Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel «Nightingales in Berlin. Searching for the Perfect Sound» bei University of Chicago Press, Chicago.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2020
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«Nightingales in Berlin» Copyright © 2019 by David Rothenberg
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ISBN 978-3-644-00568-6
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00568-6
Zitiert in: Richard Mabey: The Book of the Nightingales. London, Sinclair-Stevenson 1997, S. 30.
Oliver Pike: The Nightingale: Its Story and Song. London, Arrowsmith 1932, S. 20.
Ebd., S. 21.
Rosa Luxemburg an Sophie Liebknecht, Wronke, Ende Mai 1917. in: Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. Berlin, Verlag JHW Dietz Nachf. 1946.
Richard Prum: «Coevolutionary Aesthetics in Human and Biotic Artworlds», Biology and Philosophy 28, Nr. 5 (2013), S. 811–32.
Marvin Minsky sprach auf der Konferenz aus Anlass des sechzigsten Geburtstages des Komponisten R. Murray Schafer; Banff Centre, Alberta 1993.
Evan Eisenberg: The Recording Angel. New Haven, CT, Yale University Press 2005, S. 206.
John Berger: Why Look at Animals? (1977; London, Penguin 2009; dt. in: Das Leben der Bilder oder Die Kunst des Sehens. Berlin, Klaus Wagenbach 2009.
Pauline Oliveros: Sounding the Margins. Kingston. Deep Listening 2010.
Percy Bysshe Shelley: A Defence of Poetry (1821). Dt. Verteidigung der Dichtkunst.*
Roger Payne und Scott McVay: «Songs of Humpback Whales». Science 1873 (1971): S. 585–97.
T.S. Collett: «Pulling the Wings of Flies», Nature 401, Nr. 6748 (1999), S. 12.
Thomas Nagel: «What It is Like To Be a Bat?», Philosophical Review 83 (1974), S. 435–50. Dt.: Ulrich Diehl (Hrsg. und Übers.): Wie ist es, eine Fledermaus zu sein. Stuttgart, Reclam 2016.
Michael Weiss, Sarah Kiefer und Silke Kipper: «Buzzwords in Female’s Ears? The Use of Buzz Songs in the Communication of Nightingales (Luscinia megarhynchos)» PLoS ONE 7, no. 9 (2012). Andere aber haben behauptet, die Pfeiflaute des Nachtigallenmännchens seien womöglich die sexiesten Silben. Siehe: Hansjörg P. Kune, Valentin Amrhein und Marc Naguib: «Acoustic Features of Song Categories and Their Possible Implications for Communication in the Common Nightingale (Luscinia megarhynchos)». Behaviour 142, no. 8 (August 2005), S. 1077–91.
Richard Prum: «The Lande-Kirkpatrick Mechanism Is the Null Model of Evolution by Intersexual Selection», Evolution 64 (2010), S. 3085–3100.
Olavi Sotavalta: «Song Patterns of Two Sprosser nightingales», Annals of the Finnish Zoological Society «Vanamo» 17, no. 4 (1956), S. 5.
Ofer Tchernichovski u.a.: «Studying the Song Development Process», Bahavioural Neurobiology of Birdsong, Annales of the New York Academy of Sciences 1016 (2004), S. 348–363. Siehe auch: Ofer Tchernichovski, Parthe Mitra u.a.: «Dynamics of the Vocal Imitation Process: How a Zebra Finch Learns Its Song». Science 291 (2001), S. 2564–69.
Ausführlich habe ich darüber in Why Birds Sing und in Thousand Mile Song geschrieben; und warum es wichtig ist, live zusammen mit Tieren zu musizieren, führe ich aus in: David Rothenberg, «Interspecies Improvisation», Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies, vol. 1, ed. George Lewis and Benjamin Piekut. London, Oxford University Press 2016, S. 500–522.
Elizabeth Hellmuth Margulis, «Aesthetic Responses to Repetition in Unfamiliar Music», Empirical Studies of the Arts 30 (2013), S. 45–57. Siehe auch: Elizabeth Hellmuth Margulis: On Repeat: How Music Plays the Mind. New York, Oxford University Press 2013, S. 15.
Zu hören ist Matthew Barleys schönes Konzert mit uns und einer britischen Nachtigall auf soundcloud, siehe www.soundcloud.com/terranova/matthew-barley-live-with-a-nightingale, abgerufen am 15.01.2020.
David Rothenberg, Tina C. Roeske, Henning U. Voss, Marc Naguib und Ofer Tchernichovksi: «Investigation of Musicality in Birdsong». Hearing Research 308 (2014), S. 71–84.
Tina C. Roeske, Damian Kelty-Stephen und Sebastian Wallot: «Multifractal Analysis Reveals Music-like Dynamic Structure in Songbird Rhythms», Scientific Reports 8, article no. 4570 (2018), www.nature.com/articles/s41598–018–22933–2, abgerufen am 15.01.2020.
Almo Farina, Nadia Pieretti und Rachele Malavasi: «Patterns and Dynamics of (Bird) Soundscape: A Biosemiotic Interpretation», Semiotica 198 (2014), S. 241–55. Siehe auch: Almo Farina, Soundscape Ecology. Dordrecht: Springer 2014.
Persönliche Interviews mit Fred Jüssi am 19. Oktober 2015 und 2. August 2017.
David Quammen with photos by Stephen Wilke: «How National Parks Tell Our Story», National Geographic, Januar 2016. www.ngm.nationalgeographic.com/2016/01/national-parks-centennial-text#photographs, abgerufen am 15.01.2020.
Denis Diderot: Diderot on Art II: The Salon of 1767. New Haven. CT: Yale University Press 1995.
Mittlerweile ist die Produktion des Gerätes leider eingestellt worden.
Hans Slabbekoorn, «Songs of the City: Noise-Dependent Spectral Plasticity in the Acoustic Phenotype of Urban Birds», Animal Behaviour 85 (2013), S. 1089–99.
Ein weißer Papagei namens Snowball ist angeblich das einzige Tier, das einen Rhythmus aufnimmt. Ich glaube nicht, dass dieses Verhalten so selten ist, diese Forscher aber schon: Ani Patel, John Iversen, Micah Bregman und Irena Schulz: «Experimental Evidence for Synchronization to a Musical Beat in a Nonhuman Animal». Current Biology 19 (2009), S. 827–30.
Interview mit Gordon Hempton, geführt von Nika Knight: www.guernicamag.com/interview/learning-to-listen, abgerufen am 15.01.2020.
John Muir, zitiert in: Gordon Hempton and John Grossmann: One Square Inch of Silence: New York, Free Press 2009, S. 245.
Bernie Krause, persönliches Gespräch.
Aus dem letzten von David Remnick mit Leonard Cohen geführten Interview. www.wnyc.org/story/leonard-cohen-last-interview, abgerufen am 16.01.2020.
Radioprogramm Stylus zu den Moodus Noises auf WBUR: www.stylusradio.org/post/79188275851/on-a-clear-summer-day-in-the-early-1980s-cathy, abgerufen am 16.01.2020. Siehe auch: Brian Kane, Sound Unseen: New York, Oxford University Press 2014.
Mittlerweile wurde das Gebäude von einem Immobilieninvestor aufgekauft.
Siehe den Abschnitt Weiterführende Literatur im Anhang zu Büchern über Nachtigallen, speziesübergreifende Musik und anderen wichtigen Quellen, die außerhalb des eigentlichen Themas dieses Buch liegen.
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Karl Vorländer. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg, Felix Meiner Verlag 1993. § 22, S. 86
Geoff Sample, persönliches Gespräch, März 2018.
Peter Handke: Die morawische Nacht. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2008, S. 179–182.
goftam in shart e adamiat nist,
morgh tasbih gooy o man khamoosh
Nicht ziemt’s dem Menschen, dass er schweige,
Indes dem Herrn lobsingt der Vögel Chor.
– Saadi
1 Der Vogel ist für uns verdorben 9
2 Der Sharawaji-Effekt 33
3 Der Anbeginn der Zeiten 55
4 Geordnet und ungeordnet 73
5 Klangorte 101
6 Der schönste Naturklang der Welt 131
7 Berlin sehnt sich nach Berlin 157
8 Elf Wege zur Tiermusik 189
9 Gefeiert von allen 209
Danksagung 237
Anhang
Abbildungsnachweis 241
Anmerkungen 243
Quellenverzeichnis der Gedichtfragmente 246
Weiterführende Literatur 248
Nachtigallen in Berlin: Die Musik 250
Überrascht es Sie, dass es in Berlin Nachtigallen gibt? Sie sind nach ihrem Start in Afrika Tausende von Meilen geflogen bis hierher, sind übers Meer gekommen wie Flüchtlinge der Lüfte. Ihr Gesang steigt aus tiefer Stille auf, ihre Stimmen brechen durch den Lärm der Stadt. Jeder hat einen Lieblingsast, zu dem er alle Jahre zurückkehrt. Das ist uns bekannt, und doch erscheint uns ihr Gesang, wenn sie wieder da sind, wie ein Wunder.
Aus allen Tagen, die man für ein Mitternachtskonzert im Treptower Park in Betracht ziehen könnte, haben wir aus irgendeinem Grund den 9. Mai ausgewählt, den Abend, an dem die Menschen zu Tausenden in den Park einfallen. Vor neunundsechzig Jahren endete der Zweite Weltkrieg, und der Park wird voller Menschen sein, wenn die Vögel zu singen beginnen. Der Ort selbst verleiht dem Datum noch größere Bedeutung. Hier wird der Schlacht um Berlin gedacht, während der in weniger als zwei Monaten hunderttausend Menschen den Tod fanden. Hier steht ein monumentales Kriegsdenkmal, von den Sowjets zur Erinnerung an ihren Sieg im einstigen Ostdeutschland errichtet.
Beim Betreten des Ehrenmals passiert man ein abstraktes konstruktivistisches Tor, bedrohlich, mit Hammer und Sichel. Am anderen Ende der Allee, circa einhundertfünfzig Meter weit entfernt, steht, mit Sockel und Hügel insgesamt dreißig Meter hoch, die Bronzestatue eines russischen Soldaten in einem langen Militärmantel, der ein Kind auf dem Arm hält, so als wolle er ihm versichern, dass ihm von dem Grauen, an das hier erinnert wird, keine Gefahr droht. Auf dem breiten Weg zu der hoch aufragenden Skulptur befinden sich sechzehn schwere Sarkophage aus Kalkstein, verziert mit realistischen Reliefs, auf denen der Verlauf der Schlacht und der Mut ihrer Kommandeure geschildert wird, darunter mehr als einmal ein Bildnis von Stalin persönlich.
Das wiedervereinigte Deutschland renovierte das Denkmal in Erfüllung seiner in den Zwei-plus-vier-Verträgen festgehaltenen Unterhaltsverpflichtungen, der erklärende Text am Eingang deutet jedoch auf eine gewisse Distanzierung von der ästhetischen Gestalt des Bauwerks hin: «Das heute in seiner Symbolkraft pathetisch übersteigert wirkende Denkmal ist vom Geschichts- und Kunstverständnis der Sowjetunion unter Josef Stalin geprägt, das sich durch Monumentalität, Heldenverehrung und Personenkult sowie den Anspruch auf Ausschließlichkeit auszeichnete.»
Die Geschichte lastet schwer auf diesem Ort, und doch gibt es hier stille Wälder, einen See und einen wunderschönen Fahrradweg längs der Spree. Der Treptower Park mit seinem Mix aus Bepflanzung, breiten Alleen und bröckelnden Überresten des Kommunismus ist die zweitgrößte städtische Parkanlange Berlins. Und hier ist der Ort, wo jedes Frühjahr einige Dutzend Nachtigallenmännchen ihr Revier besiedeln und wir durch die dunklen Schatten greifbarer Geschichte streifen und in Kontakt mit der ältesten Musik der Welt treten.
Berlin ist die europäische Großstadt, in der man den Gesang der Nachtigall am häufigsten hören kann, und die beste Zeit dafür ist von Ende April bis Ende Mai. In diesem Zeitraum kehren die männlichen Vögel von ihrem Zug nach Afrika zurück, errichten ihre Reviere und singen für ihre Partner, mit denen sie dann zusammen nisten und ihre Jungen aufziehen. Anfang Juni wird der Gesang seltener; die Vögel bleiben bis August in den Bäumen, sind jedoch wesentlich stiller. Werden die Abende wieder kühler, brechen sie in den Süden auf und sind bis zum folgenden Jahr nicht zu sehen. Doch dann kommen sie pünktlich zurück, oft zu exakt dem Nistplatz, den sie im Jahr zuvor eingerichtet haben.
Nachtigallen genießen Geräusche. Der Lärm von uns Menschen macht ihnen offenbar nichts aus, möglicherweise ist er für sie sogar ein willkommener Ansporn. Von allen Singvögeln sind die Nachtigallen – Luscinia megarhynchos – und ihre Schwesterart, die Sprosser – Luscinia luscinia – die beiden einzigen Spezies, die tendenziell eher in der Dunkelheit singen und nicht im Licht des frühen Morgens. Insofern sind sie auch Symbole für die Abenteuer und Sehnsüchte der klandestinen, unziemlichen Dunkelheit.
Nachtigallen werden in Mythen, in Liedern, Gedichten und Geschichten gepriesen, und ich hatte schon viel über sie gelesen, bevor ich das erste Mal ihren Gesang hörte. Der Dichter Matthew Arnold, für den die Nachtigall einen alten, allwissenden Reisenden verkörperte, schrieb 1853:
O Wanderer von Griechenlands Gestaden,
Nach vielen Jahren noch, in fernen Landen,
Hegst du verwirrt in Hirn und Herz
Den ungestillten wilden alten Schmerz …
Arnold hörte erst den schwachen Widerhall eines antiken Mythos, bevor er zugeben konnte, dass es ein echter Vogel war. So geht es den meisten von uns, wenn wir zum ersten Mal eine Nachtigall hören. Als ich schließlich einer echten Nachtigall begegnete, konnte ich nicht glauben, was ich da hörte. Der Gesang war äußerst merkwürdig. Eine Reihe von abgehackten Phrasen, ein Mischmasch aus rhythmischen Zwitscherern, in die Länge gezogenen Pfiffen und kuriosen kontrastierenden Geräuschen. Es war weder lieblich noch melodisch wie die vielgepriesenen Gesänge der Einsiedlerdrossel in Nordamerika oder der Amsel in Europa. Dies ähnelte eher einer Attacke mit seltsamen Rhythmen. Musik war es zweifellos, aber eine fremdartige Musik, der Groove einer anderen Spezies, eine an das menschliche Ohr ergehende Aufforderung, sich erst einmal einzuhören. Ich wollte ergründen, was die Nachtigall da tat, und in mir regte sich der Wunsch, eines Tages mit ihr zu spielen.
Können wir ihren Gesang also ernsthaft als Musik auffassen? Mit einer Transkription in Noten und Takte wird man ihm nicht gerecht werden. Sonogramme können helfen, doch solche Abbildungen wirken wie wissenschaftlicher Geheimcode. Johann Matthäus Bechstein, Pionier des Naturschutzes und Zoologe, unternahm in seinem Werk Die Naturgeschichte der Stubenvögel von 1795 den Versuch, den Gesang der Nachtigall in Worten wiederzugeben:
Tiuu tiuu tiuu tiuu
Spe tui squa
Tio tio tio tio tio tio tio tix
Qutio qutio qutio qutio
Squo squo squo squo
tsü tsü tsü tsü tsü tsü tsü tsütsü tsi
Quorror tiu squa pipiqui.
Sosososososososososososo Sirrhading!
Tsisisi tsisisisisisisisi
Sorre sorre sorre sorre hi;
Tsatn tsatn tsatn tsatn tsatn tsatn tsatn si,
Dlo dlo dlo dlo dlo dlo dlo dlo dlo dlo
Quiro tr rrrrrrrr its
Lü lü lü lü ly ly ly ly li li li li
Quio didl li lulyi …
Das klingt und liest sich nicht wie menschliche Laute. In der Natur singt eine Nachtigall auch längst nicht so melodiös, wie es oft geschildert wird. Der Literaturwissenschaftler John Elder war ebenso überrascht wie ich, als er den Vogel auf seiner ersten Europareise hörte, und schloss daraus, dass unsere Begeisterung für den Gesang der Nachtigall gleichermaßen auf den Tonumfang und die Kraft des weithin durch die Bäume getragenen Lieds zurückzuführen ist wie auf dessen musikalische Eigenschaften. Der Vogel singt mit so viel Leidenschaft, dass man den Eindruck gewinnt, er würde, wenn es denn sein müsste, an seiner Musik sterben, wie die antiken Mythen implizieren.
Ich musiziere mit anderen Spezies und spüre ihnen auf der ganzen Welt nach, begleite sie mit der Klarinette, lebe in ihren Habitaten und kreiere Musik mit Klängen, die ich vielleicht niemals verstehen werde, aus Tönen, die nicht für mich gesungen werden. Ich passe mein Spiel so an, dass Klarinette und Nachtigall einen Klang entstehen lassen, den keiner von uns beiden allein hervorbringen könnte.
Dass ich das in der zweitgrößten Stadt Westeuropas tun kann, einer Stadt, in der fast vier Millionen Menschen leben, erfüllt mich mit besonderer Hoffnung. Am Londoner Berkeley Square singen zwar keine Nachtigallen mehr, wie es einst in einem berühmten Song hieß, doch im Treptower Park, in der grünen Oase an der Spree, wo Ost und West einst geteilt waren, sind sie überall.
In Berlin sind es nicht nur die Parks, in denen man auf Nachtigallen stößt: manche ziehen Bäume in stillen Stadtvierteln vor, hinter einem Spielplatz oder auf einer Brache, wo ihr Gesang durch den Amphitheater-Effekt der umgebenden Gebäude verstärkt werden kann. Ein Vogel ist berühmt dafür, dass er sich allnächtlich auf einer Ampel an der Hauptkreuzung in Alt-Treptow niederlässt, direkt neben der S-Bahn-Station und dem Eingang in den Park gelegen, so als habe er sich absichtlich die lauteste Stelle ausgesucht und wolle beweisen, dass sein Gesang durchdringender und ausdauernder ist als der Lärm ringsherum.
Berlin ist heute eine internationale Stadt, in der alle, die unbedingt Kunst machen wollen, heimisch werden. Du kannst dich jeder beliebigen Szene anschließen oder eine eigene begründen – es gibt ständig ein neues, noch nicht hippes Viertel, das darauf wartet, von der nächsten Gruppe besiedelt zu werden, die ein ausgebranntes Haus instand setzt oder ein verfallendes Fabrikgebäude bewohnbar macht. Berlin ist nach wie vor die erschwinglichste Hauptstadt für Menschen, die sich in Europa niederlassen wollen. Es ist eine Stadt, in der Menschen etwas Neues beginnen und nicht verlangen, dafür bezahlt zu werden. Man braucht nicht zwischen zwei Jobs hin und her zu hetzen für das Privileg, Kultur zu schaffen, wie man es in New York müsste. Die Stadt macht die Musik für dich. Vielleicht empfinden die Nachtigallen das genauso. Auch sie sind Außenseiter mit ihrem Gesang, der so seltsam und komplex ist, wie ihn kaum ein anderer Vogel auf der Welt hervorbringt. Er hat bestimmte stilistische und ästhetische Merkmale, mit deren genauer Beschreibung wir uns schwertun. H.E. Bates hat das bereits vor Jahrzehnten verstanden:
Der Gesang der Nachtigall ist mit einer Spannung aufgeladen, deren Schönheit weit über das bloße Liebliche hinausgeht. Ihre Darbietung enthält oft viel mehr Momente der Stille als solche stimmlicher Äußerungen, und diese Momente haben etwas Leidenschaftliches, eine Andeutung von Atemlosigkeit und wie durch Zauberkraft überwundener Hemmung. Es kann seltsamerweise verführerisch und verwirrend sein; das Lied beginnt oft mit einem leisen Glucksen, einem Zupfen der Saiten, einem gewissen Stimmen der Instrumente, und steigert sich plötzlich zu einem Crescendo aus Feuer und Honig, nur um danach mitten in der Phrase wieder abzubrechen. Darauf folgt ein lange andauerndes Warten auf die Wiederaufnahme der Phrase, das atemlose stumme Intervall, das so wunderschön ist.[1]
In Berlin sind nicht nur die meisten Nachtigallen, die in europäischen Städten leben, zu Hause, sondern auch die meisten Nachtigallen-Forscher. Sie arbeiten in einem Institut der Freien Universität in Dahlem, gegründet vom mittlerweile emeritierten Dietmar Todt. Heute wird das Institut, an dem eine weltweit führende Gruppe von Verhaltensbiologen forscht, von Constance Scharff geleitet. Silke Kipper betreut dort eine auf mehrere Jahre angelegte Studie zu den Nachtigallen im Treptower Park.
Für die Wissenschaftler von Interesse ist, wie Nachtigallen ihre Musik erwerben; sie werden nicht mit ins Gehirn eingepflanzten Liedern geboren. In der Tierwelt sind nur Wale, Delfine, Singvögel und der Mensch fähig, durch Laute zu lernen. Weder Schimpansen noch andere Primaten können das. Auch Wölfe, Hunde oder Katzen nicht. Und, für die Forschung von großer Bedeutung, auch Ratten nicht, die Tiere, die wissenschaftlich am häufigsten untersucht werden.
Die Forschungsgruppen wollen ergründen, wie sich das, was sie «stimmliches Lernen» nennen, bei Tieren entwickelt hat. Am einfachsten lässt sich das bei Vögeln untersuchen, und die Biologen haben den australischen Zebrafinken als modellhafte Spezies für ihre Studien zu dem Phänomen ausgewählt. Tausende Wissenschaftler weltweit forschen über das Gehirn und die Fähigkeiten dieses farbenfrohen Vogels zum stimmlichen Lernen. Das Lied der Zebrafinken ist ziemlich schlicht, das heißt: schlicht in seiner Struktur, nicht jedoch in der Ausführung. Seine Hervorbringung und Auswertung sind so komplex, dass Scharen von Wissenschaftlern auf Jahre hinaus damit beschäftigt sind.
Auftritt der Nachtigallen: Ihr Gesang unterscheidet sich in jeder nur denkbaren Hinsicht von dem der Zebrafinken. Er ist laut, ausdauernd, vielfältig gegliedert und musikalisch – ein drastisches Beispiel dafür, was die Evolution durch sexuelle Selektion hervorbringt, nachdem Generationen von Vogelweibchen immer feiner ausgestalteten und nuancierteren Gesang bevorzugt haben. Wie schreitet diese Verfeinerung voran? Kommt es auf die Balance von Lautstärke und Ton, Pfeifen und Knacken, von Gleichheit und Differenzierung an, auf eine Ästhetik, so schwer fasslich wie alle Musikstile des Menschen? Das hängt vom vorhandenen Wissensstand ab. Und der wiederum hängt von den Fragen ab, die wir stellen.
Es ist nach 23 Uhr, und die Menschen verlassen nach dem alljährlichen Gedenkkonzert langsam den Treptower Park. Ich schlendere dort herum, höre die Nachtigallen, die behutsam zu singen beginnen, und bleibe auf ein Bier an einem kleinen Kiosk stehen. Ein Mann läuft mir in die Arme und hört, dass ich englisch spreche. «Hey, sind Sie Amerikaner? Was machen Sie hier? In dieser Nacht der Nächte?» Er sieht mich aus kurzer Entfernung an, Wodka im Atem.
Seine Freund zieht ihn zurück. «Sie müssen Juri entschuldigen», sagt der Begleiter mit starkem russischen Akzent. «Er hat ein bisschen zu viel getrunken.»
Juri spuckt auf den Boden und entfernt sich grölend, wirft mir beim Abgang finstere Blicke zu. Sein Freund ist verträglicher. «Ich heiße Oleg. Darf ich Sie etwas fragen?»
Ich trinke bedächtig einen kleinen Schluck Bier. «Klar. Warum nicht?»
«Warum behauptet ihr Amerikaner, ihr hättet den Krieg gewonnen? Ihr habt 25000 Soldaten verloren. Russland hat 25 Millionen verloren. Es stand euch nicht zu, den Krieg zu gewinnen.»
Meine Geschichtskenntnisse sind nur vage. Kämpften wir und die Russen im Krieg nicht auf derselben Seite? Tatsächlich haben viel mehr Russen ihr Leben gelassen. Es war aber schließlich auch ihr Kontinent. Und auf dem stehen wir nun, trinken zusammen, wo sich eine der größten Schlachten des Krieges ereignete. Die Felder sind grün und die Bäume groß.
Meine Gedanken kehren zu den Nachtigallen zurück. Die BBC machte Aufnahmen von Beatrice Harrison, die in ihrem Garten in Kent den Nachtigallen Elgar und Brahms auf dem Cello vorspielte. Es war, als dieses Experiment in den zwanziger Jahren gewagt wurde, das erste im Radio übertragene Freiluftkonzert gewesen. Seitdem wurde das Ritual jedes Jahr wiederholt.
Bis zum Beginn des Kriegs. Genau in dem Moment, als die BBC mit der Aufnahme der Vögel begann, hörte man das Dröhnen alliierter Bomber, und der Sender brach die Übertragung ab, um den Feind nicht aufmerksam zu machen. Erst Jahre später wurde die tief bewegende Aufnahme, auf der man die brummenden Bomber der Royal Air Force zusammen mit singenden Nachtigallen hört, ausgestrahlt, eine ernste Mahnung, dass die Musik der Natur vom Bedürfnis nach Kampf und Töten nicht unterdrückt werden kann.
Diese rätselhaften Lieder sind mitten unter uns, ewig unerreicht von unserer Verstandeskraft. Ich bin mir sicher, dass die Nachtigallen auch in dem schicksalhaften Frühjahr 1945 gesungen haben, als so viele Russen beim Angriff auf Berlin ihr Leben ließen.
Nachtigallen singen in allen Kriegen. Sogar im Ersten Weltkrieg hörte ein Soldat während einer Schlacht die herrlichsten Töne in den Baumwipfeln. In einem Klassiker über unseren Vogel, The Nightingale: Its Story and Song, schreibt Oliver Pike, eines der besten Konzerte, das er je von einer rossignol hörte, habe während einer Schlacht in einem Wald in Frankreich 1916 stattgefunden:
Grelle Blitze erhellten den Wald, während Dutzende von Leuchtkugeln über uns hinwegflogen, für ein, zwei Sekunden aufflackerten und erloschen. Mit fortschreitender Zeit nahm die Schwere des Beschusses zu, der ganze Boden bebte förmlich unter der Wucht der Einschläge, als mit einem Mal eine herrliche Melodie ertönte.
Zuerst schien die Nachtigall noch zu zögern, und es gab Pausen zwischen den Gesangssalven, doch als das Bombardement stärker wurde, nahm der Vogel die Herausforderung an. Wir hätten die ganze Welt absuchen können und sicher Mühe gehabt, einen größeren Widerspruch zwischen der wunderschönen Harmonie dieses Gesangs und dem entsetzlichen Misston der detonierenden Granaten zu finden. Doch so plötzlich, wie das Lied begann, hörte es auch auf, denn eine Granate explodierte unter dem Sänger, und der Baum, auf dem er saß, wurde in tausend Stücke zerfetzt, und der kleine Vogel, der die wartenden Soldaten unterhalten hatte, kam zusammen mit fünf tapferen Männern zu Tode.[2]
Vogelgesang während einer Schlacht steht mit seiner Schönheit in einem krassen Gegensatz zum Schrecken. Im Weiteren erteilt Pike in seinem Buch denen, die Nachtigallen zum Singen animieren wollen, sogar praktische Ratschläge – und das bereits 1932:
Ein ums andere Mal habe ich gezeigt, dass man, wenn man eine Nachtigall zu Höchstleistungen anspornen möchte, für eine konträre Unterhaltung sorgen muss, in der ihr Gesang beinahe untergeht. Oft bringt der Lärm einer schrillen Autohupe einen Vogel zum Singen. Ich schlage vor, dass die BBC, wenn sie das nächste Mal Nachtigallengesang senden will, in hundert Metern Entfernung vom Sänger eine Batterie großer Trommeln aufbaut. Dann werden die Zuhörer hören, was für eine wunderbare Musik dieser Vogel machen kann.[3]
Nachdem ich mit Oleg und Juri fast eine Stunde über die Last der Geschichte debattiert habe, erzielen wir doch noch eine gewisse Verständigung, allerdings nur, weil ich zum Zuhören bereit war. «Na ja» (den Arm um meine Schulter gelegt, hat Oleg besseren Stand), «zumindest einen Amerikaner gibt es hier, dem ich vertrauen kann», sagt er, bevor er und seine Freunde in die Nacht davontorkeln.
Alle scheinen den Park zu verlassen, ich kann es gar nicht glauben. Es ist eine halbe Stunde vor Mitternacht, und die Festlichkeiten sind vorüber. Eigentlich wird Berlin jetzt doch erst richtig wach! Zumindest die Nachtigallen werden wach. Um Mitternacht bin ich mit meinem Publikum verabredet, und wir werden in die Nacht gehen und auf den perfekten Augenblick warten, in dem Menschen in den Gesang einer Nachtigall einstimmen können.
Ein kleiner Trupp passionierter Pioniere speziesübergreifender Musik kommt um Mitternacht an der S-Bahn-Station an. Wir fürchten uns nicht vor Regen oder vor den wenigen russischen Zechern, die noch im Park herumstreunen. Und wir wissen, dass eine Nachtigall vor nichts Angst hat. Rosa Luxemburg hat es einmal von ihrem Zellenfenster aus beobachtet:
Dann wurde ich um 6, wie immer, wieder eingesperrt, saß traurig mit einem dumpfen Druck am Fenster, denn es war schwül, und blickte hinauf, wo unter weißen flockigen Wolken auf pastellblauem Grund in schwindelnder Höhe die Schwalben munter herumschossen und mit ihren spitzen Flügeln die Luft wie mit Scherchen zu zerschneiden schienen. Bald verdunkelte sich aber der Himmel, alles verstummte, und es gab ein Gewitter mit heftigem Platzregen und zwei krachenden Donnerschlägen, bei denen alles erbebte. Darauf folgte ein Bild, das mir unvergesslich bleibt. Das Gewitter hatte sich bald weiter verzogen, der Himmel wurde dick einfarbig grau, eine stumpfe, fahle, gespenstische Dämmerung senkte sich plötzlich auf die Erde, es war, wie wenn dichte graue Schleier herabhingen; der Regen rieselte ganz leise und gleichmäßig auf die Blätter, das Wetterleuchten flammte einmal über das andere purpurrot in das bleierne Grau auf, und ein fernes Grollen des Donners rollte immer wieder wie letzte schwache Wellen einer Brandung heran. Und mitten in all dieser gespenstischen Stimmung schlug plötzlich vor meinem Fenster auf dem Ahorn die Nachtigall! Mitten in all dem Regen, im Wetterleuchten, im Donner schmetterte sie wie eine helle Glocke, sie sang wie berauscht, wie besessen, wollte den Donner übertönen, die Dämmerung erhellen – ich habe nie so Schönes gehört. Ihr Gesang wirkte auf dem Hintergrund des abwechselnd bleiernen und purpurnen Himmels wie leuchtendes Silbergeflimmer. Das war so geheimnisvoll, so unbegreiflich schön, und ich wiederholte unwillkürlich den letzten Vers jenes Goethe’schen Gedichts: «O wärst Du da!» …[4]
So viel Gesang von einem kleinen braunen Vogel, warum? Es ist in der Tat unmäßig – und riskant. Ein Nachtigallenmännchen, das nachts stundenlang auf einem Ast sitzt und pausenlos singt, kann leicht von einer Eule erbeutet werden. Die Nachtigall lässt es aber darauf ankommen. Nach Darwins Theorie der sexuellen Selektion hat der Vogel die Ausbildung von so viel Schönheit einzig der Kennerschaft des Weibchens zu verdanken. Nur das Weibchen weiß, welches Lied das beste Lied ist. Der Evolutionsbiologe und Ornithologe Richard Prum sagt, dies sei der Grund dafür, weswegen man von einer «Kunstwelt» sprechen müsse, in der die Musik der Nachtigallen entstand, deren Evolution mit der Evolution einer Ästhetik der Anerkennung seitens der Vogelweibchen einhergeht.[5] Wir Menschen können ihr lauschen, können beobachten, Vermutungen anstellen, berechnen, messen und es wagen, mit ihnen zu musizieren, ein vollständiges Eintauchen in die Nachtigallen-Ästhetik bleibt uns aber weiter verwehrt. Wir sind noch nicht in den Genius der Nachtigall vorgedrungen. Das hindert uns jedoch nicht daran, es zu versuchen.
Gefällt es Nachtigallen, mit Menschen zu musizieren? In der gründlichsten Studie zur Reaktion von Nachtigallen auf Playbacks von Gesang ihrer eigenen Spezies, durchgeführt in den Siebzigern von Henrike Hultsch und Dietmar Todt, entdeckten die Forscher drei Arten der Resonanz von Nachtigallen auf fremde neue Musik in ihrer Mitte. Erstens: Fühlt der Sänger sich in seinem Territorium bedroht, wird er versuchen, die unbekannten Töne zu unterbrechen – was die Forscher als «Störung des Signals» bezeichneten – und zu verhindern, dass unbekannte Nachrichten durchdringen, indem er ihnen so häufig wie möglich in die Quere kommt. Das ist die aggressive Reaktion. Er kann aber, zweitens, auch anders antworten. Ein Nachtigallenmännchen, das auf seine territoriale Souveränität vertraut, das dich und deine Klarinette oder dein iPad oder Cello oder deine Stimme nicht als Bedrohung wahrnimmt, wird sich anhören, was du spielst, einen Augenblick abwarten, danach mit eigenem Gesang antworten und schließlich wieder pausieren. Gibst du ihm Raum zur Entfaltung und hörst nach einer kurzen gespielten Phrase wieder auf, wird der Austausch insgesamt als freundliche Kenntnisnahme aufgefasst, als Gedankenaustausch unter allen beteiligten Musikern, die dem anderen Raum lassen und akzeptieren, dass wir alle einen Platz und ein Lied haben.
Und drittens: Eine Nachtigall, die sich als Spielführer begreift – als Chefvogel, als den besten Sänger im ganzen Park –, wird tun, was immer sie will, vielleicht das Spiel stören, vielleicht andere mitspielen lassen, so lange singen, wie sie lustig ist, weil sie sich, von ihrer eigenen Bedeutung überzeugt, um dich nicht schert. So ein Vogel singt, als wäre außer ihm selbst niemand da.
Wir alle kennen Musiker, die in diese drei Kategorien fallen.
Musikalisch betrachtet kann es schnell haarig werden, eine scharfe Grenze zwischen Pause und gemeinsamem Spiel zu ziehen. Was der eine als Blockierung des Signals hört, kann ein anderer schlicht als Improvisieren wahrnehmen, als einen Versuch, gemeinsam interessante Musik zu machen. Musik ist ja kein einfaches Signal. Es hängt von der jeweiligen Auffassung ab, worum es bei Musik geht, sei sie von Menschen oder von Vögeln gemacht. Vielleicht sind Kunstfertigkeit und Kunstform nicht nur Werbung für das jeweilige Territorium und Können, sondern der Versuch, gemeinsam etwas erschaffen zu wollen, was keine Spezies allein könnte.
Es waren hauptsächlich diese Überlegungen, weswegen ich Menschen und Nachtigallen zusammenbringen wollte, um speziesübergreifend zu musizieren. Dank gezielter Streuung in geeigneten sozialen Medien hatten sich um Mitternacht über hundert Personen an der S-Bahn-Haltestelle am Treptower Park eingefunden und folgten uns zu der idealen Location, ein Wäldchen vom Spreeufer entfernt, wo unser Lieblingsvogel, mit dem wir an vorausgegangenen Tagen geprobt hatten, zur Vorstellung bereit war.
Ich bin auch bereit, live mit den Vögeln zu spielen, mein erstes Konzert vor einem aus mehr als einer Person bestehenden Publikum. Beim Spielen mit einer Nachtigall tut sich ein Fenster zum Unbekannten auf, entsteht der Ansatz einer Kommunikation mit einem Geschöpf, das nicht unsere Sprache spricht. Das Hin und Her zwischen reinen Tönen, die auf Klick- und Summtöne treffen, erzeugt keinen Code, sondern einen Groove, ein Amphitheater des Rhythmus, in dem wir alle Platz finden wollen.
Die Vögel geben sich gegenseitig Raum; sie wechseln zwischen Vor- und Zurücktreten ab, lassen sich nicht unterkriegen, nehmen mich vielleicht sogar freundlicher auf denn je. Sogar ein ab und zu in der Ferne ertönender Ruf findet sein Unterkommen: Alle Klänge werden begrüßt. Schließlich ein Kreischen. Bläst da jemand auf einem Grashalm? Wird das unseren Vogel verstummen lassen? Keineswegs, nichts bringt ihn dazu. Denn zum Singen ist er geboren.
Ich möchte Ihnen eine Besonderheit beim Jammen mit Vertretern einer anderen Spezies vermitteln, weiß aber nicht, ob «jammen» das richtige Wort dafür ist. Finden Sie das vielleicht zu flapsig? Mucke machen? Mit anderen mitspielen? Einen gemeinsamen Nenner finden? Speziesübergreifende Musik ist naturgemäß Musik, die keine Spezies allein machen kann. Und das Ganze sollte, wenn es denn funktioniert, größer sein als seine Teile, genau wie die Natur größer ist als jede einzelne Spezies, die ein Teil von ihr ist. Wir sind alle ein Teil davon, und keine Spezies ist eine Insel. Es ist bereichernd für uns, wenn wir allen anderen Lebewesen mehr Beachtung schenken.
Ein Lied oder viele: Wonach steht dem Vogel der Sinn? Viele Lieder nacheinander, bis hin zu mehreren hundert in einem Anfall von Sangeslust, oder eines, das aus vielen unterschiedlichen Riffs und Phrasen besteht? Wie viel Pause zwischen den Riffs? Wie viel Zuhören findet in diesen Phasen der Stille statt? Ich möchte ebenso zuhören, wie der Vogel es tut. Wir wollen nicht einer den anderen übertrumpfen – wir streben nach gegenseitigem Verständnis. Die Musik, die wir zusammen machen, ist ja kein Krieg.
Ich werde oft gefragt, wie sich das anfühlt, und meine Antwort ist nie gut genug. Ich kann nur Musik spielen, die auf den Moment und die Anwesenheit der Vögel eingestellt ist, und ihren Liedern und den Pausen dazwischen Raum geben, mehr nicht. Sie als Ebenbürtige behandeln, mit denen ich nicht sprechen kann. Es war sehr bewegend, eine Stunde nach dem Ausklingen der russischen Feierlichkeiten, als sich eine merkwürdige Stille über die Nacht senkte, eine geduldige Zuhörerschaft im Treptower Park zusammenzubringen. Erst dann waren die Vögel für uns bereit, als ob sie die lärmende Feier aus Anlass des Kriegsendes genossen hätten.
Sie haben keine Angst vor uns. Sie leben mit uns zusammen, in ihren grünen Festungen versteckt, und warten auf den richtigen Augenblick für ihren Einsatz. Wir würdigen ihren Gesang, indem wir ihn als solchen bezeichnen, ihn als etwas betrachten, was es wert ist, als Musik ernst genommen zu werden, und indem wir uns nach Möglichkeit daran