HASS. MACHT. GEWALT.

Philip Schlaffer

HASS.
MACHT.
GEWALT.

Ein Ex-Nazi und Rotlicht-Rocker packt aus

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Impressum

© der ePub Ausgabe 2020 Droemer eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Verlagsgruppe Droemer Knaur

Coverabbildung: Olaf Ballnus Fotograf, Hamburg

Bildnachweis: Fotos aus dem Archiv Philip Schlaffer

ISBN 978-3-426-45893-8

Neben allen Leuten, denen ich in meiner Zeit als Täter geschadet habe, möchte ich dieses Buch vor allem zwei Menschen widmen, die unter meinen extremistischen Verirrungen wohl am meisten und längsten leiden mussten: meiner Mama Margrit und meinem Papa Karl. Danke, dass ihr mich trotz allem nie aufgegeben und in den düstersten Stunden meines Lebens aufgefangen habt. Danke auch an meine Schwester Catrin, an Tobias, Julina und alle anderen, die mir wieder die Hand gereicht haben, obwohl sie so oft von mir weggestoßen wurden.

In Liebe. Philip

Dieses Buch besteht vor allem aus den Lehren, die ich aus meinen Erfahrungen gezogen habe. Gleichzeitig kann ich diese Lehren nicht darstellen, ohne auch vom Erlebten zu erzählen. Das geht nicht, ohne auch Personen zu beschreiben. Um deren Privatsphäre zu schützen, habe ich daher immer mal wieder Namen, Orte und anderes verändert, damit diese nicht erkennbar sind. Sollten dennoch Ähnlichkeiten zu realen Personen bestehen, so sind diese rein zufällig.

Vorwort

Einmal Nazi, immer Nazi« – dieser Satz wurde mir so oft um die Ohren gehauen, dass ich genau weiß, dass ihn auch beim Lesen dieser Zeilen viele Leute denken werden. Kann ein Typ, der in seiner Jugend als Neonazi Hakenkreuzfahnen geschwungen hat, der professionell die Hassbotschaften des Rechtsrock verbreitet und als Anführer eines Rockerclubs Drogen- und Rotlichtgeschäfte betrieben hat, sich wirklich ändern? Darf er die Seiten wechseln und wieder zu den Guten gehören? Und wenn ja: Berechtigt ihn das dazu, mit seiner Geschichte ein Forum in der Öffentlichkeit zu bekommen?

Ich habe mich lange genug selbst mit diesen Fragen rumgeschlagen, um meine eigenen Antworten gefunden zu haben. Als ich an einem grauen Wintertag kurz nach Neujahr 2014 beschlossen habe, meiner radikalen Vergangenheit den Rücken zu kehren, fühlte es sich an, als würde ich aus einem Rausch aufwachen.

Zum ersten Mal dachte ich nüchtern darüber nach, was ich in den vergangenen zwei Jahrzehnten für Scheiße gebaut hatte. Dass ich von hasserfüllten, menschenverachtenden Idealen besessen gewesen war. Dass ich mich aus Machtgeilheit immer tiefer in meine Täterrolle reingesteigert hatte. Dass unzählige Menschen durch mein Zutun hatten leiden müssen. Während meiner radikalen Phase hatte ich all das aktiv verdrängt. Das Wort »Reflektieren« existiert im rechten und kriminellen Milieu nicht, sonst ließe sich das dortige Weltbild gar nicht aufrechterhalten. Man ist im Tunnel, hält sich für unbesiegbar, sieht sich als Krone der Schöpfung und blendet die eigene Verrohung einfach aus. Das menschliche Hirn hat für solche Fälle offenbar sehr effektive Verdrängungsmechanismen parat. Bei mir haben sie nur irgendwann nicht mehr gewirkt.

Weil mir beim Nachdenken immer mehr und immer krassere Storys in den Kopf kamen, fing ich an, meine Geschichte aufzuschreiben. Nur für mich selbst. Ich pinnte mir sogar einen Zeitstrahl an die Wohnzimmerwand, auf dem ich alle Entwicklungen chronologisch festhielt. Das half mir, Erinnerungen zu ordnen und der Frage auf den Grund zu gehen: »Wie bist du zu der Person geworden, die du heute bist?«

Gleichzeitig nahm ich mir vor, endlich wieder glücklich zu werden. Wenn ich mein altes Leben Revue passieren ließ, fühlte es sich an, als würde ich den Werdegang eines Fremden betrachten, für den ich mich eigentlich nur schämen konnte. Weil ich mit der ganzen Schuld nichts mehr zu tun haben wollte, beschloss ich, ein neues Leben als neuer Mensch zu starten. Dass so was leichter gesagt ist als getan, lernte ich auf die harte Tour. Ein paar Wochen später holte mich die Vergangenheit mit Vollgas wieder ein. Ich wurde wegen illegaler Drogengeschäfte zu zwei Jahren und zehn Monaten Knast verurteilt. In Anbetracht dessen, was ich sonst noch alles auf dem Kerbholz hatte, eigentlich ein harmloser Richterspruch. Trotzdem fiel ich im Gefängnis erst mal in ein Riesenloch. Als ich psychologische Hilfe anforderte, wurde mir gesagt, dass ein schlimmer Finger wie ich keine Unterstützung bekommt. Nach dem Motto: »Laut Landgericht ist einer Person wie Ihnen nicht zu helfen, Ihnen steht hier gar nichts zu.«

Das stimmte sogar. Oft werden in gerichtlichen Urteilen haftbegleitende Maßnahmen wie Drogenentzug, Anti-Gewalt-Training oder soziale Rehabilitation angeordnet, aber für mich war nichts dergleichen vorgesehen. Es bedurfte einiger Briefe an die Anstaltsleitung und das Justizministerium, bis mir doch ein Termin beim Gefängnispsychologen gewährt wurde. Der attestierte mir dann eine dicke Depression und erteilte meinem Beschluss, als neuer Mensch anzufangen, eine freundliche Absage. Sinngemäß meinte er: »Sie können nur neu beginnen, wenn Sie den Philip von früher als Teil Ihrer Persönlichkeit akzeptieren. Sie haben so gedacht wie er und Sie haben all diese Dinge getan, die Sie jetzt hinter sich lassen wollen. Sie selbst waren dieser Mensch. Sie müssen anerkennen, dass er zu Ihrem Leben dazugehört.«

Dieser Rat war so ungefähr das Letzte, was ich hören wollte. Ich war doch nicht von der ganzen Scheiße abgerückt, um sie jetzt wieder als Teil meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Aber dann sagte der Psychologe noch etwas: »Sie müssen sich auch klarmachen: Sie haben ein Recht auf Veränderung. Unabhängig davon, ob Leute mit dem Finger auf Sie zeigen und versuchen, Sie auf Ihre Vergangenheit festzunageln, haben Sie ein persönliches Recht darauf, einen neuen Weg einzuschlagen.«

Mit dieser Aussage begann ein langer, oft schmerzhafter Aufarbeitungsprozess, dessen erste Folge war, dass ich ein Handtuch über den Spiegel meines Gefängniswaschbeckens hängte, weil ich den Anblick meines eigenen Gesichts nicht mehr ertrug. Es dauerte Monate, bis ich wieder in den Spiegel blicken konnte. Nach zahllosen Gesprächen über Schuld, Radikalisierungsursachen und die schwimmenden Grenzen zwischen Täter- und Opferrollen erkannte ich irgendwann, dass mein Beschluss von Neujahr 2014 keine fixe Idee gewesen war. Dass ich meine Abkehr von rechten Weltanschauungen und kriminellen Machenschaften nicht getroffen hatte, um irgendwem zu gefallen oder es anderen recht zu machen, sondern weil ich wirklich fertig war mit dem ganzen Mist.

Auf dieser inneren Festigkeit fußt meine heutige Fähigkeit, die »Einmal Nazi, immer Nazi«-Rufe auszuhalten. Denn auch wenn ich mich inzwischen bei YouTube, in Schulen und bei Vorträgen in ganz Deutschland aktiv gegen Extremismus und für Gewaltprävention einsetze, ist mir klar, dass es immer Leute geben wird, die mir einen Sinneswandel nicht zugestehen oder zutrauen. Sie glauben einfach nicht daran, dass man sich ändern kann. Vielleicht, weil sie es selber nicht können. Vielleicht auch, weil sie nicht bereit sind, ihre eigenen festgefügten Feindbilder zu revidieren.

Dass ich meine Geschichte inzwischen in der Öffentlichkeit erzähle, hat zwei Gründe. Erstens haben mir andere Menschen – darunter der Gefängnispsychologe – dazu geraten, es im Zeichen der Aufklärung und Entmystifizierung rechter und krimineller Kreise zu tun. Zweitens ist mir im Zuge der Aufarbeitung meiner Vergangenheit klar geworden, dass mein Werdegang zwar im wörtlichen Sinne extrem ist, dass er aber theoretisch für jeden Jugendlichen möglich ist. Gerade in Zeiten, in denen rechte Menschenfänger von der AfD bis zu den Reichsbürgern fremdenfeindliche Ressentiments schüren und nationalistische Ideologien predigen, laufen Jugendliche, die nach Orientierung und einfachen Antworten suchen, Gefahr, in die Radikalisierung abzurutschen. So ging es bei mir ja auch los. Anfangs war ich tatsächlich Opfer widriger Umstände. Das ändert nichts daran, dass ich mich schon wenig später aktiv dazu entschied, zum Täter zu werden. Es entschuldigt auch nichts, was ich an Gewalt gesät und verbreitet habe. Aber es ist eine von vielen Erklärungen für meinen Weg und damit der Beginn einer Antwort auf eine Frage, die uns alle angeht: Wie wird ein Extremist zum Extremisten?

Also hab ich mich entschieden, meine frühen Aufzeichnungen und den Zeitstrahl wieder hervorzukramen und die komplette Geschichte noch mal richtig zu erzählen. In diesem Buch. Leute, die meine Arbeit bei YouTube kennen, werden vielleicht an einigen Stellen die Detailfreudigkeit und Situationskomik vermissen, die meine Videos ausmachen. Und meine Gegner werden möglicherweise kritisieren, dass nicht jede Straftat, die ich verübt habe, im Buch vorkommt. Ganz blöd gesagt: Es waren einfach zu viele, um jede einzelne zu schildern. Dass ich manche Dinge weggelassen habe, hat nichts mit Schönfärberei zu tun, sondern damit, dass ich mich der banalen Realität stellen musste, dass so ein Buch nur begrenzt Platz hat. Es geht mir bei diesem Projekt vor allem darum, anhand meines eigenen Werdegangs Extremistenbiografien im Allgemeinen nachvollziehbar zu machen. Um das zu können, waren kleine Kürzungen und Auslassungen unvermeidbar. Trotzdem ist der Titel »Hass. Macht. Gewalt.« Programm. Wir steigen tief ein in den Treibsand des Hasses der Neonaziszene, springen voll rein in das zerstörerische Machtsystem der Rockerclubs und erleben mit, wie Gewalt entsteht und ausufert: vom ersten Faustschlag bis hin zu mörderischen Eskalationen. Um das Beispielhafte meines Weges herauszustellen, habe ich zwischendurch kommentierende Passagen eingebaut, die rechte und kriminelle Denk- und Organisationsstrukturen verdeutlichen. Denn Radikalität zu verstehen ist meiner Meinung nach der erste Schritt zu ihrer Überwindung.

Wenn dieses Buch dazu beitragen kann, dass einige Menschen ihr »Einmal Nazi, immer Nazi«-Vorurteil überdenken, würde ich das begrüßen. Aber es ist mir nicht wichtig. Wichtiger ist mir, Leute, die sich gerade radikalisieren oder aktive Extremisten sind, dazu zu bewegen, ihre Positionen zu überdenken und selbst auszusteigen. Sie sind es, die die »Einmal Nazi, immer Nazi«-These widerlegen müssen. Das heißt auch, dass der demokratische Rest der Gesellschaft ihnen die Chance dazu geben muss. Ob ich, der Ex-Nazi-Rotlicht-Rocker, für diesen demokratischen Rest der Gesellschaft sprechen darf? Ich tue es lieber, statt tatenlos dabei zuzusehen, wie die Rechten weiter ihr Ding machen – vielleicht nur, weil sie denken, dass es ein Leben nach dem Hass für sie sowieso nicht geben wird. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Warum? Weil Hass scheiße ist. Um das zu erkennen, muss man nicht erst selbst durch den Sumpf der Gewalt waten. Es reicht, dieses Buch zu lesen. Also stark sein und weiterblättern!

Philip Schlaffer, Dezember 2019

BUCH 1
Vor dem Hass

Bei meinem ersten Termin mit dem Gefängnispsychologen wusste ich anfangs nicht, worüber ich reden sollte. Über meine Straftaten? Schönen Dank auch. Irgendwann meinte der Psychologe: »Stellen Sie sich vor, ich wäre eine weiße Leinwand. Schmeißen Sie einfach mal irgendwas dagegen.« Das hab ich getan. Erst zögerlich, dann immer direkter, bis sich nach vielen Sitzungen ein Gesamtbild meines Werdegangs herauskristallisierte. Inzwischen empfinde ich das Gegenschmeißen als gute Metapher fürs Leben. Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, ist er ja irgendwie auch eine weiße Leinwand. Zum Extremisten, Rocker oder sonst was wird er erst durch Einflüsse seines Umfelds. In meinem Fall greift keins der üblichen Klischees, mit denen Schläger- und Neonazibiografien in den Medien oft einhergehen. Jedenfalls bin ich weder in einem sozial schwachen Elternhaus aufgewachsen, noch wurde ich mit Gewalt erzogen. Aber davon abgesehen, ging in meiner Jugend eine ganze Menge schief.

Geordie-Lad

Als mir zum ersten Mal der Ausdruck »Nazi Pig« entgegengeschleudert wurde, wusste ich noch gar nicht, was ein Nazi überhaupt ist. Ich war zehn Jahre alt und gerade mit meinen Eltern und meiner älteren Schwester Catrin nach Newcastle upon Tyne in England gezogen. Dort sollte mein Vater ein Dräger-Werk sanieren, das rote Zahlen schrieb. Vorher war er im mittleren Management am Stammsitz des Medizin- und Sicherheitstechnikkonzerns in Lübeck tätig gewesen. Er arbeitete viel, war sehr diszipliniert und ehrgeizig. Das Angebot, nach England zu gehen, war die Chance auf einen Karriereschub, die er sich nicht entgehen lassen wollte. Ob wir Kinder mit dem Umzug einverstanden waren? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir gefragt wurden. So lief das bei uns nicht. Mein Vater führte die Familie wie ein Patriarch. Als Kinder hatten wir weder unsere Meinung zu sagen noch ein Mitbestimmungsrecht, wir hatten einfach zu funktionieren. Das Gleiche galt für meine Mutter, die früher als technische Zeichnerin gearbeitet hatte, aber seit der Geburt von meiner Schwester und mir Hausfrau war und unsere Erziehung weitgehend allein verantwortete. Schule gut, alles gut, das war das Motto bei uns zu Hause. Wurde es erfüllt, hatten wir Kinder und meine Mama ein ruhiges Leben.

Verwöhnt wurden wir nicht, aber wir hatten alles, was wir brauchten. Wir wuchsen in einem großen Haus in Stockelsdorf bei Lübeck auf, jedes Kind hatte sein eigenes Zimmer, in den Ferien reisten wir nach Spanien, an den Balaton und nach Österreich. Was in meinem Elternhaus allerdings etwas zu kurz kam, waren Herzlichkeit und menschliche Wärme. Zumindest vonseiten meines Vaters. Ich hatte immer das Gefühl, dass ihm sein Job wichtiger war als die Familie. Für die Arbeit ließ er alles stehen und liegen, aber sein Versprechen, mit mir zum HSV ins Stadion zu gehen, löste er nie ein. Statt gemeinsamer Erlebnisse gab es Leistungsdruck und Erziehungsmethoden, die ich immer noch fragwürdig finde. Als ich zum Beispiel mit acht oder neun Jahren unbedingt ein BMX-Rad haben wollte, wollte mein Vater mir den Wunsch mit dem Argument ausreden, dass ich mit den kleinen BMX-Reifen zu viel strampeln müsste. Solche rationalen Gedanken kamen bei mir natürlich nicht an. Ich wollte einfach ein Fahrrad haben, das cool aussah, also blieb ich bei meinem Wunsch. Als ich dann tatsächlich ein BMX-Rad bekam, war das Geschenk an eine Bedingung gekoppelt. Mein Vater verdonnerte mich dazu, jeden Sonntag zur Kirche mit dem Rad zu fahren. Er war katholisch, und auch wir Kinder waren katholisch getauft. Der sonntägliche Kirchgang war Pflicht. Ich hasste den religiösen Klimbim, die langweiligen Predigten und den Kommunionunterricht. Dass ich jetzt auch noch mit dem Rad zum Gottesdienst fahren musste, machte alles nur noch schlimmer, denn die katholische Kirche lag fünf Kilometer von unserem Haus entfernt. Nach fünf Kilometern mit dem BMX-Rad weiß man, was mein Vater mit »Gestrampel« meinte. Das begriff ich schon nach der ersten Sonntagsfahrt, als alle anderen Kinder mit größeren Reifen gnadenlos an mir vorbeizogen.

Aber diese Erkenntnis reichte nicht. Ich musste trotzdem weiter mit dem Rad zur Kirche fahren. Das war die Strafe für meine Sturheit. Bei meinem Vater griff das alte Motto »Wer nicht hören will, muss fühlen«. Das war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er selbst war mit Schlägen erzogen und von seiner Mutter nie richtig geliebt worden. Angesichts seiner harten Kindheit ist seine Strenge für mich im Nachhinein erklärbar. Und auch wenn ich bis heute mit vielen seiner Erziehungsmethoden nicht einverstanden bin, rechne ich ihm hoch an, dass er Catrin und mich nie geschlagen hat.

Was ich bei meinen Eltern an Wärme vermisste, holte ich mir bei meinen Großeltern mütterlicherseits. Bei denen verbrachten meine Schwester und ich in der Kindheit fast jedes Wochenende. Ich fand das super. Sobald ich bei Oma und Opa war, fiel der Leistungsdruck, der zu Hause ständig in der Luft hing, von mir ab. Ich fühlte mich frei, geborgen und geliebt. Das Haus meiner Großeltern war mein Wohlfühlort. Doch dann erkrankte meine Oma an Krebs – eine Folge des Umgangs mit den harten Chemikalien, die sie bei ihrer Arbeit in einer Reinigung verwendete. Sie war erst 68, als sie starb. Da war ich sechs Jahre alt.

Weil meine Mutter und mein Vater meinten, ich würde die Beisetzung nicht verkraften, wurde ich nicht mit zur Beerdigung genommen, konnte mich also nicht von Oma verabschieden. Das hab ich meinen Eltern sehr übel genommen. Es dauerte Monate, bis ich über den Verlust hinwegkam. Nach Omas Tod zog sich auch mein Großvater immer mehr zurück. Er trank jetzt oft zu viel Alkohol, deshalb besuchten wir ihn nur noch selten. Mein alter Wohlfühlort brach damit weg. Und dann, als ich mich gerade wieder einigermaßen gefangen hatte, kam die Ansage »Wir ziehen nach England«. Womit ich natürlich nicht einverstanden war. Zwar war die Auswanderung auf drei, maximal fünf Jahre begrenzt, aber das war kein Trost. Ich wollte nicht weg. Welches Kind will schon sein gewohntes Umfeld verlassen, um in ein Land zu ziehen, in dem es weder irgendwen kennt noch die Sprache beherrscht?

Familiendiskussionen gab es über den Umzug wie gesagt nicht, aber dass er ein harter Schnitt war, muss wohl auch meinen Eltern klar gewesen sein. Vielleicht hatten sie ausnahmsweise sogar ein schlechtes Gewissen. Jedenfalls schenkten sie mir vor der Abreise einen fünfzig Zentimeter großen Plüsch-Alf, den ich unter anderen Umständen nie im Leben bekommen hätte. Kennt Alf heute noch irgendwer? Das war der pelzige Außerirdische, der ab Mitte der Achtziger in einer nach ihm benannten US-Sitcom die Welt zum Lachen brachte. Alf war mein Held. Bevor wir nach England gingen, nahm ich jede Folge der deutsch synchronisierten Fassung aus dem ZDF auf Video auf. Wenn ich schon sonst bald niemanden mehr verstehen würde, dann doch wenigstens die Witze des respektlosen Chaos-Aliens. Tatsächlich sollten die Videokassetten für eine Weile meine einzige Zuflucht in eine unbeschwerte Vertrautheit bleiben, die mich die Einsamkeit nach dem Umzug vergessen ließ.

Newcastle upon Tyne liegt im äußersten Nordosten Englands. AC/DC-Sänger Brian Johnson und Sting sind dort aufgewachsen, die Stadt gilt als Wiege der industriellen Revolution in Großbritannien. Als wir 1988 dorthin zogen, boomte die Stahl-, Rüstungs- und Arzneimittelwirtschaft. Aber so was interessierte mich damals nicht. Das Einzige, wofür ich mich begeistern konnte, war der örtliche Fußballverein Newcastle United, der als Spitzenteam in der britischen Erstliga spielte. Für Fußball hatte ich mich immer interessiert. In Lübeck war ich selbst im Verein gewesen und sogar als vielversprechendes Talent gehandelt worden. Auch das war ein Grund, warum ich nicht aus Deutschland weggewollt hatte. Aber scheiß drauf. Die Brücken waren abgebrochen, die alte Umgebung unerreichbar. Stattdessen begleiteten mich durch die ersten Wochen in Newcastle die dauernden Gefühle von Entwurzelung und Einsamkeit. Und die misstrauischen Blicke meiner Mitschüler. Und – nachdem sich in der Schule herumgesprochen hatte, dass ich aus Deutschland kam – eben auch die gehässigen Rufe »Nazi Pig« und »Nazi Scum«.

England, Ende der Achtzigerjahre. Schon nach kurzer Zeit in Newcastle wurde ich ein richtiger »Geordie-Lad«.

Ich weiß nicht mehr, wie ich damals mit den Hänseleien umging. Nur dunkel liegt mir in Erinnerung, dass meine Mutter einmal ein Gespräch mit dem Schulleiter hatte und mir anschließend vage erklärte, dass die Beschimpfungen sich auf die Rolle der Deutschen im Zweiten Weltkrieg bezogen, der Krieg aber seit über vierzig Jahren vorbei sei und ich mir nichts aus dem Gepöbel machen sollte. Wenn ich das Ganze aus heutiger Sicht selbst beurteile, würde ich sagen: Die britischen Jungs, die mir auf dem Schulhof »Nazischwein« und »Naziabschaum« hinterherriefen, wussten wahrscheinlich genauso wenig wie ich, was ein Nazi wirklich ist. Sie hatten nur von ihren Eltern und Großeltern das in England damals noch sehr gängige Vorurteil aufgeschnappt, dass alle Deutschen Nazis sind. Jetzt benutzten sie es, um einen Neuen, der ihren Beschimpfungen wegen fehlender Sprachkenntnisse nichts entgegenzusetzen hatte, fertigzumachen. Das war nicht fair, aber Fairness ist den Kindern auf Schulhöfen ja meist egal. Da gilt das Recht des Stärkeren. Wer die schnellste Faust hat oder am lautesten brüllt, unterdrückt alle anderen – ein grundfalsches Prinzip, an dem leider auch manche Jugendliche und Erwachsene festhalten und das in meinem Leben noch eine prägende Rolle spielen sollte.

Ansonsten waren die Nazirufe meiner Mitschüler austauschbar. Wenn ich nicht als Nazi bezeichnet wurde, war ich das »Rich Kid«, weil ich im Gegensatz zu den Arbeiterkindern, die den Großteil der Schülerschaft in der Gosforth Middle School ausmachten, im noblen Viertel Whitebridge Park wohnte. Wäre ich aus einem anderen Land gekommen und hätte in einem anderen Viertel gewohnt, wären andere Beschimpfungen gekommen, aber gemobbt worden wäre ich so oder so, da bin ich mir ziemlich sicher. Letztendlich war das Geschrei nichts anderes als ein kindlicher und damit sehr offener Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit.

Die Ablehnung der Engländer war wie eine kalte Dusche. Vorher war ich zwar nie der große Checker gewesen, aber ich hatte mich auch nie als Außenseiter gefühlt. Jetzt war ich einer. Und zwar so richtig. Jeden Tag war ich froh, wenn ich mich nach der Schule mit dem Plüsch-Alf und den Videokassetten in meinem Zimmer verkriechen und die feindliche Welt da draußen aussperren konnte. Mit meinen Eltern und meiner Schwester redete ich wenig über meine Gefühle. Sie konnten mir sowieso nicht helfen. Das konnte nur Alf. Er war der Einzige, der mich in dieser schwierigen Zeit zum Lachen brachte. Zwei, drei, vielleicht fünf Monate fühlte ich mich wie der einsamste Mensch auf der Welt. Dann wurde es besser. Weil ich die Sprache meiner neuen Heimat lernte. Das klingt jetzt ein bisschen nach Integrationshandbuch, aber es war wirklich so. Die Akzeptanz der anderen wuchs, je besser ich Englisch sprach – beziehungsweise »Geordie«. Das ist der Dialekt, der in Newcastle gesprochen wird, eine Art rustikale Version des Standardenglisch, die dem Schottischen ähnelt. Nachdem ich mich ein paar Wochen eingehört hatte, lernte ich die neue Sprache relativ schnell. Ich weiß noch, dass mir schon nach sechs Wochen zum ersten Mal ein deutsches Wort fehlte: Klebeband. Plötzlich fiel mir nur noch »Sello Tape« ein. Das war der Durchbruch beim Verinnerlichen des Geordie, das bis heute meine zweite sprachliche Heimat geblieben ist.

Ein weiterer Faktor, der mir das Ankommen erleichterte, war das englische Schulsystem. Es war nicht so leistungsfixiert und elitär wie in Deutschland. Die Schuluniform verhinderte das gegenseitige Messen an Statussymbolen wie Markenklamotten; statt die Schüler autoritär zu unterrichten, suchten die Lehrer den Kontakt auf Augenhöhe; das gemeinsame Lernen von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten gehörte ausdrücklich zum Konzept. Auch Leistungskontrollen in Form von Klausuren gab es kaum. Vielmehr wurden individuelle Talente erkannt und gefördert. Weil ich mich für Physik interessierte, kam ich in eine entsprechende Arbeitsgruppe, weil ich gut in Sport war, wurde ich ins Rugby-Team gesteckt. So hatte ich erste Erfolgserlebnisse und kam in Kontakt mit Mitschülern, die ähnliche Interessen hatten. Es entstanden Freundschaften. Nach einem halben Jahr rief mir niemand mehr auf dem Schulhof »Nazi Pig« hinterher. Ich war angekommen in Newcastle upon Tyne. Ich war jetzt ein Geordie.

Mein altes Umfeld in Deutschland rückte nun in weite Ferne. Während meine Schwester über Briefe den Kontakt zu ihren alten Freundinnen in Lübeck aufrechterhielt, schmiss ich mich voll rein in mein neues Dasein als »Lad« (»Bursche«). Ich machte viel Sport, schrieb gute Noten, traf mich nach der Schule mit Freunden. Mein bester Kumpel war Deano. Er war der einzige Freund in Newcastle, den ich oft zu Hause besuchte. Bei ihm lernte ich die Lebenswelt der englischen Arbeiterklasse kennen. Die Familie schlug sich mit Sozialhilfe durch und lebte sehr einfach in einem rot verklinkerten Reihenhaus, das wir grundsätzlich durch den Hintereingang betraten. Mich faszinierte immer, dass die komplette Bude mit Teppich ausgelegt war. Selbst im Badezimmer war bis zum Klodeckel alles mit Plüsch ausgekleidet. Im Wohnzimmer gab’s am Gasofen neben der Couch immer um 16 Uhr eine Cup of Tea mit zwei Toastbrothälften, die mit Butter bestrichen waren. Ich liebte dieses Ritual. Die Baked Beans mit englischen Würstchen, die um 18 Uhr serviert wurden, genauso. Generell fand ich die Atmosphäre in Deanos Elternhaus viel cooler und entspannter als bei uns im Nobelviertel. Sein Vater John war ein stadtbekannter »Thug« (Kleinkrimineller), der alle möglichen halbseidenen Geschäfte betrieb.

John war auch der erste Hooligan, den ich in meinem Leben kennenlernte. Am Samstag nahm er Deano und mich manchmal mit in den Pub. Da wurde Fußball geguckt, und es ging richtig die Post ab. Von der Biederkeit des englischen Sonntagsessens – Beef oder Pork mit Yorkshire-Pudding –, zu dem meine Eltern Catrin und mich mitschleppten, war bei den Pub-Besuchen mit John nichts zu spüren. Schon beim Reinkommen brüllte er allen Besuchern zu: »Lasst bloß den kleinen Deutschen in Ruhe, sonst gibt’s was auf die Nuss!«. Dann polterte er zum Tresen und ließ seinen Emotionen beim Fußballgucken freien Lauf. John schaffte auch das, was mein Vater nie hinbekommen hat: Er ging mit uns ins Stadion. Natürlich nicht zum HSV, sondern zu Newcastle United. Beim Spiel flippte er völlig aus, brüllte den Gegnern ununterbrochen »Fuck you!« zu, rüttelte am Zaun und pöbelte die Polizisten an. Ich fand das alles super. Unbewusst eiferten Deano und ich John nach, wo wir konnten. Unser größtes Hobby war Mist bauen. Wir kletterten über den Zaun des Golfclubs und rannten über die Driving Range, sprengten Briefkästen mit Böllern in die Luft und zockten Flaschen aus den Biervorräten meiner Eltern, um Saufen zu üben. Als wir nach der ersten Flasche nichts merkten, tranken wir eine zweite. Danach waren wir doch ganz schön angeschossen. Fühlte sich seltsam an. Unser Wunsch, die Sauferei zu wiederholen, hielt sich in Grenzen. Aber mein Wunsch, zur Arbeiterklasse zu gehören, wurde jeden Tag größer.

Indem ich die Lebensweise der Briten besser verstand, kapierte ich ansatzweise auch, was es mit dem Nazivorurteil auf sich hatte. Die Sicht der Engländer auf Deutsche war von einer Mischung aus Nationalstolz und britischem Humor geprägt. Einerseits sah man sich in der Tradition des Empires, wo ein kleines Land wie Deutschland keinen interessierte, andererseits war der Zweite Weltkrieg natürlich auch hier eine einschneidende Erfahrung gewesen. Weil die Briten als Sieger aus ihm hervorgegangen waren, gingen sie allerdings verhältnismäßig unbekümmert mit dem Thema um. Während Hitler und seine Hakenkreuz-Diktatur gerne als Loser-Lachnummer verharmlost wurden, waren die Soldaten der britischen Armee immer strahlende Sieger. Ich hatte eine Schwäche für diesen Heldenkult und die Kriegsgeschichten. Schon vorher war ich an Waffen und Militärspielzeug interessiert gewesen. Als kleiner Junge hatte ich Stunden damit verbracht, Schlachtfelder mit Spielzeugsoldaten nachzubauen. Später, als die Knallrevolver mit den roten Munitionsringen in Mode kamen, war ich total scharf drauf gewesen, auch einen zu bekommen. Doch meine Eltern weigerten sich, sie wollten uns pazifistisch erziehen. Deshalb bekam ich statt des Revolvers ein superteures Skateboard. Schlechte Investition. Ich tauschte das edle Teil bei einem Kumpel gegen eine Zwei-Mark-Knallpistole. Danach gab’s zu Hause ein Riesentheater, ich musste die Knarre abgeben und bekam Stubenarrest. Erst als ich anfing, Gabeln und Löffel zu verbiegen, um sie beim Spielen als Pistolenersatz zu benutzen, gaben meine Eltern auf. Danach durfte ich ganz offiziell eine Knallpistole besitzen. Die Pazifismus-Nummer war damit erledigt.

In England las ich dann viele Militärzeitschriften und hatte einen Sammelordner, für den man jede Woche ein neues Blatt über einen anderen Kriegshelden kaufen konnte. Auf diese Weise lernte ich von Wilhelm dem Eroberer bis zu den Kampfpiloten des Special Air Service (SAS) im Zweiten Weltkrieg so ziemlich alles kennen, worauf das britische Militär stolz war. Zusätzlich verschlang ich Bücher über den Krieg und teilweise auch über das »Dritte Reich«. Ob das damals schon zu einer tieferen Auseinandersetzung mit meinen deutschen Wurzeln führte? Ich glaube nicht. Ich weiß zumindest noch sehr genau, dass mich ein historisches Ereignis im Land meiner Herkunft mehr oder weniger kaltließ: der Mauerfall. Eines Abends im Herbst ’89 liefen in der BBC auf einmal die Bilder von den ausgelassenen Menschen, die am Brandenburger Tor auf der Mauer tanzten. Mein Vater und meine Mutter betrachteten die Live-Übertragung mit offenen Mündern. Lübeck lag ja nicht weit von der innerdeutschen Grenze entfernt, und meine Eltern hatten die DDR als Bedrohung immer sehr ernst genommen. Dass es jetzt von einem Augenblick zum anderen Geschichte sein sollte, konnten sie kaum fassen.

In den folgenden Wochen guckte mein Vater, der ohnehin ein News-Junkie war, noch mehr Nachrichten als sonst. Ich selbst nahm die deutsche Wiedervereinigung nur in Ausschnitten wahr. Ich erinnere mich an Bilder von Trabi-Kolonnen, von leer gekauften westdeutschen Supermärkten und daran, dass die damalige britische Premierministerin Maggie Thatcher mit Mobilmachung drohte, weil sie verhindern wollte, dass die Deutschen wieder größenwahnsinnig werden. Das Gefühl, dass all das etwas mit mir persönlich zu tun hatte, hatte ich nicht. War ja irgendwie auch nicht so. Ich war schließlich ein Geordie-Lad. Was ich dabei nicht bedachte, war, dass unsere Zeit in Newcastle allmählich ablief.

Mitte 1991 war es so weit. Mein Vater hatte seine Pflicht in England erfüllt und wurde zurück nach Deutschland beordert. Glücklich war damit keiner. Auch meine Eltern hatten sich gut in Newcastle eingelebt und wären gern geblieben, doch das ließ sich mit der Arbeit nicht vereinbaren. Für sie war das schade, für mich ein Megadrama. Ich wollte ums Verrecken nicht weg. Hatte ich mich dem Umzug vor drei Jahre noch nahezu kampflos gefügt, rebellierte ich jetzt das erste Mal ganz offen. Ich schrie, schlug um mich, lief sogar von zu Hause weg. Meine Eltern spürten wohl, dass sich diesmal nicht alles von selbst einrenken würde. Sie versuchten sogar, mich bei britischen Freunden einzuquartieren, doch der Plan scheiterte am Jugendschutz. Mit dreizehn Jahren war ich einfach zu jung, um ohne Eltern in Großbritannien bleiben zu dürfen. Ende, aus. Der Weggang aus Newcastle war unumgänglich. Wenn ich an das Gefühl von Machtlosigkeit denke, das mich bei dieser Erkenntnis packte, könnte ich noch immer heulen. Für mich brach eine Welt zusammen – meine heile Welt. Wie sich herausstellte, war das ein Bruch, der sich nicht mehr kitten ließ.

Smells Like Teen Spirit

Fünfen und Sechsen – das waren die Schulnoten, die mich nach der Rückkehr aus England durch mein erstes Jahr auf dem Gymnasium Stockelsdorf begleiteten. Die Nachhilfestunden, zu denen meine Eltern mich nötigten, waren rausgeschmissenes Geld. Ich reagierte mit Totalverweigerung darauf, dass sie mich erneut aus meinem vertrauten Umfeld herausgerissen hatten. Am Ende der achten Klasse wurde ich nicht versetzt. Also alles noch mal von vorne. Die Noten blieben trotzdem schlecht. Nach zwei verschenkten Jahren wurde mein Wechsel auf die Realschule beschlossen.

Ich bedauerte den Abgang vom Gymnasium keine Sekunde. Die Schule war das genaue Gegenteil von allem gewesen, was ich in England geliebt hatte. In Newcastle waren die Lehrer entspannt gewesen, hier forderten sie nur noch »Leisten, leisten, leisten«; wo die Briten mit Humor und Leichtigkeit reagiert hatten, war jetzt alles bierernst; wo ich vorher Teil der Gemeinschaft von Deano und den anderen Lads gewesen war, fühlte ich mich jetzt ständig wie das fünfte Rad am Wagen. Bei Klassenkameraden, mit denen ich mich vor dem Umzug nach England gut verstanden hatte, fand ich keinen Anschluss mehr, auf Partys wurde ich meist nicht eingeladen. Manchmal zogen wir nach der Schule mit ein paar Jungs zu Aldi, kauften Hansa Pils und machten Dosenstechen auf einer Parkbank. Das war ganz lustig. Trinken macht gesellig. Aber echte Freunde fand ich dadurch nicht.

Auch meine Grunge-Phase, in der ich im Fahrwasser von Nirvanas Superhit »Smells Like Teen Spirit« mit gestreiftem Schlabberpulli die Stilikone der Stunde nachäffte – Kurt Cobain –, war schnell durch. Unter anderem, weil ich feststellte, dass Marihuana, der Treibstoff des Grunge, nicht mein Ding war. Techno fand ich schrecklich, Die Ärzte, Die Toten Hosen und Die angefahrenen Schulkinder waren eigentlich ganz cool, aber ihren punkigen Schmuddel- und Zottel-Style mochte ich nicht. Dann doch lieber was Härteres. So landete ich beim Black Metal. Ich ließ mir die Haare wachsen und hängte mir ein umgedrehtes Kruzifix um den Hals. Damit erreichte ich das, was in dieser Phase mehr oder weniger bewusst permanent mein Ziel war: Ich brachte meinen Vater zum Ausrasten. Meine Eltern hatten ihre sonntäglichen Kirchgänge nach unserer Rückkehr nach Deutschland aus mir unbekannten Gründen zwar selbst eingestellt – sie waren jetzt so U-Boot-Christen, die sich nur einmal im Jahr zu Weihnachten in der Kirche blicken ließen –, aber als ich mit dem Satanismuskreuz um den Hals nach Hause kam, rannte mein Vater auf mich zu, riss mir die Kette runter und motzte mit bebender Stimme: »Dieser Haushalt ist christlich.«

»Schön für den Haushalt«, brüllte ich zurück. »Ich nicht.«

Damit stapfte ich in mein Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu und drehte meine Quelle-Stereoanlage auf volle Lautstärke. Dieser Vorfall war bezeichnend für das damalige Verhältnis zu meinen Eltern. Ich sah sie nur noch als Feinde. Wie eigentlich alles und jeden. Mein Hass auf die Gesellschaft wuchs stetig. Man könnte meinen, dass ich mich dadurch noch mehr isolierte, aber das war nicht so. Im Gegenteil. Auf einmal fand ich doch noch das, wonach ich seit Jahren suchte: Gleichgesinnte. Mit einer zusammengewürfelten Truppe aus vier Außenseitern gründete ich eine Metal-Band. Wir nannten uns Apocalyptica. Im Gegensatz zu den finnischen Cello-Rockern, die später unter gleichem Namen Stadien füllten, spielten wir vor allem für uns selbst. Im Keller meiner Eltern richteten wir einen Proberaum ein, in dem wir uns einmal die Woche trafen, um uns abzureagieren. Die Energie war riesig, aber musikalisch gesehen waren wir völlig talentfrei. Der Sänger schrie rum, der Drummer hämmerte aufs Schlagzeug ein wie auf einen Boxsack, ich schrubbte die Saiten meiner E-Gitarre wie ein Waschbrett.

Unser Mann am Bass war Sherko. Mit ihm verstand ich mich am besten. Er war vor ein paar Jahren von Berlin nach Lübeck gezogen, nachdem seine Mutter sich von seinem Vater getrennt hatte. Jetzt hatte sie einen neuen Mann, der den Sohn adoptiert hatte. Sherko und ich hatten einen ähnlichen Humor, die gleiche Null-Bock-Einstellung und einen identischen Musikgeschmack. Über ein Jahr lang waren wir dicke Homies. Im Sommer vor meinem Abgang auf die Realschule war ich sogar mit ihm und seiner Familie im Urlaub. Dort fiel mir immer auf, dass Sherko seinen Eltern nicht richtig ähnlich sah. Viel mehr als seine Verwandtschaft zur Mutter sah man ihm die optischen Einflüsse seines leiblichen Vaters an, der Kurde war. Fand ich immer lustig, war gar kein Problem. Doch es sollte bald zu einem werden.

BUCH 2
Radikalisierung

Radikalisierung beginnt eigentlich immer mit einer Anti-Social-Haltung. Nach dem Motto: »Staat und Gesellschaft sind scheiße, Schule, Eltern und Politiker lügen, Demokratie bringt den kleinen Leuten nichts.« Im Rechtsradikalismus geht Anti-Social anfangs mit spielerischer Deutschtümelei einher, die sich durch die Gruppendynamik eines entsprechenden Bekanntenkreises immer weiter steigert. Die zweite Radikalisierungsstufe ist blinder Patriotismus. Da sind »Made in Germany« und das Land der Dichter und Denker ganz unironisch das Geilste auf der Welt, und die Schuld der Deutschen in den Weltkriegen wird relativiert. Stufe drei: ultradeutsch. Da steckt die Verinnerlichung von Rassenlehren, Antisemitismus und der Anspruch auf deutsche Weltherrschaft drin. Stufe vier sind die bewusste Identifikation mit dem Nationalsozialismus und der persönliche Kampf für dessen Ziele. Rechtsradikaler kann’s nicht werden. Meist geht jede Steigerung mit wachsender Gewaltbereitschaft einher. Je radikaler die Werte, desto brutaler werden sie verteidigt.

Für den emotionalen Treibstoff sorgen Rechtsrock-Bands, die dem Anti-Social-Kurs durch ihre Botschaften eine Richtung geben. Die Macht der Musik ist gerade bei Jugendlichen, die in einer Subkultur Anschluss suchen, nicht zu unterschätzen. Vor Kurzem schrieb mir ein 15-jähriger Typ bei Instagram, dass er beim Krawallbrüder-Konzert mitbekommen hat, dass ein Typ mit Thor-Steinar-Shirt nicht reingelassen wurde, im Publikum aber Handy-Displays mit Hakenkreuzen zu sehen waren. Was er damit sagen wollte, wurde nicht klar. Weil ich neugierig war, bin ich auf seine Seite gegangen. Als ich sein Profilbild sah, hat mich das mega getriggert. Da stand ein junger Typ mit Glatze, Bierdose und Böhse-Onkelz-Shirt und grinste. Das Bild war wie eine Zeitreise. Genauso hatte ich in seinem Alter ausgesehen.

»Hast du was von den Onkelz?«

Meine erste Duftmarke auf der Realschule setzte ich mit einer Schlägerei am zweiten Schultag. Keine Ahnung, worum es bei dem Streit ging. Wahrscheinlich wollte ich ein Zeichen setzen. Zwar war ich mal wieder »der Neue«, aber diesmal sollte von vornherein klar sein, dass man mit mir keine Spielchen machen konnte, dass ich mir nichts bieten lassen würde, dass ich nicht nur auf hart machte, sondern hart war. Offenbar kam die Botschaft an. Angepöbelt wurde ich danach kaum noch, dafür kam ich recht schnell in Kontakt mit Leuten, die genauso aggro waren wie ich. Einen wesentlichen Beitrag zu meinem neuen Freundeskreis leisteten die Böhsen Onkelz. Die Band war in den Achtzigern durch Songs wie »Türken raus« und »Deutschland den Deutschen« zur Rechtsrock-Instanz geworden und hatte 1984 Schlagzeilen gemacht, als ihr Album »Der nette Mann« indiziert wurde. Inzwischen war ihre Musik zahmer geworden und die Aura des Verbotenen verflogen, aber mit vielen ihrer Scheiß-auf-alle-Texte konnte ich mich gut identifizieren.

Im Herbst 1993, also, als ich gerade auf die Realschule kam, brachten die Onkelz das Doppelalbum »Schwarz«/ »Weiß« raus, auf dem sie sich im Song »Deutschland im Herbst« vom Rechtsradikalismus distanzierten. Das Lied war eine Reaktion auf eine gesellschaftliche Entwicklung, die ich während meiner erfolglosen Selbstfindung auf dem Gymnasium weitgehend ignoriert hatte.

Durch sich zuspitzende Asyldebatten nach der deutschen Wiedervereinigung hatten nicht nur rechtsextreme Parteien wie die DVU und die Republikaner ungekannte Wahlerfolge eingefahren, es waren bei den rassistischen Anschlägen auf Asylbewerberheime in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Solingen auch unschuldige Menschen von gewalttätigen Neonazis verletzt und getötet worden. Im November 1992 waren nur dreißig Kilometer von meinem Wohnort Stockelsdorf entfernt in Mölln zwei türkische Mädchen und ihre Großmutter bei einem Brandanschlag ums Leben gekommen. Auf diese Entwicklungen reagierten die Onkelz in »Deutschland im Herbst« mit der Zeile »Ich sehe braune Scheiße töten« – eine Absage an rassistisch motivierte Gewalt. Während linke Kritiker der Band die Distanzierung von ihren rechtsradikalen Standpunkten nicht abkauften, nahmen langjährige Onkelz-Fans den Kurswechsel übel. Bei meinen neuen Freunden auf der Realschule herrschte über »Deutschland im Herbst« Einigkeit. Sie sahen in den Onkelz »Verräter« und nahmen den neuen Ton zum Anlass, sich umso intensiver Bands zuzuwenden, die es ernst meinten mit dem Rechtsradikalismus. Die Kontroverse ging an mir nicht spurlos vorbei. Es passierte immer wieder, dass mir ältere Mitschüler in der großen Pause Kassetten oder CDs zusteckten und sagten: »Scheiß auf die Onkelz, das sind Verräter. Gibt viel geilere, radikalere Sachen, hör lieber was Richtiges.«

So lernte ich Störkraft, Endstufe, Freikorps, Kraftschlag und so weiter kennen. Das waren Bands, die aus ihrer rechten Gesinnung keinen Hehl machten und deren Alben großenteils ebenfalls auf dem Index standen. Mein Tape-Deck und mein Walkman waren jetzt im Dauereinsatz. Zu Hause überspielte ich mir die geliehenen Alben, auf dem Weg zur Schule oder zu Treffen mit den neuen Freunden hörte ich sie in voller Lautstärke. Die Musik vermittelte mir ein Weltbild, das vor allem folgende Merkmale hatte: Rassismus, die Verherrlichung von NS-Zeit, Waffen-SS und bestimmten Nazigrößen, die Ablehnung Europas und der Demokratie. Außerdem stachelte sie zur Gewalt an, nach dem Motto: »Lass dir das nicht bieten«, »Steh auf für dein Land«, »Geh auf die Straße, bekämpfe Linke, Ausländer und den imperialistischen Feind USA«. In meiner Antihaltung konnte ich mich mit solchen einfachen Botschaften gut identifizieren. Jede neue Platte war wie ein Cocktail aus Ideen, Anregungen und Querverweisen, über die ich mich (im Rahmen der Möglichkeiten des Prä-Internet-Zeitalters) weiter über rechte Subkulturen informierte.

Heute vermeide ich es normalerweise, bestimmte Songtitel zu nennen, die mich durch die damalige Zeit begleitet haben. Ich will nicht, dass sie als Musiktipps missverstanden werden. Aber in diesem Buch, wo der Kontext hoffentlich klar genug ist, mach ich mal ’ne Ausnahme. Wer die fatale Verführungskraft des Rechtsrocks analysieren will, wird vielleicht schlauer bei »Die Stunde des Siegers« von den frühen Onkelz, »Immer und ewig« und »Im Land meiner Väter« von Freikorps, »Trotz Verbot nicht tot« von Kraftschlag oder »Mann für Mann« von Störkraft. Für mich waren das Lieder, die mein damaliges Selbstverständnis extrem prägten. Musik ist nie der alleinige Grund für eine Radikalisierung, aber definitiv ein Brandbeschleuniger.

Es dauerte nicht lange, bis ich die Rechtsrock-Parolen so verinnerlicht hatte, dass ich meinen Style anpasste. Nicht von einem Tag auf den anderen, aber Stück für Stück. Manches guckte ich mir von den martialischen Covern der Rechtsrock-Alben ab, anderes bei meinen neuen Kumpels. Erst die Haare ab, dann kamen die Bomberjacke und eindeutig bedruckte T-Shirts. Das erste Shirt, das ich über einen einschlägigen Versandhandel bestellte, war schwarz mit einem schlecht aufgedruckten weißen Reichsadler. So was gab’s nicht von der Stange. Damit fühlte ich mich als was Besonderes – auch weil ich merkte, dass die Leute auf der Straße mich auf einmal anders anguckten. Als ich früher mit meinem Nirvana-Schlabberpulli durch die Gegend geschlurft war, hatten höchstens mal ein paar alte Säcke angewidert geguckt. Jetzt wichen die Leute aus, senkten verschämt den Blick oder guckten ängstlich in meine Richtung. Von diesen Reaktionen ging eine Ehrfurcht aus, die mir ein enormes Machtgefühl gab. Ein weiterer Aha-Moment war, als ich mir meine ersten Stahlkappenstiefel kaufte und sie mit weißen Bändern schnürte. Die Schuhe veränderten den Gang, den Gehrhythmus, die gesamte Körperhaltung. Ihr harter Klang beim Auftreten war wie eine Einladung zum Zutreten oder Zuschlagen. Jeder Schritt fühlte sich wie eine Eroberung an.

Tatsächlich wuchs mit der Perfektionierung des Skinhead-Looks auch mein Selbstbewusstsein – und damit die Bereitschaft, innere Aggressionen nach außen zu kehren. Den Rest erledigte der Alkohol. Wenn ich am Wochenende mit meinen Kumpels angesoffen loszog, war jeder Anlass für eine Prügelei willkommen. Ein schiefer Blick oder ein dummer Spruch reichten, um unsere Angriffslust zu triggern. Mit der Gewaltbereitschaft war es ähnlich wie mit dem Nazi-Look. Man steigerte sich stufenweise. Von harmlosen Schubsereien zu harten Tritten, von ersten Faustschlägen zur ersten blutigen Nase. Ich fing in dieser Zeit auch an mit Kraftsport. Erst mit eigenen Hanteln im Kinderzimmer, dann im Fitnessraum vom Tennis-Center Stockelsdorf. Was genau meine Motivation fürs Pumpen war, weiß ich nicht mehr. Es war wohl ein Mix aus Eitelkeit und Kampflust. Erstens eiferte ich dem durchtrainierten Look der Rechtsrocker nach, zweitens rüstete ich mich für Gefechte im Dienst der großen rechten Sache, auch wenn ich noch keine genaue Vorstellung davon hatte, wie die aussehen sollten. Nebenbei wurde meine Neonaziklischee-Grundausstattung durch Marken verfeinert, die als Erkennungsmerkmale der Rechten galten. Thor Steinar gab es damals noch nicht, man trug vor allem Labels aus Großbritannien, die von der dortigen rechten Skinhead-Szene gekapert worden waren: Fred Perry (wegen des Lorbeerkranz-Siegessymbols im Markenlogo), Lonsdale (wegen des »NSDA« im Markennamen), Ben Sherman (wegen der karierten Skinhead-Hemden).

Auch meine CD-Sammlung erweiterte ich ständig. Das Sammeln rechter und nach Möglichkeit verbotener Musik hatte einen riesigen Suchteffekt. Jede Woche fuhren wir zum Samstags-Flohmarkt auf dem Supermarktparkplatz an der Schwartauer Allee, um neue Schätze zu heben. Wir steuerten weniger die reinen CD-Stände an als die Multi-Händler, die von der Klimbim-Uhr übers Demon-T-Shirt bis hin zu CDs und Schallplatten alles verkauften. Warum auch immer gehörten diese Stände meist Vietnamesen. Unser Eisbrecher war die Frage: »Hast du was von den Onkelz?« Der Satz war wie ein Code. Sprach man ihn aus, kramten die Verkäufer separate Kisten raus, in denen der ganze Techno-, Dance- und Pop-Kram nicht drin war, dafür aber Störkraft, Endstufe und Skrewdriver. Die Händler wussten genau, dass diese CDs heiße Ware waren, und ließen sich gut dafür bezahlen. Eine verbotene Störkraft-CD kostete gerne mal 50 Mark. Aber das war sie uns wert. Index-Musik war unsere Droge.

Sherko ging den Weg der Radikalisierung eisern mit. Weil er auf einer anderen Schule war, sahen wir uns nur bei den Bandproben am Wochenende, aber das reichte, um auch ihn auf den Neonazizug aufspringen zu lassen. Er rasierte sich eine Glatze, besorgte sich eine Bomberjacke, hörte leidenschaftlich die frühen Onkelz, Störkraft und Endstufe. Dass die Texte dieser Bands ein offener Angriff auf seine eigenen Wurzeln und seinen kurdischen Vater waren, war ihm sehr wohl bewusst. Aber statt wütend auf die Texte und die Bands zu sein, war Sherko wütend auf sich selbst und seine Eltern. Er ärgerte sich darüber, dass er kein »reinrassiger Deutscher« war. Einerseits verstand ich das, andererseits fand ich die verdrehte Logik dieser Denke seltsam. Weil ich Sherko mochte, hätte ich einfach alles so gelassen, wie es war. Aber da hatte ich die Rechnung ohne meine neuen Freunde gemacht, die unsere Bandproben jetzt gelegentlich als Vorglühstation für Saufabende besuchten. Erst kamen nur schiefe Blicke, dann offene Fragen nach dem Motto: »He, warum hängst’n du mit dem Mischling rum?«

Als wir irgendwann beschlossen, von Black Metal auf Rechtsrock umzuschwenken und uns von Apocalyptica Oi!SturmOi!Sturm