Meine Sachen sind immer noch auf Abwegen, irgendwo in Griechenland. Auf dem Weg zum Arzt rufe ich beim Internationalen Flughafen in Athen an und erkundige mich nach meinem Rollkoffer. »Der liegt bestimmt in irgendeinem Fundbüro«, vermute ich, »obwohl ich mir natürlich nicht sicher bin, schließlich hat niemand auf meine Mails geantwortet«, aber den Kollegen am Telefon schert das herzlich wenig. Auf mein Gejammer »Ich will mein Leben zurück!« raunt er mich an, das gesamte Flughafenpersonal befinde sich im Streik, seit die Industrie an eine deutsche Firma verkauft worden sei.
»Dein Leben?«, fügt er knurrig und in holprigem Englisch hinzu, »wir wollen unser Land zurück!«, und legt auf.
Ich verfluche ihn. Verfluche ihn auf meinem Weg vorbei an Cafés, in denen Fahrräder an der Decke hängen. Verfluche die Schlange, die bis raus auf die Straße reicht (auf Insta hat jemand gepostet, dass hier heute ofenfrische Donuts verkauft werden), verfluche die Leute, die anstehen und über Pop-ups und Start-ups und Kick-offs reden und mit ihren Anfang zwanzig nicht wissen, wie es sich anfühlt, im Park zu grillen, sich oben ohne zu sonnen oder zusammen mit Kika in einer Bar zu hocken und eine zu rauchen. Das Ende einer Ära.
Oslo 2016: Alles, was ich früher gern gemacht habe, ist heute entweder unmöglich, moralisch verwerflich oder gesetzeswidrig. Inzwischen erntet man vorwurfsvolle Blicke. Inzwischen habe ich sogar schon mit dem Rauchen aufgehört – eine Investition in meinen Körper, wie es die Leute vom Gesundheitswesen im Wirtschaftsslang ausdrücken würden, und im Auftrag meines Körpers (denn den will ich auch zurückhaben) setze ich mich also ins Sprechzimmer des Arztes. Wo ich ein weiteres Mal an eine vergangene Epoche erinnert werde. An die guten alten Zeiten, in denen man in der Praxis anrief, noch am selben Tag einen Termin für einen Schwangerschaftsabbruch bekam, und der behandelnde Arzt definitiv älter war als man selbst.
Jetzt sitzt auf der anderen Seite des Schreibtischs ein Mann – oder wohl eher ein Bubi, höchstens 30, vor Selbstbewusstsein nur so strotzend, wie es eben in der Natur eines Typen im Arztkittel liegt. »Nennen Sie mich Ole-Morten«, sagt er.
Ich habe keine Lust, meinen Arzt Ole-Morten zu nennen.
Ole-Morten klingt nach einem hyperaktiven Fünftklässler, der früher in den 90ern im Hauswirtschaftsunterricht wie ein Irrer durch die Gegend rannte, an der Tür der Spülmaschine ruckelte, bis sie umkippte und ihn unter sich begrub.
Ole-Morten klingt wie ein mittelmäßiger Schüler vom Wirtschaftsgymnasium, der auf einer Party den Regierungsbericht auspackt und die Abschaffung des Sozialstaates als einziges Mittel sieht, um der demografischen Entwicklung entgegenzuwirken.
Ole-Morten klingt wie der Typ, der findet, unsere Regierungschefin habe in irgendeiner Fernsehdebatte allerhand Vernünftiges von sich gegeben.
In die Hände dieses Menschen möchte ich mein Schicksal nicht legen. Aber was bleibt mir anderes übrig. Ich nicke und antworte halbwegs gehaltvoll auf seine Fragen.
Erster Tag der letzten Regelblutung?
Symptome?
Definitiv, ich muss immerzu pinkeln und meine Titten sind gigantisch – und nachdem er ausgerechnet hat, dass ich wohl im ersten Monat bin, beschreibt er, was jetzt alles auf mich zukommt. Alle sechs Wochen eine Untersuchung, Ultraschall in der achten und »bringen Sie zur nächsten Untersuchung eine Urinprobe mit«.
Ich unterbreche ihn.
»Vielen Dank, aber ich bin eigentlich hier, um kurzen Prozess zu machen.«
Ole-Morten sieht mich an, lächelt, fährt sich mit den Fingern durch seine mittelblonde Frise, und irgendwie kann ich seine Reaktion nicht ganz einordnen – ist er auf ziemlich unbeholfene Art besorgt? Fast schon paternalistisch? Einfach nur selbstgefällig? Oder gar ein fundamentalistischer Christ im neutralen Schafspelz des Gesundheitswesens? Jedenfalls klärt er mich darüber auf, dass es den kurzen Prozess nicht mehr gibt. Der kurze Prozess wurde letztes Jahr abgeschafft.
Keine Ahnung, wo ich da war. Vielleicht habe ich da gerade über meiner Umsatzsteuer geschwitzt, oder auf Lukas’ Matratze, vielleicht steckte ich mitten in einem »Game of Thrones«-Marathon, jedenfalls habe ich nicht mitbekommen, dass unsere Regierung uns hinter verschlossenen Türen verraten und verkauft hat – bei einem Kuhhandel mit dem einen Prozent gläubiger Christen in diesem Land.
Jetzt gilt die Drei-Tages-Regel, erzählt Ole-Morten, und ich schaue ihn ungläubig an: Drei Tage?
Drei Tage, er nickt.
»Viele Frauen bereuen, dass sie … dass sie … ja, wie soll ich sagen?«
»… abgetrieben haben?«, schlage ich vor.
»Genau. Man gibt ihnen jetzt also die Möglichkeit, noch mal sehr gründlich über ihren Entschluss nachzudenken.«
Er öffnet eine Schublade. Legt mir eine Broschüre vor die Nase (»Eine schwere Entscheidung«), und ich denke: Aber ich tue doch seit Tagen nichts anderes, als sehr gründlich nachzudenken, und räuspere mich und frage, wann ich denn einen Termin bekommen könnte.
Er zwinkert mir zu und erklärt, es hieße ja nicht ohne Grund Drei-Tage-Regel, »wenn Sie also dabei bleiben und nach drei Tagen immer noch …«
»… abtreiben …«
»… wollen, dann bin ich der Letzte, der Sie davon abhält.«
Wie großzügig von ihm.
»Also, ich soll jetzt nach Hause gehen und nachdenken?«
Er empfiehlt mir nachzudenken, ja. Und dann könnten wir uns nächste Woche Mittwoch wiedersehen.
Mittwoch? Ich rechne nach. »Aber heute ist doch Donnerstag?«
Ich setze ihn davon in Kenntnis, dass meine drei Tage also schon am Montag vorbei seien, und ob er wohl so freundlich wäre, mich in seinen Terminplan einzuschieben, das wäre ganz hervorragend.
Er meint, Montag sei erst der zweite Tag.
Ich protestiere.
Aber heute zähle gar nicht mit, erklärt er mir. Man solle drei ganze Tage nachdenken. Das bedeutet, morgen, also Freitag, wäre erst Tag 1 – »und was ist mit Samstag und Sonntag?«, hake ich nach.
»Drei Werktage«, präzisiert er.
»Wie bei der Post?«, frage ich ihn, aber er ist zu jung, er weiß nicht mehr, was die Post ist.
»Wochenenden werden nicht mitgerechnet«, wiederholt er nur.
Ole-Morten zupft seinen Kittel zurecht. Er nimmt die Drei-Tage-Regel, die, wie sich herausstellt, aus sechs Tagen besteht, sehr ernst, und kommt nicht mit den üblichen Sprüchen, die Ärzte sonst auf Lager haben: »Beschweren Sie sich bei der zuständigen Behörde.«
»Wählen Sie beim nächsten Mal eine andere Partei« (woraufhin ich jedes Mal antworte: »Ich wähle immer eine andere Partei!«).
Nein, Ole-Morten fragt mich stattdessen, wie alt ich bin. »33«, antworte ich und habe ihn im Verdacht, bei der Zahl an Jesus zu denken, aber er kontert nicht mit einer biblischen Anspielung. Stattdessen sagt er: »Darüber sollten Sie vielleicht auch nachdenken. Ihr Alter.«
Ich denke: Sind das etwa die ersten Anzeichen der autoritären Wende? Wie auch immer, wir leben hier schließlich nach wie vor in der freien Marktwirtschaft, nicht zuletzt im Zeitalter der Globalisierung, und das bedeutet, ich brauche Ole-Morten überhaupt nicht. Er ist ein überflüssiges Bindeglied im Arztkittel. Ja, ehe man sich’s versieht, wird ein Roboter seinen Job übernehmen. Wenn ich will, kann ich meine Symptome in irgendeinem Forum in ein Kommentarfeld eingeben, das Internet spuckt wenige Sekunden später die Diagnose schwanger aus und ich kann die Pillen zum Dumpingpreis (für norwegische Verhältnisse) direkt beim Produzenten in Indien bestellen – und das alles noch heute. Ich weiß sogar, welche Pillen ich brauche. Das ist schließlich kein Geheimnis: eine Tablette Mifepriston und vier Tabletten Misoprostol, ich weiß sogar, wie man die anwendet, ich weiß, dass ich sie allein zu Hause einnehmen kann, in meiner heruntergekommen Einzimmerwohnung in der Hollendergata, einem ausgebauten Dachboden, den ich für 7500 Kronen im Monat (kalt) von Radovan miete; denn die Anleitung habe ich längst auf digitalen feministischen Flyern gelesen: Erst schluckt man die eine Pille, die den Embryo abtötet, um es mal frei heraus zu sagen, und dann, 24 Stunden später, schiebt man die anderen vier gleichzeitig unter die Zunge und lässt sie dort für eine halbe Stunde, bevor man den ganzen Schleim herunterschluckt, wartet, und den Bastard in einem Flush ausblutet.
»Mittwoch also?«, sage ich.
Ole-Morten sieht mich mitfühlend an und wiederholt, ich wolle meine »Entscheidung sicherlich gut überdenken. Das müssen wir doch alle«, und ich widerstehe der Versuchung, ihm ein sarkastisches »Wir?« zu entgegnen, aus Angst, er könnte mir drei weitere Tage zum Nachdenken aufbrummen, zusätzlich zu den sechs, die er mir ohnehin schon verordnet hat. Stattdessen lasse ich mir einen Termin für Mittwoch, 14:15 Uhr geben. Dann gibt er mir noch die Empfehlung mit auf den Weg, Ingwer gegen die Übelkeit zu essen, und nein, er könne mir leider kein Truxal verschreiben, nicht in meinem Zustand. Mit einem Lächeln und einem beherrschten »Nein, danke« lehne ich die Broschüre ab, verlasse das Behandlungszimmer und bezahle am Empfang für die Behandlung (200 Kronen).
Ich verlasse das Wartezimmer mit seinem klebrigen Fußboden und denke: Ich weigere mich nachzudenken, ich denke ganz bestimmt nicht nach.
Auf dem Weg über den Olav-Ryes-Platz, vorbei an dem Roma, der eine zähe und schrammelige Version von When the Marimba Starts to Play auf dem Saxofon spielt, denke ich: Hör auf nachzudenken.
An der nächsten Straßenecke bleibe ich vor einem Laden stehen, in dem kaputte Smartphone-Displays repariert werden, schicke eine Nachricht an Lukas (»Können wir uns treffen und reden? Nichts Schlimmes.«) und bereue es in derselben Sekunde. Bereue es vorbei an Hinterhof-Boxclubs mit Trainern namens Hector, bereue es über im Asphalt platt getretene Kaugummis hinweg, bereue vorbei an Sonjas Obst- und Tabakladen, vorbei an der Hehlerware, die auf dem Bürgersteig vor dem kleinen Antiquariat steht, neben geparkten Autos, aus denen Bhangra dröhnt. Die Sonne geht auf über den Baubaracken und wespenähnlichen Baggern im Osten der Stadt, wandert über den Bullenpark, über dem dichter Rauch aufsteigt, und ich denke an Lukas, der mal gesagt hat: Krise kommt aus dem Griechischen und bedeutet Entschluss.
Ich rufe Kika an.
Sie hat noch nie etwas von der Drei-Tage-Regel gehört.
»Hast du einen Braten in der Röhre?«, fragt sie. (Ich wusste nicht, dass man diesen Ausdruck noch benutzt.)
»Quatsch«, sage ich, »ich recherchier nur für ’nen Artikel«, woraufhin sie mir von einem Typen erzählt, den sie vor ein paar Jahren getroffen hat, er gehörte dem gnostischen, »nein, nicht dem agnostischen«, Glauben an, einer vorkirchlichen Sekte, die eine Abtreibung als das moralisch einzig Richtige ansieht.
Ihre Anhänger glauben, eine Schwangerschaft sei der Diebstahl von Gottes Licht. Man raubt sich einfach ein Stück Ewigkeit. Saugt den Heiligen Geist aus dem Himmelreich heraus und verformt ihn auf der Erde zu fester Materie und wenn eines eine Sünde sei – so Kika – dann ja wohl das (auch wenn sie ganz meiner Meinung ist: dass diese Sekte es trotz ihrer Haltung geschafft hat, sich, nachdem sie beim Ersten Konzil von Nicäa im Jahre 325 aus der Geschichte herausgeschrieben worden war, neu zu formieren und auch noch zu überleben, muss einen schon stutzig machen). Aber bevor wir diesen Gedanken vertiefen, vergewissert sie sich noch einmal:
»Du bist also ganz sicher nicht schwanger? Wer ist der Vater? Dieser lächerliche Typ?«
»Kika«, beruhige ich sie, »ich bin nicht schwanger.«
»Okay, hab mir nur kurz Sorgen gemacht, dass du mich jetzt auch noch im Stich lässt, aber wie auch immer, dann erwarte ich dich morgen Abend um zehn zu einem Pornshot Martini – meine Schicht ist um neun zu Ende.«
Sie legt auf. Inzwischen stehe ich vor dem graugrünen Altbau in der Hollendergata, jemand hat eine nicht ganz leere Flasche teures IPA auf einem Parkautomaten stehen lassen. Ich schließe das Tor zum Hof auf. Hoch in den vierten Stock. Nicht nachdenken. Rein in die Wohnung (die Radovan vor den Osloer Behörden geheim gehalten hat, um kein Bad einbauen zu müssen), und ich pfeffere meine Schlüssel auf die Kommode, und es ist Tag null und ich weigere mich nachzudenken. Ich weigere mich – doch das ist genauso aussichtslos wie der Versuch, nicht an einen rosa Elefanten zu denken. Und die nächste Stunde hat man damit zu tun, den rosa Elefanten aus dem Kopf zu kriegen. Ich weigere mich, ich denke ganz bestimmt nicht nach. Ich denke nicht an Sarajevo. Ich denke nicht ans Café am Kotti, ich denke nicht an Milo, nicht an die Kinderzeichnungen an der Decke, an die Slippery Nipple Drinks oder das wackelnde Wohnmobil in Berlin. Nein, ich schnappe mir mein Telefon, schließe die HBO-App, mache ein Update und google mich zu einer Homepage, die sich wohl an saudi-arabische oder salvadorianische Frauen richtet. Dort steht, ich solle Vitamin C in rauen Mengen zu mir nehmen. Eine Völlerei an Zitrusfrüchten. Und Zimt. Zimt hilft.
Zimt und Kaffee en masse. Ja, das wird mir helfen.
Nein, ich denke ganz bestimmt nicht an das letzte Mal, als ich neben Lukas aufgewacht bin. In seinem Bett. Neben seinem Radiowecker, der mich mit der Berichterstattung aus dem Schlaf riss, dass in der Ölbranche 75000 Stellen gestrichen werden und die Regierung das Arbeitslosengeld kürzen wird.
Ich war wach, er schlief noch. Also widmete ich mich meinem üblichen Morgenritual, Kontostand checken (23409 Kronen), mich durch den Facebook-Feed scrollen und Mails lesen.
Eine Mail von meinem Redakteur. In den letzten paar Jahren hatte ich ihm wöchentlich meine kulturanalytischen Betrachtungen geliefert. In seiner Mail bat er mich, ihm die Rechnung für meinen letzten Artikel zu schicken (lächerliche 4000 Kronen) – mein Interview mit einer versoffenen Schriftstellerin, die mir ein Glas Wodka eingeschenkt und in Oxforddialekt erklärt hatte, wie sehr sie dramatische Dreiecksbeziehungen hasste. »Die einzige Funktion dieses plot devices ist Destruktion«, hatte sie gesagt, »als würde man mit dem Messer kämpfen. Man kommt nur selbst zu Schaden. Auch, wenn man gewinnt.«
In einem kleinen PS am Ende der Mail fügte mein Redakteur einen nicht gerade belanglosen Bescheid hinzu:
»Ich sollte wohl noch erwähnen, dass wir uns gestern bei einer Besprechung zum Thema Stellenkürzungen darüber einig geworden sind, dass das Budget für unsere freien Mitarbeiter als Erstes dran glauben muss, bevor wir Festangestellte entlassen«, und ich das bitte nicht persönlich nehmen solle. Ich musste mehrmals Luft holen, bevor ich mit »O.k., die Rechnung geht heute noch raus« antwortete. Dachte: ach, scheiß drauf. Was wollte ich eigentlich bei denen? Legte meinen Daumen zwischen meine Augenbrauen, massierte, kaute einen Nietnagel ab und regte mich über die nervige Radiostimme auf, die irgendeinen Wirtschaftsfuzzi zum Immobilienmarkt interviewte. Ich hatte keinen Bock mehr auf den Immobilienmarkt. Eigentlich hatte ich auch überhaupt keinen Bock mehr, hier rumzuliegen – wach, während er noch schlief –, aber das hatte ich sofort wieder vergessen, als er sich regte, erste Lebenszeichen zeigte. Er gähnte laut, streckte sich, bevor er sich zu mir umdrehte, mir einen Kuss auf die Schläfe drückte und ich ein Bein um ihn schlang. Meinen Kopf auf seinen Brustkorb legte und die Bettdecke langsam nach unten zog. Ich liebte seine Tätowierung, Rebel in Frakturschrift auf seinem Bauch.
Ich liebte es, wenn er so beleidigt tat, und spielerisch in meine Richtung boxte, als ich ihn fragte: »Hast du dir das stechen lassen, als du Sachbearbeiter im Familien- und Gleichstellungsministerium warst, oder was?« Wie er sich auf mich rollte, mich nach unten drückte und zuließ, dass ich mich aus seinem Griff herauskämpfte, bis ich wieder auf ihm saß, über ihm, und ihm als Revanche einmal über den Bauchnabel leckte. Ich versicherte ihm, dass er sich »selbst als Bürokrat« in meine Netzhaut eingebrannt hätte: mit einem hoffnungsvollen Blick Richtung Horizont, unterlegt mit den soliden Farben Rot, Beige und Blau, darunter der Schriftzug VERÄNDERUNG in Blockbuchstaben.
Er war göttlich, er war Mafia, und er lehnte sich über den Nachttisch, um eine Zigarette anzuzünden. Er reichte sie mir, ich griff nach ihr, doch er zog sie weg, wie ein sadistischer großer Bruder, und wahrscheinlich schlug ich ein bisschen zu fest zu, aber trotzdem durfte ich ein paarmal dran ziehen. In Ermangelung eines Aschenbechers hielt ich die Zigarette senkrecht und balancierte die Asche über der Bettdecke. Ich wollte ihn ergründen. Sein Gehirn, das nur für sieben Minuten, eine Zigarettenlänge, zur Ruhe kam. (Ansonsten konnte er nie abschalten. Nicht einmal, wenn wir Marvels X-Men mit einem Projektor an seine Wand warfen: »Ist Magneto eine Metapher für Israel?« Auch nicht bei einer neuen Folge House of Cards: »Hat Claire Underwood etwas Hedda Gabler’sches?«) Auch in mir ruhte er nie. Sein Aftershave. Seine Bassstimme. Er toste in mir wie ein Sturm.
Und ich in ihm?
Tja, es war wohl das zweite Mal, das wir miteinander schliefen, als er sagte: Das ist das letzte Mal, dass wir das machen.
Was keinerlei Auswirkung auf meine Gefühle hatte.
Pheromone nennt man das, Oxytocin, sie lassen dich freier atmen, machen dich zehn Kilo leichter, und natürlich hatte ich keine Erklärung dafür. Vielleicht liebte ich es, ihm zuzuhören, sein Herumphilosophieren (ich zu Kika: »Alle Männer mansplainen, es kommt nur darauf an, was sie einem erzählen«), vielleicht lag es daran, dass wir unsere Vormittage gemeinsam im Bett verbrachten und stundenlang politische Debatten streamten, bei denen Julian Assange auf einem Videobildschirm aus der ecuadorianischen Botschaft zugeschaltet wurde. Weil er mich spontan raten ließ, welches wohl die beste Textzeile von OutKasts »Hey Ya!« sei (What’s cooler than being cool? Ice cold!) oder weil er Gramsci zitierte – Eine Krise besteht darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann –, und zwar mit derselben Leichtigkeit, mit der er Carries Liebesleben analysierte: Sie sollte Mr Big besser abschießen.
Vielleicht weil es hieß: Wir gegen die Nation. Wir waren uns so wunderbar einig darüber, dass die minutiöse Aufzeichnung der Hurtigruten-Reiseroute ebenso unerträglich ist, wie der Waschmaschine beim Schleudern zuzusehen.
Oder vielleicht war es seine Größe. Sein ungelenker, lässiger Körper, Blazer über T-Shirts mit Logos obskurer Bands, die mittelblonden Locken über den angegrauten Schläfen, die blaugrauen Augen, ein Blick, der nicht auswich, wenn er einen erst einmal fixierte. Oder sein Repertoire an Google-Bildern: Lukas mitten in einem Vortrag, mit Kopfmikrofon, Lukas in einem Sessel bei irgendeiner kultivierten Veranstaltung, Lukas mit allem Selbstbewusstsein dieser Welt, gestikulierende Hände, die jeden Standpunkt deutlich unterstreichen, eine »Russia Today«-Vignette am unteren rechten Bildrand. Er besaß mehr Taxfree-Beutel als Einkaufstüten vom Supermarkt um die Ecke, er wurde zu Vorträgen nach Frankfurt, Stockholm, Gent eingeladen – was ihn beschäftigte, waren die Krisen der Wirtschaft: die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik und Thomas Kuhn und die Koexistenz zweier Paradigmen und die Revolution, die nie stattgefunden hatte, und er benutzte Ausdrücke wie diskursive Anomie und schrieb hence und thus und eine Unmenge an howevers und ich fühlte mich geehrt, seine (mir völlig unverständliche) Abhandlung lesen zu dürfen, an diesem letzten Vormittag.
Dieser Moment war ein Durchbruch in unserer sieben Monate alten Beziehung. Dachte ich. Ich: eine Jenny Marx. Eine Vera Nabokov. Eine Alma Hitchcock.
Ich strich ihm mit meinem Fuß übers Bein, hatte mir die Zehennägel extra für diesen Anlass türkis lackieren lassen (400 Kronen), denn – ja, ich gebe es zu – ich musste mir einfach die Lippen anmalen, die Nägel lackieren, die Haare färben, damit ich neben ihm nicht zu einer grauen Maus verkam. Aber es half alles nichts.
Der Durchbruch?
Wie sich herausstellte, kam es zu einem ganz anderen Bruch.
»Es kommt mir einfach nicht fair vor«, sagte er.
Solche Wörter verwendete er auch. (Kika zu mir: »Männer sind wie Hunde – sie können riechen, wenn du Angst hast.«) Er habe in Frankfurt darüber nachgedacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass es »das Beste« sei, und daraufhin begehrte ich ihn nur noch mehr. Als er mich fest an sich drückte, hauchte er mir leicht ins Ohr und sagte mit sanfter Stimme, ein weiteres Mal (ich habe aufgehört, mitzuzählen): Das ist wirklich das letzte Mal, das wir das hier machen.
Und natürlich hatte er recht. Es musste einfach das letzte Mal sein, dass ich diese Worte hörte.
Also haute ich ab. Raus in den Flur, rein in die Pumps, ich bewahrte die Fassung und dachte: Liebe ist pure Gewalt.
(Gibt es eine bessere Beschreibung? Sie ballt die Faust, prügelt auf mich ein und ich rufe: Autsch! Was soll denn die Scheiße?) Die Treppe runter, durch den Hofeingang, hinaus auf die sonnenüberflutete Straße, und immer wieder drehte ich mich um: Wenn er mir jetzt nicht nachläuft, ist es vorbei.
Mein Handy wurde feucht und rutschte mir aus der Hand, fiel auf den Asphalt, ein schwarzer Fleck erschien an der oberen rechten Ecke des Displays.
Ich versuchte, den Fleck wegzureiben, als würde ein böser Geist in ihm wohnen: Wenn er jetzt nicht anruft, dann ist es real.
Wenn ich den Sofienbergpark durchquert habe – wo der Frühling ausgebrochen war und alles aussah wie eine Musicalinszenierung auf Acid, ja, wirklich, dort jonglierten sie, liefen auf diesen Slacklines hin und her, tanzten Salsa, hatten Stühle auf den Bürgersteig gestellt und ließen die Zeit einfach so verstreichen – ohne ein Zeichen der Reue von ihm, bedeutet es, dass er es dieses Mal wirklich so meint.
Ich bog in die Kirkegårdsgata ein. Über das Gras, auf die Baustelle zu, bis zu den geparkten Toyota Yaris’, den klapprigen Volvos, und es war vorbei. Die Welt war plötzlich so weit weg, die Kopie einer Kopie einer Kopie und das Atmen fiel mir schwer. Scheiß Schmerz. Mein Brustkorb hätte jetzt einen Rohrreiniger gebraucht, dort saß ein Klumpen fest, der nur mit Chemikalien entfernt werden konnte, und die Mascara lief, beinahe wurde ich von einem Fahrradkurier in knallpinker Uniform über den Haufen gefahren, der mir »Fahrradweg!« erst entgegen-, dann hinterherschrie. An der Schous-Bibliothek konnte ich kaum noch etwas sehen. Meine Kontaktlinsen waren zugeklebt. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste beim Optiker im Markveien vorbei, ärgerte mich über den Namen Brilleland, der meine Trauer zu Scham werden ließ – Belag auf den Linsen, so banal, so ordinär, ich stolperte beinahe über die Türschwelle, zeigte auf meine Augen und versuchte, diesen Zustand als physiologischen Zufall zu verkaufen, und die Optikerin geleitete mich ins Hinterzimmer. Sie pulte mir die Linsen aus den Augen, gab mir ein Kleenex, sagte, ich sollte mal eine Pause machen, mir Zeit nehmen für eine Rekonvaleszenz, ja, sie benutzte wirklich dieses Wort, sie meinte wahrscheinlich meine Augen, aber in meinem Kopf tat sich sofort das Bild eines Schirmchendrinks an einem Strand auf.
In die Ewigkeit hineinstarren, aufs Meer hinaus und daran erinnert werden, dass alles vergänglich ist, dass alle Gefühle, auch diese hier, vergehen werden.
Ich tupfte mir die Tränen weg und zückte die EC-Karte für die »Optikerberatung«, wie auf dem Beleg stehen würde (519 Kronen), und machte mich halb blind auf den Nachhauseweg. Fand meine Brille (mit zu geringer Stärke) und meinen Pass und zog einen alten Rollkoffer unter dem Bett hervor. Ich musste weg. So wie es einem sämtliche Blogger empfehlen: Tapetenwechsel, andere Leute treffen, völliger Kontaktabbruch, also buchte ich eine Last Minute Pauschalreise nach Griechenland (»Krise für die einen, Gelegenheit für die anderen«) inklusive Flug, der mich am nächsten Morgen um sechs nach Athen bringen sollte. Von dort aus würde mich ein Boot zu einer windigen Insel verfrachten, und das Hotel hatte auffällig viele schlechte Kritiken auf TripAdvisor bekommen, aber das war mir egal. Ich nahm zwei Truxal, jeweils die normale Dosis von 30 Milligramm.
Sechs Stunden später stand ich auf und dachte: Man muss gewappnet sein.
Ich zog die Gardinen auf und hüpfte unter die Dusche in meiner Küche.
Stellte den Tischspiegel auf die Arbeitsplatte, lehnte mich gegen sie und setzte neue Monatslinsen ein, föhnte mir die Haare, zupfte mir die Augenbrauen (musste niesen), cremte mir die Ellenbogen mit dem Clinique-Produkt aus der 50 Milliliterflasche ein, sprühte mir etwas Dior Poison auf die unteren Handflächen und rieb mir den Vanilleduft unter die Ohrläppchen. Für das Gesicht benutzte ich Max Factor Soft Beige Foundation, und zwar eine, wie ich gelesen hatte, angemessene Menge. Dann ein Touch Rouge, ein Hauch Mascara auf die Wimpernspitzen und ein fast durchsichtiger Lipgloss, sodass man kaum erkennen konnte, dass ich geschminkt war. Eine Kunst, die ich beherrschte. Einige würden das eitel nennen. Ich nenne es überleben. Denn die Dinge verschwimmen so schnell, ein Freelancer weiß das, ein Freelancer weiß, dass der Abgrund gefährlich nah ist, wie auch Kajsa Ekis Ekman einmal sagte: Wenn ich den ganzen Tag zu Hause in meiner Schlafanzughose herumlaufe, was kommt dann danach? Wahrscheinlich könnte ich dem Angebot einer Tafel gesalzener Mandelschokolade für 24 Kronen an der Kasse nicht widerstehen, ich würde meinen Arbeitstag mit Twitterdebatten beginnen und den Retweet von Kanye Wests Status mit sarkastischen Kommentaren versehen, und wenn ich schon mal dabei bin, kann ich auch gleich eine neue Folge Keeping up with the Kardashians gucken, natürlich nur mit einer ironischen Distanz, ist ja klar, aber eigentlich würden es meine neuen Freunde werden. Die ganze Kardashian-Familie. Die Schwestern, die ich selbst nie hatte. So was kann schnell passieren. Ich würde den Weg des geringsten Widerstands nehmen, der Arbeiterpartei beitreten und einen Wohnungsbaukredit mit rekordverdächtig niedrigen Zinsen aufnehmen. Nein, man muss sich wappnen. Man muss aufstehen, etwas anziehen, regelmäßig Sport treiben, was Ordentliches lesen, trotz Liebeskummer, und falls jemand aus genau diesem Grund auf die Idee kommt, und so was kommt immer wieder vor, mich mit dem klischeehaften Nice Girl Syndrome zu diagnostizieren, krempele ich mir einfach die Ärmel hoch und zeige die Unterseiten meiner Arme vor.
Sehe ich so aus, als hätte ich mich geritzt?
Siehst du irgendwelche Narben? Scheiß Sexist.
Verdammt noch mal, nur weil ich hohe Absätze trage, eine Haltung wie eine Ballerina habe, ein straffes Becken und einen langen Hals, muss ich mich von irgendwelchen dahergelaufenen Amateurpsychologen als zerbrechlich abstempeln lassen? Ich habe noch nie ein Messer in die Hand genommen, um mich selbst zu verletzen, weder längs noch quer, ich habe mir noch nie nach dem Essen den Finger in den Hals gesteckt, und ich kann eine große Portion Spaghetti Bolognese essen, ohne mich danach tagelang selbst zu hassen. Tatsächlich genoss ich es sogar, endlich die 30 zu überschreiten und die ersten Fettpölsterchen zu entdecken, die sich über meine Jeans wölbten. Ich hatte Sex mit dem Ex, der mir früher mit seinem Geschwärme für meine schlanke Taille auf die Nerven ging, und ich weiß noch, wie ich dann triumphierend auf ihm saß: stolz und schadenfroh, als wäre der Speck meine Unabhängigkeitserklärung.
Ein Flughafen ist