Henry James
Der Amerikaner
Roman
Aus dem Englischen von Herta Haas
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Henry James (1843–1916) ging als junger Mann von New York, wo er geboren wurde, als Kritiker und Korrespondent nach Europa. Dort lebte er ab 1877 als freier Schriftsteller. Henry James gilt als ein Meister des psychologischen Realismus.
»Ich erinnere mich, daß ich in einer amerikanischen ›Pferdebahn‹ saß, als ich plötzlich merkte, wie ich voller Enthusiasmus die Situation eines robusten, aber hinterhältig betrogenen und verratenen, eines grausam gekränkten Landsmannes in einem fremden Lande und in einer aristokratischen Gesellschaft als Thema einer Erzählung erwog; dabei kam es insbesondere darauf an, daß er durch diejenigen Personen leiden müßte, die vorgaben, die höchstmögliche Kultur zu repräsentieren und einem ihm in jeder Weise überlegenen Rang anzugehören. Was würde er in jener Zwangslage ›tun‹, wie würde er sich Recht verschaffen, oder wie würde er, falls keine Abhilfe möglich war, sich angesichts dieses ihm zugefügten Unrechtes benehmen?«
Henry James
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41130-0
Anmerkung des Übersetzers: Wortspiel im englischen Original »C’est le bel âge …« »Does that mean the age of the belly?«
Gemeint ist Thomas Grays Ode ›On a Distant Prospect of Eton College‹ (1742). Der Übers.
An einem strahlenden Maitag des Jahres 1868 lehnte sich ein Herr bequem auf dem großen runden Sofa zurück, das zu jener Zeit in der Mitte des Salon Carré im Louvre stand. Diese geräumige Ottomane ist inzwischen entfernt worden – zum großen Bedauern aller Kunstfreunde, die an schwachen Knien leiden; aber unser Besucher hatte sich gelassen ihre weichste Stelle ausgesucht und starrte mit zurückgeworfenem Kopf und ausgestreckten Beinen auf Murillos mondgeborene Madonna. Er hatte den Hut abgenommen und einen kleinen roten Reiseführer sowie ein Opernglas neben sich gelegt. Es war ein warmer Tag; vom Gehen war ihm heiß geworden, und er wischte sich mehrmals in vager Ermattung mit dem Taschentuch über die Stirn. Und doch war er offensichtlich kein Mann, dem Müdigkeit etwas Vertrautes war; hochgewachsen, schlank und muskulös sah er eher aus, als verfüge er unbewußt über ein beträchtliches Maß an Widerstandskraft. Die Anstrengungen dieses Tages jedoch waren von ungewöhnlicher Art gewesen; oft hatten große körperliche Leistungen ihn weniger ermüdet als dieser ruhige Gang durch den Louvre. Er hatte sich alle Bilder angesehen, die auf jenen furchtbaren, eng bedruckten Seiten seines Baedekers mit einem Sternchen versehen waren; seine Aufmerksamkeit war auf eine harte Probe gestellt worden, und seine Augen waren geblendet; er hatte sich mit ästhetischen Kopfschmerzen niedergelassen. Nicht nur hatte er sich sämtliche Bilder angesehen, er hatte auch all jene Kopien betrachtet, die in ihrem Umkreis unter den Händen jener zahllosen, mit langen Kitteln bekleideten jungen Frauen entstehen, die sich in Frankreich, auf hohen Hockern sitzend, der Reproduktion von Meisterwerken widmen; und, um die Wahrheit zu sagen, oft hatte er die Kopie viel mehr bewundert als das Original. Schon seine Gesichtszüge hätten gezeigt, daß er ein scharfsinniger, fähiger Mensch war, und tatsächlich hatte er oft die ganze Nacht über einem mit Schwierigkeiten gespickten Bündel von Konten gesessen und den Hahn krähen hören, ohne zu gähnen. Aber Raffael, Tizian und Rubens bedeuteten eine neue Art von Arithmetik für ihn. Zum erstenmal im Leben wunderte er sich über seine Unsicherheit.
Einem Beobachter, der auch nur über den geringsten Blick für landeseigentümliche Typen verfügte, wäre es nicht schwergefallen, diesen unbefangenen Connaisseur dem Land seiner Herkunft zuzuordnen, ja, ein solcher Beobachter hätte ironisch bemerken können, mit welch beinahe idealer Vollkommenheit er den typischen Charakter seiner Nation verkörperte. Der Herr auf dem Diwan war ein Amerikaner par excellence; und dieses Charakteristikum wurde zum Teil noch durch seine strahlende Männlichkeit betont. Er schien jene Art von Gesundheit und Kraft sein eigen zu nennen, die, wenn man sie in vollendeter Form antrifft, am eindrucksvollsten sind – jene körperliche Elastizität, die ihr Besitzer sich durchaus nicht besonders zu »bewahren« bemüht. Wenn er ein muskulöser Christ war, so war er es doch ohne jede Doktrin. Erwies es sich als notwendig, zu Fuß zu einem entfernten Ort zu gehen, so ging er zu Fuß, aber er konnte sich nicht entsinnen, sich jemals einen »Drill« auferlegt zu haben. Er hatte keine Theorie über kalte Bäder und die Nützlichkeit des Keulenschwingens; er war weder ein Ruderer noch ein Schütze oder ein Fechter – für solche Vergnügungen hatte er niemals Zeit gehabt –, und es war ihm völlig unbekannt, daß Reiten für gewisse Arten von Verdauungsstörungen empfohlen wird. Er war von Natur aus mäßig; aber am Abend vor seinem Besuch im Louvre hatte er im Café Anglais diniert – irgend jemand hatte ihm gesagt, dieses Erlebnis dürfe er sich nicht entgehen lassen – und hatte dann trotzdem den Schlaf des Gerechten geschlafen. In Haltung und Gang war er gewöhnlich ungezwungen und gelöst, aber wenn er sich aus einem besonderen Grunde gerade aufreckte, sah er aus wie ein Grenadier auf Parade. Er hatte noch nie geraucht. Man hatte ihm versichert – so etwas wird eben behauptet –, Zigarren seien außerordentlich gesundheitsfördernd, und er vermochte es durchaus zu glauben; aber er hätte ebensowenig daran gedacht, eine zu »nehmen«, wie es ihm in den Sinn gekommen wäre, eine Arznei einzunehmen. Er hatte einen dunklen Teint und eine kühn gebogene, prononcierte Nase. Seine Augen waren klar und kalt, und, abgesehen von seinem tief herunterhängenden Schnurrbart, kündeten Wangen und Kinn von der Freude am morgendlichen Stahl. Er hatte den flachen Kiefer und den harten, festen Nacken, den man häufig bei Amerikanern findet; aber die nationale Herkunft verrät sich noch mehr im Ausdruck als in den Gesichtszügen, und in dieser Hinsicht war das Antlitz unseres Reisenden in höchstem Grade vielsagend. Aber wenn unser – angenommener – Beobachter seine Ausdrucksfähigkeit auch hätte ermessen können, wäre er vielleicht doch nicht imstande gewesen, die richtigen Worte dafür zu finden. Es wies jene Ärmlichkeit von Einzelzügen auf, die nichts mit Leere zu tun hat, jene Inhaltslosigkeit, die keineswegs Einfältigkeit ist, jenen Ausdruck des Nichtfestgelegtseins, der eine gastliche Aufgeschlossenheit allen Möglichkeiten des Lebens gegenüber verrät, so, als gehöre es nur sich selbst – lauter Dinge, die für ausgesprochen amerikanische Gesichter in so besonderem Maße charakteristisch sind. Es waren jedoch in diesem Falle die Augen, durch die er sich in erster Linie zu erkennen gab; Augen, in denen sich das Neue in ungewöhnlicher Weise mit Erfahrung paarte. Alle möglichen Gegensätze ließen sich in ihnen erkennen; und wenn es auch keineswegs die strahlenden Augen eines romantischen Helden waren, so konnte man in ihnen doch beinahe alles finden, wonach man suchen mochte. War ihr Blick auch kühl und dennoch freundlich, offen und dennoch vorsichtig, schlau und doch leichtgläubig, sicher und doch skeptisch, war er vertrauensselig und scheu zugleich, außergewöhnlich intelligent und außerordentlich liebenswürdig, so lag doch etwas irgendwie Herausforderndes in seinen Zugeständnissen und in seiner Reserve etwas tief Beruhigendes. Die breiten, wenn auch teilweise zusammengefalteten Flügel des Schnurrbartes, den dieser Herr trug, die beiden vorzeitigen Falten darüber auf den Wangen und die Art seiner Kleidung, bei der eine zu weit sichtbare Hemdbrust und eine blaue, etwas zu helle Satinkrawatte vielleicht gar zu auffällig waren, ergänzten diese Elemente seiner Erscheinung. Wir haben uns ihm vielleicht nicht in einem besonders günstigen Augenblick genähert; denn er sitzt keineswegs für sein Porträt. Aber so teilnahmslos er auch dasitzt, verwirrt über das Problem der Ästhetik und des verdammenswerten Vergehens schuldig (als das wir es erst vor kurzem erkannt haben), den Anblick des Künstlers mit dem seines Werkes zu verwechseln (da er die schielende Madonna der jungen Dame bewundert, deren Haar irgendwie für »Kunst« Reklame macht, weil er die junge Dame selbst für ungewöhnlich einnehmend hält), so ist er doch eine durchaus vielversprechende Bekanntschaft. Entschlußfähigkeit, Gesundheit, Fröhlichkeit und Wohlstand scheinen ihm zu Gebote zu stehen; offensichtlich ist er ein Kaufmann, aber in seinem besonderen Falle scheint dieser Ausdruck bis zu undefinierbaren, geheimnisvollen Grenzen vorzustoßen, die die Phantasie beflügeln.
Während die kleine Kopistin mit ihrer Arbeit fortfuhr, ließ ihre Aufmerksamkeit gelegentlich ihrem Bewunderer als Erwiderung eine der unbestimmtesten, wenn auch nicht der kürzesten Botschaften zukommen. Die Ausführung ihres Planes schien es ihrer Ansicht nach notwendig zu machen, sich wie nebenbei recht lebhaft zu gebärden – mit verschränkten Armen zur Seite zu treten, den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite zu neigen, sich mit einer Hand voller Grübchen über das mit einem Grübchen versehene Kinn zu streichen, zu seufzen und die Stirn zu runzeln, mit dem Fuß aufzustampfen und sich, auf der Suche nach verrutschten Haarnadeln, durch die zerzausten Zöpfe zu fahren. Diese Bewegungen begleitete ein weit in die Ferne schweifender Blick, der sich, sozusagen bei Gelegenheit, auf den großen, sitzenden Herrn hinüber verirrte. Schließlich erhob er sich unvermittelt, setzte den Hut auf, gleichsam zur Betonung einer tiefernsten Absicht, und ging auf die junge Dame zu. Er stellte sich vor ihr Bild und betrachtete es eine Weile, und während dieser Zeit tat sie, als merke sie seine Anwesenheit gar nicht. Dann warb er mit dem einzigen Wort, aus dem sein französischer Wortschatz bestand, um ihr Verständnis, indem er den Finger derart in die Luft streckte, daß die Bedeutung seiner Ansicht nach klar sein mußte: »Combien?« fragte er unvermittelt.
Die Künstlerin sah ihn einen Augenblick an, verzog ein wenig den Mund, legte Pinsel und Palette zur Seite und rieb sich die Hände.
»Wieviel?« fragte unser Freund. »Combien?«
»Der Herr möchte es kaufen?« fragte sie auf französisch.
»Sehr hübsch. Splendide. Combien?« wiederholte der Amerikaner. »Mein kleines Bild gefällt dem Herrn? Es ist ein sehr schönes Thema«, sagte die junge Dame.
»Ja, die Madonna; ich bin zwar kein richtiger Katholik, aber ich möchte es kaufen. Combien? Schreiben Sie die Zahl dahin.« Und er zog einen Bleistift aus der Tasche und zeigte ihr das Vorsatzblatt seines Baedekers. Sie sah ihn an und kratzte sich mit dem Bleistift am Kinn. »Ist es unverkäuflich?« fragte er. Und als sie nachdenklich stehenblieb und ihn mit einem Blick betrachtete, der ihr ungläubiges Erröten nur noch verstärkte, so sehr sie sich auch bemühte, diese Kauflust wie etwas Altgewohntes zu behandeln, fürchtete er, sie beleidigt zu haben. Sie versuchte jedoch nur, gleichgültig auszusehen, und fragte sich, wie weit sie damit gehen könne. »Ich habe doch keinen faux pas begangen – pas insulté, nein?« fuhr ihr Gesprächspartner fort. »Verstehen Sie nicht ein bißchen Englisch?«
Das Talent der jungen Dame, unvorbereitet eine Rolle zu spielen, war bemerkenswert. Sie sah ihn durchdringend an und fragte, ob er nicht Französisch spreche. Dann sagte sie kurz »Donnez!« und ergriff den geöffneten Reiseführer. In winziger, aber überaus klarer Handschrift notierte sie eine Zahl auf die obere Ecke des Vorsatzblattes. Dann gab sie das Buch zurück und griff wieder zur Palette.
Unser Freund las die Zahl: »2000 Francs.« Eine Weile schwieg er und betrachtete das Bild, während sich die Kopistin intensiv mit ihren Farben beschäftigte. Schließlich fragte er: »Ist das nicht ziemlich viel für eine Kopie?« »Pas beaucoup?«
Sie blickte von der Palette zu ihm auf, sah ihn forschend von Kopf bis Fuß an und ließ sich mit bewundernswertem Scharfsinn genau die richtige Antwort einfallen. »Oh ja, es ist ziemlich viel. Aber meine Kopie ist außerordentlich soignée. Darin liegt ihr Wert.«
Der Herr, für den wir uns interessieren, verstand kein Französisch, aber wie ich schon sagte, war er intelligent, und hier ist eine gute Gelegenheit, es zu beweisen. Aus einem natürlichen Instinkt heraus erriet er den Sinn dessen, was die junge Dame gesagt hatte, und war erfreut über ihre Ehrlichkeit. Schönheit – und darum Talent – und Rechtschaffenheit; sie vereinte wirklich alles in sich! »Aber Sie müssen es fertig malen«, sagte er. »Fertig malen«; und er deutete auf die noch ungemalte Hand der Gestalt.
»Oh, es wird fertig gemalt werden – vollkommen fertig und in höchster Vollendung!« erklärte Mademoiselle; und um ihr Versprechen zu bekräftigen, setzte sie einen rosa Tupfen mitten auf die Wange der Madonna.
Aber der Amerikaner runzelte die Stirn. »Ach, das ist zu rot, viel zu rot!« widersprach er. »Ihr Teint«, und er deutete auf den Murillo, »ist viel zarter.«
»Zarter? Oh, er wird zart werden, Monsieur; so zart wie Sèvres Biskuitporzellan. Ich werde das schon noch abschwächen; ich verspreche Ihnen, es wird großartig aussehen! Und wohin dürfen wir es Ihnen schicken? Ihre Adresse.«
»Meine Adresse? Ach ja!« Und der Herr zog eine Karte aus dem Notizbuch und schrieb etwas darauf. Dann zögerte er einen Augenblick. »Falls es mir aber nicht gefällt, wenn es fertig ist, brauche ich es nicht zu bezahlen.«
Die junge Dame schien ebenso gut raten zu können wie er. »Oh, ich bin sicher, Monsieur ist nicht launisch!«
»Launisch?« Darüber mußte der Herr lachen. »Nein, nein, launisch bin ich nicht. Ich bin sehr treu und beständig. Comprenez?«
»Monsieur ist beständig; ich verstehe schon. Das sind nicht alle Leute. Zur Belohnung sollen Sie Ihr Bild so bald wie möglich bekommen; nächste Woche – sowie es trocken ist. Ich nehme Monsieurs Karte an mich.« Und sie nahm sie und las seinen Namen: »Christopher Newman.« Dann versuchte sie, ihn laut zu wiederholen und lachte über ihre schlechte Aussprache. »Ihre englischen Namen sind nicht commodes zu sagen!«
»Meiner ist aber zum Teil berühmt«, sagte Mr. Newman und lachte ebenfalls. »Haben Sie noch nie etwas von Christopher Columbus gehört?«
»Bien sûr! Er war der erste, der den Amerikanern den Weg nach Europa zeigte; ein sehr bedeutender Mann. Und er ist Ihr Beschützer?«
»Mein Beschützer?«
»Ihr Schutzheiliger; jeder von uns hat doch einen.«
»Ach ja, das stimmt; meine Eltern haben mich nach ihm genannt.«
»Dann ist Monsieur also auch Amerikaner?«
»Sieht man das nicht auf den ersten Blick?« erkundigte sich der Herr.
»Und Sie wollen mein süßes kleines Bild mit hinübernehmen?« Sie machte eine erklärende Bewegung.
»Ach, ich habe vor, sehr viele Bilder zu kaufen – beaucoup, beaucoup«, sagte Christopher Newman.
»Das schmälert die Ehre für mich keineswegs«, erwiderte die junge Dame, »denn Monsieur hat gewiß einen vorzüglichen Geschmack.«
»Aber Sie müssen mir Ihre Visitenkarte geben«, fuhr Newman fort; »Ihre Visitenkarte, bitte.«
Einen Augenblick sah die junge Dame sehr ernst aus. »Mein Vater wird es Ihnen bringen.«
Aber diesmal ließ Mr. Newmans Gabe, Dinge erraten zu können, ihn im Stich. »Ihre Visitenkarte, Ihre Adresse«, wiederholte er nur.
»Meine Adresse?« sagte Mademoiselle. Dann zuckte sie die Achseln und fuhr fort: »Ein Glück für Sie, daß Sie Ausländer sind – von einer Vornehmheit qui se voit. Ich habe noch nie einem Herrn meine Karte gegeben.« Damit holte sie eine dünne, kleine Brieftasche aus der Tasche und entnahm ihr eine winzige, satinierte Visitenkarte, die sie ihrem Kunden überreichte. Mit vielen Verzierungen versehen standen darauf deutlich mit Bleistift geschrieben die Worte »Mlle. Noémie Nioche«. Aber im Gegensatz zu seiner Gefährtin las Mr. Newman den Namen mit tiefem Ernst; für ihn waren alle französischen Namen gleichermaßen incommodes.
»Ach – und wie sich das trifft! – hier ist mein Vater; er ist gekommen, um mich nach Hause zu begleiten«, sagte Mademoiselle Noémie. »Er spricht großartig Englisch. Er wird alles mit Ihnen arrangieren.« Damit wandte sie sich um und begrüßte einen kleinen alten Herrn, der mit schleppenden Schritten auf sie zukam und Newman über die Brillenränder hinweg ansah.
M. Nioche trug eine glänzende Perücke von unnatürlicher Farbe, die ihm so weit in das kleine, sanfte, weiße und leere Gesicht hing, daß sie ihm kaum mehr Ausdruck verlieh als jenen gesichtslosen Holzköpfen, auf denen diese Artikel in den Friseurgeschäften ausgestellt werden. Er bot ein exquisites Bild schäbiger Vornehmheit. Das dürftige, schlecht geschnittene und verzweifelt zurechtgebürstete Jackett, die gestopften Handschuhe, die polierten Schuhe und der abgetragene, aber wohlgeformte Hut erzählten die Geschichte eines Menschen, der »Verluste erlitten« und sich an den Geist guter Kleidung klammerte, auch wenn ihr Buchstabe völlig unleserlich geworden war. Unter anderem hatte M. Nioche auch den Mut verloren. Die Not hatte ihn nicht nur seiner Mittel beraubt – sie hatte ihm auch das Vertrauen genommen, hatte ihn derart erschreckt, daß er an seinem Lebensabend auf Zehenspitzen einherschlich, aus Angst, die Schicksalsgöttinnen von neuem aufzuwecken. Wenn dieser fremde Herr etwas Ungehöriges zu seiner Tochter sagen sollte, würde M. Nioche ihn mit heiserer Stimme ersuchen, ihm den besonderen Gefallen zu tun, davon abzulassen; gleichzeitig jedoch würde er zugeben, daß es sehr vermessen sei, ihn um einen besonderen Gefallen zu bitten.
»Monsieur hat mein Bild gekauft«, sagte Mademoiselle Noémie. »Wenn es fertig ist, wirst du es in einer Droschke zu ihm bringen.«
»In einer Droschke!« rief M. Nioche; und verwirrt starrte er sie an, als habe er um Mitternacht die Sonne aufgehen sehen.
»Sie sind der Vater der jungen Dame?« sagte Newman. »Ich glaube, sie hat gesagt, Sie sprächen Englisch.«
»Sprekken englisch – ja.« Langsam rieb sich der alte Mann die Hände. »Ich bringe es in einer Droschke.«
»So sag doch was«, rief ihm seine Tochter zu. »Bedanke dich ein bißchen – aber nicht zu sehr.«
»Ein bißchen, Tochter, ein bißchen?« flüsterte er bekümmert. «Wieviel denn?«
»Zweitausend!« sagte Mademoiselle Noémie. »Stell dich nicht an, sonst nimmt er sein Wort zurück.«
»Zweitausend!« keuchte der alte Mann; und er begann, nach seiner Schnupftabaksdose zu kramen. Er betrachtete Newman von Kopf bis Fuß, sah seine Tochter an und blickte dann auf das Bild. »Paß auf, daß du es nicht verdirbst!« rief er dann beinahe verzückt aus.
»Wir müssen nach Hause gehen«, sagte Mademoiselle Noémie. »Für heute ist’s genug. Sei vorsichtig beim Tragen!« Und sie fing an, ihre Utensilien zusammenzupacken.
»Wie kann ich Ihnen danken?« fragte M. Nioche. »Mein Englisch ist bei weitem nicht gut genug.«
»Wenn ich nur halb so gut Französisch spräche«, sagte Newman gutmütig. »Ihre Tochter kann sich auch verständlich machen.«
»Ach Sir!« Und M. Nioche blickte mit tränenfeuchten Augen über den Brillenrand und nickte aus den Tiefen seiner Kümmernis. »Ihre Ausbildung war – très supérieure! Da wurde an nichts gespart. Pastellmalereistunden zu zehn Francs pro Stunde, Ölmalereiunterricht à zwölf Francs. Damals kam es mir auf die Francs gar nicht an. Sie arbeitet wirklich ernsthaft.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie eine schwere Zeit durchgemacht haben?« fragte Newman.
»Eine schwere Zeit? Ach, Sir – ein Unglück nach dem anderen – einfach schrecklich!«
»Geschäftliche Mißerfolge?«
»Sehr große Mißerfolge, Sir.«
»Nun – keine Angst; Sie werden schon wieder auf die Füße kommen«, sagte Newman ermutigend.
Der alte Mann neigte den Kopf zur Seite; er hatte einen so gequälten Gesichtsausdruck, als seien diese Worte ein gefühlloser Scherz, woraufhin Mademoiselle Noémie fragte: »Was sagt er denn?«
M. Nioche nahm eine Prise Tabak. »Er sagt, ich werde schon wieder zu Geld kommen.«
»Vielleicht verhilft er dir dazu. Und was noch?«
»Er sagt, du seist sehr eigenwillig.«
»Das kann schon sein. Du glaubst es ja selbst, Vater.«
»Glauben, Tochter? Bei dem Beweis!« Und wieder starrte der alte Mann mit ehrerbietigen, fragenden Augen die kühnen Farbkleckse auf der Staffelei an.
»Frag ihn, ob er nicht gern Französisch lernen möchte.«
»Französisch lernen?«
»Ob er Stunden nehmen will.«
»Stunden nehmen, Tochter? Bei dir?«
»Bei dir.«
»Bei mir, Kind? Wie soll ich denn Stunden geben?«
»Pas de raisons! Frag ihn sofort!« sagte Mademoiselle Noémie leise, aber bestimmt.
Entsetzt stand M. Nioche da, aber unter dem Blick seiner Tochter nahm er sich zusammen und führte ihren Befehl aus, wobei er sich nach Kräften bemühte, liebenswürdig zu lächeln. »Möchten Sie nicht vielleicht Unterricht in unserer schönen Sprache nehmen?« brachte er mit flehendem Tremolo heraus.
»Ich soll Französisch lernen?« Newman war ziemlich überrascht. M. Nioche faltete die Hände und hob langsam die Schultern. »Ein wenig Übung in Konversation!«
»Übung, Konversation – das ist’s!« murmelte Mademoiselle Noémie, die die Worte verstanden hatte. »In der Konversation der besten Gesellschaftskreise.«
»Unsere französische Konversation ist nämlich sehr berühmt«, wagte M. Nioche hinzuzufügen. »Sie ist der Genius unserer Nation.«
»Aber ist das denn nicht – ausgenommen für Ihre Nation – etwas beinahe Unmögliches?« fragte Newman ganz einfach.
»Nicht für einen Mann von esprit wie Monsieur, für einen Mann, der Schönheit in jeder Form bewundert!« Und M. Nioche warf einen vielsagenden Blick auf die Madonna seiner Tochter.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich etwas fließend auf französisch herunterleiern soll!« widersprach Newman. »Trotzdem vermute ich, daß man sich um so besser in der Welt bewegen kann, je mehr Dinge, je mehr Bezeichnungen für die Dinge man kennt.«
»Monsieur drückt das sehr glücklich aus. Um so besser kann man sich in der Welt bewegen. Hélas, oui!«
»Wahrscheinlich wäre es sehr nützlich für mich bei meinen Expeditionen durch Paris, wenn ich zumindest versuchen könnte, mich zu unterhalten.«
»Ach, es gibt gewiß so vieles, das Monsieur gern sagen möchte: bemerkenswerte Dinge und darum um so schwieriger.«
»Alles, was ich sagen möchte, ist ›um so schwieriger‹. Aber sind Sie denn gewöhnt, Stunden zu geben?«
Der arme M. Nioche geriet in Verlegenheit; er lächelte noch flehentlicher. »Ich bin kein richtiger Professor«, gab er zu. »Ich kann ihm pourtant nicht erzählen, daß ich ein Diplom besitze«, sagte er zu seiner Tochter.
»Sag ihm, daß es eine außergewöhnlich günstige Gelegenheit ist«, antwortete Mademoiselle; »ein homme du monde – ein wirklicher Gentleman, der mit einem anderen Konversation betreibt. Vergiß nicht, wer du bist. Vergiß nicht, wer du warst.«
»Jedenfalls in keinem von beiden Fällen ein Sprachlehrer! Viel eher noch dans le temps als heutzutage! Und wenn er sich nach dem Preis für die Stunden erkundigt?«
»Danach wird er nicht fragen«, erklärte das Mädchen.
»So viel, wie er will – kann ich das sagen?«
»Niemals! Das ist ein schlechter Stil.«
»Aber wenn er es doch wissen will?«
Mademoiselle Noémie hatte die Kappe aufgesetzt und war im Begriff, die Bänder zusammenzubinden. Sie glättete sie und streckte ihr muschelförmiges kleines Kinn nach vorne. Dann sagte sie rasch: »Zehn Francs.«
»Aber Tochter! Niemals werde ich das wagen.«
»Dann laß es eben! Er wird nicht fragen, ehe er mit den Stunden aufhört, und du wirst mich die Rechnung ausstellen lassen.«
M. Nioche wandte sich wieder dem vertrauensseligen Fremden zu und rieb sich die Hände, wobei er aussah, als sei er ungefähr jeden Rates überführt, den die Verzweiflung eingeben kann. Newman kam es gar nicht in den Sinn, die Forderung nach einer Garantie für seine Tüchtigkeit als Lehrer zu stellen; er nahm selbstverständlich an, M. Nioche beherrsche die Sprache, die aus seinem Mund so wunderbar klang, und glaubte, seine Niedergeschlagenheit sei genau das, was Amerikaner, aus unbestimmten Gründen, von jeher mit all jenen ältlichen Ausländern in Verbindung gebracht hatten, die zur Klasse derjenigen gehörten, die Unterricht erteilten. Newman hatte sich nie Gedanken über philologische Vorgänge gemacht. Was die Beherrschung jener geheimnisvollen Entsprechungen des ihm vertrauten englischen Wortschatzes anging, die in dieser ungewöhnlichen Stadt Paris gebräuchlich waren, so hatte er in erster Linie den Eindruck, es handele sich hier um weiter nichts, als vorhandene, aber unbenutzte Muskeln und Sehnen energisch zu gebrauchen. »Wieso haben Sie so gut Englisch gelernt?« fragte er den alten Mann.
»Ach – als ich jung war, brachte ich allerhand fertig –, ehe das Elend über mich kam. Damals war ich hellwach. Mein Vater war ein großer commerçant; er hat mich für ein Jahr in ein englisches Kontor gesteckt. Manches habe ich behalten, aber vieles hab’ ich vergessen!«
»Wieviel Französisch kann ich in ungefähr einem Monat lernen?«
»Was sagt er?« fragte Mademoiselle; und als ihr Vater es ihr erklärte: »Er wird wie mit Engelszungen reden!«
Aber jene angeborene Rechtschaffenheit, die M. Nioche so wenig dazu verholfen hatte, kommerziellen Wohlstand zu erlangen, flackerte wieder auf. »Dame, Monsieur!« antwortete er, »alles, was ich Ihnen beibringen kann!« Und als er sich, auf ein Zeichen seiner Tochter hin, wieder gefaßt hatte: »Ich werde Sie in Ihrem Hotel aufsuchen.«
»Ach ja, ich möchte gern elegante Konversation machen können«, fuhr Newman fort, und erwies seinen Freunden die Wohltat, sich nicht genau festzulegen. »Zum Teufel mit mir, wenn ich jemals daran gedacht habe! Es schien so gar nicht für mich in Frage zu kommen. Aber Sie haben es mir ganz plausibel gemacht, und wenn es Ihnen je möglich war, unsere großartige Sprache zu erfassen – die Sprache Shakespeares und Miltons und der Heiligen Schrift –, warum sollte ich dann die Ihre nicht erlernen können?« Sein offenes, freundliches Lachen nahm dem Scherz jeden Stachel. »Nur müssen Sie sich ein amüsantes Thema ausdenken, wenn wir schon Konversation machen wollen.«
»Sie sind zu gütig, Sir; ich bin überwältigt!« Und M. Nioche warf die Hände in die Luft. »Aber Sie sind so vergnügt und glücklich, daß es für uns beide reicht!«
»O nein«, sagte Newman ernster. »Sie müssen heiter und lebhaft sein; das gehört dazu.«
M. Nioche verbeugte sich, eine Hand auf dem Herzen. »Also gut, Sir; Sie haben eine Melodie angestimmt, zu der ich beinahe tanzen könnte!«
»Also kommen Sie, und bringen Sie mir das Bild; ich werde es Ihnen bezahlen, und wir können uns darüber unterhalten. Das wird ein vergnügliches Thema abgeben!«
Mademoiselle Noémie hatte ihre Utensilien zusammengepackt und übergab die kostbare Madonna der Obhut ihres Vaters, der rückwärts hinausging, bis man ihn nicht mehr sah, das Bild dabei mit ausgestreckten Armen vor sich hielt und sich wiederholt verbeugte. Die junge Dame raffte den Mantel wie eine vollendete Pariserin zusammen, und mit dem »Au revoir, Monsieur!« einer vollendeten Pariserin verabschiedete sie sich von ihrem Kunden.
Diese Person wanderte zum Diwan zurück und nahm auf der anderen Seite Platz, gegenüber der großen Leinwand, auf der Paolo Veronese die Hochzeit zu Kana in Galiläa ausgebreitet hat, auf daß sich seine Gestalten hier für alle Zeiten drängen und in ihrem Glanz erstrahlen. So ermattet er auch war, sein Geist war dennoch aufnahmefähig für das Gemälde; es erweckte in ihm eine Illusion; es befriedigte seine – tief verwurzelte – Vorstellung von einem wahrhaft großartigen Bankett. Links in der Ecke ist eine junge Frau mit gelben Zöpfen, die von einem goldenen Kopfputz zusammengehalten werden; sie neigt sich nach vorne und lauscht mit dem Lächeln eines reizenden Mädchens bei einem Diner den Worten ihres frohgestimmten Nachbarn. Newman entdeckte sie in der Menge, bewunderte sie und merkte, daß sich auch ihrer ein Kopist angenommen hatte – ein junger Mann, dessen Genie möglicherweise gleich dem Samsons in seinen struppigen Haaren lag. Plötzlich spürte er den ersten Pulsschlag der »Sammelwut«. Er hatte den ersten Schritt getan – warum sollte er nicht weitergehen? Nicht mehr als zwanzig Minuten waren vergangen, seit er zum erstenmal im Leben ein Bild erstanden hatte, und schon erschien ihm die Förderung der Kunst ein Vorhaben, das selbst ein so enormes Gewicht wie das seine über Wasser halten könnte. Diese Überlegungen verstärkten seine gute Laune, und schon war er im Begriff, mit einem weiteren »Combien?« an den jungen Mann heranzutreten. Auffällig in dieser Hinsicht sind einige Tatsachen, die allerdings kaum logisch verknüpft zu sein scheinen. Er wußte, daß Mademoiselle Nioche ihn überfordert hatte; er war ihr darob nicht gram und war entschlossen, dem jungen Mann den angemessenen Preis zu zahlen. Jedoch wurde in diesem Moment seine Aufmerksamkeit auf einen Herrn gelenkt, der aus einem anderen Teil des Saales gekommen war und sich verhielt, als sei die Galerie ihm fremd, obwohl er weder Reiseführer noch Opernglas bei sich hatte. Er trug einen weißen, mit blauer Seide gefütterten Sonnenschirm, schlenderte an dem großen Gemälde vorbei, ließ den Blick darüber schweifen, war jedoch viel zu nahe, um irgend etwas anderes sehen zu können als die Struktur der Leinwand. Christopher Newman gegenüber blieb er stehen und wandte sich um, und das gab unserem Freund, der ihn beobachtet hatte, die Chance, einen Verdacht zu bestätigen, den der unvollkommene Anblick seines Gesichts in ihm geweckt hatte. Als Ergebnis eines gründlicheren Betrachtens sprang er nun auf, durchquerte den Saal und hielt den verständnislos blickenden Beschauer mit ausgestreckter Hand fest. Der erstaunte Herr riß, noch erstaunter, den Mund auf, streckte ihm jedoch auf alle Fälle die Hand entgegen. Er war groß, hatte eine glatte, rosige Haut und sah aus wie ein erfolgreich eingetopftes Gewächs, und wenn sein Gesicht, das ein schöner flachsgelber Bart zierte, der sorgfältig in der Mitte gescheitelt und nach den Seiten gebürstet war, auch nicht übermäßig ausdrucksvoll war, so war es doch nur in dem Maße exklusiv, in dem eine geöffnete Hoteltür es ist – einem unerwünschten Gast gegenüber bliebe es verschlossen. Und tatsächlich schien es Newman, als sei er zunächst aufgefordert worden, »sich einzuschreiben«.
»Aber hör mal«, sagte er lachend; »sag nur nicht, du kennst mich nicht – auch wenn ich keinen weißen Sonnenschirm habe!«
Sein Ton hatte Erfolg; das Antlitz des anderen blühte auf, soweit es dazu fähig war, und strahlte dann vor Freude. »Ach, Christopher Newman – alle Wetter! Wo in aller Welt –? Wer hätte so etwas für möglich gehalten? Du hast dich aber außerordentlich verändert.«
»Nun, du wahrscheinlich nicht«, sagte Newman.
»O nein, ich sehe noch so ziemlich aus wie früher. Aber wann bist du denn angekommen?«
»Vor drei Tagen.«
»Und warum hast du mich’s nicht wissen lassen?«
»Wie konnte ich denn ahnen –?«
»Aber ich wohne doch schon ziemlich lange hier.«
»Ja, es ist schon ziemlich lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben.«
»Ja, ja – man hat das Gefühl, es sei lange her – seit dem Krieg.«
»Das war in Saint Louis, gleich nach Kriegsbeginn. Du warst damals im Begriff, Soldat zu werden«, sagte Newman.
»Ach, ich doch nicht. Du warst es. Hast du es vergessen?«
»Du erinnerst mich höchst unangenehm daran.«
»Dann warst du also beim Militär?«
»Jawohl, ich war beim Militär. Aber mir scheint, das war gar nichts im Vergleich zu dieser Begegnung.«
»Wie lange bist du denn schon in Europa?«
»Seit genau siebzehn Tagen.«
»Zum erstenmal?«
»Ja, und wie zum erstenmal!«
Newmans Freund hatte ihn von Kopf bis Fuß betrachtet. »Und hast du inzwischen solche Reichtümer aufgestapelt, daß du bis zu deinem Lebensende genug hast?«
Unser Gentleman schwieg ein Weilchen und erwiderte dann mit ruhigem Lächeln: »Ich habe einiges zusammengerafft.«
»Und nun bist du gekommen, um ganz Paris aufzukaufen? Du mußt nämlich wissen – Paris ist verkäuflich.«
»Will mal sehen, was sich machen läßt. Man trägt also hier solche Sonnenschirme – ich meine, die Männer?«
»Natürlich. Ausgezeichnete Dinger, diese Sonnenschirme. Man versteht sich auf Details hier.«
»Wo kann man sie denn kaufen?«
»Überall.«
»Nun, Tristram, ich bin wirklich froh, dich erwischt zu haben. Du kannst mir vermutlich allerhand erzählen. Wahrscheinlich kennst du Paris ziemlich genau«, fuhr Newman fort.
Mr. Tristrams Antlitz überzog sich mit einem rosigen Schimmer. »Mindestens glaube ich, daß es nicht viele Leute gibt, die mir viel zeigen könnten. Ich werde mich deiner annehmen.«
»Schade, daß du nicht schon vor ein paar Minuten hier warst. Ich habe gerade ein Bild gekauft. Du hättest das für mich erledigen können.«
»Du hast ein Bild gekauft?« sagte Mr. Tristram und ließ einen unsicheren Blick über die Wände schweifen. »Sind sie denn verkäuflich?«
»Ich meine eine Kopie.«
»Ach so. Das hier« – und Mr. Tristram nickte zu den Tizians und Van Dycks hinüber – »das hier sind doch wohl Originale?«
»Das will ich hoffen«, erwiderte Newman. »Ich will doch keine Kopie von einer Kopie.«
»Ach«, erklärte sein Freund scharfsinnig, »man kann nie wissen. Es gibt so verteufelt gute Imitationen. Es ist wie bei den Juwelieren mit ihren falschen Steinen. Geh nur mal ins Palais Royal; da siehst du, daß an der Hälfte der Schaufenster ›Imitation‹ angeschrieben steht. Das Gesetz schreibt vor, so einen Zettel anzukleben; aber man kann den Unterschied überhaupt nicht feststellen. Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr Mr. Tristram fort – und seine Grimasse schien wie eine Schraubendrehung seines Unterscheidungsvermögens –, »ich kümmere mich nicht viel um Bilder. Das gehört zu den Dingen, die ich meiner Frau überlasse.«
»Ach, du hast dir eine Frau zugelegt?«
»Hab’ ich das noch nicht gesagt? Sie ist eine sehr gescheite Frau. Du mußt gleich mit zu uns kommen. Sie ist dort, in der Avenue d’Iena.«
»Du hast dich also richtig etabliert – mit Haus und Kindern und allem, was dazugehört?«
»Ja, ein tadelloses Haus und zwei reizende Kinder.«
»Weißt du«, sagte Christopher Newman und reckte die Arme ein wenig, »das gibt mir ein seltsames Gefühl; wahrscheinlich ist es Neid.«
»Aber nicht doch«, antwortete Mr. Tristram und stieß ihn leicht mit dem Sonnenschirm an.
»Verzeih – aber es ist wirklich so.«
»Nun gut, aber doch nicht mehr, wenn du erst – wenn du –«
»Du meinst doch gewiß nicht, wenn ich erst dein hübsches Heim kennengelernt habe?«
»Wenn du erst eines hast, mein Junge. Wenn du erst Paris gesehen hast. Hier mußt du mit leichtem Gepäck reisen.«
»Ach, ich habe mich mein Lebtag in Hemdsärmeln herumgetrieben, das reicht mir.«
»Nun, versuch’s noch mal hier in Paris. Das macht etwas ganz Neues daraus. Wie alt bist du denn eigentlich?«
»Ich glaube, zweiundvierzigeinhalb.«
»C’est le bel âge, wie man hier sagt.«
Newman überlegte. »Soll das heißen, das Alter des Bauches?«[1]
»Es bedeutet, daß ein Mann sich nicht den Teller wegnehmen lassen soll, ehe er nicht genug gegessen hat.«
»Das ist so ziemlich dasselbe. Jedenfalls habe ich gerade eine Verabredung getroffen, Sprachstunden zu nehmen.«
»Aber du brauchst doch keine Stunden. Du wirst es dir auch so aneignen. Ich hatte niemals Unterricht nötig und habe auch keinen genommen.«
»Du sprichst es also mit derselben Leichtigkeit wie Englisch?«
»Mit noch größerer sogar!« erklärte Mr. Tristram ganz offen. »Es ist eine herrliche Sprache. Sie eignet sich so gut für allerhand amüsante Anzüglichkeiten.«
»Ich vermute allerdings«, sagte Christopher Newman, der wirklich den Wunsch hatte, sich zu informieren, »daß man zunächst einmal selbst amüsant sein muß.«
»Nicht im geringsten; das ist ja gerade das Schöne dabei!«
Während die beiden Freunde diese Bemerkungen austauschten, die ihnen ohne Stocken von den Lippen flossen, waren sie da stehengeblieben, wo sie sich getroffen hatten, und lehnten sich an eine Stange, die die Bilder schützte. Schließlich erklärte Mr. Tristram, daß die Müdigkeit ihn überwältige und er sich sehr gern setzen würde. Überschwenglich empfahl ihm Newman den großen Diwan, auf dem er sich ausgeruht hatte, und sie schickten sich an, Platz zu nehmen. »Das ist doch ein herrlicher Ort, nicht wahr?« rief er begeistert aus.
»Ein herrlicher Ort, ein herrlicher Ort. Das Schönste auf der Welt.« Und dann zögerte Mr. Tristram plötzlich und sah sich nach allen Seiten um. »Rauchen darf man wahrscheinlich hier nicht?«
Newman starrte ihn an. »Rauchen? Ich weiß es sicher nicht. Du kennst die Vorschriften besser als ich.«
»Ich? Ich bin noch nie hier gewesen.«
»Noch nie? In all den sechs Jahren?«
»Ich glaube, meine Frau hat mich einmal hergeschleppt, ganz kurz nach unserer Ankunft in Paris, aber ich habe nie wieder den Weg hierhergefunden.«
»Aber du sagst doch, du kennst Paris so gut!«
»Das nenne ich doch nicht Paris!« erklärte Mr. Tristram sehr bestimmt. »Komm; laß uns zum Palais Royal hinübergehen und rauchen.«
»Ich bin Nichtraucher«, sagte Newman.
»Und warum das?« knurrte Mr. Tristram, als er mit seinem Freund hinausging. Sie kamen durch die wundervollen Säle des Louvre, schritten die Treppe hinab, durchquerten die kühlen, düsteren Galerien voller Skulpturen und betraten dann den riesigen Hof. Newman sah sich auf dem Wege um, sagte jedoch kein Wort; erst als sie im Freien waren, bemerkte er zu seinem Freund: »Ich glaube, ich an deiner Stelle wäre einmal in der Woche hierhergekommen.«
»O nein, das hättest du nicht getan!« erwiderte Mr. Tristram. »Das glaubst du, aber du hättest es nicht getan. Du hättest gar keine Zeit dazu gehabt. Du hättest zwar immer beabsichtigt zu kommen, aber du hättest es nie getan. Hier in Paris hat man Besseres zu tun. Bilder muß man in Italien sehen; warte nur, bis du erst dort bist. Da mußt du sie dir ansehen, denn man kann gar nichts anderes unternehmen. Ein schreckliches Land – unmöglich, eine anständige Zigarre zu bekommen. Ich weiß gar nicht, warum ich heute da hineingegangen bin. Ich bummelte so dahin und wußte einfach nicht, wie ich mich unterhalten sollte. Ich hab’ den Louvre sozusagen ›mitgenommen‹, als ich vorbeiging, und wollte mal hinaufgehen, um zu sehen, was sich da tut. Aber wenn ich dir nicht begegnet wäre, hätte ich mich wohl verraten und verkauft gefühlt. Zum Teufel – mir liegt eben nichts an unbelebter Leinwand und kalter marmorner Schönheit; mir ist die Wirklichkeit lieber!« Und Mr. Tristram gab diese glückliche Formulierung mit einer Selbstsicherheit von sich, um die ihn die vielen, die unter einer übergroßen Dosis vorgeschriebenen Geschmacks leiden, hätten beneiden können.
Die beiden Herren gingen die Rue de Rivoli entlang und betraten das Palais Royal, wo sie sich an einen jener kleinen Tische setzten, die an der Tür zum Café stehen, das in den großen viereckigen Hof übergeht oder doch damals überging. Überall war es voll, die Springbrunnen plätscherten, eine Kapelle spielte, in Gruppen waren Stühle unter den Linden zusammengerückt, und dralle Kinderfrauen in weißen Häubchen saßen auf den Bänken und boten den ihnen anvertrauten Kindern alles, was zu ihrer Ernährung diente. Eine schlichte, ungezwungene Fröhlichkeit lag über der ganzen Szene, und Christopher Newman hatte das Gefühl, sie sei ausgesprochen und in hohem Maße pariserisch.
»So, und jetzt«, begann Mr. Tristram, als sie das Gebräu, das er hatte servieren lassen, gekostet hatten, – »jetzt erzähle einmal von dir. Was hast du vor, wie sehen deine Pläne aus, woher kommst du und wo willst du hingehen? Aber zunächst einmal: wo wohnst du?«
»Im Grand Hotel.«
Sein Gesicht verfiel. »Das geht doch nicht! Du mußt umziehen.«
»Umziehen?« fragte Newman. »Es ist das eleganteste Hotel, in dem ich je gewohnt habe.«
»Du brauchst kein ›elegantes‹ Hotel; du brauchst eine kleine, ruhige, erstklassige Wohnung, in der die Tür geöffnet wird, wenn es läutet und die dich als eine Persönlichkeit ausweist.«
»Man rennt im Hotel schon, um nachzusehen, ob ich geklingelt habe, noch ehe ich auf den Knopf drücke«, sagte Newman, »und was meine Persönlichkeit angeht – man verbeugt sich dauernd vor ihr und macht einen Kratzfuß nach dem anderen.«
»Vermutlich gibst du unentwegt Trinkgelder. Das ist ein sehr schlechter Stil.«
»Unentwegt? Durchaus nicht. Gestern hat mir ein Mann etwas gebracht und lungerte dann herum wie ein Bettler. Ich bot ihm einen Stuhl an und fragte ihn, ob er Platz nehmen wolle. War das vielleicht schlechter Stil?«
»Ich werde es meiner Frau erzählen!« erwiderte Tristram nur.
»Wenn du willst, kannst du’s auch der Polizei erzählen! Jedenfalls hat er sich sogleich aus dem Staub gemacht. Ich finde das Hotel faszinierend. Zum Teufel mit deinem ›erstklassig‹, wenn es mich langweilt. Ich habe gestern nacht bis zwei Uhr morgens im Hof des Hotels gesessen und zugesehen, wie die Leute kamen und gingen.«
»Dich kann man leicht zufriedenstellen. Aber du kannst natürlich tun, was du willst – ein Mann in deiner Position. Du hast wohl einen Haufen Geld gemacht, was?«
»Auf jeden Fall genug.«
»Glücklich, wer das von sich sagen kann! Aber genug wofür?«
»Genug, um eine Zeitlang nichts zu tun, um nicht an dieses Problem zu denken, um mich umzusehen, die Welt kennenzulernen, eine angenehme Zeit zu verleben, mich zu bilden und, wenn meine Stunde kommt, zu heiraten.« Newman sprach langsam und mit vielen Pausen, und seine Worte wirkten kühl und unpersönlich. Er sprach zwar meistens so, aber es fiel in den soeben gesprochenen Sätzen besonders auf.
»Beim Jupiter, du verlangst ja allerhand!« rief Mr. Tristram. »Das alles erfordert natürlich Geld, besonders die Frau; es sei denn, sie bringt welches mit, wie es meine getan hat. Und wie ist’s dazu gekommen? Wie hast du es angestellt?«
Newman hatte den Hut zurückgeschoben, die Arme verschränkt und die Beine ausgestreckt. Er lauschte der Musik, beobachtete die lärmende Menge, die plätschernden Springbrunnen, die Kinderfrauen und die Babys. »Nun – nicht durch Herumsitzen wie jetzt.«
Tristram betrachtete ihn noch einmal und gestattete einer subtileren Neugierde, sich seiner außerordentlichen Größe zu vergewissern und die verschwommenen Züge seines friedlichen Gesichtes zu überblicken. »In welcher Branche hast du gearbeitet?«
»Ach, in so vielen, daß ich mich gar nicht mehr daran erinnern möchte.«
»Du bist also ein wirklich aufgeweckter Bursche, was?«
Newman beobachtete nach wie vor die Kinderfrauen und die Babys; sie verliehen der Szene eine Art ursprünglicher, ländlicher Natürlichkeit. »Ja«, sagte er schließlich, »das bin ich wohl.« Und als Antwort auf die Fragen seines Freundes erzählte er nun in wenigen Worten, wie es ihm seit ihrem letzten Zusammentreffen ergangen war. Es war in hohem Grade eine Geschichte aus der Welt des Westens, und in der klaren, fremden Luft nahm sie sich weitgehend aus wie schöne, getrocknete und mit Namen versehene »Exemplare«, die, gebleicht, scheußlich und vermutlich einzigartig, in einem naturgeschichtlichen Museum zu sehen sind. Sie handelte von Dingen, Geschehnissen und Unternehmungen, die dem Leser nicht in allen Einzelheiten mitgeteilt zu werden brauchen; es ging um Tiefen und Untiefen, um Ebbe und Flut großer finanzieller Strömungen. Als Newman den Krieg überstanden hatte, hielt er sein Patent als Brigadekommandeur in Händen, eine Ehre, die in diesem Fall – ohne neiderregende Vergleiche anzustellen – auf Schultern gefallen war, die in hohem Grade fähig waren, die Last zu tragen. Aber wenn er auch bewiesen hatte, daß er, wo es notwendig war, mit seinen Leuten (und noch mehr mit denen des Feindes) richtig umzugehen verstand, so war ihm doch diese Tätigkeit außerordentlich zuwider; die vier Jahre in der Armee hatten in ihm das bittere Gefühl der Vergeudung kostbarer Dinge hinterlassen – der Vergeudung von Leben und Zeit, von Geld, Findigkeit und guten Gelegenheiten; und er hatte sich den friedlichen Unternehmungen mit leidenschaftlichem Eifer und einer passionierten Energie gewidmet. Seine inzwischen schon beträchtlich angewachsenen »Zinsen« hatten unterdessen auf ihn gewartet, so daß sein Kapital durchaus nicht nur aus seinem energischen, messerscharfen Entschluß und seiner lebhaften Erkenntnis der Mittel und Wege bestand. Und doch waren dies seine wirklichen Waffen, und Anstrengungen und Tatendrang waren für ihn ebenso natürlich wie das Atmen: kein gesünderer Sterblicher war je über den elastischen Boden großer Staaten geschritten, auf die seine Wahl gefallen war. Zudem stand seine Erfahrung seinen Fähigkeiten in nichts nach; mit vierzehn Jahren hatte ihn die Not bei den schmalen jungen Schultern gepackt und auf die Straße geworfen, damit er sich das Abendessen dieses Tages verdiene. Das hatte er allerdings nicht getan, aber das Abendessen für den folgenden Tag hatte er sich verdient, und wenn er später ohne Abendessen auskommen mußte, geschah es, weil er darauf verzichtet hatte, um das Geld für etwas anderes zu verwenden – für ein größeres Vergnügen oder etwas, das einen besseren Gewinn abwarf. Er hatte – und sein Kopf war immer bei der Sache gewesen – die verschiedensten Dinge getan; er hatte sich weder an Vorbilder gehalten noch an Präzedenzfälle und Wahrscheinlichkeiten, er hatte sich fast bis zum Wahnsinn in Abenteuer gestürzt und war beinahe wie durch ein Wunder davongekommen, und er hatte sowohl das schale Wasser (wenn nicht gar das starke Gift) der Niederlage wie den kräftigen Wein des Erfolgs gekostet.