David Gemmell
Der Schattenprinz
Die Drenai-Saga 2
Ins Deutsche übertragen von Irmhild Seeland
Knaur e-books
David Andrew Gemmell war einer der erfolgreichsten britischen Fantasy-Autoren. Sein bekanntestes Werk ist die Drenai-Saga, die er zwischen 1994 und 2004 veröffentlichte.
Zu Ehren des Autors wird seit 2009 jährlich der David Gemmel Legend Award vergeben, mit dem herausragende Fantasy-Werke ausgezeichnet werden.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel »King beyond the Gate« bei Century.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2018 The Estate of David Gemmell
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Oliver Hoffmann/Stefan Bauer
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Anton Kokarev
ISBN 978-3-426-44015-5
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Auf den Bäumen lastete der Schnee, und der Wald lag wie eine schüchterne Braut unter der weißen Decke. Eine Weile blieb der Mann zwischen den Felsen und Steinblöcken stehen und betrachtete prüfend die Hänge. Schnee sammelte sich auf seinem pelzgefütterten Umhang und dem breitkrempigen Hut, doch er beachtete es nicht, wie er auch die Kälte ignorierte, die durch sein Fleisch drang und seine Knochen taub werden ließ. Er hätte der letzte Lebende auf einem sterbenden Planeten sein können.
Beinahe wünschte er, es wäre so.
Zufrieden, weil er keine Patrouillen entdeckt hatte, bewegte er sich schließlich den Hang hinab, wobei er die Füße behutsam auf den trügerischen Boden setzte. Seine Bewegungen waren langsam, und er wusste, dass die Kälte eine wachsende Gefahr darstellte. Er brauchte einen Lagerplatz und ein Feuer.
Hinter ihm erhoben sich die Delnoch-Berge unter sich zusammenballenden Wolken. Vor ihm lag der Skultik-Wald, ein Gebiet voll dunkler Legenden, enttäuschter Träume und Kindheitserinnerungen.
Der Wald lag schweigend da. Nur hin und wieder knackte trockenes Holz, wenn das immer dicker werdende Eis die Zweige brechen ließ, oder es rauschte leise, wenn der Schnee von den Ästen rutschte.
Tenaka drehte sich um und betrachtete seine Fußspuren. Die scharfen Konturen verschwammen bereits; in wenigen Minuten würde die Fährte nicht mehr zu sehen sein. Er ging weiter, seine Gedanken voller Kummer, seine Erinnerungen zerrissen.
Er schlug in einer flachen Höhle, die Schutz vor dem Wind bot, sein Lager auf und entzündete ein kleines Feuer. Die Flammen loderten auf und ließen rote Schatten auf den Höhlenwänden tanzen. Er zog seine Wollhandschuhe aus und wärmte sich die Hände über dem Feuer; dann rieb er sich das Gesicht und kniff sich in die Wangen, damit das Blut wieder besser zirkulierte. Er hätte gern geschlafen, aber noch war die Höhle nicht warm genug.
Der Drache war tot. Tenaka schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Ananais, Decado, Elias, Beltzer. Alle tot. Verraten, weil sie an die Ehre und vor allem an die Pflicht glaubten. Tot, weil sie glaubten, dass der Drache unbesiegbar war und dass das Gute letztendlich triumphieren musste.
Tenaka kämpfte die aufsteigende Müdigkeit nieder und legte dickere Äste auf das Feuer.
»Der Drache ist tot«, sagte er laut. Seine Stimme hallte in der Höhle wider. Wie seltsam, dachte er – es war die Wahrheit, und doch glaubte er sie nicht.
Er blickte in die Schatten des Feuers und sah wieder die Marmorhallen seines Palasts in Ventria vor sich. Dort gab es kein Feuer, nur die sanfte Kühle der inneren Gemächer, denn der kalte Stein hielt die kräftezehrende Hitze der Wüstensonne fern. Weiche Sessel und gewebte Teppiche, Diener, die Krüge mit geeistem Wein brachten und Eimer mit kostbarem Wasser heranschleppten, um die Rosengärten zu wässern, damit die Schönheit der blühenden Sträucher erhalten blieb.
Beltzer war der Bote gewesen. Der getreue Beltzer – der beste Krieger im Range eines Bar, der Flügel aufzuweisen hatte.
»Wir sind nach Hause zurückbeordert worden, General«, hatte er gesagt, als er unbehaglich in der großen Bibliothek stand. Seine Kleidung war voller Sand und wies Spuren der Reise auf. »Die Rebellen haben eins von Ceskas Regimentern im Norden geschlagen, und Baris hat den Rückzugsbefehl persönlich erteilt.«
»Woher weißt du, dass es Baris war?«
»Das Siegel, General. Sein persönliches Siegel. Und die Botschaft: ›Der Drache ruft‹.«
»Baris ist seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen worden.«
»Ich weiß, General. Aber sein Siegel …«
»Ein Klumpen Wachs bedeutet nichts.«
»Für mich schon, General.«
»Also wirst du nach Drenan zurückkehren?«
»Ja, General. Und du?«
»Zurück zu was, Beltzer? Das Land liegt in Trümmern. Die Bastarde sind unbesiegbar. Und wer weiß, welche schändlichen, zauberischen Mächte gegen die Rebellen ins Feld geführt werden? Sieh dem ins Gesicht, Mann! Der Orden des Drachen wurde vor fünfzehn Jahren aufgelöst, und wir alle sind älter geworden. Ich war damals einer der jüngeren Offiziere. Jetzt bin ich vierzig. Du musst auf die fünfzig zugehen – falls der Drache überlebt hätte, würdest du bald in den Ruhestand gehen.«
»Ich weiß«, sagte Beltzer und nahm straffe Haltung an. »Aber die Ehre ruft. Ich habe den Drenai mein Leben lang gedient und kann mich dem Ruf nicht verweigern.«
»Ich schon«, sagte Tenaka. »Die Sache ist verloren. Gib Ceska Zeit, und er wird sich selbst zerstören. Er ist verrückt. Das ganze System zerbricht.«
»Ich bin kein Mann der Worte, General. Ich bin dreihundert Kilometer geritten, um die Botschaft zu überbringen. Ich kam, um den Mann zu suchen, dem ich einst diente, doch er ist nicht hier. Es tut mir leid, wenn ich gestört habe.«
»Hör zu, Beltzer!«, sagte Tenaka, als der Krieger sich zur Tür wandte. »Wenn es nur die kleinste Aussicht auf Erfolg gäbe, würde ich gern mit dir kommen. Aber das Ganze riecht nach Niederlage.«
»Glaubst du, das wüsste ich nicht? Wir alle wissen es!«, erwiderte Beltzer. Dann war er gegangen.
Der Wind drehte und fuhr in die Höhle. Schnee trieb ins Feuer. Tenaka fluchte leise. Er zog sein Schwert und ging hinaus, um zwei dicke Büsche abzuhacken und als Schutz vor den Eingang zu zerren.
Als die Monate vergingen, hatte er den Drachen vergessen. Er musste sich um seine Besitztümer kümmern, um wichtige Dinge in der wirklichen Welt.
Dann war Illae krank geworden. Tenaka war im Norden gewesen, um Wachpatrouillen aufzustellen, welche die Gewürzstraße schützen sollten, als die Nachricht ihn erreichte, und er war nach Hause geeilt. Die Ärzte sagten, Illae hätte eine fiebrige Krankheit, die vorübergehen würde, und es bestünde kein Grund zur Sorge. Doch ihr Zustand hatte sich verschlechtert. Lungenbrand, hieß es. Sie magerte ab, bis sie zum Schluss nur noch in dem großen Bett liegen konnte. Ihr Atem ging stoßweise, und ihre einst blauen Augen schimmerten nun wie ein Bild des Todes. Tag für Tag saß er neben ihr, redete, betete, flehte sie an, nicht zu sterben.
Und dann war es ihr besser gegangen, und sein Herz tat einen Sprung. Sie erzählte ihm von ihren Plänen für ein Fest und hielt inne, um zu überlegen, wen sie einladen sollte.
»Sprich weiter!«, hatte er gesagt. Aber sie war tot. Zehn Jahre geteilter Erinnerungen, Hoffnungen und Freuden waren wie Wasser im Wüstensand versiegt.
Er hatte sie aus dem Bett gehoben und in einen weißen wollenen Schal gewickelt. Dann drückte er sie fest an sich und trug sie in den Rosengarten. »Ich liebe dich«, sagte er immer wieder, küsste ihr Haar und wiegte sie wie ein kleines Kind.
Die Diener scharten sich schweigend um ihn, bis nach einer Stunde zwei von ihnen vortraten. Sie trennten den weinenden Tenaka von der toten Frau und führten ihn auf seine Gemächer. Dort fand er das versiegelte Schreiben, aus dem der neueste Stand seiner geschäftlichen Unternehmungen hervorging; daneben lag ein Brief von Estes, seinem Buchhalter. Die Briefe enthielten Vorschläge für verschiedene Investitionen und bewiesen eine scharfe politische Einsicht dessen, was außer Acht zu lassen, auszunutzen und zu beachten war.
Ohne nachzudenken, hatte er den Brief geöffnet, die Liste von vagrischen Siedlungen überflogen, von lentrischen Eröffnungen und drenaischen Dummheiten, bis er zu den letzten Sätzen gelangte:
»Ceska hat die Rebellen südlich der sentranischen Ebene in die Flucht geschlagen. Es hat den Anschein, dass er wieder mit seiner Klugheit prahlt. Er hat Boten ausgeschickt, um alte Soldaten heimzurufen; es scheint, dass er den Drachen gefürchtet hat, seit er ihn vor fünfzehn Jahren entließ. Jetzt hat er seine Furcht überwunden – sie wurden bis auf einen Mann vernichtet. Die Bastarde sind entsetzlich. In was für einer Welt leben wir nur?«
»Leben?«, sagte Tenaka. »Niemand lebt – sie sind alle tot.«
Er stand auf und ging zu der nach Westen gelegenen Wand, stellte sich vor einen ovalen Spiegel und betrachtete die Trümmer seines Lebens.
Sein Spiegelbild starrte zurück; die schräg stehenden violetten Augen klagten ihn an, und der fest zusammengepresste Mund wirkte bitter und zornig.
»Geh nach Hause«, sagte sein Spiegelbild, »und töte Ceska.«
Die Gebäude der Unterkünfte waren schneebedeckt, die zerbrochenen Fenster standen offen wie alte, nicht verheilte Wunden. Der Platz, einst platt getreten von zehntausend Mann, war jetzt uneben, und das Gras drängte von unten gegen den Schnee.
Der Drache war brutal behandelt worden: Seine steinernen Flügel waren vom Rücken abgeschlagen, die Fänge zerschmettert und das Gesicht mit roter Farbe verunziert. Als Tenaka in schweigender Verehrung davorstand, hatte er den Eindruck, dass der Drache blutige Tränen weinte.
Dann betrachtete Tenaka den Platz, und die Erinnerung brachte blitzartig helle Bilder zurück: Ananais, der seinen Männern Kommandos zurief, widersprüchliche Befehle, die dazu führten, dass sie sich ineinander verkeilten und zu Boden gingen.
»Ihr Mistratten!«, brüllte der blonde Riese. »Ihr wollt Soldaten sein?«
Die Bilder verblassten vor der geisterhaften weißen Leere der Wirklichkeit, und Tenaka schauderte. Er ging zum Brunnen, neben dem ein alter Eimer lag, dessen Henkel noch immer an ein verrottetes Tau geknotet war. Er ließ den Eimer in den Brunnen hinab und hörte, wie das Eis brach; dann zog er ihn hinauf und trug ihn zum Drachen.
Die Farbe war nur schwer herunterzubekommen, doch er arbeitete fast eine Stunde daran und schabte die letzten roten Spuren mit seinem Dolch ab.
Dann sprang er zu Boden und betrachtete sein Werk.
Selbst ohne die Farbe sah der Drache bedauernswert aus, sein Stolz zerbrochen. Tenaka dachte wieder an Ananais.
»Vielleicht ist es besser, dass du gestorben bist, als das hier sehen zu müssen«, sagte er.
Es begann zu regnen, eisige Nadeln, die in sein Gesicht stachen. Tenaka warf sich sein Bündel über die Schulter und lief zu den verlassenen Unterkünften. Die Tür stand auf, und er trat in das ehemalige Offiziersquartier. Eine Ratte huschte ins Dunkel, als er vorbeiging, doch Tenaka beachtete sie nicht und ging zu den größeren, nach hinten gelegenen Räumen. Er ließ sein Gepäck in seinem alten Zimmer und kicherte, als er den Kamin sah: Holz war daneben aufgestapelt und alles für ein Feuer vorbereitet.
Am letzten Tag musste jemand in sein Zimmer gekommen sein und das Holz aufgeschichtet haben, obwohl er gewusst hatte, dass sie fortgingen.
Decado, sein Bursche?
Nein. Decado besaß keine romantischen Züge. Er war ein bösartiger Killer, der nur von der eisernen Disziplin des Drachen und seinem eigenen ausgeprägten Sinn für Loyalität gegenüber dem Regiment im Zaum gehalten wurde.
Wer war es dann gewesen?
Nach einer Weile gab Tenaka es auf, in seiner Erinnerung nach Gesichtern zu suchen. Er würde es nie erfahren.
Nach fünfzehn Jahren sollte das Holz trocken genug für ein rauchloses Feuer sein, sagte er sich und legte frischen Zunder unter die Scheite. Bald leckten Flammenzungen empor, und das Feuer begann zu flackern.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus ging Tenaka zu der holzgetäfelten Wand und suchte nach der verborgenen Nische. Früher war sie bei der leisen Berührung des Knopfes aufgesprungen, jetzt knirschte die verrostete Feder. Sanft drückte er die Täfelung auf. Dahinter befand sich eine kleine Vertiefung, die entstanden war, als man einen Stein entfernt hatte, viele Jahre bevor der Drache aufgelöst wurde. Auf der Rückseite stand in der Sprache der Nadir:
Nadir sind wir
der Jugend geboren
Blutvergießer und
Äxteschwinger
doch Sieger sind wir.
Zum ersten Mal seit Monaten lächelte Tenaka, und ein Teil der Last wurde von seiner Seele genommen. Die Jahre fielen von ihm ab, und er sah sich wieder als jungen Mann aus der weiten Steppe, der gekommen war, seinen Dienst beim Drachen anzutreten. Er konnte wieder spüren, wie seine neuen Bruderoffiziere ihn anstarrten – und ihre kaum verhohlene Feindseligkeit.
Ein Nadirprinz beim Drachen? Das war unvorstellbar, ja, obszön. Doch unbestreitbar war dieser junge Bursche ein besonderer Fall.
Nach den Ersten Nadirkriegen vor hundert Jahren hatte Magnus Wundweber den Orden des Drachen gebildet, als der unbesiegbare Kriegsherr Ulric seine Horden gegen die Mauern von Dros Delnoch führte, der mächtigsten Festung der Welt, wo er von dem Bronzegrafen und dessen Kriegern jedoch zurückgeschlagen wurde. Der Drache sollte für die Drenai eine Waffe zum Schutz gegen künftige Invasionen der Nadir sein.
Und dann, wie ein Wirklichkeit gewordener Albtraum – und während die Erinnerungen an den Zweiten Nadirkrieg noch frisch waren –, war ein Stammesangehöriger der Nadir ins Regiment aufgenommen worden. Schlimmer noch, er war ein direkter Nachfahre von Ulric. Und doch hatten sie keine andere Wahl, als ihm seinen Säbel zu überreichen.
Denn er war nur von der mütterlichen Seite her ein Nadir. Von der väterlichen Seite war er der Urenkel von Regnak, dem Wanderer: dem Bronzegrafen.
Das war ein Problem für diejenigen, die ihn so gern gehasst hätten.
Wie konnten sie einen Nachfahren des größten Helden der Drenai hassen? Es war nicht leicht für sie, aber sie schafften es.
Ziegenblut wurde auf Tenakas Kissen verschüttet, Skorpione in seinen Stiefeln versteckt. Seine Sattelgurte wurden angeschnitten, und schließlich legte man ihm sogar eine Viper ins Bett.
Die Schlange hätte ihn beinahe getötet, als er sich zu Bett legte und sie ihre Zähne in seinen Oberschenkel hieb. Er schnappte seinen Dolch vom Nachttisch, tötete die Schlange und machte dann einen kreuzförmigen Schnitt in die Wunde, in der Hoffnung, der Blutstrom würde das Gift ausschwemmen. Dann blieb er still liegen; denn er wusste, dass jede Bewegung das Gift schneller in seinen Blutkreislauf gelangen ließ. Er hörte Schritte auf dem Flur und wusste, es war Ananais, der Wachoffizier, der nach Beendigung seines Dienstes in sein Zimmer zurückkehrte.
Tenaka wollte nicht um Hilfe rufen, denn er wusste, dass Ananais ihn nicht mochte. Aber er wollte auch nicht sterben! So rief er Ananais’ Namen; die Tür wurde geöffnet, und der blonde Riese erschien.
»Eine Viper hat mich gebissen«, erklärte Tenaka.
Ananais duckte sich unter dem Türrahmen hindurch, kam zu Tenakas Bett und stieß die tote Viper mit seinem Stiefel beiseite. Dann betrachtete er die Wunde in Tenakas Bein.
»Wie lange ist das her?«, fragte er.
»Zwei oder drei Minuten.«
Ananais nickte. »Die Schnitte sind nicht tief genug.«
Tenaka reichte ihm den Dolch.
»Nein. Wenn sie tief genug wären, würdest du wichtige Muskeln verletzen.«
Ananais beugte sich vor und drückte seinen Mund auf die Wunde, um das Gift herauszusaugen. Dann legte er einen Druckverband an und holte einen Arzt herbei.
Obwohl der größte Teil des Gifts heraus war, wäre der junge Nadirprinz beinahe gestorben. Er fiel in ein Koma, das vier Tage anhielt. Als er aufwachte, saß Ananais an seinem Bett.
»Wie fühlst du dich?«
»Gut.«
»Du siehst aber nicht so aus. Trotzdem, ich bin froh, dass du am Leben bist.«
»Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte Tenaka, als der Riese aufstand, um zu gehen.
»Es war mir ein Vergnügen. Aber ich möchte trotzdem nicht, dass du meine Schwester heiratest«, sagte er grinsend und ging zur Tür. »Übrigens, gestern wurden drei junge Offiziere entlassen. Ich glaube, von jetzt an kannst du ruhig schlafen.«
»Das werde ich nie können«, erwiderte Tenaka. »Für die Nadir ist das der Weg des Todes.«
»Kein Wunder, dass ihre Augen schräg stehen«, meinte Ananais.
Renya half dem alten Mann auf die Füße. Dann häufte sie Schnee auf das kleine Feuer, um es zu löschen. Die Temperatur sank, als die Sturmwolken sich finster und drohend über ihnen zusammenballten. Das Mädchen hatte Angst, denn der alte Mann hatte aufgehört zu zittern. Er stand jetzt bei dem verkrüppelten Baum und starrte mit leerem Blick zu Boden.
»Komm, Aulin«, sagte sie und legte einen Arm um seine Hüfte. »Die alte Kaserne ist nicht mehr fern.«
»Nein!«, rief er und wich zurück. »Sie werden mich dort finden. Ich weiß es.«
»Die Kälte wird dich umbringen«, zischte sie. »Komm schon!«
Widerstrebend erlaubte er Renya, ihn durch den Schnee zu führen. Sie war ein großes Mädchen und stark, doch das Gehen war mühsam, und sie atmete schwer, als sie durch die letzte Reihe Buschwerk vor dem Platz des Drachen kamen.
»Nur noch ein paar Minuten«, sagte sie. »Dann kannst du dich ausruhen.«
Der alte Mann schien aus diesen Worten neue Kraft zu schöpfen und stolperte schneller voran. Zweimal fiel er beinahe zu Boden, doch sie fing ihn auf.
Renya trat die Tür des nächsten Gebäudes auf und half dem alten Mann hinein. Dann streifte sie ihr weißes, wollenes Kopftuch ab und fuhr sich mit der Hand durch das schweißnasse, kurz geschnittene schwarze Haar.
Geschützt vor dem beißenden Wind, spürte sie, wie ihre Haut zu brennen anfing, als ihr Körper sich auf die warme Umgebung einstellte. Sie löste den Gürtel ihres weißen Schaffellmantels und schob ihn über ihre kräftigen Schultern zurück. Darunter trug sie eine hellblaue Wolltunika und schwarze Beinkleider, die zum Teil von schenkellangen, schaffellgefütterten Stiefeln verborgen wurden. An ihrer Hüfte hing ein schmaler Dolch.
Der alte Mann lehnte sich an die Wand. Er zitterte heftig.
»Sie werden mich finden! Sie werden!«, jammerte er. Renya beachtete ihn nicht, sondern schritt den Gang hinunter.
Am anderen Ende erschien plötzlich ein Mann. Renya fuhr zusammen; der Dolch sprang ihr in die Hand. Der Mann war groß und dunkel und schwarz gekleidet. An seiner Hüfte hing ein Langschwert. Er kam langsam näher, doch mit einer Zuversicht, die Renya einschüchterte. Während er auf sie zukam, bereitete sie sich auf den Angriff vor und beobachtete seine Augen.
Sie stellte fest, dass sie von einem wunderschönen Violett waren und schräg standen, wie die Augen der Menschen von den Nadirstämmen im Norden. Sein Gesicht war kantig und beinahe schön zu nennen, abgesehen von dem grimmigen Zug um den Mund.
Renya wollte ihn mit Worten aufhalten, ihm sagen, dass sie ihn töten würde, wenn er noch näher käme. Aber sie konnte nicht. Den Mann umhüllte eine Aura der Macht – eine Autorität, die Renya keine andere Wahl ließ, als zu reagieren statt zu handeln.
Und dann war er an ihr vorbei und beugte sich über Aulin.
»Lass ihn in Ruhe!«, rief Renya. Tenaka drehte sich zu ihr um.
»In meinem Zimmer brennt ein Feuer. Hier entlang, auf der rechten Seite«, sagte er ruhig. »Ich werde ihn dorthin tragen.« Geschmeidig hob er den alten Mann hoch und trug ihn in seine Unterkunft, wo er ihn auf das schmale Bett legte. Dann zog er dem Alten Mantel und Stiefel aus und begann, ihm sanft die Waden zu massieren, deren Haut blau und fleckig war. Er drehte sich um und warf dem Mädchen eine Decke zu. »Wärm sie am Feuer«, bat er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Nach einer Weile horchte er auf die Atmung des Mannes – sie war tief und gleichmäßig.
»Schläft er?«, fragte sie.
»Ja.«
»Wird er es überstehen?«
»Wer kann das sagen?«, entgegnete Tenaka, stand auf und streckte sich.
»Danke, dass du ihm geholfen hast.«
»Danke, dass du mich nicht getötet hast«, erwiderte er.
»Was tust du hier?«
»Ich sitze an meinem Feuer und warte darauf, dass der Sturm nachlässt. Möchtest du etwas essen?«
Gemeinsam saßen sie vor dem Feuer und teilten sich getrocknetes Fleisch und Hartzwieback. Sie sprachen wenig. Tenaka war nicht besonders neugierig, und Renya spürte intuitiv, dass er keine Lust hatte zu reden. Doch das Schweigen war keineswegs unbehaglich. Sie fühlte sich ruhig und friedlich, zum ersten Mal seit Wochen, und selbst die Bedrohung durch die Meuchelmörder wirkte weniger real. Es schien, als würde die Kaserne durch Magie geschützt – unsichtbar, aber unendlich mächtig.
Tenaka lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete das Mädchen, das in die Flammen starrte. Ihr Gesicht war anziehend, oval mit hohen Wangenknochen und großen Augen, die so dunkel waren, dass die Pupillen mit der Iris verschmolzen. Sie machte den Eindruck von Kraft, unter der sich Verletzlichkeit verbarg, als ob geheime Ängste oder eine verborgene Schwäche das Mädchen quälten. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Doch wenn er jetzt in sich hineinsah, konnte er keine Gefühle entdecken, kein Begehren … kein Leben, wie er erstaunt feststellte.
»Wir werden gejagt!«, sagte sie schließlich.
»Ich weiß.«
»Woher willst du das wissen?«
Er zuckte die Achseln und legte Holz nach. »Ihr seid auf einer Straße, die nirgends hinführt, ohne Pferde und Verpflegung. Und doch sind eure Kleider teuer und euer Benehmen kultiviert. Also lauft ihr vor irgendetwas oder irgendjemandem davon, und daraus folgt, dass man hinter euch her ist.«
»Stört dich das?«, fragte sie.
»Warum sollte es?«
»Wenn du mit uns zusammen erwischt wirst, musst du auch sterben.«
»Dann werde ich eben nicht mit euch zusammen erwischt.«
»Soll ich dir sagen, warum man uns jagt?«, fragte sie.
»Nein. Das ist euer Leben. Unsere Wege haben sich hier gekreuzt, aber wir gehen einem unterschiedlichen Schicksal entgegen. Es besteht keine Notwendigkeit, mehr über den anderen zu erfahren.«
»Warum? Hast du Angst, du würdest dich ängstigen, falls du es wüsstest?«
Er dachte sorgfältig über die Frage nach und sah den Zorn in ihren Augen. »Kann sein. Aber vor allem fürchte ich die Schwäche, die sich daraus ergibt, wenn man Anteil nimmt. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, und ich kann nicht noch andere Probleme gebrauchen. Nein, das stimmt nicht – ich will keine anderen Probleme.«
»Ist das nicht selbstsüchtig?«
»Natürlich. Aber es hilft zu überleben.«
»Und ist das so wichtig?«, fuhr sie ihn an.
»Das muss es wohl sein, sonst würdet ihr nicht davonlaufen.«
»Es ist wichtig für ihn«, sagte sie und deutete auf den alten Mann im Bett. »Nicht für mich.«
»Vor dem Tod kann er nicht davonlaufen«, sagte Tenaka leise. »Auch wenn es Mystiker gibt, die behaupten, dass es ein Paradies nach dem Tode gibt.«
»Er glaubt daran«, sagte sie lächelnd. »Und genau davor hat er Angst.«
Tenaka schüttelte langsam den Kopf; dann rieb er sich die Augen.
»Das ist etwas zu viel für mich«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich glaube, ich werde jetzt schlafen.« Er nahm seine Decke, breitete sie auf dem Boden aus und legte sich darauf; sein Kopf ruhte auf seinem Bündel.
»Du gehörst zum Drachen, nicht wahr?«, fragte Renya.
»Woher weißt du das?«, fragte er zurück und stützte sich auf den Ellbogen.
»Die Art, wie du gesagt hast: ›mein Zimmer‹.«
»Sehr scharf beobachtet.« Er legte sich wieder hin und schloss die Augen.
»Ich heiße Renya.«
»Gute Nacht, Renya.«
»Willst du mir nicht deinen Namen sagen?«
Er musste an all die Gründe denken, ihr seinen Namen zu verschweigen.
»Tenaka Khan«, sagte er schließlich. Und schlief ein.
Das Leben ist eine Farce, dachte Steiger, als er dreizehn Meter über dem gepflasterten Hof an den Fingerspitzen hing. Unter ihm schnüffelte ein riesiger Bastard, den zottigen Kopf hin- und herschwenkend, die klauenbewehrten Finger um den Griff eines Schwertes mit gezackter Klinge gekrallt. Schnee wehte in eisigen Schauern herein und stach Steiger in die Augen.
»Vielen Dank«, wisperte er und blickte zu den dunklen, schweren Sturmwolken empor. Steiger war ein religiöser Mann, der die Götter als eine Gruppe uralter Wesen betrachtete – Ewige, die mit der Menschheit endlose Scherze von kosmisch schlechtem Geschmack trieben.
Unter ihm schob der Bastard sein Schwert in die Scheide und stapfte davon in die Dunkelheit. Tief Luft holend, zog Steiger sich über die Fensterbrüstung und schob die schwarzen Samtvorhänge auseinander. Er befand sich in einem Arbeitszimmer, das mit einem Schreibtisch, drei Eichenstühlen, mehreren Truhen und einer Reihe von Bücherregalen und Ständern für Schriftrollen ausgestattet war. Das Arbeitszimmer war aufgeräumt, übertrieben aufgeräumt, dachte Steiger, als er feststellte, dass die drei Schreibfedern exakt in der Mitte des Tisches und parallel zueinander ausgerichtet waren. Von Magister Silius hätte er auch nichts anderes erwartet.
Ein langer, silberner Spiegel in einem Mahagonirahmen hing an der Wand gegenüber dem Schreibtisch. Steiger richtete sich zu seiner vollen Größe auf, nahm die Schultern zurück und betrachtete sich in diesem Spiegel. Die schwarze Gesichtsmaske, dunkle Tunika und Beinkleider verliehen ihm ein furchterregendes Äußeres. Er zog seinen Dolch und nahm die Lauerstellung des Kriegers an. Die Wirkung war beängstigend.
Perfekt, sagte er zu seinem Spiegelbild. Dir möchte ich nicht in einer dunklen Gasse begegnen! Er steckte den Dolch wieder weg, ging zur Tür und hob vorsichtig den eisernen Riegel.
Hinter der Tür lag ein schmaler Gang, von dem vier weitere Türen wegführten – zwei auf der linken und zwei auf der rechten Seite. Steiger schlich zum letzten Raum links und hob behutsam den Riegel. Die Tür öffnete sich lautlos, und er ging hinein, wobei er sich dicht an die Wand drückte. Der Raum war warm, obwohl das Holzfeuer im Kamin nur noch schwach brannte, ein gedämpftes rotes Glühen, das die Vorhänge rund um ein großes Bett beleuchtete. Steiger ging zu diesem Bett, um einen Blick auf den dicken Silius und seine ebenso dicke Frau zu werfen. Silius lag auf dem Bauch, sie auf dem Rücken, und beide schnarchten.
Warum schleiche ich eigentlich?, fragte Steiger sich. Ich hätte auch laut pfeifend hereinkommen können. Er unterdrückte ein Kichern, fand das Schmuckkästchen in der verborgenen Nische unterhalb des Fensters, öffnete es und ließ den Inhalt in einen schwarzen Samtbeutel gleiten, den er am Gürtel trug. Der Wert des Schmucks würde ihm fünf Jahre ein Leben in Luxus erlauben. Aber so, wie die Dinge lagen, musste er den Schmuck an einen der schäbigen Händler im Südviertel verkaufen, und dann würde das Geld nur für drei Monate reichen oder für sechs, falls er nicht spielte. Steiger erwog, diesmal die Finger vom Glücksspiel zu lassen, aber das war unvorstellbar. Also gut. Dann eben nur drei Monate.
Er knüpfte den Beutel wieder zu, schlich rückwärts auf den Gang hinaus, drehte sich um …
… und fand sich einem Diener gegenüber, einer großen hageren Gestalt in einem wollenen Nachthemd.
Der Mann schrie auf und ergriff die Flucht.
Steiger schrie ebenfalls auf und flüchtete, schoss eine Wendeltreppe hinab und prallte mit zwei Wächtern zusammen. Beide taumelten zurück und schrien im Fallen. Steiger rollte sich ab, kam wieder auf die Füße und rannte nach links, die Wächter dicht auf den Fersen. Eine weitere Treppe tauchte rechts von ihm auf, und er rannte hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Seine langen Beine trugen ihn mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon.
Zweimal verlor er beinahe das Gleichgewicht, ehe er das nächste Geschoss erreichte. Vor ihm befand sich ein eisernes Tor – verschlossen, aber der Schlüssel hing an einem hölzernen Haken. Der Gestank, der durch das Tor drang, brachte ihn wieder zu Sinnen, und Angst verdrängte seine Panik.
Die Verliese der Bastarde!
Hinter sich hörte er, wie die Wächter die Treppe hinaufkeuchten. Er nahm den Schlüssel, öffnete das Tor, schlüpfte hindurch und verschloss es von innen. Dann ging er vorsichtig in die Dunkelheit und betete zu den Uralten, dass sie ihn noch für ein paar weitere solcher Scherze am Leben ließen.
Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er zu beiden Seiten des Ganges mehrere Öffnungen, in denen Silius’ Bastarde auf Stroh schliefen.
Er ging auf das Tor am anderen Ende zu und nahm dabei seine Maske ab.
Er hatte das Tor fast erreicht, als hinter ihm das Trommeln einsetzte und die gedämpften Schreie der Wächter die Stille durchdrangen. Ein Bastard stolperte aus seinem Nest; die blutroten Augen hefteten sich auf Steiger. Der Bastard war über zwei Meter groß, hatte gewaltige Schultern und muskelbepackte Arme, die mit schwarzem Fell bedeckt waren. Sein Gesicht war lang gezogen, scharfe Zähne säumten das Maul. Das Trommeln wurde lauter, und Steiger holte tief Luft.
»Geh und sieh nach, was der Lärm bedeutet«, befahl er dem Untier.
»Wer du?«, zischte es. Die Worte wurden durch die heraushängende Zunge verzerrt.
»Steh hier nicht rum! Geh und sieh nach, was da los ist!«, rief Steiger scharf.
Das Untier stapfte an ihm vorbei. Weitere Bastarde kamen auf den Gang und folgten ihm, ohne Steiger zu beachten. Er lief zum Tor und schob den Schlüssel ins Schloss. Als er ihn drehte und das Tor aufschwang, scholl plötzlich ein bellendes Gebrüll durch den schmalen Gang. Steiger blickte sich um und stellte fest, dass die Bastarde mit wütendem Geheul auf ihn zurannten. Mit zitternden Fingern zog er den Schlüssel aus dem Schloss, sprang durch das Tor, warf es hinter sich zu und verschloss es.
Die Nachtluft war frisch, als er die wenigen Stufen zum Westhof hinaufrannte und weiter zu der verzierten Mauer, die er geschickt erstieg. Er ließ sich auf die dahinterliegende gepflasterte Straße fallen.
Das Abendläuten war längst vorbei, und so hielt Steiger sich auf dem ganzen Weg zum Wirtshaus in den Schatten. Am Ziel angelangt, kletterte er am Spalier hinauf zu seinem Zimmer und klopfte an die Läden.
Belder öffnete das Fenster und half ihm hinein.
»Nun?«, fragte der alte Soldat.
»Ich hab die Juwelen«, erklärte Steiger.
»Ich verzweifle noch an dir«, sagte Belder. »Nach all den Jahren, die ich dir gewidmet habe – was ist aus dir geworden? Ein Dieb!«
»Das liegt mir im Blut«, sagte Steiger grinsend. »Erinnerst du dich an den Bronzegrafen?«
»Das ist Legende«, erwiderte Belder. »Und selbst, wenn es stimmt, hat keiner seiner Nachfahren je ein unehrenhaftes Leben geführt. Selbst diese Nadirbrut Tenaka nicht!«
»Sprich nicht schlecht von ihm, Belder!«, sagte Steiger leise. »Er war mein Freund.«
Tenaka schlief, und die vertrauten Träume kamen wieder und peinigten ihn.
Die Steppe dehnte sich vor ihm aus wie ein gefrorener grüner Ozean, bis zum Ende der Welt. Sein Pony stieg, als er an den ungegerbten Lederzügeln zog; dann schwenkte es nach Süden und galoppierte mit trommelnden Hufen über den trockenen, harten Boden.
Tenaka grinste, als er den trockenen Wind auf seinem Gesicht spürte.
Hier, und nur hier, war er er selbst. Halb Nadir, halb Drenai – ein Produkt des Krieges, ein Symbol aus Fleisch und Blut für einen unbeständigen Frieden. Bei den Stämmen akzeptierte man ihn mit kühler Höflichkeit, wie es jemandem gebührte, in dessen Adern das Blut Ulrics floss. Aber Kameradschaft wurde ihm kaum zuteil. Zweimal waren die Stämme von den Drenai zurückgeworfen worden. Einmal, vor langer Zeit, hatte der legendäre Bronzegraf Dros die Festung Delnoch gegen Ulrics Horde verteidigt. Vor zwanzig Jahren hatte der Drache Jongirs Armee dezimiert.
Und jetzt war Tenaka da, eine lebende Erinnerung an die Niederlage.
So ritt er allein und bewältigte alle Aufgaben, die ihm gestellt wurden. Schwert, Bogen, Speer, Axt – mit all diesen Waffen war er geschickter als alle anderen; denn wenn sie mit den Übungen aufhörten, um die Spiele der Kindheit zu genießen, arbeitete Tenaka weiter. Er lauschte den Weisen, sodass er Kriege und Schlachten aus einer anderen Sicht erfuhr, und sein scharfer Verstand sog alle Lektionen auf.
Eines Tages würden sie ihn respektieren. Wenn er nur Geduld hatte.
Aber er war zurück nach Hause in die Zeltstadt gekommen und hatte seine Mutter neben Jongir stehen sehen. Sie weinte.
Und da wusste er Bescheid.
Er sprang aus dem Sattel und verbeugte sich vor dem Khan, wie es sich gehörte, ohne seine Mutter zu beachten.
»Es ist Zeit für dich, nach Hause zu gehen«, sagte Jongir.
Er sagte nichts, nickte nur.
»Sie haben im Drachen für dich einen Platz. Es ist dein Recht als Sohn eines Grafen.« Der Khan fühlte sich sichtlich unbehaglich und blickte Tenaka nicht in die Augen. »Na, sag schon etwas«, fuhr er ihn an.
»Wie du es wünschst, Herr, so soll es geschehen.«
»Du flehst mich nicht an, bleiben zu dürfen?«
»Wenn du es von mir verlangst.«
»Ich verlange gar nichts von dir.«
»Wann soll ich aufbrechen?«
»Morgen. Du wirst eine Eskorte bekommen – zwanzig Reiter, so wie es meinem Enkel zusteht.«
»Du ehrst mich, Herr.«
Der Khan nickte, warf Shillat einen Blick zu und ging davon. Shillat öffnete die Zeltklappe, und Tenaka trat in ihr Heim. Sie folgte ihm, und sobald sie drinnen waren, drehte er sich um und nahm sie in die Arme.
»O Tani«, flüsterte sie unter Tränen. »Was musst du noch alles tun?«
»Vielleicht werde ich in Dros Delnoch wirklich zu Hause sein«, sagte er. Aber die Hoffnung erstarb in ihm, noch während er die Worte aussprach, denn er war kein Narr.
Tenaka erwachte, weil der Sturm heulte und an den Fensterläden rüttelte. Er streckte sich und warf einen Blick auf das Feuer – es war bis auf ein paar glühende Kohlen heruntergebrannt. Das Mädchen schlief im Sessel, ihr Atem ging tief und gleichmäßig. Tenaka stand auf und ging zum Feuer, legte Holz nach und entfachte es vorsichtig wieder. Er schaute sich den alten Mann an – seine Farbe sah nicht gut aus. Tenaka zuckte die Achseln und verließ das Zimmer. Der Flur war eiskalt, die hölzernen Dielen knackten unter seinen Stiefeln. Er ging in die alte Küche und zum Brunnen. Es war schwer zu pumpen, doch er genoss die Anstrengung und wurde belohnt, als das Wasser in den Holzeimer strömte. Dann streifte er die dunkle Weste und die grauwollene Tunika ab, wusch sich den Oberkörper und erfreute sich an der fast schmerzhaften Kälte, als das eisige Wasser seine schlafwarme Haut berührte.
Tenaka zog sich aus und ging in den Turnsaal. Dort wirbelte und sprang er, landete leichtfüßig und ließ erst seine rechte, dann seine linke Hand durch die Luft sausen. Er rollte sich auf den Boden, bog den Rücken durch und sprang wieder auf die Füße.
Von der Tür her beobachtete Renya ihn aus dem Schatten des Flurs. Sie war fasziniert. Er bewegte sich wie ein Tänzer, doch es lag etwas Barbarisches über der Szene: ein ursprüngliches Element, das gleichzeitig schön und tödlich war. Seine Hände und Füße waren Waffen, die blitzschnell unsichtbare Gegner töteten, doch sein Gesicht war nüchtern und bar jeden Ausdrucks.
Sie schauderte und hätte sich gern in die Sicherheit seines Zimmers zurückgezogen, doch sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Seine Haut hatte die Farbe von Gold in der Sonne, weich und warm, doch die Muskeln darunter bewegten sich und spielten wie Silberstahl. Sie schloss die Augen, stolperte rückwärts und wünschte, sie hätte ihn nie gesehen.
Tenaka wusch sich den Schweiß vom Körper und zog sich dann rasch an. Hunger nagte an ihm. Zurück auf seinem Zimmer, spürte er die Veränderung der Atmosphäre. Renya mied seinen Blick, als sie bei dem alten Mann saß und ihm über das Haar strich.
»Der Sturm lässt nach«, sagte Tenaka.
»Ja.«
»Was ist los?«
»Nichts … nur, dass Aulin unregelmäßig atmet. Was meinst du, wird er wieder gesund?«
Tenaka ging zu ihr. Er nahm das dünne Handgelenk des alten Mannes und fühlte nach dem Puls. Er war schwach und unregelmäßig.
»Wann hat er das letzte Mal etwas gegessen?«
»Vor zwei Tagen.«
Tenaka suchte in seinem Gepäck und brachte einen Beutel mit getrocknetem Fleisch und einen kleineren mit Haferflocken zum Vorschein. »Ich wünschte, ich hätte Zucker«, sagte er, »aber das hier muss es auch tun. Geh und hol Wasser und einen Kochtopf.«
Ohne ein Wort verließ Renya den Raum. Tenaka lächelte. Das war es also – sie hatte ihn beim Üben beobachtet, und aus irgendeinem Grund hatte es sie aus der Fassung gebracht. Er schüttelte den Kopf.
Sie kam mit einem eisernen Topf zurück, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt war.
»Gieß die Hälfte weg«, befahl er. Sie schüttete es in den Gang, und er brachte den Topf zum Feuer und schnitt mit seinem Dolch das Fleisch hinein. Dann setzte er den Topf vorsichtig in die Flammen.
»Warum hast du heute Morgen nichts gesagt?«, fragte er, ihr den Rücken zugewandt.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Als du mir beim Üben zugesehen hast.«
»Ich habe dich nicht gesehen.«
»Woher wusstest du dann, wo du Topf und Wasser finden kannst? Du bist diese Nacht nicht an mir vorbeigegangen.«
»Wer bist du, mir Fragen zu stellen?«, fauchte sie.
Er drehte sich zu ihr um. »Ich bin ein Fremder. Du brauchst mich nicht anzulügen oder mir etwas vorzumachen. Nur unter Freunden brauchen wir eine Maske.«
Sie setzte sich vors Feuer und streckte ihre langen Beine den Flammen entgegen.
»Wie traurig«, sagte sie leise. »Bestimmt kann man doch nur unter Freunden in Frieden sein?«
»Mit Fremden ist es einfacher, denn sie berühren unser Leben nur für einen Augenblick. Du enttäuschst sie nicht, denn du schuldest ihnen nichts, und sie erwarten auch nichts. Freunde kann man verletzen, denn sie erwarten alles.«
»Du musst seltsame Freunde gehabt haben«, meinte sie.
Tenaka rührte mit dem Dolch in der Brühe. Ihm war auf einmal unbehaglich; denn er hatte das Gefühl, die Kontrolle über ihr Gespräch verloren zu haben.
»Woher kommst du?«, fragte er.
»Ich dachte, das interessiert dich nicht.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
Ihre Augen wurden schmal, und sie wandte den Kopf ab. »Ich wollte deine Konzentration nicht stören.«
Das war eine Lüge, und sie wussten es beide, doch die Spannung ließ nach, und die Stille wurde größer und zog sie zueinander.
Draußen hatte der Sturm sich ausgetobt und erstarb.
Als der Eintopf dick wurde, gab Tenaka die Haferflocken dazu, um die Mischung noch mehr anzudicken; dann streute er ein wenig Salz aus seinem kleinen Vorrat hinein.
»Riecht gut«, sagte Renya und beugte sich über das Feuer. »Was ist das für Fleisch?«
»Vor allem Maultier«, sagte er.
Er ging in die Küche, um hölzerne Teller zu holen. Als er zurückkam, hatte Renya den alten Mann geweckt und half ihm, sich aufzusetzen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Tenaka.
»Bist du ein Krieger?«, fragte Aulin ängstlich.
»Ja. Aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«
»Bist du ein Nadir?«
»Söldner. Ich habe Eintopf für dich gekocht.«
»Ich bin nicht hungrig.«
»Iss trotzdem«, befahl Tenaka. Der alte Mann zuckte bei dem schroffen Tonfall zusammen; dann aber wandte er die Augen ab und nickte. Renya fütterte ihn langsam, während Tenaka sich am Feuer niederließ. Es war eine Verschwendung von Nahrung, denn der alte Mann lag im Sterben. Doch Tenaka bedauerte es nicht, und er verstand nicht, weshalb.
Als die Mahlzeit beendet war, sammelte Renya Topf und Teller ein. »Mein Großvater möchte mit dir sprechen«, sagte sie und ging hinaus.
Tenaka trat ans Bett und starrte auf den Sterbenden hinab. Aulins Augen waren grau und glänzten in beginnendem Fieber.
»Ich bin nicht stark«, sagte Aulin. »Das war ich nie. Ich habe jeden enttäuscht, der mir vertraute. Außer Renya … ich habe sie nie im Stich gelassen. Glaubst du mir das?«
»Ja«, antwortete Tenaka. Warum haben schwache Männer immer das Bedürfnis zu beichten?
»Wirst du sie beschützen?«
»Nein.«
»Ich kann dich bezahlen.« Aulin ergriff Tenakas Arm. »Bring sie nach Sousa. Die Stadt liegt nur fünf, sechs Tage südlich von hier.«
»Du bedeutest mir nichts. Ich schulde dir nichts. Und du kannst mir nicht genug bezahlen.«
»Renya sagt, du hättest einmal zum Drachen gehört. Wo ist dein Ehrgefühl?«
»Begraben unter Wüstensand. Verloren in den wirbelnden Nebeln der Zeit. Ich will nicht mit dir reden, alter Mann. Du hast mir nichts zu sagen.«
»Bitte, hör mich an!«, flehte Aulin. »Als junger Mann diente ich dem Rat. Ich unterstützte Ceska, arbeitete für seinen Sieg. Ich glaubte an ihn. Dadurch bin ich mitverantwortlich für den abscheulichen Schrecken, den er über dieses Land gebracht hat. Ich war einst ein Priester der Quelle. Mein Leben verlief in Harmonie. Jetzt sterbe ich und weiß überhaupt nichts mehr. Aber ich kann nicht sterben und Renya den Bastarden überlassen! Ich kann nicht! Verstehst du nicht? Mein ganzes Leben war Versagen – mein Tod muss etwas bewirken.«
Tenaka schob die Hand des alten Mannes fort und stand auf.
»Jetzt hör du mir zu«, sagte er. »Ich bin hier, um Ceska zu töten. Ich erwarte nicht, dass ich am Leben bleibe, doch ich habe weder die Zeit noch den Wunsch, deine Verantwortung zu übernehmen. Wenn du willst, dass das Mädchen nach Sousa kommt, dann werde gesund. Setze deine Willenskraft ein.«
Plötzlich lächelte der alte Mann, und alle Spannung und Furcht fielen von ihm ab. »Du willst Ceska töten?«, wisperte er. »Ich kann dir etwas Besseres raten.«
»Besser? Was könnte besser sein?«
»Bringe ihn zu Fall. Beende seine Herrschaft.«
»Wenn ich ihn töte, ist das erreicht.«
»Ja. Aber dann würde einer seiner Generäle die Macht übernehmen! Ich kann dir das Geheimnis verraten, mit dem du sein Reich zerstören und die Drenai befreien kannst.«
»Wenn das eine Geschichte von Zauberschwertern und magischen Sprüchen ist, vergeudest du nur deine Zeit. Diese Geschichten habe ich allesamt schon gehört.«
»Ich will dir keine Geschichte erzählen. Versprich mir nur, dass du Renya beschützen wirst, bis sie in Sousa ist.«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Tenaka. Wieder drohte das Feuer zu verlöschen, und er legte das letzte Holz auf die Flammen, ehe er den Raum verließ, um das Mädchen zu suchen. Er fand sie in der kalten Küche.
»Ich will deine Hilfe nicht«, sagte sie, ohne aufzusehen.
»Ich habe sie dir noch nicht angeboten.«
»Es ist mir egal, ob sie mich fangen.«
»Du bist zu jung, als dass dir das egal sein könnte«, sagte er, kniete neben ihr nieder und hob ihr Kinn. »Ich werde dafür sorgen, dass du sicher nach Sousa kommst.«
»Glaubst du, er kann dir genug zahlen?«
»Er sagt es jedenfalls.«
»Ich mag dich nicht besonders, Tenaka Khan.«
»Willkommen bei der Mehrheit!«, erwiderte er.
Er ging zu dem alten Mann zurück. Lachend riss er das Fenster weit auf, um die Winterluft ins Zimmer zu lassen.
Vor ihm dehnte sich der Wald in weißer Unendlichkeit.
Hinter ihm lag der alte Mann. Er war tot.
Renya trat ins Zimmer, da sie sein Lachen gehört hatte. Aulins Arm war aus dem Bett gerutscht, und seine knochigen Finger deuteten auf den hölzernen Fußboden. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht friedlich.
Sie ging zu ihm und strich ihm zärtlich über die Wangen. »Nun musst du nicht mehr davonlaufen, Aulin. Nun brauchst du keine Angst mehr zu haben. Möge die Quelle dich heimgeleiten!«
Sie breitete eine Decke über sein Gesicht.
»Jetzt bist du deiner Verpflichtung enthoben«, erklärte Renya dem schweigenden Tenaka.
»Noch nicht«, erwiderte er und schloss das Fenster. »Er sagte, er wüsste einen Weg, um Ceskas Herrschaft zu beenden. Weißt du, was er damit gemeint hat?«
»Nein.« Sie wandte sich ab und hob ihren Mantel auf. Ihr Herz war plötzlich leer. Dann hielt sie inne. Der Mantel entglitt ihren Fingern, als sie in das verlöschende Feuer starrte und den Kopf schüttelte. Die Wirklichkeit verblasste. Was gab es denn, wofür zu leben sich lohnte?
Nichts.
Was zu lieben sich lohnte?
Nichts.
Sie kniete vor dem Feuer nieder und starrte hinein, ohne zu blinzeln, während ein furchtbarer Schmerz die Leere in ihrem Innern vertrieb. Aulins Leben war ein dauernder Strom von kleinen Freundlichkeiten, Zärtlichkeiten und Fürsorge gewesen. Er war niemals absichtlich grausam oder bösartig gewesen, und niemals gierig. Doch er hatte sein Leben in einer verlassenen Kaserne ausgehaucht – gejagt wie ein Verbrecher, verraten von seinen Freunden und verloren für seinen Gott.
Tenaka beobachtete das Mädchen. In seinen violetten Augen war kein Gefühl zu lesen. Er war ein Mann, der an den Tod gewöhnt war. Langsam packte er seine Sachen in den Leinenbeutel; dann zog er Renya auf die Füße, legte ihr den Mantel um und schob sie sanft aus der Tür.
»Warte hier«, bat er. Er ging zum Bett zurück und zog seine Decke vom Leichnam. Die Augen des alten Mannes hatten sich geöffnet, sodass er den Krieger anzustarren schien.
»Schlafe in Ruhe«, flüsterte Tenaka. »Ich werde auf sie achtgeben.« Er schloss dem Toten die Augen und faltete seine Decke zusammen.
Draußen war die Luft kalt und frisch. Der Wind hatte nachgelassen, und die Sonne schien blass von einem klaren Himmel. Tenaka sog langsam und tief die Luft ein.
»Jetzt ist es vorbei«, flüsterte Renya.
Tenaka sah sich um.
Vier Krieger waren aus dem Schutz der Bäume getreten und kamen mit gezogenen Schwertern auf sie zu.
»Lass mich«, sagte sie.
»Sei still.«
Er löste sein Bündel und ließ es in den Schnee gleiten. Dann schob er seinen Mantel von den Schultern, sodass seine Schwertscheide und das Jagdmesser sichtbar wurden. Er ging zehn Schritte auf die Krieger zu; dann wartete er und musterte sie abschätzend.
Sie trugen die rot-bronzenen Brustplatten Delnochs.
»Was sucht ihr hier?«, fragte Tenaka, als sie näher kamen.
Keiner der Soldaten erwiderte etwas, was sie als Veteranen auswies; stattdessen schwärmten sie aus – bereit für den Angriff des Kriegers.
»Sprecht – oder der Kaiser bekommt eure Köpfe!«, sagte Tenaka. Sie hielten inne, und ihre Blicke fuhren zu einem Schwertkämpfer mit scharf geschnittenen Zügen, der zu ihrer Linken stand. Seine blauen Augen blickten kalt und bösartig.
»Seit wann macht ein Wilder aus dem Norden Versprechen an den Kaiser?«, zischte er.
Tenaka lächelte. Die Männer waren stehen geblieben und warteten auf eine Antwort – und damit hatten sie ihre Stoßkraft verloren.
»Vielleicht sollte ich es erklären«, sagte er, immer noch lächelnd, und ging auf den Mann zu. »Es ist so …«, seine Hand schoss vor und nach oben und krachte dem Mann mit ausgestreckten Fingern in die Nase. Der dünne Knorpel riss bis zum Hirn auf, und er fiel ohne einen Laut zu Boden. Sofort wirbelte Tenaka herum und sprang, sodass seine Stiefel einen zweiten Gegner an der Kehle trafen. Noch im Sprung zog er sein Jagdmesser. Auf den Fußballen landend, schoss er herum, parierte einen Hieb und grub die Klinge in den Hals des dritten Mannes. Der Vierte stürmte mit erhobenem Schwert auf Renya zu. Sie stand ruhig da und beobachtete ihn ohne Interesse.
Tenaka warf das Jagdmesser. Es traf den Mann mit dem Griff an der Helmkante. Aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte er in den Schnee und verlor dabei sein Schwert. Tenaka rannte auf ihn zu, als er versuchte, auf die Füße zu kommen. Dann warf er sich auf den Rücken des Mannes, sodass er wieder zu Boden ging und ihm der Helm vom Kopf fiel. Tenaka packte ihn an den Haaren, zog den Kopf zurück, griff das Kinn des Mannes und drehte es ruckartig nach links. Sein Genick brach wie ein trockener Ast.
Tenaka hob sein Messer auf, wischte es sauber und steckte es ein. Er blickte prüfend über die Lichtung. Alles war ruhig.
»Nadir sind wir«, flüsterte er mit geschlossenen Augen.
»Sollen wir gehen?«, fragte Renya.
Verwirrt nahm er ihren Arm und sah ihr in die Augen.
»Was ist los mit dir? Willst du sterben?«
»Nein«, antwortete sie abwesend.
»Warum bist du dann einfach stehen geblieben?«
Tränen stiegen ihr in die nachtdunklen Augen und liefen ihr über die Wangen, doch ihr blasses Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck.
Er wischte ihr eine Träne ab.
»Bitte, fass mich nicht an«, flüsterte sie.
»Jetzt hör mir mal zu. Der alte Mann wollte, dass du lebst. Er hat dich geliebt.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Es spielte eine Rolle für ihn!«