich selbständig. Das ist die Bezeichnung für Leute, die mal einen Job hatten, dann aber wegrationalisiert oder outgesourct wurden und jetzt «Ich-AGs» sind. Ich war der CEO von Ich, Inc. Ich war außerdem die Personalabteilung der Firma, die IT-Abteilung, das Rechnungswesen und der Botenjunge. Der offizielle Name meiner Firma lautete Webscoe, weil zu der Zeit, als ich noch zur Uni ging und die Firma eintragen ließ, alles «irre cool» war, was irgendwie mit dem Web zu tun hatte. Außerdem hieß auch die Firma der Figur von Richard Pyor in Superman III Webscoe – übrigens ein allgemein unterschätzter Film.
Selbständig zu sein, war großartig. Ich konnte so oft auf die Schlummertaste meines Weckers drücken, wie ich wollte. Ich konnte in Jogginghosen und T-Shirt arbeiten. Andererseits benötigt man doch auch ein gewisses Maß an Disziplin, wenn man sein eigener Boss ist. Steuern, Milch einkaufen, diese Dinge. Und ich vermisste die Bürotage von früher, die Unterhaltungen, die Witze und die langen Freitagnachmittage, an denen immer jemand ein Sixpack Bier mit ins Büro brachte, wir an unseren Schreibtischen saßen und belangloses Zeug redeten, um danach in einen Pub in der Nähe weiterzuziehen. Aber die gemeinen taktischen Schachzüge und die ewigen Meetings vermisste ich überhaupt nicht. Ich war schon ein paar Jahre – tatsächlich schon ein ganzes Jahrzehnt lang – selbständig, und es gefiel mir noch immer.
Ich schaltete den Computer ein, und während er hochfuhr, checkte ich Facebook und Twitter auf meinem Handy. Keine neuen Benachrichtigungen in der letzten halben Stunde. Auch keine neuen E-Mails. Ich öffnete die Radio-App und ließ Total 80 s FM aus den kleinen Lautsprechern im Zimmer dröhnen, die ich überall verteilt hatte. The Simple Minds mit «Don’t You (Forget About Me)». Ein großartiger Song, der durch einen meiner Lieblingsfilme berühmt geworden ist, The Breakfast Club.
Ich sang mit, loggte mich in den Laptop ein und öffnete einen neuen Tab in meinem Browser. Ohne nachzudenken, tippte ich ein F ein, der Browser vervollständigte den Buchstaben zu facebook.com, dann drückte ich auf Enter und war zurück. Nichts Neues.
Das Lied neigte sich dem Ende zu, und ich erinnerte mich, einmal gelesen zu haben, dass es eigentlich «Won’t You (Forget About Me)» geheißen hatte. Ich googelte eine Weile danach – ich wusste gern über all die wichtigen Einzelheiten aus der Popkultur der 80er Bescheid –, und dann, gerade als ich mich an meine echte Arbeit machen wollte, hörte ich den Briefkasten scheppern und einen Umschlag auf die Matte plumpsen.
Die Zeitmaschine.
Lieber Peter,
ich hoffe, dieser Brief ist eine echte Überraschung. Das war nämlich der Sinn der Übung, erinnerst du dich? Soll ich dir auf die Sprünge helfen? Kumpunotko-Highschool, Englischunterricht, April 1985. Ihr solltet eine Arbeit über das aktuelle Zeitgeschehen schreiben, und ich dachte, es wäre lustig, wenn ihr euch alle einen Brief an euer zukünftiges Selbst schreiben würdet. Wie versprochen, habe ich nicht hineingeschaut – es war ja eine sehr persönliche Angelegenheit. Der Umschlag ist also immer noch versiegelt.
Übrigens bin ich inzwischen im Ruhestand, und es hat mir sehr viel Spaß gemacht, die Klassenliste durchzugehen und mich an all die Namen und Gesichter zu erinnern. Es hat auch Spaß gemacht, euch alle aufzuspüren. Manche wohnen immer noch in Kumpunotko. Andere, wie du, leben in Helsinki und waren leicht aufzustöbern, aber wieder andere sind in Dubai, Thailand, Schottland, den USA! Viele haben neue Namen, und zwar nicht nur die Mädchen.
Jedenfalls hoffe ich, dass du Freude an deiner kleinen «Zeitmaschine» hast, und ich hoffe, es geht dir gut und du genießt das Leben. Ich habe immer große Hoffnungen in dich gesetzt, Peter.
Liebe Grüße
deine Lehrerin Hanna
Ich muss wohl volle fünf Minuten wie erstarrt in Zeit und Raum in meinem Flur gestanden haben. Das helle Morgenlicht fiel durch das Küchenfenster herein. Ich konnte den Brief nur anstarren und mich darüber wundern, dass einem ein paar Sätze einen Menschen ins Leben zurückholen können, an den man jahrzehntelang nicht gedacht hat.
Hanna … sie musste jetzt schon auf die achtzig zugehen. Mein zweiter Gedanke war, dass ich jetzt vermutlich fast so alt war wie sie damals, als sie vor unserer Klasse gestanden und uns darum gebeten hatte, diese Briefe zu schreiben.
Wie konnte das passieren?
Ich fällte die geschäftsführerische Entscheidung, den Beginn meiner Arbeitszeit zu verschieben. Machte mir noch einen Kaffee. Wie immer bei bedeutsamen Dingen wusste ich nicht, wie ich anfangen sollte. Der Küchentisch? Mein Schreibtisch? Ich entschloss mich für das Sofa. Zog meine Pantoffeln aus, legte mich hin und betrachtete den Umschlag, der in meiner eigenen, immer schon schlampigen Handschrift an mich selbst adressiert war. «Persönlich» hatte Hanna die Sache genannt.
Peter Eksell, c/o Die Zukunft!
Allein der Anblick des Umschlags versetzte mich in meine Highschool-Zeit zurück. Zunächst einmal war er braun. Niemand benutzte heutzutage noch braune Umschläge. Niemand leckte die Umschläge an, um sie zuzukleben, und man sah deutlich, dass der Absender genau das getan hatte. War das wirklich meine Spucke, meine Spucke von vor drei Jahrzehnten, die den Umschlag verschlossen hielt?
Ich konnte es nicht länger hinausschieben und riss den Umschlag auf. Der Geruch des Papiers katapultierte mich direkt an meinen Tisch in der ersten Reihe des Klassenzimmers. Sofort sah ich all meine Klassenkameraden vor mir, die grüne Tafel, Samis Grinsen, wenn er Mikke unter der Bank einen Zettel zuschob. Meinen blauen Rucksack, den ich an die Stuhllehne gehängt hatte, und auch meine beiden Bleistifte auf dem Tisch.
Ich entfaltete das Papier.
Hallo … ich!
(Entschuldige den Anfang, ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll. «Lieber Peter» kommt mir irgendwie zu formell vor, zumal ich ja mit mir selbst spreche.)
Ich bin’s, damals im guten alten Jahr 1985! Ich hoffe, es geht dir gut und du genießt dein Leben im Jahr 2015. Ehrlich, ich kann es kaum erwarten, etwas über dein Leben zu erfahren – weil es ja auch mein Leben ist!
Man muss sich nur mal vor Augen halten: Vor dreißig Jahren, als meine (deine? Unsere?) Eltern noch Kinder waren, gab es nur ein Telefon im Haus. Jetzt hat Papa ein Telefon in seinem Auto, und ich habe meinen Sinclair-Spectrum-Heimcomputer und ein Modem und kann mit anderen Menschen über meinen Computer sprechen! Mr. Laine (erinnerst du dich? Er hat uns ständig den Stinkefinger gezeigt!) hat in Naturwissenschaft gesagt, dass im Jahr 2015 alle Armbanduhren eingebaute Videotelefone haben werden wie bei James Bond. Er behauptet, dass Autos dann mit Batterien betrieben werden und dass jeder einen Haushaltsroboter hat und einen Heimcomputer, die alles am Laufen halten, sogar den Kühlschrank. Erledigen Roboter die Einkäufe für dich?
Mr. Laine hat auch gesagt, dass das Beste an der Zukunft das ist, was keiner erwartet hat. Vor dreißig Jahren hat in Finnland auch noch niemand geglaubt, dass bald jeder einen Fernseher und einen Videorecorder haben würde. Also fange ich gar nicht erst an zu raten. Aber sag mir doch bitte, ob du ein fliegendes Auto hast. Und ob deine Kinder (meine Kinder? Unsere Kinder?) die tollsten Spielsachen haben. Mit denen wir natürlich auch spielen dürfen!
Was am wichtigsten ist: Bitte sag mir, dass es die Welt noch gibt. Natürlich glaube ich nicht wirklich, dass irgendwelche Supermächte uns alle mit ihren Atomwaffen ausradieren – aber dass die Berliner Mauer gebaut wird, hätte auch keiner geglaubt, und da steht sie nun!
Ich selbst weiß noch nicht genau, was ich mal tun will. Papa ist Werbefachmann (zumindest im Moment), und Mama ist Bibliothekarin, und sie wirken beide ganz glücklich. Ich würde gern etwas Sinnvolleres tun und, na ja, irgendwie etwas Größeres. Neulich hatte ich die Idee mit dieser Telefonnummer, die man anrufen könnte und unter der einem dann – stell dir das mal vor – absolut alles beantwortet werden würde. Das klingt vielleicht verrückt, aber ich glaube, das könnte funktionieren. Man braucht ja nur einen großen Computerraum, Leute, die Zugang zu allem haben, was auf den Magnetspulen gespeichert ist, und eine von diesen Bezahlnummern.
Und natürlich einen eingängigen Namen, zum Beispiel «Fragen Sie Jor-El» (weil Superman in der Festung der Einsamkeit alles Wissen der Welt hat). Natürlich habe ich niemandem von meiner Idee erzählt (dir kann ich es ja sagen, du bist ja ich). Jedenfalls glaube ich fest daran, dass Computer die Zukunft sind, und ich würde daran wirklich gern teilhaben.
Natürlich träume ich eigentlich davon, im Filmbusiness zu arbeiten, aber es ist schon ein recht langer Weg von Kumpunotko nach Hollywood, wie du ja auch weißt. Unsere Schülerberaterin hat mir zu etwas mit Computern geraten (weil ich ein «Mathe-Ass» bin, wie sie es ausdrückt), und meine liebe Freundin Jennifer sagt das auch. Sie weiß, dass ich sogar schon die Grundlagen des Programmierens gelernt habe und mit dem Spectrum mehr machen kann, als nur Spiele zu spielen. (10 PRINT «Hallo Peter»//20 GOTO 10)!
Jennifer sagt, dass ich eigentlich alles erreichen kann, wenn ich es nur will. Sie sagt immer so nette Sachen. Sie ist die Beste Freundin, die sich ein Junge wünschen kann.
Aber ich muss jetzt los – es hat eben geklingelt, die anderen sind schon aus dem Klassenzimmer gegangen. Ich hoffe, nach der Schule Du-weißt-schon-Wen zu erwischen.
Lebe lang und in Frieden!
P
Es ist schon komisch, weil ich mich an die Unterrichtsstunde nicht mehr erinnern kann. Ich erinnere mich nicht, worüber wir sonst noch gesprochen haben, wie das Wetter an jenem Tag war. Der Brief hätte auch von einem Fremden geschrieben worden sein können (wenn auch von einem Fremden, der mein Leben einigermaßen kannte).
Bloß, als ich zu der Stelle kam, an der es heißt: «Sie ist die Beste», überwältigte mich plötzlich eine lebhafte Erinnerung daran, wie ich die Zeile geschrieben hatte, und auch daran, wie ich danach in Panik geriet. Ich hatte mir Sorgen gemacht, Hanna, die Lehrerin, könnte sie lesen. Oder, noch schlimmer, Jennifer könnte sie irgendwie zu Gesicht bekommen. Also fügte ich schnell «Freundin, die sich ein Junge wünschen kann», hinzu.
Was sie ja auch gewesen war.
Und dann kam alles wieder hoch.
Als ich noch einen Job hatte, mussten wir uns bei einer teambildenden Maßnahme einmal alle einen Löffel Zimt in den Mund stecken und uns die Nasen zuhalten. Es war merkwürdig, aber ohne Geruchssinn konnte ich gar nichts schmecken. Ich wusste nur, dass ich ein Pulver auf meiner Zunge hatte. Als sie uns sagten, wir sollten unsere Nasen loslassen, überwältigten mich alle Sinneswahrnehmungen auf einmal.
So fühlte es sich an, als meine Erinnerungen wiederkamen. Nicht nur an die Musik und die Filme – die spielten in meinem Leben ja immer noch eine Rolle –, sondern auch an die Gerüche in der Cafeteria und die Hintergrundgeräusche: das Quietschen der Converse-Sneakers auf dem Basketball-Spielfeld, das Klappern meiner Spindtür, der Geruch von Farbverdünner im Kunstraum. Und fast alle Gefühle waren ebenfalls wieder da. Natürlich empfand ich Druck, gut in der Schule zu sein, aber auch Unsicherheit darüber, was man eigentlich von mir erwartete. Ich war in ständiger Sorge, alle anderen außer mir könnten irgendein spezielles Training durchlaufen haben, bei dem man ihnen alle Fragen beantwortet hatte. Da war der Wunsch, lustige und schlaue Sachen zu sagen, damit die Leute mich mochten. Damit eine ganz bestimmte Person mich mochte.
Dann blitzten andere Dinge auf, fast im Stil der Rückblenden in Fernsehserien der 80er, wo in der Vergangenheit liegende Szenen durch einen Weichzeichner gezeigt wurden. Wie ich mit dem Fahrrad zur Schule fuhr. Wie ein Lehrer auf die Folie eines Overheadprojektors schrieb. Wie ich Mikke im Unterricht beim Schiffe-Versenken die Koordinaten zuflüsterte. Wie Sami mit seinem Playboy erwischt wurde, den er in seinem Geographiebuch versteckt hatte.
All das kam in einer Nanosekunde zurück.
Als ich mich zu erinnern versuchte, hatte mein inneres Computersystem angefangen, nach den Dateien zu suchen. Natürlich war damals alles noch auf analogen Magnetbandkassetten gespeichert, deshalb dauerte es eine Weile, die Daten zu übertragen. Aber dann, plötzlich … ping!
Ich war wieder in der Schule.
Und es war erstaunlich. Ich schwelgte ein paar Augenblicke in Erinnerungen, und was mich am meisten verblüffte, war, wie reich mein Leben damals gewesen war.
Natürlich nehmen wir das als selbstverständlich hin, wenn wir in der Schule sind – dass wir jeden Tag Teil eines engmaschigen Netzwerks von Freunden sind (na ja, nicht alles Freunde, aber ihr wisst schon …), dass jeder Klassenraum Teil eines größeren kommunizierenden Systems ist. Dass das Leben von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags ein wohlgeordnetes Durcheinander aus verschiedenen Fächern ist: theoretischen, praktischen, künstlerischen und sportlichen.
Mein Leben war so bunt, so wunderbar, so … voll! Diese Zeitmaschine, die mich zurück in die 80er katapultiert hatte, war das Beglückendste, das mir passiert war in den letzten, na ja, länger, als ich gern zurückdenken wollte.
Ich las alles ein zweites Mal, diesmal im Sitzen, aber ich konnte nicht stillhalten, also stand ich auf und lief dabei in der Wohnung herum.
Zuerst las ich noch einmal Hannas Brief. Und dann las ich noch einmal meinen eigenen Brief. Hannas. Meinen. Immer wieder. Dass Hanna geschrieben hatte: «Ich habe immer große Hoffnungen in dich gesetzt, Peter» brachte mich zum Lächeln. Sie war wirklich so ein netter Mensch. Und dann: «Jennifer sagt, dass ich eigentlich alles erreichen kann, wenn ich es nur will. Sie sagt immer so nette Sachen.» Diese Sätze waren wie ein Zaubertrank. Wie intravenös verabreichter Espresso. Ein Neustart meines jugendlichen Optimismus.
Total 80 s FM spielte jetzt pompösere Titel mit ein paar großartigen Gitarren-Songs. Und als Bon Jovis «You Give Love a Bad Name» in seinem bombastischen Gitarrenriff kulminierte, schnappte ich mir meine Luftgitarre und spielte ein Solo, auf das Richie Sambora stolz gewesen wäre. Meine Finger bewegten sich blitzschnell, meine Zähne gruben sich in die Unterlippe – «Wuuuhaaah!» –, und mein Headbanging war wild, auch wenn meine Haarpracht nicht mehr ganz so voll war wie früher. Ich fiel auf die Knie und brachte das Solo genau in dem Augenblick zu seinem Höhepunkt, als der automatische DJ von Total 80 s FM völlig gefühllos zum nächsten Song sprang.
Ich machte ein Foto von dem Brief, um ihn auf Facebook zu posten – was man eben so macht, wenn etwas Interessantes passiert. Aber dann las ich ihn erneut und entschied, dass er dafür vielleicht doch ein bisschen zu persönlich war. Die Sorge, dass jemand über mein «Fragen Sie Jor-El» lachen könnte, hallte über die drei Jahrzehnte hinweg zu mir herüber. Außerdem wollte ich nicht alle wissenlassen, dass Jennifer 1985 meine «Beste Freundin» gewesen war. Wie Hanna schon geschrieben hatte, das hier war «persönlich».
Dieser andere Satz von ihr – dass sie immer «große Hoffnungen» in mich gesetzt habe – begann an mir zu nagen.
«Auch Peter selbst hatte stets große Hoffnungen in sich gesetzt», sagte ich mit meiner besten Erzählstimme aus dem Off.
Als CEO von Webscoe verbrachte ich eine Menge Zeit allein, und mit mir selbst zu sprechen, als erzählte ich die Story eines Films, kam mir längst ganz normal vor. Einige Dinge mussten eben laut ausgesprochen werden, und warum sollte ich sie mit meiner normalen Stimme sagen, wenn ich doch auch ein paar Oktaven tiefer sprechen und ein bisschen Bedeutungsschwere hinzufügen konnte? «In einer Welt, in der …»
Ich verstummte, als ich mich in meiner kleinen Welt umsah. Meine Wohnung. Eine nette Einzimmerwohnung in einem guten Stadtteil von Helsinki, minimalistisch und asketisch eingerichtet (mit anderen Worten: Ich habe absolut kein Interesse an Inneneinrichtung).
Ein großer 21-Zoll-Fernsehbildschirm und mein Sofa nahmen zwei Drittel meines Wohnzimmers ein, der Rest war mein Büro. Ich hatte keine Vorhänge an den Fenstern, aber immerhin einen Teppich auf dem Fußboden. CD-Türme ragten zu beiden Seiten des Fernsehers auf, obwohl ich gar keine Stereoanlage mehr besaß. Seit ich das kleine, aber überraschend starke Lautsprechersystem gekauft hatte und die Songs aus dem Internet streamte, war das Hantieren mit CDs hoffnungslos archaisch geworden. Von meinen Vinylschallplatten gar nicht zu reden.
In der Küche war nur Platz für ein Tischchen und vier Stühle, von denen ich drei ebenso gut in ihren Lieferkartons hätte lassen können. Der vierte wurde ebenfalls nur selten benutzt, weil ich meine Tageszeitung meistens am Küchentresen am Fenster las und mein Abendessen auf dem Sofa vor dem Fernseher vom Tablett aß.
Ich las meinen eigenen Brief erneut. Die Zeile über Mr. Laine brachte mich zum Kichern. Am Mittelfinger hatte er wohl irgendeinen Bänderschaden gehabt oder so – sodass er der Klasse ständig den erstarrt abstehenden Stinkefinger zeigte, wenn er etwas an die Tafel schrieb. Aber er schien schlauer gewesen zu sein, als ich es damals für möglich gehalten hatte. Heimcomputer. Smart Watches. Wer hätte das gedacht.
Ich las die Zeile über cooles Spielzeug und Kinder und seufzte. Bei mir jedenfalls lag kein cooles Spielzeug herum.
Und dann war da natürlich Jennifer, meine beste Freundin. Zu der Zeit, als ich den Brief schrieb, hatte mich allein die Gewissheit, sie zu sehen und mit ihr reden zu können, morgens aus dem Bett und in die Schule getrieben. Mit ihr zusammen fühlte ich mich beinahe immer gut. Sie sagte wirklich fast nur nette Dinge. Über mich. Ob sie wohl wirklich geglaubt hatte, dass der pubertäre Trottel, der ein paar Stunden die Woche in einem Videoladen jobbte, alles erreichen konnte, was er wollte?
Ich kicherte erneut und schüttelte den Kopf. Was man alles so sagte und tat, wenn man jung war!
«In einer Welt, die …», begann ich, aber wieder brach ich ab. In Gedanken war ich immer noch bei Jennifer. Wenn ich recht überlegte, hatte es eigentlich nur eins gegeben, was ich wirklich gewollt hatte, mit aller Macht: und zwar die Freundschaft zwischen uns hin zu etwas anderem zu vertiefen. Vielleicht hatte sie also doch nicht recht gehabt.
«In einer Welt, in der Peter tatsächlich mit seiner Arbeit weitermacht …», sagte ich und steckte die Briefe wieder in den Umschlag.
Es war an der Zeit, dass Webscoe seine Türen öffnete. Rein technisch gesehen befand ich mich «zwischen zwei Projekten», weil ich gerade ein großes beendet, einen neuen Auftrag aber noch nicht hereinbekommen hatte, was ein wenig ungewöhnlich war, aber eigentlich auch mal ganz entspannend. Es fühlte sich ein bisschen so an wie in den letzten beiden Wochen der Highschool, als alle Prüfungen hinter uns lagen und die Noten vermutlich schon feststanden. Ich erinnere mich an endlose Runden Galgenraten und unzählige Papierfliegerwettkämpfe. Unser Biologielehrer riet uns, die letzten Schultage zu genießen, weil «dies die Tage sind, auf die ihr später zurückblicken und sie die ‹gute alte Zeit› nennen werdet». Und wir verdrehten alle die Augen und sagten: «Ja, ja, schon klar.»
Das Einzige, was ich für den letzten Auftrag noch zu erledigen hatte, war, eine Netzwerkdiagnose durchlaufen zu lassen und eine kurze statistische Analyse der Aktivitäten auf der Beta-Site zu erstellen. Außerdem war da offenbar ein Bug im Code … und wenn es einen Bug im Code gibt, who ya gonna call? Jeder bei W&C kannte die Antwort: Ghostbusters! Oder mich.
Ich nahm an, dass ich für all das höchstens eine Stunde brauchen (aber natürlich vier Stunden berechnen) würde, also schob ich meine Erinnerungen an die Highschool zur Seite und fing an zu arbeiten.
Ziemlich bald begriff ich, dass ich den Ernst der Lage vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Ich brauchte nur eine halbe Stunde, um den Bug zu finden – eine Zeile im Code fehlte –, die Netzwerkdiagnose durchlaufen zu lassen und die Analyse zu erstellen. (Trotzdem würde ich natürlich drei Stunden berechnen.)
Ich schickte Hannes, dem Projektmanager, der für den Kunden verantwortlich war, eine E-Mail, um ihm mitzuteilen, dass ich die Website repariert hatte. Dann wirbelte ich auf meinem Bürostuhl herum, stand auf und zog mich an, ausgesprochen zufrieden mit meinem Tagewerk.
Beim Anblick der Briefe auf meinem Schreibtisch überlegte ich, ob ich Hanna einen Dankesbrief schreiben sollte. Ich zog meine Jeans an und diktierte dabei eine kleine Rede, wie für die Oscar-Verleihung.
«Zunächst einmal möchte ich meiner wunderbaren Englischlehrerin Hanna für den großartigen Brief danken, den ich von ihr erhalten habe», begann ich. «Ich freue mich sehr, dass du immer noch die Energie hast, dich um deine alten Schüler zu kümmern. Ja, ich bin jetzt CEO meiner eigenen Firma, und obwohl ich sehr – sehr – erfolgreich bin, bin ich trotzdem der alte Peter geblieben, der damals behauptet hat, dass die Verfilmung von Wer die Nachtigall stört besser wäre als das Buch. Bin ich reich? Ich bin zwar kein Multimillionär, aber man kann guten Gewissens behaupten, dass ich nicht darüber nachdenken muss, ob ich im La Favorita auch noch den Nachtisch bestellen kann.»
Kaum hatte ich das gesagt, bereute ich es auch schon wieder. Niemand mag Angeber. Außerdem bestellt in Kumpunotkos bester Pizzeria niemand Nachtisch, weil die Pizzen dort so verdammt riesig sind. Ich zog mich fertig an, stieg in mein Auto und fuhr zum Supermarkt, um mir ein paar Bier zu kaufen, mit denen ich meinen unerwartet freien Tag feiern wollte.
Als ich meinen umweltfreundlichen VW Golf mit Vielstoffmotor parkte, musste ich daran denken, dass sich mein jüngeres Ich für die Möglichkeit den Arm abgehackt hätte, ein solch schickes Hightechauto zu fahren anstatt des abgerockten geerbten Käfers. Seit die Zeitmaschine eingetroffen war, sah ich plötzlich alles durch die Augen des jungen Peter, und größtenteils war er ziemlich beeindruckt.
Vor dem Laden stand ein Grüppchen Teenager mit tief in die Gesichter gezogenen Kapuzen, die Dosenbiere herumreichten. Ich hatte sie hier schon öfter gesehen und wusste, dass einer von ihnen in meinem Haus wohnte, also nickte ich ihnen zu und lächelte. Vielleicht zwinkerte ich ihnen sogar zu.
«Hey, alter Sack», sagte einer von ihnen. «Willste mitmachen?»
Ich erstarrte beinahe. Plötzlich hämmerte mein Herz. Mit einer Dose Bier in der Sonne abzuhängen und mit den Jungs zu chillen? Die Versuchung war groß.
«Nein danke», antwortete ich stattdessen. «Muss gleich an die Arbeit.»
Als ich mit einem Sixpack Bier wieder aus dem Laden kam, lachten die Kids und pfiffen.
«Toller Job. Wo kann man sich denn dafür bewerben?», fragte derselbe Junge, der mich eben eingeladen hatte.
«Ich verrate dir ein Geheimnis: Ich habe die Schule abgeschlossen», sagte ich und lachte ebenfalls. Die Kids lachten mit.
«Highschool, Mann. Die beste Zeit deines Lebens», fügte ich hinzu.
Sie verdrehten die Augen. «Ja, schon klar.»
Ich fuhr nach Hause und summte die Melodie von John Fogertys «The Old Man Down The Road» mit. Aber etwas, das der Junge gesagt hatte, rumorte in mir. Er hatte mich «alter Sack» genannt! Ich war kein alter Sack. Ich war 46 Jahre alt. Christopher Lloyd in Zurück in die Zukunft war auch 46 Jahre alt! Zugegeben, er hatte «Doc» Brown gespielt, den zerzausten … alten Sack.
Ich warf die Autoschlüssel auf meinen Schreibtisch, setzte mich auf dem Balkon in den Liegestuhl, schloss die Augen und öffnete eine Dose Bier. Ich würde heute ohnehin nicht mehr fahren. Aber gerade als ich den ersten und allerbesten Schluck Bier nehmen wollte, schrie jemand: «Jump!»
Dieser Jemand war David Lee Roth, und der Schrei kam aus meiner Hosentasche; der Refrain des gleichnamigen Van-Halen-Songs war nämlich mein Klingelton.
Ich holte mein Handy hervor. «Tina» stand auf dem Display.
«Hallo, Tina», sagte ich.
«Hallo, Pete, wie geht’s?»
«Sitze gerade auf dem Balkon, ein bisschen Sonne tanken. Könnte schlimmer sein.»
«Hey, könntest du vielleicht heute Abend rüberkommen und auf Sofie aufpassen, damit ich ins Fitnessstudio kann? Tim muss wieder lange arbeiten.»
Jeden Freitag, ohne Ausnahme.
«Na klar. Gibt es Abendbrot?»
«Natürlich», erwiderte Tina und lachte. «Ich dachte an gematschte Kartoffeln.»
Das war ein Familienwitz. Papa sagte immer gematschte Kartoffeln statt gestampfte Kartoffeln, und das war haftengeblieben.
«Hey, hör mal, erinnerst du dich an Hanna?», fragte ich Tina.
«Wen?»
«Hanna, die Englischlehrerin?»
«Was? Nein. Warum?»
«Ach nichts», sagte ich und fummelte an dem Brief in meiner Hand herum. «Sofie freut sich auf dich», sagte meine Schwester und fügte hinzu: «Ich natürlich auch», bevor sie auflegte. Sofie war zwölf, brauchte also eigentlich keinen Babysitter mehr, aber ich kam seit Jahren regelmäßig, um auf sie aufzupassen. Es war gewissermaßen zur Gewohnheit geworden, Routine.
Ich nahm noch einen Schluck Bier und dachte über Tina nach. Sicher musste Tim, ihr Ehemann und Vater meiner wunderbaren Nichte, nicht jeden einzelnen Freitag länger im Büro bleiben, oder? Tatsächlich hatte ich ihn einmal – na gut, zweimal – in der Kneipe ein paar Blocks von ihrem Haus entfernt gesichtet, wo er in aller Stille sein Bier trank. Aber ich wusste auch (vielleicht sogar besser als jeder andere), dass Tina ganz schön anstrengend sein konnte. Meiner Meinung nach hatte Tim seine Timmy-Zeit redlich verdient. Vielleicht wusste auch Tina, dass seine «Überstunden» eine kleine Lüge waren, und drückte ein Auge zu. Unsere Familie ist sehr gut in diesen Dingen. Der Familienteppich ist ganz uneben und holperig, nachdem jahrzehntelang kleinere Streitigkeiten und Zwiste allesamt darunter gekehrt worden sind.
Mein Telefon summte erneut. Ich griff danach und ließ es beinahe wieder fallen, als ich sah, dass es mein Boss war. Ich meine natürlich, mein «Kunde».
Tut mir leid, dass es so kurzfristig ist, aber könntest du heute reinkommen? 15 Uhr? Danke.
Da ich «selbständiger Unternehmer» bin, hätte ich sagen können, ich hätte andere Termine, aber damit hätte ich die Sache nur aufgeschoben. Denn ich fürchtete schlechte Nachrichten. Als er mich das letzte Mal zu einem Meeting einbestellt hatte, wollte er meinen Vertrag neu verhandeln, mein Zeitmanagement optimieren und meine Entlohnung anpassen; das hatte einen weiteren halben Tag Arbeit und eine zehnprozentige Lohnkürzung zur Folge gehabt (weshalb ich wegen meiner kreativen Rechnungsstellung kein allzu schlechtes Gewissen hatte).
Ich lief zum Bus.
Das Büro meines Kunden – also das, in dem ich früher gearbeitet hatte – lag zwischen dem Senatsplatz und dem Finnischen Meerbusen in einem Gebäude, das im frühen 20. Jahrhundert als Postamt errichtet worden war, gebaut für die Ewigkeit. Das Postamt selbst war vor ungefähr zehn Jahren infolge staatlicher Privatisierungsbemühungen daraus verschwunden – Rationalisierung, Downsizing, Restrukturierung –, ich wusste ja, wie sich das anfühlte. An seiner Stelle hatte hier nun eine PR-Agentur ihren Sitz. Und die war mein Ziel.
W&C war ursprünglich zur Jahrtausendwende gegründet worden, als das Internet seinen Siegeszug gerade angetreten hatte. Eigentlich hatte die Agentur Wild & Crazy heißen sollen, weil sie wie so viele Firmen in diesen unbeschwerten Zeiten nichts auf traditionelle Bürogepflogenheiten gab – eine Tischtennisplatte stand im Besprechungszimmer, die Leute konnten arbeiten, wann sie wollten, und ihre Haustiere mitbringen, es herrschte eine Keine-Schuhe-Politik, und in der Küche gab es eine große Auswahl an Kräutertees. Nach ein paar Jahren, als die Internetblase zerplatzte, wurde die Firma ein wenig ernsthafter und schaffte es, die Auswirkungen der Rezession zu überleben, indem sie ein traditionelleres Arbeitsethos einforderte. Zu dieser Zeit beschloss der Vorstand, dem Unternehmen ein neues Image zu verpassen, ohne aber den Ruf zu verlieren, den man sich erarbeitet hatte. Daher blieb man bei den eher traurigen Initialen – was zur Folge hatte, dass nun immer alle fragten: «Oh, du meinst, W&C wie Klo?»
Die Frau am Empfang begrüßte mich mit einem Lächeln. Wir kannten uns nicht – wahrscheinlich war sie eine Aushilfskraft –, daher bat sie mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen und zu warten, bis man mich abholte.
«Danke, ich kenne den Weg. Ich habe ein Meeting mit dem Chef», sagte ich und ging einfach weiter. In der Küche standen ein paar Typen um die Kaffeemaschine herum. Zwei von ihnen lehnten mit leeren Tassen am Küchentresen.
«Hey, Pete, schön, dich zu sehen», sagte einer von ihnen. Johan. Der einzige der drei Männer, den ich kannte.
«Hallo, Johan», sagte ich und nahm eine Tasse vom Stapel neben der Kaffeemaschine. Keine Kräutertees mehr, stellte ich fest.
«Dich habe ich hier ja schon lange nicht mehr gesehen», sagte er und wandte sich dann an die anderen beiden. «Pete ist unser Internetguru, müsst ihr wissen.»
Die beiden jungen Männer nickten mir zu. Kein Händeschütteln.
«Ich hatte in letzter Zeit viel mit diesem Bankprojekt zu tun», erklärte ich. «Wie läuft es denn bei dir?»
«Wie immer, wie immer. Ich rackere so vor mich hin. Du weißt schon. Die Kunden wollen immer mehr für immer weniger Geld, wie üblich.»
«Denk dran, dass du auch mein Kunde bist», bemerkte ich zwinkernd.
Johan lachte. Dann zeigte er auf meine Armbanduhr.
«Nette Uhr. Wie viel Uhr ist es?»
Ich schaute nach. «Ungefähr fünf vor…»
Als ich es sagte, merkte ich, dass ich ungefähr zum tausendsten Mal auf denselben alten Witz hereingefallen war.
«Sicher?», sagte er feixend, um dann seinen jungen Kollegen den genialen Witz zu erklären. «Wisst ihr, Peter hier hat eine der ersten Websites in Finnland überhaupt programmiert. Die Webversion der Zeitansage», sagte er.
Die jungen Männer sahen ihn ausdruckslos an.
«Ihr wisst schon, diese Nummer, die man früher anrief, um die Uhrzeit zu erfahren?», hakte Johan nach. Diese Kinder wussten vermutlich gar nicht, dass es schon vor der Erfindung des iPhones Leben auf dem Planeten gegeben hatte. «Vor euch steht ein lebendes Stück Internetgeschichte.»
«Wow, ist ja geil», sagte einer der beiden.
«Ist die Seite immer noch online?», fragte der andere.
«Danke. Weiß ich nicht genau. Ich musste länger nicht nachsehen …», erwiderte ich.
Wir standen schweigend da und warteten, bis Johan seinen Kaffee hatte, dann waren die beiden jungen Männer an der Reihe. Ich hätte mir keine Tasse nehmen sollen. Jetzt stand ich dumm in dieser peinlichen Schlange, während sie auf Knöpfe drückten und etwas in ihrer Jugendsprache murmelten.
«Hey», sagte Johan schließlich. «Ich hätte gedacht, ich sehe dich auf Paulis Abschiedsparty letzte Woche?»
Mein erster Gedanke war: Pauli ist gegangen?
Mein zweiter Gedanke war: Warum war ich nicht eingeladen?
Hoffentlich schaffte ich es, mir beide Gedanken nicht ansehen zu lassen.
«Ach, ich hatte zu tun … ein Networking-Event. Wenn man selbständig ist, muss man ständig die Nase in den Wind halten.»
Er lächelte, als verstünde er, pustete auf seinen Kaffee und spazierte davon.
Pünktlich um drei Uhr klopfte ich an die Tür meines Kunden/Chefs.
Er winkte mich herein und bedeutete mir, mich zu setzen. Er war ein großer Kerl mit einer Vorliebe für Kuchen und einem schwarzen Gürtel in Management-Sprech.
«Hör mal, danke, dass du so kurzfristig gekommen bist. Ich wollte das eigentlich nicht an einem Freitagnachmittag tun. Das ist so ein Klischee, nicht?»
Er wischte sich einen Krümel von seinem knallroten Machtposition-Schlips und lachte.
«Was tun?», fragte ich nach.
«Peter, wir werden neue Wege gehen», sagte er.
«Werden wir das? Na ja, das ist sicher ein kluger Schachzug. In meinem Memo neulich habe ich ja schon erwähnt, dass ich mich künftig mehr auf mobile Apps konzentrieren …»
«Peter», sagte er und seufzte. «Es gibt kein ‹Ich› im ‹Team›.»
«Okay …»
«Und leider gibt es in unserem Team künftig auch kein ‹Webscoe› mehr. Wir haben gerade eine Digital-Design-Agentur übernommen, sodass wir künftig intern Zugriff auf das Knowhow haben.»
«Ach. Verstehe.»
«Schick mir doch bitte eine Abschlussrechnung für alle noch ausstehenden Aufträge.»
Dann zeigte er auf sein Telefon.
«Da muss ich ran», sagte er und drehte sich in seinem teuren Drehstuhl um, sodass er mir den Rücken zukehrte. Sein Telefon klingelte gar nicht.
Ich kochte vor Wut, als ich aufstand, mich über den Schreibtisch lehnte, der zwischen mir und meinem – jetzt ehemaligen – Kunden stand, und durch zusammengebissene Zähnen zischte: «Du machst einen großen Fehler. Weißt du, manche Leute glauben an mich, sie setzen große Hoffnungen in mich.»
Er schaute zu mir auf, als wäre er überrascht, mich überhaupt noch hier zu sehen.
«Prima», sagte er. «Dann hoffe ich, dass es auch weiterhin gut läuft für dich.»
«Außerdem ist meine gesamte Arbeit hervorragend; meine Kunden geben mir immer äußerst positives Feedback», fuhr ich fort, aber er schaute bereits weg.
Ich stürmte aus seinem Büro, aus dem Gebäude und ging so lange weiter durch die Stadt, bis ich den Uhrenturm des Hauptbahnhofs sah.
Da blieb ich stehen. Schloss die Augen. Atmete tief durch.
Na gut.
Es war zehn nach drei. Ich musste spätestens um sechs bei Tina sein, also hatte ich noch Zeit totzuschlagen. Und so betrat ich eine neue Bar um die Ecke – Retrobar hieß sie –, zog mir einen Hocker an den Tresen und bestellte ein Bier.
Ich loggte mich bei Facebook ein. Natürlich würde ich meinen 128 Freunden nicht verkünden, dass ich gerade meinen einzigen Kunden verloren hatte.
«Kampf oder Flucht. Deine Entscheidung.»
Mr. Laines laute Stimme erklang in meinem Kopf. Ich erinnerte mich daran, dass er uns vom Urinstinkt erzählt hatte, der in uns allen schlummerte. Nach all den Millionen Jahren der Evolution und Tausenden von Jahren des Lebens in der Gesellschaft, die uns beigebracht hat, nett zueinander zu sein, sind wir tief im Inneren immer noch Säugetiere mit Selbsterhaltungstrieb. Wenn wir bedroht werden, kämpfen oder fliehen wir.
Ich bestellte noch ein Pint Bier, mein zweites in der Retrobar, und spürte meine Nerven. Ich hatte noch kein Mittagessen gehabt.
Die Retrobar war eine von diesen neuen Themen-Bars, die im Stadtzentrum auftauchten und wieder verschwanden. An den Wänden hingen Filmplakate aus den 80ern, Vintage-Klamotten und Schallplattencover. In der einen Ecke stand ein Flipperautomat, in der anderen ein Computerbildschirm mit Pac-Man und Daley Thompsons Decathlon-Spiel.
Wie in einer Sportbar hingen überall an den Wänden Bildschirme, aber statt Fußball und Eishockey zeigten sie Musikvideos und Filme aus den 80ern.
Ich war der einzige Gast.
Auf dem Bildschirm über der Bar lief das Video von Bruce Springsteens «Glory Days». Der Boss und Little Steven rockten in einer Bar in irgendeiner Kleinstadt in den USA, und auf dem Bildschirm daneben lief Die Glücksritter. Ich schaute Eddie Murphy und Dan Aykroyd dabei zu, wie sie zu ihrem Rachefeldzug zum World Trade Center aufbrachen, und dachte dabei über die beiden Möglichkeiten nach, die uns mein alter Biologielehrer aufgezeigt hatte.
Kampf: Ich würde eine lange E-Mail an meinen ehemaligen Chef schreiben, in der ich ihm deutlich darlegte, wie ich das fand, was er mit der Firma machte, die ich früher einmal geliebt hatte, und wie ich ihn fand, wobei ich ganz besonders seine gewöhnungsbedürftige Schlipswahl herausstreichen würde. Nebenbei würde ich ihm mit meinen Beweisen dafür drohen, dass er beim Helsinki-City-Marathon heimlich die U-Bahn genommen hatte (Beweise hatte ich in Wirklichkeit nicht, aber es gab überzeugende Hinweise darauf, dass er gemogelt hatte, und ich wollte ihn ein bisschen aufrütteln). Dann würde ich all die Vorteile auflisten, welche die Zusammenarbeit mit mir der Firma im Laufe der Jahre gebracht hatte, erläutern, warum ich immer noch von Nutzen sein konnte, und im Grunde darum betteln, meinen Job wiederzubekommen. Ich speicherte den Brief in dem mentalen Ordner «Entwürfe» ab, um ihn mir später noch einmal anzuschauen. Schicke niemals eine E-Mail in der ersten Wut/Verzweiflung ab.
Flucht: Wenn ich so darüber nachdachte, war meine Jobsituation zuletzt wirklich ziemlich trist geworden, und eigentlich war es für mich ohnehin höchste Zeit, mich weiterzuentwickeln. In vielerlei Hinsicht war dies also nicht in erster Linie ein Rausschmiss, sondern eine neue Chance. Ich hatte beachtliche Projekte vorzuweisen, ein paar gute Kontakte und genug Erspartes auf der Bank, um die Zeit zu überbrücken, in der ich mein Leben neu kalibrieren, defragmentieren, rebooten musste (oder welcher Vergleich aus der Computerwelt hier auch am besten passt). Es war nichts Ehrenrühriges daran wegzulaufen, sagte ich mir. Ich rannte ja nicht davon, ich rannte auf ein neues Abenteuer zu.
«Ihr könnt mich nicht rausschmeißen», sagte ich vor mich hin, «WEIL ICH KÜNDIGE!»
Ich merkte, dass ich das laut geschrien haben musste, und schaute zu dem Barmann hoch. Der wiederum machte sich nicht einmal die Mühe aufzuschauen. Vermutlich war er an Leute gewöhnt, die sich tagsüber schon betranken.
Ich zog mein Handy hervor und schickte eine WhatsApp an meinen Kollegen Pauli: Glückwunsch zum neuen Job! Lass mal von dir hören. Wollen wir bald ein Bier trinken?
Pauli und ich waren ungefähr zur selben Zeit in die Firma eingestiegen, damals, vor all den Jahren. Wir hatten zu der Zeit an ein paar ziemlich innovativen Websites gearbeitetet, jedenfalls für den damaligen Stand der Technik. Ich weiß noch, dass er der Erste aus meinem Bekanntenkreis war, der ein iPhone besaß, und wir verbrachten einen ganzen Nachmittag damit, Apps zu laden. Daraufhin schrieben wir uns die gesamte folgende Woche E-Mails mit Ideen für neue Apps. Meine waren größtenteils Online-Versionen von Retrospielen, eine App zum Live-Streamen von Konzerten und zum Videoschauen – alles Sachen, für die den 2-Gigabyte-Internetanbietern noch die Bandbreite fehlte. Ich glaube, man kann sagen, dass ich meiner Zeit voraus war. In Paulis Apps ging es vor allem darum, das GPS des Handys mit Lebensmittelanbietern und anderen Dienstleistern zu verbinden. Es ist schon lustig, er hat Uber vermutlich schon zehn Jahre vor Uber erfunden. Was vermutlich die unterschiedlichen Richtungen erklärt, die unsere Leben daraufhin nahmen.
Mein Handy summte ein paar Minuten später. Danke, Mann. Neuer Job ist irre stressig, aber ja, lass uns unbedingt bald mal wieder Bier trinken gehen.
Es pikte mich zwar tatsächlich, dass er mich nicht zu seiner Abschiedsfeier eingeladen hatte, aber wenn ich vernünftig darüber nachdachte, ergab es natürlich Sinn. Ich war nicht mehr im Büro gewesen seit … Monaten? Einem Jahr? Und es war ja nicht so, dass ich ständig zum Ausgehen in der Stadt aufgetaucht wäre oder Leute zu mir eingeladen hätte. Mir war klar, dass ein rauschendes Sozialleben Mühe kostet, dass Freundschaft keine Einbahnstraße ist, und irgendwie war ich wohl einfach so verblasst. Meine Schulfreunde hatten sich in alle Richtungen zerstreut, die Freunde von der Arbeit ebenfalls. Ich hatte keine Freundin und daher auch keine Pärchenfreunde. Ich hatte auch nicht viele Gelegenheiten, neue Leute kennenzulernen, und die alten Kumpels anzurufen, um mit ihnen in einer Bar zu hocken und darüber zu reden, wie lustig das Leben früher gewesen war, hatte nach ein paar Jahrzehnten auch seinen Reiz verloren. Aber jetzt hatte ich ja viel mehr Zeit zur Verfügung und konnte mir mit meinem Sozialleben wieder mehr Mühe geben.
Ich bestellte noch ein Bier und versuchte, den Barmann in eine Unterhaltung zu verwickeln, aber aus dem Stegreif fiel mir kein Thema ein.
Stattdessen dachte ich über das Meeting nach, das hinter mir lag. Rückblickend sah ich es sozusagen aus der Vogelperspektive, und mir gefiel gar nicht, was ich da sah. Da hatte ich krumm im Sessel gehangen, war vor dem arroganten Chef zusammengeschrumpft und hatte verschreckt vor mich hin gestammelt.
«In einer Welt, in der Unternehmen rücksichtslos über die Leben ihrer Angestellten hinwegtrampeln, schafft es ein Mann … leider überhaupt nicht, ihnen die Stirn zu bieten …»
Ich hatte doch größere Pläne gehabt, als ich damals zustimmte, als Selbständiger für die Firma zu arbeiten. Ich hatte meine eigene Firma zu einem Mediengiganten aufbauen, viele Kunden akquirieren wollen. Ich hatte ganz vorn in der Software-Entwicklung mitspielen wollen. Ich hatte vieles gewollt, aber dies hier bestimmt nicht.
Ich kramte meinen Laptop aus der Tasche, öffnete den Browser neben Facebook, dessen Seite bereits geöffnet war, und tippte http://192.168.0.1/~peks/time.html. Dann klickte ich auf Enter und war doppelt überrascht – erstens, weil ich mich so genau an die URL erinnerte, und zweitens, dass mich ein grauer Bildschirm mit großen blauen Ziffern darauf begrüßte. 15:45:03, stand da.
Das war alles. Kein Datum, und abgesehen von einem kleinen Briefumschlag-Icon unten auf der Seite gab es auch keine Graphiken.
Ich musste laut auflachen. Lachend klickte ich auf Facebook und kopierte die URL in meinen Status. Alle sollten sehen, dass ich etwas Wertvolles geschaffen hatte. Dass ich innovativ gewesen war, damals. Ich dachte daran, was Johan gerade an der Kaffeemaschine über mich gesagt hatte: «Da steht ein Stück Internetgeschichte.»
Ich löschte den Post. Schloss Facebook. Plötzlich kam mir die virtuelle Welt nicht … real genug vor.
«Hey», sagte ich. Der Barmann schaute auf, als wollte er sichergehen, dass ich tatsächlich mit ihm sprach und nicht mit mir selbst. «Sieh dir das mal an, Mann», sagte ich so beiläufig wie möglich.
«Ist was mit dem Bier?»
«Nein, nein. Gar nichts. Ich wollte dir nur was zeigen.»