Lilly Lucas
New Dreams
Roman
Knaur e-books
Lilly Lucas wurde 1987 in Ansbach geboren und studierte Germanistik in Bamberg. Heute lebt sie mit ihrem Mann und endlos vielen Büchern in Würzburg. Ihr Liebesroman New Promises wurde zum Spiegel-Bestseller. Wenn sie nicht Romane über die Liebe und das Leben schreibt, sieht sie sich am liebsten die Welt an, steckt ihre Nase in Bücher oder lebt ihre Film- und Seriensucht auf der heimischen Couch aus.
© 2020 Lilly Lucas
© 2020 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Franzi Bucher, München
Coverabbildung: CreativeMarket/Paper Lotus
Glitter im Innenteil von surachet khamsuk / Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45802-0
Für Dich.
Du kleines Wunder.
Hast du den Verstand verloren? Du wirfst deine ganze Zukunft weg! Das kann nicht dein Ernst sein, Elara! Auch 800 Meilen später hallten die Worte meiner Mutter noch nervtötend laut durch meinen Kopf. Ich blies die Backen auf, umklammerte das Lenkrad fester und konzentrierte mich auf die Straße. Meine Großstadt-Fahrkünste waren der kurvenreichen Strecke nicht gewachsen. Noch dazu setzten sich wie aus dem Nichts plötzlich weiße Flocken auf meine Scheibe. Ungläubig blinzelte ich. Schnee? Im Mai? Es war eine Weile her, dass ich meine Grandma Molly in Colorado besucht hatte, aber in meiner Erinnerung war es dort um diese Jahreszeit immer warm gewesen. Ich rieb mir die nackten Arme und drehte die Heizung voll auf. Warum hatte ich ausgerechnet ein Kleid an? Und Sandalen! Weil es 35 Grad hatte, als du in Phoenix losgefahren bist, erinnerte mich eine Stimme in meinem Kopf. Richtig. 35 Grad! 30 Grad mehr als jetzt, wie mir die Temperaturanzeige meines Toyotas verriet. Der Kleine tat sich ziemlich schwer, seit wir Arizona verlassen und Kakteen gegen Tannen eingetauscht hatten, rot glühende Felswüsten gegen tiefgrüne Wälder. Und ich tat mich schwer, seit es dunkel geworden war. Ständig hatte ich Angst, eine Kurve zu übersehen oder über den Straßenrand hinauszuschießen. Und dass gefühlt alle 200 Meter ein Schild vor Wildwechsel warnte, machte es nicht besser. Um mich ein wenig zu beruhigen, drehte ich das Radio lauter und summte die Melodie eines Latino-Songs mit, der genauso wenig in diese winterliche Szenerie passte wie ich. Aber der Gedanke an fuego, sol und corazón ließ immerhin kurz ein Gefühl von Wärme in mir aufkommen. Trotzdem spielte ich mit dem Gedanken, den Blinker zu setzen, rechts ranzufahren und meinen Koffer zu durchwühlen. Aber abgesehen davon, dass die Straße beängstigend finster und schmal war, wusste ich, dass ich mir die Mühe sparen konnte. Ich hatte Tops, Shorts und Kleider eingepackt. Sogar meinen neuen Bikini. Mit dem kann ich höchstens in Grandmas Badewanne planschen, dachte ich bitter, während die Scheibenwischer eifrig rotierten. Als würden sie sich freuen, wieder einmal zum Einsatz zu kommen. Überhaupt einmal zum Einsatz zu kommen. In Phoenix hatte es seit Monaten nicht geregnet, und Schnee war etwas, das wir nur aus kitschigen Weihnachtsfilmen kannten.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Ich warf einen flüchtigen Blick auf das Display und verdrehte die Augen. Mom. Mit niemandem wollte ich gerade weniger sprechen. Trotzdem versetzte mir das Foto auf dem Display einen Stich. Es war bei meiner Abschlussfeier vor ein paar Tagen entstanden. Meine Mutter trug ein geblümtes Sommerkleid und strahlte in die Kamera, als hätte man ihrer Tochter soeben den Nobelpreis verliehen. Mit einem Anflug von Schwermut im Gesicht sah ich wieder auf … und stieß einen gellenden Schrei aus. Direkt vor mir auf der Straße stand etwas Großes, Dunkles. Bär!, schoss es mir durch den Kopf. Ich trat voll auf die Bremse und riss das Lenkrad herum, aber es war zu spät. Mein Auto prallte gegen etwas Hartes, geriet ins Schlingern und brach aus. Mit aller Kraft versuchte ich gegenzulenken, konnte aber nicht mehr verhindern, dass der Wagen von der Straße rutschte. Ich sah ihn bereits Hollywood-like an Felsen zerbersten und in Flammen aufgehen, als er erneut gegen etwas krachte und zum Stehen kam. Der Airbag platzte mir ins Gesicht und warf mich zurück. Die Welt um mich herum wurde dunkel. Und still. Ich hörte nichts als meinen rasenden Herzschlag und den leise erschlaffenden Luftsack. Es dauerte ein paar Sekunden – vielleicht waren es auch Minuten –, bis ich mich aus meiner Starre befreit hatte und den ersten klaren Gedanken fassen konnte. Er lautete: Unfall. Verdammt, ich hatte einen Unfall gebaut!
»Ganz ruhig, ganz ruhig«, hörte ich mich flüstern.
Zitternd löste ich den Sicherheitsgurt und tastete nach dem Türöffner. Eisige Luft schlug mir entgegen. Fast hätte mir der Wind die Tür aus der Hand gerissen. Ich zuckte zusammen, als meine rot lackierten Zehen auf Schnee trafen. Brrr, war das kalt! Auf wackeligen Beinen tapste ich um mein Auto herum, um mir ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe machen zu können, aber es war zu dunkel. Warum schien der verdammte Vollmond immer nur dann, wenn man am nächsten Morgen eine wichtige Prüfung hatte und dringend Schlaf benötigte? Unter meinen Sandalen knirschte es plötzlich verdächtig. Offenbar hatte es die Scheinwerfer erwischt. In Gedanken versuchte ich, den Unfall zu rekonstruieren. Ich war nur kurz abgelenkt gewesen, ganz kurz, dann war da dieser … Bär gewesen. Der Bär! Mein Verstand wiederholte das Wort wie ein Echo. Was, wenn er hier noch irgendwo herumstreunte? Eine Welle von Panik erfasste mich. Ich flüchtete zurück ins Auto und verriegelte die Tür von innen. Hektisch suchte ich nach meinem Handy, das nicht mehr in der Halterung steckte. Ich musste meine Mutter anrufen. Grandma. Den Pannendienst. Einen Krankenwagen? Unschlüssig tastete ich über die kleine Beule auf meiner Stirn. Ernsthaft verletzt hatte ich mich nicht. Endlich fand ich mein Handy im Fußraum des Beifahrersitzes – und riss ungläubig die Augen auf, als die Akkuanzeige ein letztes Mal aufblinkte und das Display schwarz wurde. Das war der Moment, in dem ich wie ein Baby losheulen wollte.
»Fuckfuckfuck!«, fluchte ich und schlug mit der Faust gegen das Lenkrad, was ihm ein schrilles Hupen entlockte. Was sollte ich jetzt tun? Ich war über 800 Meilen von zu Hause entfernt, irgendwo in den Rocky Mountains. Es war mindestens eine halbe Stunde her, dass mir ein Auto entgegengekommen war, und der letzte Ort, durch den ich gefahren war, hatte aus einem alten Farmhaus bestanden und den unheilvollen Namen Misery getragen. Wer zur Hölle sollte mich denn hier finden? Verzweifelt ließ ich die Stirn auf das Lenkrad sinken und heulte auf, weil die Beule plötzlich doch ziemlich wehtat.
Ein lautes Klopfen gegen die Fensterscheibe ließ mich hochschrecken. Der Strahl einer Taschenlampe blendete mich, bevor jemand von außen heftig an der Tür zu rütteln begann. Das Großstadtkind in mir tastete sofort nach dem Pfefferspray in meiner Handtasche.
»Alles okay?«, drang eine gedämpfte Männerstimme an mein Ohr – die, zugegeben, nicht wirklich nach Axtmörder klang. Eher besorgt. Ein wenig atemlos. Als wäre er gerannt.
Ich öffnete das Fenster einen Spalt, behielt das Pfefferspray aber sicherheitshalber griffbereit. Schneeflocken bahnten sich ihren Weg in mein Auto und schmolzen auf meinen nackten Knien.
»Geht es dir gut?«
Seine Stimme war tief und warm. Und jung. Er konnte nicht älter als 30 sein.
»Ja«, krächzte ich und vernahm ein erleichtertes Seufzen. »Ich bin von der Straße abgekommen.«
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich, sein Gesicht zu erkennen, aber der Strahl seiner Taschenlampe blendete mich.
»Ich hab die Bremsspur gesehen«, sagte er mit noch immer leicht unregelmäßigem Atem. »Bist du eingeschlafen?«
»Nein!«, entgegnete ich fast gekränkt. »Da … war ein Bär auf der Straße.«
»Ein Bär?«
Sein skeptischer Ton irritierte mich. Ich straffte die Schultern.
»Ja. Ein Bär.«
»Ist er verletzt?«
Ungläubig runzelte ich die Stirn. »Der Bär!?«
»Wenn du ihn angefahren hast, müssen wir die Wildlife Rescue informieren.«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich patziger als beabsichtigt. »Ich war hauptsächlich damit beschäftigt, nicht irgendeine Schlucht hinunterzustürzen.«
»Und Deo aufzutragen«, murmelte er laut genug, dass ich es hören konnte.
»Hm?«
Anstelle einer Antwort leuchtete er mit seiner Taschenlampe auf meine rechte Hand.
»Das ist Pfefferspray!«, stellte ich klar.
»Das nach … wilder Orchidee riecht?« Er stieß ein Geräusch aus, von dem ich nicht wusste, ob es ein Lachen oder Seufzen war.
Verwirrt blickte ich auf die Dose in meiner Hand – die in der Tat mein Deo war. Mist. Mit einem Räuspern ließ ich es zurück in meine Tasche gleiten.
»Springt er noch an?«
Erst mit zweisekündiger Verspätung begriff ich, dass er jetzt von meinem Auto sprach. Und dass ich peinlicherweise noch gar nicht auf die Idee gekommen war, zu testen, ob mein Wagen noch funktionstüchtig war. Ich ließ mir nichts anmerken und drehte den Schlüssel im Schloss. Nach einem kurzen Zuckeln gab der Motor auf. Ich versuchte es ein zweites Mal – mit demselben frustrierenden Ergebnis.
»Shit«, murrte ich und stierte missmutig auf den Airbag, der schlaff über dem Lenkrad hing.
»Wo musst du denn hin?«
Um diese Zeit. Er sagte es nicht, aber es schwang unüberhörbar in seiner Frage mit.
»Nach Green Valley.«
»Green Valley?« Es klang so überrascht, als hätte ich Tadschikistan gesagt, und ich rechnete fest mit einer Aussage wie »Nie gehört«. Aber zu meiner Verwunderung sagte er mit etwas Abstand: »Da muss ich auch hin. Ich kann dich mitnehmen.«
Nie zu Fremden ins Auto steigen, hallte sogleich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Als wäre ich sechs statt 21.
»Danke, aber ich glaube, ich sollte lieber den Pannendienst rufen«, antwortete ich zögernd, weil ich mich fragte, ob mütterliche Weisheiten ihre Gültigkeit behielten, wenn man mitten in der Nacht eine Autopanne in den Rocky Mountains hatte.
»Dann stell dich besser auf eine lange Nacht ein.«
»Hm?«
»Bei diesen Wetterverhältnissen braucht der Pannendienst mindestens zwei Stunden hierher.«
»Zwei Stunden?!«
Ohne Heizung würde ich es niemals so lange aushalten.
»Ist eine ziemlich einsame Gegend«, bestätigte er meine Vermutung.
Unentschlossen biss ich mir auf die Unterlippe und hörte ihn tief durchatmen.
»Hör zu … Green Valley ist keine 20 Meilen mehr entfernt. Da gibt es eine Autowerkstatt. Du kannst von unterwegs anrufen und eine Nachricht hinterlassen. Dann wird dein Wagen gleich morgen früh abgeschleppt.«
Im Schnelldurchlauf ging ich meine Optionen durch – um festzustellen, dass ich keine hatte. Noch dazu war die Aussicht auf eine Dusche und ein warmes Bett deutlich verlockender als die Vorstellung, zwei Stunden allein im Nirgendwo festzusitzen. Und der Typ schien wirklich nur helfen zu wollen. Auch wenn mir etwas wohler zumute gewesen wäre, hätte ich wenigstens sein Gesicht sehen können.
»Okay«, hörte ich mich sagen und entriegelte das Auto. Ich schnappte mir meine Tasche vom Beifahrersitz, öffnete die Tür und schob meine Beine ins Freie. Die beißende Kälte ließ mich aufkeuchen. Kurz streifte der Strahl seiner Taschenlampe meine Knie.
»Da, wo ich herkomme, fällt im Mai kein Schnee«, murmelte ich.
»Honolulu?«
»Phoenix«, erwiderte ich trocken.
»Arizona, hm?«
Ich nickte, obwohl er keine Antwort zu erwarten schien. Gedämpft drangen Motorengeräusche an mein Ohr, als ich ihm zu seinem Wagen folgte, der mit Warnblinkanlage an der Straße parkte. Wenn mich nicht alles täuschte, fuhr er einen dunklen Jeep. Dicke Schneeflocken tanzten im Licht der kreisrunden Scheinwerfer. Wir hatten das Auto schon fast erreicht, als mein rechter Fuß plötzlich wegrutschte. Ich wankte und sah mich bereits mit dem Gesicht im Schnee liegen, als sich eine Hand um meinen nackten Oberarm schloss. Warm und fest.
»Danke«, murmelte ich mit klopfendem Herzen und ließ ein verlegenes Räuspern folgen.
Erst jetzt löste er den Griff um meinen Arm und überbrückte die restlichen paar Meter zum Auto. Ohne Scheu zog ich die Beifahrertür auf, schüttelte mir den Schnee aus den Sandalen und stieg ein. Es roch leicht nach Kaffee. Und es war so mollig warm, dass meine Zehen augenblicklich zu bitzeln begannen.
»Hier.« Ehe ich mich versah, landete eine karierte Wolldecke auf meinem Schoß. Überrascht sah ich auf – und erhaschte endlich einen Blick auf sein Gesicht. Whoa! Er war jünger als vermutet. Anfang, Mitte zwanzig. Und er sah gut aus. Ziemlich gut, um genau zu sein. Seine Augen waren irgendetwas zwischen grün und braun. Sein dunkles Haar war ein wenig zerzaust, aber so dicht, dass man seine Hände darin vergraben wollte. Er hatte winzige Bartstoppeln, als hätte er sich heute Morgen nicht rasiert und …
»Ich bin Noah.«
… er hieß Noah. Noah. Der Name passte zu ihm. Irgendwie.
»Elara.«
»Elara?«
Er sagte es, als hätte er sich verhört, und auf seiner Stirn bildete sich eine Falte.
»Wie Lara. Nur mit einem E vorne.« Es klang ein wenig heruntergeleiert, weil dieser Satz schon zu häufig aus meinem Mund gekommen war. »Meine Mom hat den Namen in irgendeinem Buch entdeckt«, fügte ich hinzu – ebenfalls nicht zum ersten Mal.
Er musterte mich einen Moment lang. So eindringlich, dass ich vorgab, nach dem Sicherheitsgurt zu suchen.
»Der klemmt manchmal.«
Er beugte sich über mich. Der Duft von frisch gefallenem Schnee und Tannennadeln stieg mir in die Nase und vermengte sich mit einem dezenten Männerparfum. Mein Puls legte einen Gang zu, und ich presste mich gegen die Rückenlehne. Bevor ich mich dazu hinreißen ließ, an ihm zu schnuppern, ließ er sich in seinen Sitz zurückfallen, drehte die Heizung auf und fuhr los. Konzentriert und schweigsam blickte er auf die Fahrbahn, während wir die ersten Meilen hinter uns brachten. Kein einziges Auto kam uns entgegen. Die Gegend war wirklich verlassen. Was hätte ich nur gemacht, wenn er nicht vorbeigekommen wäre? Ich schauderte, zog mir die Decke bis zum Kinn und verdrängte den Gedanken, dass sie womöglich irgendeinem Hund gehörte, der normalerweise in diesem Auto mitfuhr. Ob Noah einen Hund hatte? Verstohlen schielte ich zu ihm. Nein, eher nicht. Sein Auto war zu sauber dafür. Und ziemlich ordentlich. Ein Thermobecher in der Mittelkonsole und eine Packung Kaugummis waren die einzigen persönlichen Gegenstände, die ich auf die Schnelle entdeckte.
»Was treibt dich nach Green Valley?«
Ich wusste nicht, was mich mehr erschreckte. Dass er plötzlich wieder mit mir sprach oder dass er mir eine Frage stellte, die ich selbst nicht ganz beantworten konnte.
»Es kommt nicht so oft vor, dass jemand dorthin will«, schob er hinterher und murmelte ein »mitten in der Nacht«.
»Ich besuche meine Grandma.«
Überrascht sah er zu mir. »Deine Grandma wohnt in Green Valley?«
Ich nickte. »Molly McAbott. Sie hat einen Blumen…«
»Molly ist deine Grandma?«
»Du kennst sie?«
»Ich kenne wohl alle 997 Einwohner von Green Valley«, erwiderte er mit einer seltsamen Mischung aus Ernüchterung und Belustigung. »Außer … Carly Becket.«
»Wer ist Carly Becket?«
»Die Tochter von Ada und Peter Becket. Gestern Nacht zur Welt gekommen.«
Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
»Nebenbei erwähnt, glaube ich nicht, dass man in Green Valley wohnen kann, ohne deine Grandma zu kennen. Es gibt Leute, die der Meinung sind, Green Valley müsste eigentlich Green Molly heißen.«
Ich hob die Brauen.
»Na ja, sie ist sehr … präsent.« Er schmunzelte schwach. »Und die halbe Stadt ist verrückt nach ihrem Pumpkin Pie.«
Der Gedanke an den Duft von Kürbis, Zimt und Karamell ließ mich einen sehnsüchtigen Laut ausstoßen. »Den hab ich ewig nicht mehr gegessen.«
Noah schielte zur Seite. »Wie lange warst du nicht mehr hier?«
»Eine Weile«, antwortete ich ausweichend. Dabei kannte ich die Antwort. Vier Jahre. Grandpas Beerdigung. Einen Moment lang war ich schockiert, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Es kam mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass er mich zum Angeln im Wolve Creek mitgenommen hatte. Dass er mir in seiner grünen Jacke und den Gummistiefeln eine Angel in die Hand gedrückt und Jahr für Jahr aufs Neue versucht hatte, mich fürs Fliegenfischen zu begeistern. »Meistens kommt Grandma zu uns nach Phoenix«, schob ich schnell nach. Aus irgendeinem Grund wollte ich ihn wissen lassen, dass ich keine Rabenenkelin war, die nach vier Jahren mal wieder auf die Idee kam, ihre Großmutter mit einem Besuch zu beehren. Grandma und ich hatten regelmäßig Kontakt. Per Telefon, per Skype und neuerdings sogar per Facebook. (Ich hatte mich nur angemeldet, weil es in meinen Augen das einzige Omi-taugliche soziale Netzwerk war.) Dass ich so lange nicht mehr in Green Valley gewesen war, hatte andere Gründe. Einen, um genau zu sein. Meine Mutter, die ihre Heimatstadt mied wie der Teufel das Weihwasser.
»Sie freut sich bestimmt, dass du kommst.«
Wenn sie was davon wüsste. Ich zwang mir ein Lächeln aufs Gesicht und nickte.
»Hast du vor, länger zu bleiben?«
Er drehte am Radio, bis irgendein melancholischer Indie-Folk-Song ertönte, der tausendmal besser in die Rocky Mountains passte als der Fuego sol corazón-Singsang aus meinem Auto.
»Ein paar Tage.«
Es klang eher wie eine Frage. Um ehrlich zu sein, hatte ich darüber noch nicht nachgedacht. Schließlich hatte ich nach dem Streit mit meiner Mutter einfach wahllos Klamotten in meinen Koffer gestopft und die Flucht ergriffen. Mein Koffer! Verdammt, der war noch im Auto. Ich unterdrückte den Impuls, mir die Hand gegen die Stirn zu klatschen. Ob ich Noah bitten konnte, noch einmal umzudrehen? Wie lange fuhren wir schon? Ich biss mir auf die Unterlippe und rang mit mir.
»Home, sweet home«, murmelte er.
Ich sah aus dem Fenster und erhaschte gerade noch so einen Blick auf das Ortsschild von Green Valley. Nein, jetzt konnte ich ihn definitiv nicht mehr bitten, umzudrehen. Ich würde mir wohl oder übel etwas von Grandma borgen müssen. Kurz sah ich mich in einem ihrer knöchellangen geblümten Nachthemden und musste schmunzeln. Wir fuhren durch das Zentrum von Green Valley, das im Wesentlichen aus der Main Street bestand und abgesehen von ein paar beleuchteten Schaufenstern wie ausgestorben wirkte. Dabei war es erst kurz nach Mitternacht. Zu Hause in Phoenix zogen wir um diese Uhrzeit erst los. Aber das hier war eben nicht die fünftgrößte Stadt der Vereinigten Staaten, sondern ein kleiner, verschlafener Ort in den Rocky Mountains, rief ich mir in Erinnerung.
»Hier wären wir«, sagte Noah, als er vor dem Holzhaus am Ende der Aspen Road hielt, das groß und dunkel vor uns aufragte. Nicht einmal auf der Veranda brannte Licht. Ob es die alte Hängebank noch gab? Mit den quietschenden Ketten? In der Grandma mir früher aus Pu der Bär vorgelesen hatte? In der Grandpa abends seine Pfeife geraucht hatte? Noch mehr Kindheitserinnerungen wurden in mir wach, und ein Teil der Erschöpfung fiel wie auf magische Weise von mir ab. Ich verband so wunderschöne Erlebnisse mit diesem Haus und den Menschen, die darin wohnten. Gewohnt hatten. Bevor meine Stimmung in Wehmut umschlagen konnte, schnallte ich mich ab und begann, die Decke zusammenzulegen. Noah machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte: »Nimm sie mit.«
»Sicher?«
Seine Augen huschten über meine Spaghettiträger. »Wenn du so da rausgehst, bekommst du schon auf dem Weg zur Veranda eine Lungenentzündung.«
»Okay, dann«, etwas unbeholfen zupfte ich an der Decke herum, »danke fürs Mitnehmen.«
»Ich hab zu danken.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Mit Mittel- und Zeigefinger deutete er auf seine Augen, und ich konnte mich wieder nicht entscheiden, ob sie braun oder grün waren. »Dass du mir die wilde Orchidee erspart hast.«
Mir schoss die Röte in die Wangen.
»Ich gebe Hank noch den Standort deines Wagens durch. Dann wird er gleich morgen früh abgeschleppt. Er meldet sich dann bei deiner Grandma.«
»Hat er ihre …« Ich brach ab. Natürlich hatte er ihre Nummer. Green Molly. Ich nickte Noah dankbar zu und verabschiedete mich. Als ich die Tür öffnete, fröstelte ich sofort wieder. In Green Valley lag zwar kein Schnee, aber kühl war es trotzdem. Hastig lief ich auf die Veranda zu, die von den Scheinwerfern des Jeeps angestrahlt wurde. Kurz warf ich einen Blick über die Schulter. Er machte keine Anstalten loszufahren. Ob er warten wollte, bis ich im Haus war? Ich ging in die Hocke und suchte nach dem Windlicht, in dem Grandma ihren Ersatzschlüssel aufbewahrte. Erleichtert stellte ich fest, dass es nach wie vor neben der Tür stand, zusammen mit einem Paar lilafarbener Gummistiefel. Ich hob den Deckel an … und griff ins Leere. Da war kein Schlüssel. Nervös sah ich mich auf der Veranda um. Wo sonst konnte er sein? Ich suchte unter der Fußmatte und den Blumentöpfen, unter den Polstern der Hängebank und in den Gummistiefeln, aber den Haustürschlüssel fand ich nicht. Mit zunehmend beschleunigendem Puls warf ich einen erneuten Blick über meine Schulter. Noahs Wagen stand immer noch an der Straße. Leise Motorengeräusche drangen durch die Nacht.
»Sorry, Grandma«, seufzte ich und drückte auf die Klingel. Ich lauschte, aber nichts regte sich. Auch als ich ein zweites und drittes Mal klingelte, blieb es still im Haus. In meiner Verzweiflung wählte ich ihre Nummer. Gedämpft drang das Läuten des Telefons durch die Tür. »Komm schon, Grandma, wach auf«, flüsterte ich unruhig, während es läutete und läutete und läutete.
»Gibt’s ein Problem?«
Erschrocken fuhr ich herum. Auf der Veranda war es so dunkel, dass ich nur seine Silhouette erkennen konnte. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie groß er war. Mindestens einen Kopf größer als ich.
»Der Schlüssel …« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Normalerweise liegt er im Windlicht.«
Zumindest war es früher so gewesen. Plötzlich kam ich mir schrecklich naiv vor. Wer fuhr fast 900 Meilen und verließ sich auf eine Kindheitserinnerung?
»Hast du geklingelt?«
Resigniert zuckte ich mit den Schultern. »Sie hört mich nicht.«
»Wo ist ihr Schlafzimmerfenster?«
»Willst du Kieselsteine dagegen werfen?«
»Na ja, erst mal hätte ich es mit dem altmodischen Klopfen versucht.«
In seiner Stimme schwang ein Hauch Belustigung mit.
»Ihr Schlafzimmer ist oben. Du müsstest es also mit dem altmodischen Klettern versuchen.«
Er trat neben mich und klopfte mehrmals gegen die massive Holztür, während ich weiter versuchte, Grandma telefonisch zu erreichen. Die Sekunden verstrichen. Fröstelnd wickelte ich die Decke fester um mich. Auf meinen Beinen hatte sich eine Gänsehaut gebildet, und meine Füße waren inzwischen taub vor Kälte.
»Denkst du, sie hat vergessen, dass du kommst?«
»Äh … streng genommen … weiß sie es gar nicht.« Es war nur ein verlegenes Flüstern. »Das heißt … es wäre möglich, dass sie meine Nachricht nicht mehr abgehört hat.«
»Verstehe.«
Er klang nicht so. Eher wie jemand, der sich gerade dachte: Schöne Scheiße, in die ich mich da geritten habe.
»Hör zu, du musst das nicht machen«, seufzte ich. »Mit mir hier warten und … frieren.«
»Ich hab kein Strandkleid an«, sagte er mit gutmütigem Spott.
»Das ist kein Strandkleid!«, murrte ich und drückte eine Spur zu energisch auf die Klingel. Nichts regte sich.
»Ich glaube, das hat keinen Sinn.« Noah deutete auf seinen Wagen. »Lass uns im Warmen überlegen, wo wir dich heute Nacht unterbringen.«
»Unterbringen?«
»Na ja, du kannst schlecht auf der Veranda übernachten.«
Da hatte er natürlich recht. Mit hängendem Kopf folgte ich ihm zum Jeep. Jackenstoff raschelte, und ein Display leuchtete in der Dunkelheit.
»Ich versuch’s mal bei Ryan. Seiner Familie gehört ein B&B nicht weit von hier. Vielleicht ist da noch was frei.« Sekunden später stieß er einen unzufriedenen Laut aus. »Sein Handy ist schon aus.«
Kein Wunder, es war inzwischen fast ein Uhr.
»Gibt es hier noch ein anderes B&B? Oder ein Hotel?«
Ein günstiges, wenn möglich, da ich kaum Bargeld bei mir hatte und mein Kontostand irgendwo bei 100 Dollar herumkrebste.
»Nein, nur das Golden Leaf.« Wir stiegen in den Wagen. »In Vail gibt es jede Menge Hotels, aber das ist gut eine halbe Stunde Fahrt von hier.«
»Das macht nichts, ich bestell mir einfach ein Uber.«
»Uber?« Ich glaubte, einen belustigten Unterton herauszuhören. »So weit sind wir hier noch nicht.«
»Oh.« Ich biss mir auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. »Taxi?«
»Nur am Samstag. Und nur bis 23 Uhr.«
Kurz dachte ich, er würde sich einen Scherz mit mir erlauben, aber seine Miene blieb ausdruckslos. Im Gegensatz zu meiner, die nun ehrliche Verzweiflung offenbarte. Nachdenklich trommelte er mit den Zeigefingern auf dem Lenkrad herum.
»Okay«, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit. »Wenn du willst, kannst du bei uns auf der Couch schlafen.«
Abwartend sah er mich an, während ich das uns in seinem Satz analysierte. Wohnte er in einer WG? (Gab es hier überhaupt WGs?) Mit seiner Freundin zusammen? (Hatte er eine?) Bei seinen …
»Meine Eltern haben nichts dagegen«, schob er nach. Ah. Uns = Eltern. Irgendwie beruhigte mich diese Tatsache. »Unsere Couch ist allerdings total durchgesessen. Und es könnte sein, dass du morgen ziemlich früh aufwachst wegen der Kirchturmglocken.«
Er schien mir meine Verwirrung anzusehen.
»Wir wohnen direkt neben St. Mary’s. Mein Dad ist der Reverend von Green Valley.«
»Oh«, entfuhr es mir überrascht. Wer hätte das gedacht? Ich saß hier neben einem waschechten Pfarrerssohn. Plötzlich ertönte Dusty Springfields »Son of a preacher man« in meinem Kopf. Diesen Song hatte ich erst kürzlich mit meiner Freundin Leilani in einer Karaoke Bar in Downtown gegrölt. Er sah mich nach wie vor an, und mir wurde bewusst, dass ich ihm antworten musste. Und dass ich kaum eine Wahl hatte.
»Wenn es deinen Eltern wirklich nichts ausmacht …«
»Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen«, murmelte er und startete den Wagen.
Stirnrunzelnd schielte ich zu ihm. War das aus der Bibel? Mein letzter Gottesdienstbesuch war mindestens zehn Jahre her. Seit Mom mit Larry zusammen war, seines Zeichens überzeugter Atheist, gingen wir nicht mal mehr an Weihnachten in die Kirche.
Während wir die Aspen Road entlangfuhren, begann ich darüber nachzudenken, ob ich gerade dabei war, einen Riesenfehler zu begehen. Was, wenn er mich angelogen hatte? Wenn er mich gar nicht zu seinen Eltern fuhr, sondern zu irgendwelchen religiösen Spinnern? Einer Sekte vielleicht? Intuitiv tastete ich nach dem Pfefferspray in meiner Handtasche.
»Ist es weit?«, fragte ich und warf einen unsicheren Blick aus dem Fenster.
»Keine zwei Minuten.«
Diese Aussage stellte sich schon mal als wahr heraus. Wir bogen erneut in die Main Street ab und erreichten wenig später die Kirche St. Mary, die dunkel vor uns in den Nachthimmel ragte. Im Licht der Scheinwerfer erhaschte ich einen Blick auf das angeschlossene Nachbargebäude. Ich erkannte eine Veranda und eine Garage, vor der wir den Wagen abstellten. Wieder überkam mich ein mulmiges Gefühl. Du hast zu viel ferngesehen, ermahnte ich mich selbst und lockerte meinen Griff um das Pfefferspray.
Auf der Veranda ging ein Bewegungsmelder an, als wir uns näherten. Ein paar Korbstühle gruppierten sich um einen runden Tisch, bunt bemalte Blumentöpfe stapelten sich auf dem Boden, und pinkfarbene Turnschuhe in Kindergröße standen neben Gummistiefeln mit Blumenprint. Scheinbar hatte Noah eine kleine Schwester. Aus irgendeinem Grund beruhigte mich das. Er schloss die Tür auf, über der ein hübsch geschnitztes Holzschild mit dem Spruch God bless our home and all who enter angebracht war. Verstohlen beobachtete ich, wie er aus seinen schwarzen Vans schlüpfte und seine Jacke an eine Garderobe hängte, an der mindestens zehn weitere baumelten. Ich spürte, wie ich innerlich entspannte. Hier lebte eine Familie, eine ganz normale Familie. Ich ließ meine Sandalen an und folgte ihm ins Wohnzimmer, ein gemütlicher Raum mit schummrigem Licht, einem weinroten Stoffsofa und einem ziemlich beeindruckenden Bücherregal, das eine ganze Wand einnahm. Über der Tür hing ein schlichtes Holzkreuz, und an den Wänden prangten Familienfotos, selbst gemalte Bilder und Bastelarbeiten. Ich konnte jetzt schon sagen, dass dieses Haus das glatte Gegenteil von unserem Bungalow in Phoenix war. Bei uns war alles modern und minimalistisch, um nicht zu sagen … steril. Mom und Larry liebten Glas und Edelstahl, und ihre bevorzugte Einrichtungsfarbe war Weiß. Noah zog indessen eine quietschbunte Patchworkdecke aus dem Schrank und legte sie über die Sofalehne. Dann sah er mich etwas unschlüssig an. Fast so, als wäre er nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, mir einen Schlafplatz anzubieten.
»Hast du … Durst oder so?«
»Nein, danke.«
»Falls doch, bedien dich einfach.«
Ich folgte seinem Zeigefinger. Direkt an das Wohnzimmer schloss sich die Küche an, die aussah, als wäre sie einer Ausgabe von Country Living entsprungen – und vermutlich ebenfalls Moms Albtraum gewesen wäre. Ein ausladender Esstisch mit einer karierten Tischdecke und einem üppigen Strauß Frühlingsblumen, holzverkleidete Fronten, eine analoge Wanduhr und eine Vitrine mit Kochbüchern, Einmachgläsern und Geschirr.
»Das Bad ist zwei Zimmer weiter, falls …« Er stockte und runzelte die Stirn. »Hast du gar nichts dabei?«
»Ich hab meinen Koffer im Auto vergessen«, gestand ich. »Aber für eine Nacht wird es schon gehen.«
Mit zusammengekniffenen Augen musterte er mein eng anliegendes gelbes Kleid. »Warte mal …«
Ehe ich etwas entgegnen konnte, ging er aus dem Wohnzimmer und kehrte mit einer karierten Baumwollhose und einem ordentlich zusammengelegten T-Shirt zurück. Einen Moment lang sah ich irritiert auf die Schlafsachen. In Phoenix war es um diese Jahreszeit so heiß, dass ich nachts nur ein dünnes Top trug. Noch dazu war mir die Vorstellung, in Noahs Klamotten zu schlafen, schrecklich unangenehm. Schließlich roch ich nach der langen Fahrt wohl kaum nach Blumenwiese. Aber der Stoff fühlte sich so herrlich weich zwischen meinen Fingern an, dass ich meine Bedenken beiseiteschob – und meine Eitelkeit gleich mit.
»Danke«, murmelte ich mit einem verlegenen Lächeln.
Ein paar Atemzüge lang standen wir uns schweigend gegenüber.
»Okay … dann …«
Etwas in mir wollte protestieren. Ihn aufhalten. Aber ich wusste weder wie noch warum.
»… gute Nacht … Elara.«
Einen Moment lang war ich überrascht, dass er sich meinen Namen gemerkt hatte. Dass er ihn richtig ausgesprochen hatte. Und dass er so schön aus seinem Mund klang.
»Gute Nacht. Und … danke.«
Gott, wie oft hatte ich das heute schon zu ihm gesagt? Seine Hand schwebte bereits über dem Türknauf, als er sich noch einmal zu mir umdrehte.
»Es ist ein Jupitermond.«
»Hm?«
»Elara. Das ist der Name eines Jupitermonds.«
Verblüfft sah ich ihn an. Ehe ich etwas erwidern konnte, war er bereits durch die Tür verschwunden. Ich hörte noch seine Schritte im Treppenhaus, die leiser und leiser wurden und schließlich verklangen. Mit einem Lächeln auf den Lippen zog ich mir das Kleid über den Kopf und schlüpfte in die Pyjamahose. Sie war mir ein paar Nummern zu groß, aber genauso bequem, wie sie aussah. Das Shirt reichte mir bis knapp über die Knie und war mit dem inzwischen verwaschenen Logo der NASA versehen. Ich ertappte mich dabei, daran zu schnuppern und den Duft nach Weichspüler zu inhalieren.
Nachdem ich das Licht gelöscht hatte, legte ich mich auf die Couch, die mich mit quietschenden Sprungfedern begrüßte, und zog mir die Decke bis zum Kinn. In Sekundenschnelle erfasste mich eine bleierne Müdigkeit. Meine Lider verloren den Kampf gegen die Schwerkraft, mein Gehirn schaltete auf Ruhemodus. Ich war schon fast eingeschlafen, als mir auffiel, dass ich Noah gar nicht gefragt hatte, was er mitten in der Nacht im Nirgendwo gemacht hatte.
Es waren nicht die Kirchturmglocken, die mich am nächsten Morgen weckten, sondern ein leises Kichern und ein Tippen gegen meine Schulter. Widerwillig öffnete ich die Augen und blickte in das Gesicht eines kleinen Mädchens. Dunkler Lockenkopf, niedliche Stupsnase. Gerade als sich ein verzücktes Lächeln auf mein Gesicht schleichen wollte, sah ich den schwarzen Spitzen-BH, den sie über ihrem Ringelpullover trug. Meinen schwarzen Spitzen-BH. Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich hoch. Ein, zwei Sekunden lang wusste ich nicht, wo ich war. Dann kamen die Ereignisse der letzten Nacht wie Flashbacks zu mir zurück – inklusive der Erinnerung, dass ich meinen BH und das Kleid ordentlich zusammengefaltet auf den Couchtisch gelegt hatte.
»Kann ich den vielleicht wiederhaben?«, fragte ich mit meiner süßlichsten Stimme.
Die Kleine schüttelte den Kopf und grinste. Eine niedliche Zahnlücke kam zum Vorschein. Wie alt mochte sie sein? Sechs? Sieben?
»Du … äh … bist aber noch ein bisschen zu klein dafür.« Ich unternahm einen vorsichtigen Versuch, ihr den BH abzunehmen, aber sie war schneller und rannte weg. Hastig sprang ich auf und eilte hinterher, wobei ich mit dem großen Zeh an der Sofakante hängen blieb und gerade noch so verhindern konnte, eine blamable Bauchlandung hinzulegen.
»Autschautschautsch«, jammerte ich und rieb mir den pochenden Zeh.
»Alles okay?«
Ertappt hob ich den Kopf. Noah stand im Türrahmen und musterte mich sichtlich amüsiert, während der kleine Lockenkopf kichernd versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Wow, der Typ war wirklich groß. Und bei Tageslicht sah er noch besser aus. Sein dunkles Haar war feucht vom Duschen, sein Gesicht frisch rasiert. Er trug Jeans und eine graue Sweatshirt-Jacke über einem weißen T-Shirt. Nur die Schatten unter seinen Augen verrieten, dass es eine kurze Nacht gewesen war. Während ich ihn viel zu offensichtlich musterte, kitzelte er die Kleine und nahm ihr den BH ab.
»Nicht ganz deine Größe, Ruthie.« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Ich schätze mal, der gehört dir?«
Röte schoss mir ins Gesicht, und ich wusste intuitiv, dass dieser Moment ein heißer Anwärter auf die Top 5 der größten Peinlichkeiten meines Lebens war. Mit einem gepressten Lächeln nahm ich den BH an mich. Im selben Moment ging die Haustür auf. Ein Mädchen in meinem Alter rauschte ins Wohnzimmer. Mit ihrer Softshelljacke, den geröteten Wangen und dem leicht zerzausten Pferdeschwanz sah sie aus wie ein Fahrradkurier. Sie schenkte mir einen langen prüfenden Blick und wandte sich dann an Ruthie. »Du hast recht. Sie sieht wirklich aus wie Magic Millie.«
Die Kleine nickte zufrieden.
»Magic Millie?«, fragte ich verdattert.
Statt mir zu antworten, lief Ruthie zu einer Holztruhe und kehrte mit einer Barbiepuppe zurück, die sie mir demonstrativ unter die Nase hielt. Sie hatte einen dunklen Teint, langes braunes Haar, trug ein gelbes Minikleid und Riemchensandalen.
»Magic Millie ist meine Lieblingsbarbie. Sie kann sich in eine Meerjungfrau verwandeln.«
Ihr Blick wanderte zu meinen Beinen, die, wie mir jetzt erst bewusst wurde, nackt waren. Mir war heute Nacht so warm gewesen, dass ich mir die Baumwollhose von den Beinen gestrampelt hatte.
»Äh … ich nicht«, entgegnete ich mit einem verlegenen Lächeln und zog das T-Shirt am Saum nach unten.
»Ich bin Rebecca«, sagte das Mädchen mit der Softshelljacke und lächelte. »Seine Schwester.« Ihr Daumen schoss in Noahs Richtung.
»Und meine«, bemerkte Ruthie und reckte das Kinn nach oben.
»Ich bin Elara.«
»Mollys Enkelin aus Phoenix, ich weiß. Du hast es geschafft, noch vor acht Uhr morgens das Thema im Diner zu sein.«
Ich hob die Brauen. »Im Diner?«
Rebecca zuckte mit den Schultern. »Hier passiert nicht viel. Wenn dann mal jemand ein Schaf überfährt und im Graben landet, ist das eben …«
»Ein Schaf?!«, platzte es aus mir heraus.
Rebecca schielte zu ihrem Bruder, der die Augen zusammenkniff und flüsterte: »Sie dachte, es wäre ein Bär gewesen.«
»Na ja, es war ein Bighorn-Schaf«, sagte Rebecca hastig und schenkte mir einen aufmunternden Blick. »Die wirken etwas … massiger.«
Das letzte Wort brachte sie gerade noch so über die Lippen, ohne zu grinsen. Auch Noah hatte sichtlich Mühe, seinen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Mit ungläubiger Miene starrte ich die beiden an. Das riesige Ding auf der Straße sollte ein Schaf gewesen sein? Ein Schaf?! Dieser Morgen war eine einzige Aneinanderreihung von Peinlichkeiten. So langsam wurde es wirklich Zeit, dass ich mich vom Acker machte. Zumal Grandma inzwischen sicher meine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter abgehört hatte und sich Sorgen machte, weil sie mich nicht erreichte.
»Könnte ich vielleicht mal kurz meine Grandma anrufen? Nicht, dass sie sich wundert …«
Obwohl sich Noahs Mund öffnete, antwortete eine Frauenstimme: »Ich habe Molly gleich heute Morgen angerufen. Sie weiß, dass du bei uns bist.«
Eine Frau in den Vierzigern kam durch die Küchentür ins Wohnzimmer und schenkte mir ein offenes, warmes Lächeln. Mit ihrem rotblonden Haar, das ihr wildgelockt auf die Schultern fiel, ihrem hellen, sommersprossigen Teint und der Schürze um ihre Hüften erinnerte sie mich sofort an Mrs. Weasley aus den Harry-Potter-Büchern.
»Ich bin Barbara Fitzgerald. Aber nenn mich ruhig Barb. Das machen alle.«
»Ich nicht«, quäkte Ruthie.
»Das stimmt, mein Engel. Du nicht.« Schmunzelnd drückte sie der Kleinen einen Kuss auf den Kopf.
»Elara«, sagte ich, obwohl sie das sicher längst wusste.
»Freut mich sehr, dich endlich mal kennenzulernen, Elara. Deine Grandma hat mir schon so viel von dir erzählt. Sie ist unglaublich stolz auf dich.«
Ich lächelte ein leicht verkrampftes Lächeln, weil ich mir nicht sicher war, ob Grandma immer noch stolz auf mich sein würde, wenn sie erfuhr, warum ich in einer wortwörtlichen Nacht-und-Nebel-Aktion nach Green Valley geflüchtet war.
»Danke, dass ich bei Ihnen übernachten durfte, Mrs. Fitzgerald.«
»Barb«, korrigierte sie mich zwinkernd.
»Barb«, wiederholte ich.
»Unser Haus steht jedem offen.« Sie lächelte wieder ihr warmes Lächeln. »Und es scheint ja eine echte Notsituation gewesen zu sein. Ich wünschte nur, wir hätten dir einen bequemeren Schlafplatz bieten können als«, sie schielte zum Sofa, »diese alte Krücke. Aber momentan ist meine Rasselbande wieder komplett. Da ist das Haus voll bis unters Dach. Apropos Rasselbande. Wo ist eigentlich Jacob?« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und rief nach ihm. »Jacob Fitzgerald, du kommst schon wieder zu spät zur Schule!«
Noah hatte also auch noch einen Bruder. Vier Kinder. Wow. Eine echte Großfamilie.
»Du bleibst doch noch zum Frühstück, Elara?«
Ich wollte höflich ablehnen, aber sie ließ mir keine Gelegenheit dazu.
»Du musst ja schrecklich hungrig sein nach der langen Anreise und den Strapazen der letzten Nacht.«
Ganz unrecht hatte sie nicht. Abgesehen von einem Müsliriegel hatte ich das letzte Mal an einer Raststätte in Arizona etwas gegessen. Ein Chicken-Teriyaki-Sandwich von Subway, das mir die restliche Fahrt über wie ein Ziegelstein im Magen gelegen hatte.
»Ruthie, deckst du bitte den Tisch? Noah, du machst Kaffee! Rebecca, du …«
»Ich hab schon die Bagels besorgt!«, nörgelte sie und wedelte demonstrativ mit einer braunen Papiertüte.
»Dann soll Jacob …« Barb stemmte die Hände in die Hüften und rief erneut nach ihrem Sohn.
»Ich komm ja gleich«, hallte eine brummige Jungenstimme durchs Haus.
Wie ein Zaungast verfolgte ich die Darbietung. Fasziniert und irritiert zugleich. So viel Trubel war ich nicht gewohnt – zu keiner Tageszeit. Mom und Larry arbeiteten beide im Krankenhaus in Phoenix. Dass wir alle drei zur selben Zeit zu Hause waren, kam eher selten vor.
»Da wird man nichtsahnend von der Straße aufgegabelt und landet im Irrenhaus«, kommentierte Rebecca meinen Blick und grinste.
»Rebecca!«, raunte ihre Mutter. »So wie du das sagst, klingt es, als wäre Elara eine …« Im letzten Moment schien ihr aufzufallen, dass auch ihre jüngste Tochter anwesend war.
»Eine was?«, fragte Ruthie mit kindlicher Neugier, während sie Teller neben Teller platzierte.
»Ja, Mom, eine was?«, kam es nun auch von Rebecca, die sich ein Lachen verkneifen musste und von ihrer Mutter einen eindeutigen Blick kassierte.
»Eine … Obdachlose«, sagte Barb.
»Was ist eine Obdachlose?«, fragte Ruthie.
»Jemand, der kein Haus hat«, erklärte Barb.
»So wie Olivia?«
»Nein!«, widersprach Barb sogleich. »Olivias Familie hat ja eine Wohnung.«
»Du hast gesagt …«
»Stimmt, Liebes, da habe ich mich falsch ausgedrückt. Obdachlos ist man, wenn man kein Haus, keine Wohnung oder … kein Zimmer hat.«
Die Kleine stieß ein nachdenkliches »Hm« aus.
»Kann ich vielleicht was helfen?«, fragte ich, während alle um mich herumwuselten.
»Nein, nein, das wäre ja noch schöner. Ich hab dir ein Handtuch und eine Zahnbürste ins Badezimmer gelegt. Falls du dich frisch machen möchtest«, sagte Barb.
Ich beschloss, das Angebot anzunehmen. Auf dem Weg ins Bad begegnete mir ein schlaksiger Junge mit demselben rotblonden Haar wie Barb. Er musterte mich kurz und nuschelte ein »Morgen«, bevor er in die Küche schlurfte.
»Wer ist das?«, hörte ich ihn noch fragen.
»Mollys Enkelin aus Phoenix«, antwortete seine Mutter.
»Sie ist ohnmachtslos«, erklärte Ruthie abgeklärt.
»Obdachlos«, korrigierte Barb.
»Sie hat kein Haus, keine Wohnung und kein Zimmer«, plapperte Ruthie vor sich hin.
»Und jetzt wohnt sie bei uns?«, fragte Jacob und klang nicht im Geringsten überrascht.
Mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck verschwand ich im Badezimmer. Als ich einen Blick in den Spiegel warf, erschrak ich. Ich sah aus wie eine Mischung aus Puffmutter und Wasserleiche. Aus meiner Frisur war über Nacht eine Katastrophe geworden, meine Wimperntusche war überall, nur nicht auf meinen Wimpern, und auf meiner Wange hatte ich einen fiesen Kissenabdruck. Noch dazu hatte sich über meiner rechten Augenbraue eine Beule gebildet. So viel zu Magic Millie. Mit einem Wattebausch entfernte ich notdürftig die Make-up-Reste und wusch mir das Gesicht. Anschließend putzte ich mir die Zähne und kämmte meine langen Haare, bis sie wieder halbwegs gepflegt aussahen. Ich schlüpfte aus dem T-Shirt, zog mein Kleid und die Sandalen an und folgte dem Geräuschpegel in Richtung Küche. Sechs Personen saßen inzwischen um einen großen Holztisch herum. Geschirr und Besteck klapperte, eine Kaffeekanne wurde herumgereicht, Kuchen geschnitten und Bagels bestrichen.
»Oh, da ist sie ja«, sagte Barb. Zwölf Augen richteten sich auf mich. »Thomas, das ist Elara, Mollys Enkeltochter aus Phoenix.«
Der Mann neben ihr blickte von seiner Zeitung auf und schenkte mir ein wohlwollendes Lächeln. Er sah aus wie eine ältere Version von Noah, hatte dieselben grünbraunen Augen, dasselbe dichte Haar. Nur dass sich durch seins erste graue Strähnen zogen.
»Thomas Fitzgerald. Freut mich sehr, dich kennenzulernen.« Ich schüttelte eine warme Hand mit einem schlichten Goldring. »Wie ich gehört habe, hattest du letzte Nacht einen Autounfall. Das muss ein ganz schöner Schreck gewesen sein. Ich hoffe, du hast dich nicht verletzt.«
»Nur eine kleine Beule.« Aus einem Reflex heraus fuhr mein Zeigefinger zu der Stelle über meiner Augenbraue.
»Für das Bighorn ist es nicht so glimpflich ausgegangen«, gluckste Rebecca und grinste mich über ihre Kaffeetasse hinweg an.
Röte schoss mir ins Gesicht.
»Du darfst neben mir sitzen«, quäkte Ruthie und klopfte zweimal auf den freien Stuhl zu ihrer Rechten, auf den sie die Barbie mit dem gelben Kleid gesetzt hatte.
»Oh. Danke schön.« Ich gab ihr die Puppe zurück und nahm Platz, wobei ich mir ein wenig beobachtet vorkam.
»Kuchen?«, fragte Barb, nachdem sie mir Kaffee eingegossen hatte.
»Gerne.«
Sie wuchtete mir ein riesiges Stück Apfelkuchen auf den Teller.
»Wie geht es denn deiner Mutter?«, fragte ihr Mann indessen. »Ich habe Pearl lange nicht mehr hier gesehen.«
Überrascht sah ich auf. »Sie kennen meine Mutter?«
»Wir sind alle zusammen zur Highschool gegangen«, erklärte Barb an seiner Stelle. »Pearl war«, sie dachte nach, »ein paar Jahre unter uns.«
Ihr Mann nickte bestätigend.
»Mom geht es gut«, beantwortete ich seine Frage. »Sie arbeitet im Phoenix Memorial in der Verwaltung. Larry, ihr Lebensgefährte, ist dort Anästhesist.«
»Wo liegt Phoenix?«, fragte Ruthie mit vollem Mund.
»In der Wüste«, gähnte Jacob.
»In Arizona«, erklärte ich der Kleinen. »Da gibt es riesige Kakteen, die furchtbar stacheln, wenn man sie anfasst. Ungefähr … so.« Ich pikste sie in die Seite, und sie kicherte.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Noah uns beobachtete. Als ich seinen Blick suchte, beschäftigte er sich wieder mit dem Bagel auf seinem Teller.
In der folgenden Viertelstunde tauchte ich tiefer in den Alltag einer typischen amerikanischen Großfamilie ein. Ruthie erzählte in aller Ausführlichkeit von einem Bastelprojekt in der Schule, Jacob informierte seine Mutter über die anstehenden Eishockeytrainingstermine, Mr. Fitzgerald ging mit seiner Frau eine To-do-Liste für irgendein Gemeindefrühstück durch, und Rebecca überredete Noah, ihr seinen Wagen zu leihen. Als Ruthie und Jacob schließlich zur Schule aufbrechen mussten, beschloss ich, mich ebenfalls zu verabschieden. Ich hatte die Gastfreundschaft der Fitzgeralds schließlich lange genug in Anspruch genommen.
»Noah fährt dich nach Hause«, sagte Barb und tauschte einen kurzen Blick mit ihrem Sohn.
»Ich dachte, sie hat kein Zuhause«, murmelte Ruthie stirnrunzelnd.
»Elara wohnt bei ihrer Großmutter, solange sie hier bei uns in Green Valley ist«, erklärte Barb ihrer jüngsten Tochter. »Du kennst doch Molly aus dem Blumenladen.«
»Ich kann zu meiner Grandma laufen«, bot ich an.
Erst eine Sekunde später wurde mir bewusst, dass ich den Weg gar nicht kannte. Und mein Handy mir keine große Hilfe sein würde, weil es noch immer im Dornröschenschlaf lag.
»Unsinn«, wehrte Barb ab. »In Green Valley helfen wir uns gegenseitig. Außerdem holst du dir in diesem Kleid sofort eine Erkältung.«
Wie recht sie damit hatte, stellte ich fest, als ich kurz darauf mit Noah das Haus verließ und mir verfroren die Arme vor die Brust hielt. Ich würde mir ein paar neue Klamotten zulegen müssen, wenn es nicht wärmer wurde. Ob es in Green Valley einen Klamottenladen gab? Ich konnte mich nur an ein Geschäft mit Outdoorzubehör erinnern. Grandpa hatte mir dort einmal Gummistiefel gekauft, als er mich zum Angeln mitgenommen hatte. Wie lange war das jetzt her? Zehn oder zwölf Jahre?
»Ich hätte wirklich auch zu Fuß gehen können«, sagte ich, als ich in den Wagen stieg. Irgendwie war es mir unangenehm, dass ich Noahs Hilfe schon wieder in Anspruch nehmen musste.
»Zu gefährlich.«
»Gefährlich?«
Er startete den Wagen und fuhr aus der Einfahrt. »Du hast unser Staatstier überfahren. Da verstehen die hier keinen Spaß.«
»Euer … Staatstier?«
»Das Rocky-Mountain-Bighorn-Schaf ist das offizielle Staatstier von Colorado. Und du, Magic Millie«, er deutete mit dem Zeigefinger auf mich, »hast es kaltblütig überfahren.«
»Kaltblütig? Es ist mir vors Auto gesprungen. Und ich wäre fast dabei …« Sein Schmunzeln ließ mich innehalten. »Du verarschst mich, oder?«
»Nur ein bisschen.«
Ich verdrehte die Augen.
»Aber es ist wirklich unser Staatstier. Und Teil des Stadtwappens.«
Noah setzte den Blinker und bog in die Aspen Road ein, die bei Tageslicht genauso idyllisch aussah, wie ich sie in Erinnerung hatte. Gepflegte Blockhäuser aus Holz und Naturstein reihten sich entlang der Straße. Gemauerte Schornsteine bliesen Rauch in den wolkenlosen Himmel, der sich strahlend blau über malerische Berggipfel und saftig grüne Tannen erstreckte. Andächtig blickte ich aus dem Fenster. Ich hatte vergessen, wie weitläufig hier alles war. Wie unbegrenzt. Dagegen war Phoenix ein einziges Tetris-Spiel. Dicht an dicht gebaut. Haus an Haus gequetscht.
»Du warst wirklich lange nicht mehr hier, oder?«, fing er meinen Blick auf.
Leicht abwesend nickte ich. Am Ende der Straße hielt er vor dem Haus meiner Grandma. Es zählte zu den kleineren Häusern, war mit seinem hübsch bepflanzten Garten und den Blumen auf der Veranda aber ein echtes Schmuckstück.
»Danke fürs Fahren.«