Zwei Fälle für Commissario Grauner

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Die im Stile Manns frei formulierten Passagen in den Schriftstücken mit Anleihen aus:

    Thomas Mann, Fiorenza. Gedichte. Filmentwürfe (»Fiorenza«, S. 7–128), S. Fischer Verlag, S. 98

    Thomas Mann, Briefe I. 1898–1913, S. Fischer Verlag, S. 154 u. S. 176

    Thomas Mann, Erzählungen (»Tonio Kröger«, S. 265–331), S. Fischer Verlag, S. 266 u. S. 296 f.

  2. Die im Stile Manns frei formulierten Passagen in den Schriftstücken mit Anleihen aus:

    Thomas Mann, Fiorenza. Gedichte. Filmentwürfe (»Fiorenza«, S. 7–128), S. Fischer Verlag, S. 98

    Thomas Mann, Briefe I. 1898–1913, S. Fischer Verlag, S. 154 u. S. 176

    Thomas Mann, Erzählungen (»Tonio Kröger«, S. 265–331), S. Fischer Verlag, S. 266 u. S. 296 f.

  3. Die Zitate in dieser Szene entnommen aus:

    Gottfried Oberthaler, Das Ultental und seine Bäder. Eine Historie in Wort und Bild, Museumsverein Ulten, Athesiadruck Ges.m.b.H., S. 139 f.

    Thomas Mann, Briefe I, 1898–1913, S. Fischer Verlag, S. 171

Lenz Koppelstätter

Die Stille der Lärchen

Ein Fall für Commissario Grauner

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.

Auch alle Personen sind erfunden.

Nur die Lärchen gibt es wirklich.

Und sie werden noch sein,
wenn wir längst nicht mehr sind.

Prolog

Die Stille gibt es nicht. Schon gar nicht jetzt, wenn es plätschert und taut. Glaubt man, es ist still, ganz still, dann rauscht immer noch ein Bach in der Ferne. Dann raschelt der Wind in den Baumwipfeln, dann springt ein Rehkitz durchs Gebüsch, dann haut ein Specht seinen Schnabel ins Holz, dann ruft ein Kuckuck, dann zwitschern sich frühlingsverliebt zwei Rotkehlchen zu.

Stille, absolute Stille, die gibt es nur im Himmel, sagten die Rosenkranzfrauen von St. Gertraud. Oben, hinter den Wolken, jenseits des Blaus. Oben, inmitten der Sterne, die da funkeln. Wenn es still ist, ganz still, dann bist du nicht mehr auf Erden, sagten die Frauen. Nur wenn einer stirbt, dann hält auch auf Erden die Totenstille Einzug. Dann plätschert einen Wimpernschlag lang nichts. Dann rauscht nichts, raschelt nichts. Dann klopft nichts, zwitschert nichts. Dann ist es still, still, lärchenstill.

 

Natürlich wird sie in den Himmel kommen, die Marie, sagten die Rosenkranzfrauen, die drei Tage und drei Nächte lang auf den Bänken der Pfarrkirche des Dreihundertseelenortes knieten, um für sie zu beten. Ein Vaterunser, ein Gegrüßet seist du, Maria, ein Glaubensbekenntnis und dann alles, all das Flehen, die Huldigungen, die Lobpreisungen, noch einmal von vorne.

Sie beteten noch, als ihre Knie längst taub geworden waren. Sie beteten noch, als sich das kantige Holz der Kirchenbänke bereits schmerzhaft in ihr Fleisch geschnitten hatte.

Die Bewohner des Ultentals waren gottesfürchtige Leut’ – und die Rosenkranzfrauen von St. Gertraud waren die allergottesfürchtigsten unter ihnen.

Natürlich wird sie in den Himmel kommen, flüsterten die Leut’ in St. Gertraud, als sie sich draußen vor dem Kirchentor begegneten. Weil wir sie salben, beweinen, beklagen. Weil wir sie in einen weißen Sarg legen, unschuldsweiß – weil sie fast noch ein Kind war.

Sie wird in den Himmel kommen, weil Kinder noch ohne Sünde sind. Weil der Herr Pfarrer sie segnen wird, die Marie, dies blutjung heimgeholte Gottesgeschöpf.

Schöne Haare hat sie gehabt, goldenschön, flüsterten die Leut’, und große blaue Augen, engelsblau.

 

Im Höllenschlund, der dort seinen Eingang hatte, dessen waren sich alle gewiss, wo eine der alten Lärchen unter ihrem Stamm ein sandiges Loch offenbarte – da war es nicht still. Da spürst du die hochkommende Hitze, sagten die Frauen, da erhascht dich der Funke der lodernden Feuer, da schreien die Seelen der Verdammten. Die der Todsünder. Die der Fleischeslüstigen. Die der Völlerer. Die der Gottesächter. Die der Mörder. Und all die Seelen jener, für die niemand gebetet hat.

Mancher Sünder mag in den Himmel kommen. Wenn er bereut, wenn er Buße tut, wenn die Frommen für ihn klagen. Doch manchem bleibt er verwehrt. Da hilft kein Klagen, keine Buße, keine Reue, kein Beten.

Für den Michl, sagten die Rosenkranzfrauen von St. Gertraud, wird es nicht reichen. Was der Michl getan hat, sagten sie, das kann ihm keiner verzeihen. Auch der liebe Gott nicht. Für den Michl beteten sie nicht. Der Michl sollte sterben. Und in die Hölle kommen. Hinab ins sandige Lärchenloch. Das sollte seine gerechte Strafe sein, das wünschten sie ihm.

Sie saß da, so schien es Benedikt Haller, als schliefe sie mit offenen Augen. Als träumte sie einen Tagtraum. Die Pupillen starrten ihn an. Er schauderte, und ihm war bewusst, dass er diesen Moment, diesen Blick aus diesen toten, offenen Augen, sein ganzes verdammtes restliches Leben lang nicht mehr vergessen würde.

Es schien ihm, als atmete sie noch. Doch es war nicht der Brustkorb, der ihr weißes Kleid und ihre Wolljacke hob und senkte. Es war der mit dem Stoff spielende Wind. Der Wind, er hob auch ihre blonden Strähnchen. Sie kitzelten ihr Gesicht. Aus ihrem offenen Mund war Blut gequollen. Es haftete verkrustet an ihrem Kinn. Rund um ihr Herz hatte es sich in die Fasern des Kleids und der Jacke gefressen.

»Marie!«, sagte Haller, »Marie!«

Er drückte das Gesicht gegen die Scheibe des bodentiefen Fensters und legte auch die Hände auf das kalte Glas. Kurz schloss er die Augen, fest, bis er hinter den geschlossenen Lidern Sterne sah. Je fester er drückte, so hoffte er, desto eher könne alles verschwunden sein, wenn er die Augen wieder öffnete – vielleicht, so dachte er, war alles nur ein kurzer, böser Traum.

 

Aber alles war noch da. Alles war real: der Wald, der hinter dem mit Moos überwachsenen Holzzaun begann. Das tote Mädchen, das am Stamm einer der alten Lärchen lehnte. Das Rot an ihrer Brust und um ihren Mund. Das Rot wirkte dunkler als Blut, so als hätte sie sich nur mit Kirschmarmelade befleckt.

Benedikt Haller nahm die Hände von der Fensterscheibe, blutrote Streifen blieben zurück. Dann ging er zum Glastisch, der neben den geschwungenen Sofasesseln in der Mitte des lichtdurchfluteten Raumes stand. Einige Architekturzeitschriften lagen darauf, akkurat gestapelt. Haller hasste es, wenn nicht alles seine Ordnung hatte. Er entdeckte einen Brotkrümel auf dem Tisch, schnappte mit zwei Fingern danach und ließ ihn in der Hosentasche verschwinden. Haller hasste Krümel. Er hasste Flecken. Haller hasste Schmutz. Er hasste es, wenn seine Schuhe von einer Staubschicht überzogen waren.

Haller wischte die Glaswand sauber und wusch sich die Hände, das dunkle Wasser verschwand im Abguss des Edelstahlwaschbeckens. Er rieb die Finger mit einem weißen Handtuch trocken und spürte Freude in sich hochkriechen, als er bemerkte, dass das Tuch dadurch zwar nass, aber nicht schmutzig geworden war. Er faltete es sorgsam und legte es auf die Marmorplatte neben dem Designerherd.

Haller war Perfektionist. Die Natur ist perfekt, auf ihre Weise, und der Mensch hat es auch zu sein, auf seine Weise, das sagte er oft, auch wenn ihm dabei niemand zuhörte. Haller bewunderte die Natur. Aber er verstand sie nicht. Sie faszinierte ihn, aber er traute ihr nicht. Sie zog ihn an, doch er hielt sie auf Distanz.

Haller lebte schon seit über einem Jahr in diesem hintersten Teil des Ultentals, aber noch nie war es ihm in den Sinn gekommen, sich ein Beil zu schnappen, um das gestapelte Holz zu hacken, auf einer Lichtung Beeren zu sammeln, im Winter eine Skitour zu unternehmen, sich im Sommer in eine ungemähte Wiese zu legen.

Haller verbrachte seine Zeit am liebsten im verglasten Wohnzimmer. Von einer Seite konnte er so in den Wald blicken, auf die drei Lärchen, die schon Hunderten Wintern getrotzt hatten. Von der anderen Seite reichte der Blick hinunter ins Tal.

Haller liebte es, hier zu stehen, sich im Kreis zu drehen, ein Glas Blauburgunder in der Hand, und rauszuschauen, auf diese wundersame Welt. Haller war anders. Das war ihm schon klar. Er war nicht Teil der Natur so wie die Menschen aus dem Tal. Er war nicht Teil der Wälder, nicht Teil der Gipfel, des Peilstein, der Gleckspitze, des Laugen und des Hasenöhrl. Er war nicht Teil des schwarzen Wassers im Zoggler-Stausee, das immerfort gegen die Ufersteine klatschte. Er war nicht Teil des Zwölf-Uhr-Mittags-Geläuts der Pfarrkirche, er war keiner der Männer, die im Schwarzen Adler ihre Wattkarten auf die Holztische knallten und nach der Bella – der Revanche der Revanche – noch ein paar schwere Kugeln in die Holzkegel der neuen Kegelbahn krachen ließen.

Haller war nicht Teil dieser Welt, das wollte er auch niemals sein. Aber sie zu beobachten, das gefiel ihm.

 

Haller nahm sein Smartphone in die Hand und wählte die Nummer der Questura in Bozen. Dann ging er über die frei hängende Treppe in den oberen Bereich des Glaskubus. Aus Michaels Zimmer tönte laute Musik.