Flo, der Flummi und das Schnack

Inhaltsverzeichnis

von Alina Bronsky

Vorlesezeit: 9 Minuten

Für Kinder ab 5 Jahren

Es fing damit an, dass Anton nicht zu Maries Geburtstagsparty eingeladen wurde. Alle anderen Kinder im Kindergarten wurden eingeladen, nur er nicht. Das heißt, fast alle anderen Kinder. An mindestens zehn Mädchen und Jungs hatte Marie die Einladungen verteilt, mit Getöse und Gekicher, damit es auch wirklich jeder mitkriegte.

Die Einladungen, das konnte Anton auch aus der Entfernung genau sehen, glitzerten in allen Regenbogenfarben. Auf jeder Karte klebte ein Luftballon und eine kleine Packung Gummibärchen. Die Glücklichen rissen die Luftballons von ihren Karten, bliesen sie auf und warfen sie in der Gegend herum. Sie stopften sich Gummibärchen in den Mund. Dabei waren Süßigkeiten im Kindergarten verboten, außer zum Geburtstag. Und Marie hatte da noch gar keinen Geburtstag, sondern erst in zwei Wochen. Am Samstag.

Anton wusste es erstens, weil alle, die eingeladen waren, den Tag der Feier einander zubrüllten: »Samstag! Samstag!« Zweitens, weil er letztes Jahr auch eingeladen war. Und drittens, weil Marie seine Nachbarin war. Das Haus, in dem sie wohnte, und das Haus, in dem Anton wohnte, standen Wand an Wand nebeneinander. Anton würde also am Samstag in zwei Wochen durch das Fenster sehen, wie Maries Mutter Luftballons am Garagentor festbindet. Und wie zehn Kinder mit Geschenken beladen an Maries Tür klingeln.

Bis zu diesem Tag. Anton hatte nach der Sache mit den Einladungen keine Lust, mit Marie zu gehen. Marie grinste bis über beide Ohren, als wüsste sie genau, was Anton dachte. Anton lief ein paar Schritte neben ihr, doch sobald niemand vom Kindergarten sie mehr sehen konnte, rannte Anton einfach los.

 

Er bog an der nächsten Straßenecke ab, rannte noch ein wenig und wurde dann langsamer. Er drehte sich um. Nun war er allein in der Straße. Marie war nicht hinterhergerannt. Und die Straße war fremd. Anton lief weiter, um an der nächsten Straßenecke nach links abzubiegen und dann irgendwo anzukommen, wo er sich wieder auskannte.

Nach dem dritten Abbiegen wusste Anton gar nicht mehr, wo er war. Dann hörte er Schritte hinter sich und dachte: Jetzt läuft sie mir doch nach!

Er drehte sich um, aber es war nicht Marie. Es war ein großer und ziemlich alter Mann. Er trug einen Anzug, eine Krawatte und unterm Arm eine dicke Aktentasche. Das Gestell seiner Brille glänzte wie Gold. Der Mann lächelte übers ganze Gesicht und streckte Anton seine Hand entgegen: »Endlich! Ich laufe Ihnen schon die ganze Zeit hinterher, Majestät! Ich suche Sie schon seit langer, langer Zeit! Ich bin so glücklich!«

Er griff Antons Hand und schüttelte sie, verbeugte sich und wiederholte immer wieder: »Endlich! Endlich!« Die Brille verrutschte ihm im Gesicht.

Anton zog seine Hand weg und steckte sie in die Hosentasche. »Was endlich?«, fragte er vorsichtig. Seine Oma hatte ihn mal gewarnt, dass es auf der Straße verrückte Menschen gebe, die Kinder

Der Mann legte die Aktentasche auf seine knochigen Knie, öffnete sie und begann, darin zu wühlen. Er holte einen angebissenen Apfel hervor und steckte ihn dann gedankenverloren in die Brusttasche seines karierten Sakkos. Er wühlte weiter und holte schließlich ein Stück Papier hervor. Es glitzerte und glänzte mehr als Maries ganze Einladungen zusammen.

Dieses Papier hielt der Mann Anton hin.

Anton nahm es. Es war ein sehr schönes und schweres Papier. Unten war ein Siegel, und eine Goldkordel mit einem Pinsel am Ende baumelte hin und her. Auf dem Papier stand etwas geschrieben. Aber Anton konnte nur Druckbuchstaben lesen. Und auch dann nur seinen Namen.

Er gab das Papier schweigend dem Mann zurück.

Der Mann winkte ab. »Das gehört doch Ihnen, Majestät! Ich habe Sie ein Jahr lang gesucht, um Ihnen die Nachricht zu überbringen!«

Anton beschloss, es einfach zu sagen. »Ich kann noch nicht lesen. Ich komm erst im August in die Schule.« Der Mann blinzelte. »Dann erlauben Sie mir, es Ihnen vorzulesen«, sagte er.

Er nahm das Papier, räusperte sich und begann laut zu lesen. Anton hörte hin. Allerdings verstand er wenig. Nur »König der Äpfel«, »glückliche Untertanen« und »bis ans Lebensende«, und auch das nicht richtig.

»Hä?«, sagte Anton. »Wer ist das, König der Äpfel?«

»Sie, Majestät«, sagte der Mann glücklich.

»Ich sicher nicht«, sagte Anton. Und es stimmte: Er war das Kind, das am wenigsten von allen wie ein König aussah. Der einzige

 

Anton wollte dem Mann erklären, dass der sich vermutlich geirrt hatte. Sicher suchte er ein ganz anderes Kind. Der Mann wollte das aber nicht hören. Der Apfelkönig, sagte der Mann, ist für alle Äpfel auf der Welt zuständig. Kein Apfel kann gepflückt und gegessen werden, ohne vom Sekretariat des Apfelkönigs gezählt zu werden. Auf jeden angebissenen Apfel gibt es eine Apfelsteuer, die in die Kasse des Königs fließt.

»Auf jeden Apfel?«, fragte Anton misstrauisch.

»Auf jeden«, nickte der Mann.

»Aber es wachsen doch überall Apfelbäume!«, sagte Anton.

»Dafür sorgen wir«, sagte der Mann. »Wir verleihen natürlich Apfelbäume. Jeder Baum ist in unseren Unterlagen aufgelistet.«

»Und was hab ich damit zu tun?«, fragte Anton.

»Majestät erlauben sich zu scherzen«, sagte der Mann und lächelte mit einem Mundwinkel.

»Aber wieso bin ich Majestät?«

»Weil Ihr Herr Vater, der Apfelkönig, vor einem Jahr von einer Leiter gefallen ist und sich den Hals gebrochen hat«, sagte der Mann. »Sehr bedauerlich. Seitdem suche ich Sie überall. Sie sind der Nachfolger, der Königssohn und nun auch neuer Apfelkönig.«

»Meine Mama hat gesagt, mein Vater ist über alle Berge, als ich ganz klein war«, beschwerte sich Anton. »Ich kenn ihn gar nicht.«

»Völlig richtig«, sagte der Mann, »der Wohnsitz des gerade verstorbenen Apfelkönigs liegt in den Bergen. Das hier, Ihre Majestät, ist Ihre königliche rechtskräftige Urkunde.«

Und der Mann winkte erneut mit dem glitzernden Papier.

»Steht da auch wirklich mein Name drin?«, fragte Anton. »Vielleicht suchen Sie einen anderen Jungen, dessen Vater über alle Berge ist.«

»Wie ist denn noch mal Ihr Name, Majestät?«

»Anton Maier. Mit ie geschrieben.«

»Steht alles so drin«, sagte der Mann zufrieden und klopfte mit dem Zeigefinger auf das Papier. »Anton Maier, mit ie geschrieben, ist unser neuer Apfelkönig.«

»Kann ich mal sehen?«, fragte Anton.

Es waren aber immer noch viel zu viele und viel zu geschwungene Buchstaben. Anton konnte immer noch nichts lesen und gab die Urkunde mit einem Seufzer zurück.

»Und was soll ich jetzt tun?«

»Was Sie mögen, Majestät. Es ist Ihre königliche Pflicht, nur das zu tun, was Ihnen beliebt.«

»Ich muss nicht sofort als Apfelkönig arbeiten?«

Der Mann lächelte. »Wer kann denn einen König zwingen zu arbeiten!«

»Ich muss auch nicht dort wohnen, wo der alte König gewohnt hat?«

»Ihre Majestät, jeder König wohnt nur und ausschließlich dort, wo er mag!«

»Und ich kann ganz normal in den Sommerferien mit Mama und ihrem Freund nach Italien?«, sagte Anton.

»Selbstverständlich, Majestät. Sie können alles ganz normal weitermachen, wenn Sie mögen.«

»Und wer regiert solange?«, fragte Anton.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Unser Apfelministerium hat alles im Griff. Sie persönlich müssen gar nichts tun. Wir warten gern, bis Sie ein etwas höheres Alter erreicht haben, um Sie in die Geschäfte einzuführen. 10, 12 Jahre. Kein Problem. Hauptsache, wir haben Sie gefunden.«

»Und bin ich jetzt reich?«, fragte Anton.

»Sehr, sehr reich. Jeder verspeiste Apfel bedeutet Apfelsteuer für Sie. Alle Apfelbäume gehören Ihnen.«

»Wirklich alle?«

Anton kratzte sich im Nacken.

»Na gut, aber ich muss jetzt nach Hause.«

»Eine königliche Idee!«, sagte der Mann.

Anton klopfte sich den Staub von der Hose.

»Dann kommen Sie später wieder, wenn ich größer bin?«, fragte er.

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte der Mann.

»Und ich werde jedes Mal reicher, wenn jemand irgendwo auf der Welt in einen Apfel beißt?«

»Mit jedem Bissen«, bestätigte der Mann. »Steht alles da drin.« Er hob die glänzende Urkunde hoch, und Anton kniff geblendet die Augen zusammen.

»Okay«, sagte Anton. »Ich glaub, ich hab mich hier verlaufen. Wissen Sie vielleicht, wie ich nach Hause komme?«

Der Mann sah sich um. »Ich bin leider auch nicht von hier, Majestät. Aber warum gehen Sie nicht da vorn rechts und dann links?«

»Okay«, sagte Anton. »Dann geh ich mal.«

 

Der Mann verbeugte sich. Er blieb stehen, als Anton nach vorn, nach rechts und dann nach links lief und plötzlich die Straße erkannte, die seine eigene Straße kreuzte. Anton rannte nach Hause.

Er lief an Maries Haus vorbei. Obwohl er nicht hingesehen hatte, merkte er, dass Marie im Garten war und gerade auf einen Apfelbaum kletterte. An den Zweigen hingen schon kleine grüne Äpfel.

»Wo warst du?«, schrie Marie über den Zaun. »Ich wollte dir noch was geben!«

Anton antwortete nicht. Er hämmerte an seine Tür. Oma machte auf und schimpfte, wo er denn gewesen sei. Anton hörte nicht hin, sondern dachte: Marie weiß gar nicht, dass sie gerade auf einen Baum klettert, der eigentlich mir gehört.

Ein König musste nicht laut schreien, dass er ein König war. Es reichte, dass er es selber wusste.

 

von Feridun Zaimoglu

Vorlesezeit: 13 Minuten

Für Kinder ab 5 Jahren

Annmarie hatte beschlossen, auf dem dicksten Ast des größten Baums im Garten zu leben – sie kletterte eines Morgens hinauf, und rief ihrer Mutter zu, dass sie sich die Haare oben bei den Vögeln kämmen wolle. Die Mutter reichte ihr den Kamm und dazu einen feuchten Waschlappen, sie sagte: Die Vögel kommen nicht zu einem Mädchen mit schmutzigem Hals. Annmarie wusste, die Amseln und Spatzen putzten ihr Gefieder, sie badeten manchmal in der kleinen Pfütze, und sie flogen erst dann wieder weg, wenn der dicke Kater Mozart vom Nachbargarten herüberkam. Mozart sah aus, als würde er die Backen aufblasen, dabei schnaufte er nur leise, denn er war immer etwas traurig, weil er seltsame Sachen träumte.

 

Annmarie kämmte sich das Haar, rieb mit dem Lappen Hals und Stirn sauber, und als sie nach unten blickte, sah sie den Kater mit den dicken Backen an Grashalmen kauen. Sie fragte ihn, wieso er das tat, sie bekam keine Antwort, stattdessen erzählte Mozart ihr von dem Traum. Er hatte geträumt, dass er in einer großen Teigschüssel lag und schlief. Was ist daran so eigenartig? fragte Annmarie. Der Kater sagte: Andere Katzen träumen, dass sie aus dem vollen Napf fressen, ich träume, dass ich schlafe. Annmarie musste darüber nachdenken. Wie immer, wenn sie grübelte, malte sie mit dem Finger Kreise in die Luft. Mozart starrte sie an,

 

Die Schüssel stand für viel Futter, darüber könnte der Kater sich freuen. Tatsächlich wurden Mozarts Backen dicker, und plötzlich musste er gähnen, und weil Gähnen ansteckend ist, gähnte auch Annmarie, und auch ihre Mutter, die auf der Terrasse die Topfpflanzen begoss, gähnte. Es war noch früh am Morgen, die Menschen und die Kater brauchten noch etwas Zeit, um richtig wach zu werden.

 

Annmarie hatte entschieden, auf dem Baum zu leben, aber langsam wurde ihr langweilig, sie starrte eine Libelle an, dann starrte sie auf zwei Ameisen, die sich verirrt hatten und nun stritten, wie sie am besten zum Ameisenhügel zurückfanden, Mozart schnüffelte an Blumen, er streckte sich, er schnüffelte an Grashalmen. Schließlich schlief er ein. Als hätte sie nur darauf gewartet, summte die kluge Mücke Iliane – das war Annmaries zweitbeste Freundin, sie versteckte sich unter der Kuppe des rechten kleinen Fingers von Annmarie. Sie blieb immer unentdeckt, niemand konnte sie sonst sehen, nicht die Mutter und der Vater, nicht Mozart und nicht Tausendschönchen. Tausendschönchen lebte in der Schneekugel, und die Schneekugel steckte fast immer in Annmaries Tasche.

 

Die Mücke Iliane sagte: Es könnte sein, dass es heute regnet. Dann spielen wir unser Lieblingsspiel und zählen die Regentropfen an den Zweigen. Einmal hatten sie die Regentropfen an Mozarts Barthaaren gezählt und waren auf die Zahl vierzehn gekommen. Annmarie reichte den Lappen herunter, ihre Mutter gab ihr Marmeladenbrötchen und hielt ihr die Hausschuhe hin, sie schlüpfte hinein; jetzt war sie etwas durcheinander, weil fast alle ihre Freunde zusammengekommen waren. Mozart träumte zu Füßen des Baumes. Tausendschönchen schlief in der

 

Der rechte Hausschuh Hilde sprach von dem Nachbarjungen, der sich auf die Vorderzähne klopfte, weil er seit Kurzem eine Zahnspange trug. Er schämte sich. Hilde sagte, er glaube, er würde mit der Spange wie ein kleines Monster aussehen. Annmarie musste grübeln. Dieser Junge, Muckmuck, war ein Jahr älter als sie, er hatte Sommersprossen auf der Nase, die sie unbedingt zählen wollte. Sie musste sich mit ihm anfreunden, also weckte sie Mozart, wartete, bis er mit dem Gähnen fertig war, und dann bat sie ihn, sein Herrchen herzubringen. Mozart sollte ihm ausrichten, es sei genug Platz auf dem Ast, auf dem sie saß.

 

Der Kater schnappte nach Pollen, die durch den Garten flogen, er spitzte die Ohren, weil Annmaries Mutter im Bad ihre Haare föhnte, er wurde wieder müde, aber er erinnerte sich an die Bitte seiner Freundin. Mozart lief im Zickzack, schlüpfte durch die Hecke, und entdeckte auf dem leuchtend grünen Schemel seinen besten Freund Muckmuck. Mozart sagte: Annchen Mariechen möchte dich pfoten … Muckmuck übersetzte es in die Menschensprache: Annmarie möchte dich sehen.

 

Wenig später saß er neben Annmarie auf dem Ast, ihre Mutter reichte ihm zwei halbe Marmeladenbrötchen, er teilte sie mit seiner neuen Freundin, die ihm beim Essen auf die Nase starrte. Plötzlich rief sie: Fünfzehneinhalb! Muckmuck wäre fast heruntergefallen. Er bekam einen Schluckauf, sie riet ihm die Backen aufzublasen und die Zeigefinger in die Ohren zu stecken, dann würde er nicht mehr hicksen. Es half nichts. Hilde schlug vor, er

 

Muckmuck dachte an seinen Vater, der einmal eine verletzte Krähe nach Hause gebracht und sie gesund gepflegt hatte. Er erzählte Annmarie diese Geschichte, natürlich dauerte es sehr lange, weil er immer wieder hicksen musste. Tausendschönchen war erwacht, und es lauschte Muckmucks Geschichte, es war ein weißer Vogel mit spitzem Schnabel, es sah aus wie ein Storch mit kurzen Beinen. Jeder, der es sah, konnte den Blick nicht von ihm abwenden, deshalb hatte Annmarie den Vogel Tausendschönchen genannt. Sie holte die Schneekugel aus ihrer Tasche, schüttelte sie, die kleinen weißen Flocken rieselten herunter, und ein paar Flöckchen fielen auf den spitzen Schnabel. Das fesselte Muckmuck so sehr, dass er den Schluckauf loswurde, er klatschte vor Freude in die Hände. Er sagte: Ich möchte die Geschichte zu Ende erzählen.

 

Es war nicht Vater, der die Krähe gefunden hatte, sondern die Krähe hat uns gefunden. Sie hatte sich am Bein und am Flügel verletzt. Eines Tages hörten wir Klopfgeräusche. Wir gingen alle raus, meine Mutter, mein Vater und ich, und da sahen wir sie, die Krähe. Sie klopfte gegen einen Pfahl des Gartenzauns. Ich verstand es sofort, sie wollte von uns aufgenommen werden. Erst war sie scheu, sie kannte die Menschen, weil sie von den Baumwipfeln uns Menschen anstarrte. Aber sie war nicht daran gewöhnt, dass man näher als drei Schritte an sie herankam. Sie krähte, weil mein Vater sie anfassen musste, um die Wunden zu versorgen. Sie krähte, als meine Mutter ihr klein gerupftes Brot vor den Schnabel streute. Sie krähte, weil ich neben ihrem weichen Nest saß und mit ihr sprach. Ich sagte zu ihr: Hab keine Angst, wir wollen dich gesund pflegen. Dann kannst du wieder auf das Dach fliegen und uns anstarren. Die ersten Tage waren für das Krähchen schwierig, ach so, ich habe die Krähe Krähchen genannt.

 

 

Ich war traurig, als Krähchen wegflog. Aber das Schöne ist, dass sie mich jeden Tag besucht. Schaut, dort sitzt sie, auf der Eiche … Sie alle schauten hin, sie sahen Krähchen auf dem Ast sitzen und sie anstarren. Annmarie sagte: Fliegt sie zu uns, wenn wir sie einladen? Muckmuck winkte dem Vogel zu, der schwarze Vogel hob kurz die Schwingen, ruckte mit dem Kopf und krähte. Wolken zogen auf, bald würde ein Sommerregen niedergehen. Annmarie beschloss, auf den zweitdicksten Ast umzuziehen, und als sie und ihre Freunde auf dem Ast saßen, kam ihre Mutter in den Garten und sagte: Wenn es regnet, musst du wieder ins Haus, dann könnt ihr in deinem Zimmer spielen …

 

Das war Annmarie nicht recht, sie hatte sich lange auf diesen Tag vorbereitet, sie hatte sich ausgemalt, wie es sein würde, auf den Baum zu klettern und unter dem Blätterdach zu leben. Sie verstand die Krähe, sie verstand alle Vögel: Von oben betrachtet wurde alles kleiner, und je kleiner die Dinge wurden, desto besser fühlte man sich.

 

Krähchen flog auf und landete vor dem Gartenzaun, sie pickte Brotkrümel, die Muckmucks Vater, Herr Voss, auf dem Weg zur Arbeit absichtlich hatte fallen lassen. Immer dann, wenn Annmarie Herrn Voss begegnete, starrte sie seinen Schnurrbart an. Bestimmt hatte Herr Voss eine dunkle Raupe lieb gewonnen und sie sich an die Oberlippe geklebt. Aber die Raupe bewegte sich nie,

 

Annmarie und Muckmuck waren so vertieft in das Gespräch, dass sie nicht bemerkt hatten, wie Krähchen näher gekommen war. Jetzt flog die Krähe auf den drittdicksten Ast und starrte herunter. Der linke Hausschuh Hugo sagte: Will sie spielen? Der rechte Hausschuh Hilde sagte: Vielleicht hat sie Hunger auf Marmeladenbrötchen. Tausendschönchen sagte: Ich liebe Aprikosenmarmelade. Mozart schwieg, er schlief und träumte zum ersten Mal in seinem Katzenleben von einem großen Napf voller Hackfleischbällchen.

 

Was sagte die kluge Mücke? Sie sagte: Sie tut uns nichts, sie will aber auch nicht spielen, sie beäugt uns, weil wir die neuen Freunde von Muckmuck sind … Dann schwiegen alle, nur Mozart hatte die Augen geschlossen, die anderen starrten Krähchen an. Plötzlich reckte Muckmuck den Arm, und Krähchen sprang auf seine Hand. Annmarie stellte sich und ihre Freunde vor, und jedes Mal, wenn sie einen Namen sagte, nickte die Krähe, es sah aus, als würde sie die Schnabelspitze in ihrem Brustgefieder verstecken. Dort kraulte sie Muckmuck eine Zeit lang, und weil Krähchen immer noch schwieg, sagte Annmarie: Wieso bist du schwarz? Meine Krallen, meine Beine, mein Schnabel und meine

 

Auch Herr Voss stand still, er war früher von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt. Frau Voss stand neben ihm, sie hatte ihre Fingernägel lackiert und spreizte die Finger, damit der Lack trocknete und nicht verschmierte. Die Erwachsenen konnten sich nicht satt sehen, denn sie hatten noch nie erlebt, dass zwei Kinder und eine Krähe friedlich beieinander saßen. Frau und Herr Voss lächelten. Annmaries Mutter lächelte. Die kluge Mücke Iliane summte. Auf Tausendschönchen rieselten weiße Flöckchen. Die sprechenden Pantoffeln Hilde und Hugo zappelten. Muckmuck klopfte gegen seine Zahnspange. Annmarie kraulte Krähchens Brust. In diesem Augenblick waren sie alle sehr glücklich.

 

von Lena Gorelik

Vorlesezeit: 8 Minuten

Für Kinder ab 3 Jahren

Die Jungs konnten nicht einschlafen. Es war jeden Abend dieselbe Geschichte: Sie sollten ins Bett, aber sie waren nicht müde. Die Jungs konnten nichts dafür. Es waren ihre Körper, wirklich. Bei Milan waren es die Augen. Sie gingen einfach nicht zu. Oder anders gesagt: Sie gingen immer wieder auf. Er gab sich ehrlich Mühe. Er schloss sie. Und sie gingen von selbst wieder auf. Bei Elias waren es die Finger, die sich immer bewegen wollten. Das taten sie von ganz alleine, das war keine Absicht. Deshalb bat er darum, ein Auto mit ins Bett nehmen zu dürfen. So konnten seine Finger die Räder drehen, die Türen auf- und zumachen und über die Fenster streichen. Bei Oscar waren es die Füße, die schrien, ziemlich laut sogar, dass sie hüpfen müssten, auf der Matratze, auf und ab, und immer höher. Jeden Abend dieselbe Geschichte, und jeden Abend mussten die Jungs hören: »Jetzt ist aber Ruhe!« Aber es waren ja ihre Körper.

Manchmal sagte Milans Körper: »Ich muss noch einmal Pipi.« Dann erinnerten sich die Körper der anderen beiden sofort daran, dass sie ebenfalls noch einmal auf die Toilette wollten. Wenn sie sich alle wieder hingelegt hatten, erinnerte sich Elias’ Körper daran, dass er Durst hatte, ganz schrecklichen Durst. Dann

Weil sie nicht schlafen konnten, unterhielten sich die Jungs. Elias lag auf seinem Lieblingskissen, ohne das er nie schlafen wollte. Oscar hatte seinen Hund im Arm, den Nono. Milan schlief mit dem Eisbären, der einfach nur »der Eisbär« hieß. Oscar und Milan sprachen darüber, welche Rutsche im Freibad die schnellste sei, und Elias erzählte ihnen, dass er mal Feuerwehrmann werden wolle, wenn er ein Erwachsener ist, und alles andere im Übrigen auch, also Lokführer zum Beispiel. Und alle drei wussten sie ganz sicher, dass sie nicht ins Bett gehen würden, solange sie nicht müde waren, wenn sie erst erwachsen sind.

 

An einem Abend, der so war wie alle anderen Abende auch, unterhielten sie sich über Afrika. Und Tiere. Wilde Tiere. Schnelle Tiere und so. Tiger und Löwen und Antilopen. Elefanten und Schlangen. Da polterte es plötzlich, direkt am Fenster. Ziemlich laut sogar. So laut, dass es wohl auch im Wohnzimmer zu hören war, denn die Mami rief: »Was ist nun schon wieder los?« Sie klang etwas genervt. Noch nicht so genervt, dass sie gleich durch die Tür kommen und schimpfen würde, aber so, dass die Jungs dachten, sie sollten besser keinen Lärm machen. Aber der Lärm eben war auch nicht ihre Schuld gewesen. »Nichts ist los!«, riefen die Jungs, erst einer, und dann die anderen beiden, und während sie das noch riefen, setzten sie sich auf und drehten sich zum Fenster um – und erschraken alle drei gleichzeitig. Durch das Fenster sprang ein Tiger. Ein Tiger! Ein echter, echter Tiger! Die Jungs sagten nichts, weil ihnen nichts einfiel. Der Tiger blickte drein wie sie: verdutzt.