Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2020
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ISBN 978-3-644-00324-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00324-8
Für Marlene
An dem Tag, der mein Leben schräg machte, trug ich ein rotes Kleid und versuchte mir vorzustellen, wie eine Dörrpflaume aussieht. Es war Sonntag, der 22. Juni 1986. Wenn man acht Jahre alt ist, wird man nicht oft dazu aufgefordert, sich eine Dörrpflaume vorzustellen. Genau genommen wird man sowieso nicht oft dazu aufgefordert, erst recht nicht an einem Sonntag. Aber an diesem Sonntag war alles anders.
«Wenn die Menschen nur noch mit sich selbst beschäftigt sind, dann vertrocknen sie. Innerlich. Wie eine Dörrpflaume. Stell dir das mal vor, Ella!», sagte Mina urplötzlich mit einer Stachelbeere im Mund, die sie von rechts nach links schob.
Es war gar nicht so leicht, sich das vorzustellen, und vorbereitet war ich auf diese Aufgabe auch nicht. Im Grunde, das wusste ich irgendwann, konnte man sich ja nie so richtig vorbereiten. Irgendetwas gab es immer, das sich dazwischenmogelte und das Vorbereitete zum Auslüften an den nächsten Baum hängte.
«Mhmh», antwortete ich. Mina sagte oft Sätze mit Bedeutung, hinter die ich erst kommen musste, und sie legte dabei dieses beschwingte Gesicht auf, als wäre sie ein Quizmaster, der einem absichtlich geholfen hatte, den Hauptpreis zu gewinnen.
Mina und ich hatten einen ganzen Korb voll Stachelbeeren gepflückt und sortierten sie in der Kochmulde des Häuschens aus. Der Stachelbeerbusch war mindestens so alt wie Mina, für meine Begriffe ziemlich alt, gut und gerne sechzig, und die zwei ähnelten sich sogar, mit den knorrigen Ästen und Armen, und rund waren auch beide, was, wie Mina mir erklärte, an den Wurzeln lag. Das verstand ich zwar damals auch wieder nicht, aber wenn Mina es sagte, würde es schon stimmen.
Beim Stachelbeerenaussortieren fühlte ich mich immer ein bisschen wie Aschenputtel. Die guten links, die schlechten rechts, ich dazwischen, mit rotem Kleid und Kopftuch. Draußen klopften die Ringeltauben an die Fensterscheiben, und später, wenn die fast unlösbare Aufgabe erledigt wäre, zöge die gute Fee Mina überraschend ihren Zauberstab hervor, zauberte mir das Kleid, die Schuhe und die Kutsche – und dann, stellte ich mir vor, zauberte sie den Prinzen. Märchen Ende. Märchen enden ja immer damit, dass sich zwei gefunden hatten. Dann war es, bums, aus und vorbei mit der Geschichte und sie lebten glücklich. Punkt. Irgendwie war das doch merkwürdig. Die konnten doch nicht einfach bloß lebenslang auf dem Thrönchen hocken und sich freuen. Das war doch völliger Käse. Aschenputtel und ihr Prinz auf großer Reise. Oder die beiden im Streit mit fliegenden Tellern. Oder Prinz und Prinzessin beim Einkaufen, im Freibad, beim Zahnarzt, abends auf dem Sofa mit Chips und Plänen für eine Zukunft. Eine Fortsetzung gab es in keinem Märchen, in gar keinem.
Trotz meiner Einwände, was die Logik betraf, gefiel es mir, mich wie Aschenputtel beim Stachelbeerenaussortieren zu fühlen, auch wenn man mit acht nicht mehr so recht an Märchen glaubt. Nur noch ein bisschen. Aber ein bisschen von etwas reicht manchmal ja auch schon aus. Also versuchte ich mir ein bisschen eine Dörrpflaume vorzustellen und dann jemanden, der von innen her vertrocknete, und nach einer Weile fielen mir zuerst der Bergmann und dann meine Mutter ein, und dann ahnte ich, was Mina meinte.
Man kann es ganz schön lustig finden, wenn man ahnt, dass seine Mutter sich aller Voraussicht nach in eine Dörrpflaume verwandeln wird. Eines Tages, wenn ich aus der Schule nach Hause käme, würde sie am Herd stehen, meinen Bruder an der Pflaumenhand halten und wahrscheinlich wäre sie zu einem ulkigen, runzligen Ding geworden, das dieselben Sachen machte wie meine Mutter, nur eben als riesige Dörrpflaume. Sie würde meinen Bruder auf sich reiten lassen; wie ein Hüpftier würde sie durch die Wohnung und an mir vorbei galoppieren, und rufen: «Essen steht auf dem Tisch!», und dann würde sie nicht mehr so viel sagen, weil man das als Dörrpflaume verlernt, das war mir bereits aufgefallen. Vielleicht aber könnte sie sich eines Tages wieder zurückverwandeln, wenn sie nur lange genug vertrocknet gewesen war oder sie jemand in ein Schüsselchen mit warmem Wasser gelegt hatte. Vielleicht waren ja nicht alle Märchen am Ende zu Ende.
Ich machte mir fast in die Hosen vor Lachen wegen der galoppierenden Dörrpflaume und ließ ein paar Stachelbeeren fallen, die für immer verloren waren. Denn was einmal unter die Eckbank des Häuschens rollte, das verschwand dort. Hatte ich im Gefühl. Das war mir nämlich schon mit einem roten Püppchen vom Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel so gegangen, und mit mindestens dreizehn Murmeln ebenfalls, und es wäre mir auch fast mit Boy George so gegangen, den ich im Sommer vor drei Jahren auf einem Stein unter dem Holunderbusch gefunden hatte, als ich erst fünf Jahre alt gewesen war.
An einem frühen Vormittag lag er einfach da, und ich dachte erst, er wäre tot, war er aber nicht, er zuckte nämlich mit dem linken Hinterbein, was eindeutig verriet, dass er noch lebte. So viel wusste ich immerhin und dass er sich bloß mit Sonnenenergie auflud auch, weil ich das mit den wechselwarmen Tieren bei der Sendung mit der Maus sehr aufmerksam verfolgt hatte. Mir gefielen Krokodile und Schildkröten und Dinosaurier. Sie verursachten mir so ein nach Abenteuer schmeckendes Gefühl im Magen, was ich aber keinem erzählte, selbst Mina nicht. Im Kindergarten schleppten alle ihre Kuscheltiere durch die Gegend, wünschten sich Pferde und Hamster und sagten ständig «süüüüß». Zumindest die Mädchen. Ich nicht. Ich wünschte mir ein Krokodil in der Badewanne, das lautlos im Wasser treiben würde und das ich stundenlang beim Nichtstun beobachten könnte. Eine Schildkröte wäre auch toll gewesen. Oder ein Komodowaran, auf dem hätte ich sogar reiten können, wie auf einem Drachen mit giftiger Spucke. Dann wäre ich mit ihm die ganze Schrebergartensiedlung rauf- und wieder runtermarschiert, das hätte was hergemacht. Pferd konnte ja schließlich jeder. Und Mäuse oder Meerschweinchen liefen die ganze Zeit nur nervös in ihren Käfigen herum, drehten Runden in ihren Laufrädern, in denen sie sich fast überschlugen, und das machte mich kribbelig. Da schlich sich immer diese Unruhe in meine Füße, und für Unruhe war ich einfach nicht gemacht.
Dass ich Boy George fand, war also ein Segen, ein Wink des Schicksals, wenn man so will, und ich beobachtete ihn lange auf dem Stein unter dem Holunderbusch dabei, wie er sich auflud. Seine schuppige Haut funkelte smaragdgrün, er war eine schillernde Persönlichkeit unter den Reptilien. Deswegen nannte ich die Eidechse Boy George. Meine Mutter hörte Boy George oft im Radio, wenn sie Mittagessen machte oder putzte. Einmal zeigte sie ihn mir in einer Zeitschrift, und Boy George hatte große Ähnlichkeit mit Boy George. Ich beschloss, Boy George mit in das Schrebergartenhäuschen zu nehmen und ihn groß und stark zu füttern, bis er mindestens zu einem halben Krokodil heranwuchs. Immerhin, fand ich, stand mir endlich auch ein Haustier zu, und das Häuschen konnte ein bisschen Reptilienglitzerfarbe vertragen. Was man eben mit fünf so findet.
Es war gar nicht schwierig, Boy George von dem Stein zu pflücken, und er fühlte sich ganz warm und weich an. Er passte perfekt zwischen meine geschlossenen Hände, nur die Schwanzspitze schwang sich wie ein winziger, grüner Ring um meinen Daumen. Ich war ziemlich stolz, dass ich das schaffte, ohne dass sich dabei jemand weh tat. Weder Boy George. Noch ich. Auf dem Weg vom Holunderbusch zum Häuschen redete ich beruhigend auf ihn ein und sagte so was wie: «Alles gut!», «Nicht aufregen!», «Gleich hamwas geschafft!», und er blieb ganz still in meinen Händen sitzen. Ein bisschen mulmig war mir allerdings schon, denn man konnte schließlich nie wissen, ob etwas Ruhiges nicht doch völlig unvermittelt ausflippt. Insbesondere bei Reptilien musste man da vorsichtig sein, aber es ging alles gut.
Ich setzte mein Häuschentier vorsichtig ab, und Boy George flitzte wie wild auf dem Linoleumboden herum. Vielleicht hatte, anstelle der Sonne, ich ihn mit meiner Handwärme aufgeladen. Es machte mich so glücklich, jemanden, der bloß ganz steif dagelegen hatte, nur mit der Kraft meiner Hände zum Leben zu erwecken, dass ich das mit dem Heilen und Erwecken später noch öfter ausprobierte. Es klappte aber nie wieder so wie bei Boy George. Er wetzte mit Düsenantrieb überall umher, dann kehrte er um, setzte sich vor mich, zuckelte mit dem Köpfchen hin und her, und ich war sicher, er würde gleich mit mir sprechen. So sah es zumindest aus. Aber statt auch nur einen Pieps von sich zu geben, lief er schnurstracks unter die Eckbank. Weg war Boy George.
Ich rief und rief nach ihm und versuchte, ihn wie ein Kätzchen zu locken. Aber dann fiel mir ein, dass ich an Boy George gar keine Ohren gesehen hatte, weswegen er mich ja wahrscheinlich auch nicht hören konnte, und deswegen besorgte ich mir Minas Taschenlampe und gab ihm Leuchtzeichen. Mina sagte, obwohl sie selbst nicht so ganz daran glaubte, ich solle mal abwarten, er würde schon wieder rauskommen. Tat er aber nicht, und ich gab es nach ein paar Tagen sehr beleidigt auf, nach ihm zu suchen.
Im Gegensatz zu allen anderen Dingen fand ich ihn ein halbes Jahr später auf der Eckbank wieder. Er hatte es sich offenbar vor längerer Zeit zwischen zwei rot karierten Sofakissen gemütlich gemacht und steckte wie eine verschrumpelte Scheibe Salami in einem rot karierten Brötchen.
Mina und ich begruben den mumifizierten Boy George unter dem Apfelbaum in einem Eierkarton, direkt neben der Spitzmaus, dem Schmetterling, der Blaumeise und dem Familiengrab der Marienkäfer. Wir sangen bei unseren Beisetzungen sonst immer Hänschen klein ging allein, in die weite Welt hinein. Für Boy George hatte Mina aber extra Do you really want to hurt me aus dem Radio aufgenommen, das ein bisschen so klang, als wäre der singende Boy George auch sehr traurig über den Eierkarton, weil die uralte Kassette ziemlich leierte. Mina hatte uns zwei ihrer schwarzen Schals von zu Hause mitgebracht, die wir trugen, während wir sehr andächtig unter dem Apfelbaum standen. Meistens weinte ich ein bisschen bei unseren Trauerfeiern. Besonders aber nahm mich die Beerdigung von Boy George mit, auch weil als Salami von seinem Glitzern nicht mehr so viel übrig gewesen war und er nun niemals halb so groß wie ein Krokodil werden würde.
Boy George war die einzige Ausnahme der verlorenen Dinge, da er doch wieder auftauchte, nachdem er unter die Eckbank des Gartenhäuschens geraten war. Mina und ich unternahmen regelmäßig ausgiebige Expeditionen unter die Eckbank, wir krabbelten auf dem Boden herum, und ich quetschte mich in die hintersten Winkel, dorthin, wo Mina nicht mehr hinkam, und sie rief mir von weiter vorne zu: «Aber nicht, dass du auch noch verlorengehst, Ella! Ich halte dich mal besser am Knöchel fest.»
«Ja, Mina!», antwortete ich etwas beruhigt, aber möglicherweise war es so, dass größere Dinge als Boy George sowieso nicht einfach von der Eckbank verschluckt werden konnten.
«Und du halt dich am Tischbein fest, ja?»
«Is gut.»
Und so hielt sich Mina mit der einen Hand am Tischbein, mit der anderen Hand an meinem Knöchel fest, und ich leuchtete mit der Taschenlampe überall hin. Wir fanden trotzdem nichts wieder. Auch nicht Minas Hörgerät, und ich glaube, sie hatte es extra unter die Eckbank geworfen, weil sie ja wusste, dass es dann weg wäre. Nach unseren Abenteuern auf dem Häuschenboden malten wir uns aus, wohin all das Weggerollte verschwunden war, und wir kamen immer zu dem Schluss, dass es eine große, sonnenbeschienene Phantasiewiese geben musste, mit roten Spielpüppchen und Murmeln und Hörgeräten und einer Stachelbeerhalde, die größer als die Kiesgrube am Ende der Schrebergartenanlage sein musste. Schön war das. Ich liebte unsere Eckbankexpeditionen, mit Minas warmer Hand an meinem Knöchel, und wie wir beide im Schein der Taschenlampe aussahen.
Ich kicherte immer noch über die ulkige Verwandlung, die meiner Mutter bevorstand. Mina lächelte still ins Dämmrige und in mein Kichern hinein. Das tat Mina oft, öfter als andere Menschen, und auch viel besser, und ich glaubte, dass eigentlich nur Engel so still lächeln konnten. Wenn man Engel lächeln sieht, dann geht es einem gut. Das weiß schließlich jeder. Ich versuchte es mir nach und nach auch anzugewöhnen, übte sogar manchmal heimlich vor dem Spiegel im Flur, weil ich fand, dass es nicht schlecht sein konnte, hin und wieder ein stilles Engellächeln aus der Tasche zu zaubern. Wenn ich groß war, wollte ich es genauso gut können wie Mina, und ich wollte dieselben Falten an den Augen haben wie sie, weil es nur mit den Falten richtig gut aussah. Gerade so, als würden sie das Lächeln einrahmen. Für hübsche Bilder und andere wichtige Dinge musste man schließlich einen passenden Rahmen finden, wie für Opa Hans. Opa Hans steckte in einem runden Rähmchen in Minas Wohnungsflur, weil der Rahmen das Foto noch wichtiger und vor allem noch hübscher machte. Richtig perfekt beherrschte ich das Lächeln noch nicht, denn mir fehlten ja die Falten, aber Minas stilles Lächeln, das war für mich wie Weihnachten. Es kribbelte im Bauch. Und deswegen wollte ich es unbedingt auch können.
Muffig roch es im kleinen Häuschen, und weil Mina immer am Strom sparte, war es so schummerig, dass ich die Stachelbeeren, die wir sortierten, fast nicht sehen konnte. Nur fühlen. Und Minas Lächeln, das hätte man selbst als blinde Dörrpflaume gefühlt. Davon war ich überzeugt.
Der knorrige Apfelbaum, unter dem Boy George im Eierkarton lag und der links seitlich hinter dem Häuschen vor hundert oder mehr Jahren gepflanzt worden war, streckte seine langen Äste bis an das Fensterbrett. Im Herbst konnte man die Äpfel von der winzigen Kochmulde aus pflücken, wenn man sich ein bisschen streckte und auf die Zehenspitzen stellte. Im Frühling rieselten weiße Blütenblätter durchs Fenster, die Mina immer ein bisschen ärgerten. Ich freute mich über den Blütenblätterschnee im April, Mina seufzte dann nur und schubste ihn stöhnend in ihr verbeultes Kehrblech. Manchmal ließ sie aber eine Handvoll über meinen Kopf rieseln, und wir spielten vierter Advent und legten dem roten Kater, der ab und zu im Häuschen vorbeischaute, Minas Perlenkette über den Pelz, als wäre er unser Weihnachtsbaum. Nur Kugeln hatten wir keine. Der Kater ertrug unsere Feierlichkeiten mit einem stummen Katzenblick. Später setzten wir uns zu ihm, zündeten eine Kerze an, Mina hielt meine Hand, wie man es an Adventssonntagen im April macht, und ich spürte ihren Herzschlag auf meiner Handfläche puckern, der mich so friedlich machte, dass die Jahreszeit völlig egal wurde. Mina schaffte das immer mit ihrem Herzpuckern, egal was passierte.
Licht ließ der Apfelbaum nicht viel in das mit weißen Kacheln verklinkerte Häuschen. Manchmal, bei schlechtem Wetter, hätte man meinen können, es wäre draußen schon fast Nacht. Auch weil der Bergmann immer so laut zu uns hereinschnarchte.
Woher der Bergmann kam, das wusste niemand mehr so genau. Er hatte vermutlich irgendwann zu meiner Tante Klara gehört und dann hatte sie ihn wohl eines Tages im Schrebergarten vergessen wie ein Brillenetui. Man kann schnell etwas vergessen und liegenlassen, wenn man es nicht gerade dringend benötigt.
Morgens, an den Wochenenden, begrüßte uns der Bergmann bereits mit «Guten Morgen, die Damen!», wenn wir das Gartentörchen noch nicht ganz hinter uns geschlossen hatten. Manchmal sagte er auch «Wohlan!». Am besten fand ich aber «Glück auf, kleines Schätzeken!», weil der Bergmann so sehr lispelte, dass man dreimal seine Zunge dabei sehen konnte, wie bei einer Ringelnatter, und was mit Glück konnte außerdem nicht schlecht sein.
Weil Dinge, die vergessen worden waren, dringend ihre Ruhe benötigen, lag der Bergmann nun seit Jahren meistens im Liegestuhl vor Minas Schrebergartenhäuschen auf dem feinziselierten Rasen und schnarchte. Ich beobachtete ab und zu, wie gut der Bergmann beim Schlafen die Luft anhalten und danach husten konnte, dass es einen ein bisschen ekelte. Seine Füße steckten immer in ausgeleierten, beigen Halbsandalen, die nur und ausschließlich an ältere Herrschaften verkauft werden durften, hatte mein Vater mir im Vertrauen gesagt und sich selbst vorgenommen, niemals solche Sandalen zu tragen. Selbst mit einhundertfünf nicht. Ich fand die Schuhe eigentlich gar nicht so schlecht, wenn man nicht seine Füße hätte sehen können. Die Zehen des Bergmanns schauten schüchtern durch das Kunstleder in den Garten hinein, und an ihrer Stelle hätte ich mich auch lieber verkrochen. Gelbe Hornhaut wickelte die Zehen von unten ein, oben sprossen schwarze Borsten hervor, die Nägel waren dick wie Bierdeckel und obendrein so verbogen, fast verbeult, dass man sich als Zehen dafür schämen musste, Zehen zu sein. Zumindest ich hätte mich sehr dafür geschämt, aber das war kein Wunder, denn das mit dem Schämen konnte ich ganz gut. Mina überlegte hin und wieder, den Bergmann zum Kauf neuer Schuhe zu bewegen, damit zumindest seine Zehen ein ordentliches Zuhause bekamen und sich ihre Schüchternheit nicht mehr ansehen lassen mussten, aber dann ließ sie ihn einfach in Ruhe damit.
Wenn der Bergmann nicht schlief, kümmerte er sich um den Garten und ziselierte den Rasen und fegte die Eingangsplatten und reparierte den Rosenbogen. Was man eben so macht, wenn man vergessen worden ist. Ich wusste nicht genau, ob er eine eigene Wohnung hatte oder ob er immer im Schrebergarten lebte, aber er störte ja nicht weiter. Genau das dachte sich wohl auch Mina: Er stört nicht weiter, lass den Manfred ruhig dort liegen oder ziselieren, wird schon alles seine Richtigkeit haben, dass er hier seine Endstation gefunden hat.
Nur mit seinem nackten Oberkörper, mit dem konnte sie nicht viel anfangen. Er legte beim Sonnenbraten immer sein T-Shirt wie ein Handtuch auf den Liegestuhl, und die Schweißperlen rollten über seinen dicken Bauch.
Der Bergmann war der braunste Mensch, den ich bis dahin je gesehen hatte, und es beeindruckte mich, wie seine Haut sich immer mehr in Leder verwandelte und fast so aussah wie Boy George nach seinem Ableben. Manfred vertrocknete von außen nach innen, verstand ich plötzlich an diesem Sonntag, weil ich ja über Dörrpflaumen nachgedacht hatte. Es hätte ihn ja auch mal jemand gießen können, vielleicht hätte das noch geholfen, aber daran dachte ich damals nicht. Und sonst auch niemand.
Manfred schien ganz glücklich zu sein, wie er so dalag und schnarchte und vertrocknete und ziselierte und manchmal Engelbert in den Kassettenspieler legte und zu Please, release me in seinen schwarzen Schnauzbart summte. Please, release me, let me go. For I don’t love you anymore. Er schwofte bisweilen sogar ein bisschen, immer nur mit sich selbst, als hielte er eine wunderschöne Frau im Arm, und quetschte ein paar Tanzschritte aus seinen Sandalen. Er dachte dabei an Tante Klara und dass sie sich beim Tanztee kennengelernt hatten, weil es beim Tanzen gut funktionieren kann, das Kennenlernen. Tante Klara wusste das, deswegen ging sie sehr häufig zum Tanzen und vergaß einen Mann im Schrebergarten, einen anderen im Baumarkt, und noch ein anderer vergaß wiederum für Tante Klara sein Bankkonto in der Schweiz, was Tante Klara sehr reich und auch sehr gut im Tanzen und Kennenlernen machte. Mina sagte immer, das wäre ganz und gar nicht die feine englische Art. Aber Tante Klara dachte das sehr wohl, und so beließ sie es dabei. Manfred war ja trotzdem heilfroh gewesen über diese Tanzteenachmittage mit Engelbert und Sahne im Kaffee und das helle Tageslicht. Ich erwartete, dass Manfred allerspätestens im nächsten Sommer wie Boy George in der Ritze des Liegestuhls klemmen würde, weil man ihm förmlich beim Verschrumpeln zuschauen konnte. Das würde bestimmt schneller gehen, als wir alle dachten.
Vielleicht lag Manfred deswegen so oft in der Sonne, weil er früher Bergmann gewesen war. Von denen gab es hier viele, sogar ganze Siedlungen voller Bergmänner. Wie Zwergendörfer erstreckten sie sich um die Wohnblocks nahe an den Zechen. Und von überall hörte man ihren Husten in der Nacht und am Tag die Bergmannsfrauen, wie sie mit den Bergmannskindern in den Zwergenhausvorgärten spielten. Die Bergmänner sahen den Tag eher selten. Die waren ja immer unter dem Tag und schufteten und schwitzten, da wo es dunkel und muffig ist. So ähnlich wie in der Schrebergartenhütte. Das hatte mir der Bergmann Manfred einmal erklärt und sich gedankenverloren über den schwarzen Schnauzbart gestrichen, der sein Lispeln auch nicht verbergen konnte, während wir Minas Apfelkuchen aßen und er deswegen ausnahmsweise mal wach war. Denn beim Essen schlafen, das konnte niemand. Selbst Manfred nicht. Dabei war er sich selbst nicht sicher gewesen, ob er mit mir oder nur mit dem Liegestuhl sprach. Manchmal war sich Manfred überhaupt sehr unsicher, ob er noch da war oder ob man ihn in irgendeinem Stollen vergessen hatte. So wie ihn Tante Klara auf seine alten Tage vergessen hatte. Er wollte sich ja auch gar nicht beschweren, er hatte sich ans Vergessen gewöhnt. Manfred hatte viele Dinge vergessen und viele Dinge hatten Manfred vergessen, und als ihn Tante Klara dann in sein Schrebergartenendlager brachte, war ihm klar, dass das Vergessen eben zu ihm gehörte wie seine Staublunge. Oder Engelbert.
Das einzig Schlimme daran, dachte sich der Bergmann – denn er dachte ja fast ausschließlich und sprach nur das Nötigste, auch wegen seiner Lispelei –, war die Einsamkeit. Einsamkeit fühlte sich an wie Kranksein. Heiserkeit und Übelkeit endeten ja auch auf -keit. Genauso wie Trotteligkeit oder Peinlichkeit. Oder auch Müdigkeit und Ratlosigkeit. Mit -keit-Worten kannte er sich gut aus, das fiel ihm immer wieder auf, aber am besten mit der Einsamkeit, die sich anfühlte wie eine Krankheit. Doch da Manfred genug von Tanzteenachmittagen hatte und sein Gemüt angenehm unkompliziert war, saß er seine Einsamkeitskrankheit einfach aus. Irgendwann würde sie schon kuriert sein. Und bis dahin färbte er sich die grauen Haare, die ihm seine Einsamkeit bescherte, schwarz. Er fand, das passte einfach viel besser zu seiner Sonnenbräune.
In seinem Liegestuhl hatte Manfred einen guten Aussichtsposten gefunden, und er beobachtete sehr genau, was um ihn herum geschah. Die anderen bekamen das gar nicht mit, was Manfred nur recht war. Am liebsten beobachtete er mich und meine Freundin Yvonne, die oft zu Mina und mir in den Garten kam, wenn das Wetter und ihre Eltern es zuließen. Manfred hatte seine Freude am Beobachten. Und am Schlafen. Immer abwechselnd. Immer abwechselnd. Tag und Nacht. Nacht und Tag. So ließ es sich aushalten, dachte sich Manfred. Nur am Abend, wenn es um ihn herum still wurde, hätte er das Leben, das er beobachtete, gern in eine Grubenlampe gestopft, um die dunkle Einsamkeit ein bisschen aufzuhellen.
«Komm doch mal bei mich auf den Schoß, Schätzeken!», sagte Manfred manchmal, wenn er ausnahmsweise wach war, und ich dachte, dass auch der Bergmann eben mal ein bisschen Wärme brauchte. Wie eine Eidechse.
Manfred roch nach Aftershave, er leistete sich stets nur das günstigste, das Herr Buhl in seinem winzigen Drogerieladen immer für Manfred auf Vorrat führte. Seit ich mich erinnern konnte, gab es Herrn Buhls Laden zwischen dem Metzger und dem Obstladen in der Einkaufsstraße unseres Stadtteils, in dem man abends die Bürgersteige hochklappte und samstags alle mit dem Flurputz beschäftigt waren. Meine Mutter kaufte oft bei Herrn Buhl, der eine weiße Arztkittelattrappe und eine polierte Glatze trug, die ihn viel älter machte, als er war. Immer, wenn ich Herrn Buhl anschaute, der hinter seiner altmodischen Kasse wie ein zu dünn geratenes Fragezeichen hervorlugte, überkam mich der Drang, unbedingt etwas auf seine Glatze malen zu wollen. Eine große, grinsende Sonne. Oder einen Regenbogen, der sich von einem Ohr zum anderen spannte. Ein Tigerfellmuster. Oder einen Strand mit Meer dahinter. Einmal träumte ich sogar davon, dass auf Herrn Buhls blankem Kopf ein Buchfink in seinem Nest brütete und er den lieben langen Tag mit dem Nest auf dem Kopf herumlief, es abends wie einen Zylinder absetzte und behutsam auf den Nachttisch legte.
Herr Buhl huschte bei unseren Einkaufsbesuchen geisterhaft durch die drei Gänge seines Ladens und reichte meiner Mutter die Zahnpasta für meinen Vater und ihre Niveacreme. Mich beachtete er gar nicht, er wäre durch mich hindurchgehuscht, wenn er gekonnt hätte, er hatte es nicht so mit Kindern. Aus zusammengekniffenen Augen blitzte die stumme Warnung in meine Richtung, dass ich bloß nichts anfassen und durcheinanderbringen sollte. Dabei interessierten mich weder Wattestäbchen noch Damenbinden, die mich in ihrer Verpackung ein bisschen an Boote für Mäuse erinnerten. Ich ging da schon nicht dran, was Herr Buhl ja allerdings nicht mit Sicherheit wissen konnte. Und weil ich wusste, dass ich Herrn Buhl etwas nervös machte, stand ich mucksmäuschenstill wie ein Eiszapfen zwischen der Kernseife und den Hornhauthobeln, und Herr Buhl freute sich trotzdem, wenn ich wieder weg war. Meiner Mutter allerdings schaute er etwas sehnsüchtig nach und vergrub seine Hände tief in den Taschen seines weißen Kittels, den er selbst geschneidert hatte. Ging meine Mutter abends ins Bett, bestrich sie ihr Gesicht doppellagig mit weißer Creme, die wohl auch nicht die Dörrpflaumenverwandlung aufhalten konnte, und dachte dabei manchmal an eine lupenreine Glatze.
Das Aftershave von Herrn Buhl, das der Bergmann so gerne benutzte, brannte mir in der Nase, wenn ich auf seinem Schoß saß. Und dann wiegte er mich zu Please, release me auf den Knien, als würden wir einen Sonntagsschwof tanzen, was ich sehr mochte. Was ich wiederum nicht mochte, war Manfreds Aftershave. Der penetrante Herr-Buhl-Geruch blieb nach unseren Knietänzen an mir haften, während Manfred längst wieder in seinen Liegestuhlschlaf gefallen war, was mich jedes Mal schwarzärgerte. So schwarz wie Manfreds Haus.
Mina hatte mir nämlich erklärt, dass Manfreds Haus schwarz war. Und das überraschte hinterher niemanden mehr. Selbst mich nicht. Immerhin war er Bergmann gewesen, und sogar Mina hätte Stein auf Bein geschworen, dass es an der ganzen Kohle lag, die sein Haus nach und nach schwarz gefärbt hatte. Aber so war es nicht. Man konnte Mina ihren Irrtum allerdings nicht vorwerfen, denn meine Mina sah einfach nur.
Mina sah nicht besser als andere, nicht weiter oder schärfer. Hellsehen, das konnte sie auch nicht, jedenfalls nicht richtig, obwohl man es leicht damit hätte verwechseln können. Aber Mina konnte in die Menschen hineinsehen. Und wenn ich sie fragte, was sie da sah, dann erzählte sie mir von den Häusern.
«Wenn es ganz still ist in einem drin, so still, dass man noch nicht mal mehr den eigenen Herzrhythmus hört, und wenn man die Augen fest zumacht, so fest, dass sich die Wimpern biegen und sich das Gesicht um die Augen kräuselt, wenn es anfängt zu glitzern und man den Kreisen und Punkten ein bisschen Raum gibt – dann sieht man es», erklärte Mina. Aber man durfte dabei keine Angst haben, weil die Angst alles durcheinanderbringt. Angst ist nie gut, fand Mina, denn wer sich fürchtet, der verliert das Sehenswerte aus dem Blick. Wie bei einer Buchstabennudelsuppe, da kann man auch keine Worte erkennen. Außer, man hat viel Glück. So ähnlich ist das mit der Angst, meinte Mina, und sie hatte sich die Angst einfach abgewöhnt, eines Tages. Das war auch bitter nötig gewesen, sonst wäre sie, bei all dem, was sie in ihrem Leben gesehen hatte, verrückt geworden, obwohl sie das nie laut sagte. Sie fand, es war unnötig, über etwas zu sprechen, das sich sowieso jeder dachte.
Und auf den richtigen Zeitpunkt kam es an, damit man es sehen konnte. Den zu erwischen, das war gar nicht so einfach. Und doch wiederum sehr leicht. «Aber verstehen, wie es funktioniert, das kann man erst, wenn man es gesehen hat», erklärte Mina.
Mein Haus war blau. Im Grundanstrich blau und ein bisschen rosa, weiß und grün. Aber nicht so sehr viel grün. Es war nicht sehr groß, eher klein, aber das liegt ja immer im Auge des Betrachters, wie etwas ist. Mina zumindest fand es klein und außerdem sehr windschief. Irgendetwas muss immer schief sein, damit man das Gerade erkennen kann, sagte mir Mina nicht nur einmal. Vielleicht war mein Haus deswegen an allen Ecken ein wenig schräg, besonders der Dachgiebel. Wenn man meinen Dachgiebel zu lange ansah, wurde einem regelrecht schwindelig. Manche Leute vertragen Schrägheit nicht, sie bekommen davon Kopfschmerzen und tun alles, um das Schräge wieder gerade zu biegen. Ich tat das wohl nicht, weil ich mich daran gewöhnt hatte, und dann wäre es schon gut so, meinte Mina. Dabei fand ich das Schräge fürchterlich.
Die Fenster meines Hauses waren große Rechtecke mit Fensterläden, die an Mimosenblüten erinnerten und die sich bei Bedarf schnell schließen ließen. Sehr schnell. Manchmal taten sie es ganz von allein. Kuriose Fensterläden waren das, fand Mina. Es gab außerdem zwei Eingänge: eine schmiedeeiserne Tür mit großem Riegel und ein kleines, hölzernes Törchen, das niemals verschlossen war und neben einem Briefkasten ziemlich versteckt an der Ostseite lag. Morgens schien die Sonne darauf, aber man fand es trotzdem nicht so leicht. Mein Haus hatte sogar einen schiefen Balkon, ja, es war fast eine Aussichtsplattform. Schaute man von dort in die eine Richtung, sah man den Leuchtturm von Wangerooge. Und wenn man sich umdrehte und die Hand als Vordach über die Augen legte, um besser in die Ferne blicken zu können, dann erkannte man den Hafen von Sydney. So einen Balkon hatten nicht viele, ich war schon ein wenig stolz. Manchmal wuchsen Blumen auf meinem Balkon, aber nicht so schnell wie das Unkraut zwischen den Bodenplatten. Wenn sich Mina lange mit einem Haus beschäftigt hatte, dann konnte sie winzige Details erkennen. In der Tür meines Wohnzimmers, zum Beispiel, lag an der linken unteren Ecke ein Astloch verborgen, durch das man schauen und ganz unbemerkt das rote Sofa beobachten konnte, auf dem hin und wieder jemand zu Besuch war.
Mir gefiel mein Haus, abgesehen von dem Schrägen. So jedenfalls, wie Mina es mir immer beschrieb. Ich fragte oft danach, weil ich die Geschichte über mein Haus spannend fand und immer das Gefühl hatte, dass irgendwie mehr dahintersteckte. Und ich fragte auch deswegen häufig danach, weil ich es selbst nicht sehen konnte. Vermutlich kann man sein eigenes inneres Haus nicht sehen. Aber Mina, die konnte es. Irgendwann hatte sie wohl herausgefunden, wie das mit dem Glitzern und dem Kräuseln und dem Herzschlag funktionierte, und seitdem sah sie die Häuser in all ihren Farben und Formen und Größen. Sie war selbst ganz überrascht davon, wie viele Sorten es gab.
Worüber sie sich aber nie wunderte – und es war doch ein Wunder, das Mina unaufgeregt mit sich herumtrug, als wäre es so normal wie ihre Buchstabennudelsuppe – das Überraschende war, dass sie die Häuser der Menschen überhaupt erkennen konnte.
Mina erzählte mir oft die Geschichten der Häuser, die sie sah. Abends schlief ich mit ihnen ein, manchmal träumte ich von ganzen Dörfern und Siedlungen. Ich konnte mich meist haargenau an alle Details erinnern, und ich war fest davon überzeugt, dass Mina sich diese Geschichten nicht ausdachte. Sie band ihre Gabe einfach nicht jedem auf die Nase und schmierte sie oft genug nur sich allein aufs Butterbrot. Weil man das mit Gaben so macht, wenn man die Sache mit der Demut einmal verstanden hat.
Meine Mina sah das Innere der Menschen, weil sie genau hinschaute. Und deswegen wusste sie, dass das Haus des Bergmanns schwarz war. Warum allerdings, das wusste sie nicht. So wie alle anderen, hatte sich auch Mina nie weiter mit Manfred beschäftigt. Und schon gar nicht wusste sie, welche Dinge an diesem Dörrpflaumensonntag im Juni 1986 noch passieren würden.
Mich jedenfalls regte an diesem Sonntag etwas ganz anderes auf. Als Mina und ich nämlich mit den aussortierten, guten Stachelbeeren aus dem Häuschen traten und uns eine Weile Manfreds Schweißperlen ansahen, die ein Wettrennen auf seinem Bauch veranstalteten, da erinnerte ich mich plötzlich wieder, dass ich sehr sauer gewesen war. Auf Mina. Und auf ihre Frisur. Denn sie sah nun aus wie alle in der Schrebergartensiedlung. Wie Ilse von nebenan. Und wie Grete von schräg gegenüber. Alle trugen dieses eigenartige Gewusel aus kurzen, grauen Löckchen auf dem Kopf. Wie eine struppige Mütze, die die älter werdenden Damen im Sonderangebot vom Wühltisch gezogen hatten. Alle. Ich wollte nicht, dass Mina so aussah. Ich wollte, dass Mina wieder wie Mina aussah mit ihren langen Haaren, die an den Spitzen noch ein bisschen dunkelbraun waren. Sollte sie auch noch eine Kittelschürze und fleischfarbene Strumpfhosen anziehen, wollte ich kein einziges Wort mehr mit ihr reden. Denn wer so aussah, der landete bald auf dem Friedhof.
Selbst mein Vater hatte sich das gedacht, als er mich morgens bei Mina ablieferte. Gesagt hatte er allerdings etwas anderes. Etwas, das die Frauen eben nach einem Friseurbesuch hören wollen. Etwas anderes durfte man nicht sagen, wenn man ein anständiger Mann war, der noch ein paar Manieren in den Knochen hatte. Weil sich mein Vater für anständig hielt und außerdem mit meiner Mutter verheiratet war, die ihm von früh bis spät sehr eindrücklich dabei behilflich war, seine Manieren nicht zu verlieren, hatte er sich zurückgehalten. Ich verstand das nicht. Vielleicht würde er es mir am Abend erklären, aber ich glaubte nicht daran. Im Gegensatz zu seiner Mutter Mina war mein Vater ein äußerst schlechter Erklärer, und da er das wusste, überließ er es den anderen. Aber keine Hand war größer und wärmer als die meines Vaters. Selbst Minas nicht. Und das hieß schon was. Auch ohne Erklärungen.
Ich war so sauer, dass ich es auf der Zunge schmecken konnte. Und neben Mina und ihrer bescheuerten Frisur zu stehen machte mich noch wütender, also stapfte ich ein paar Meter weiter, setzte mich auf den feinziselierten Rasen und schaute in den Himmel. Zumindest tat ich so. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich eine Amsel, die sich an die Erdbeeren heranpirschte, und ich beobachtete die etwas überraschte Mina mit ihren grauenhaften Löckchen, die auf den Waschbetonplatten vor dem Häuschen versuchte, den großen Campingtisch auseinanderzufriemeln, und mich ihrerseits beobachtete.
«Mensch, Manfred, nu hilf mir doch mal!», rief Mina dem Bergmann zu. Sein schwarzer Schnäuzer zuckte einmal, und dann reckte er sich, wurde lang wie ein Gummiband, schnalzte in seine ursprüngliche Manfredform zurück und quälte sich aus dem Liegestuhl.
«Alter Mann ist doch kein D-Zug. Komm ja schon!»
«Wird aber auch langsam mal Zeit.»
Was die immer alle mit ihrer Zeit hatten. Erwachsene hatten nie Zeit, ihnen liefe die Zeit davon, sagte Mina, die Zeit verginge so schnell, da käme man ja nicht mehr mit. Ich hielt das für merkwürdige Ausreden. Denn wenn man acht Jahre alt ist, lässt sich die Zeit noch sehr viel Zeit. Mit allem.
Während Mina und Manfred den Campingtisch zusammenpuzzelten und abwechselnd fluchten, tauchte auf dem Weg hinter der Hecke ein Büschel blonder Haare auf. Die Haare gehörten Guido, der war erst sechs und eine Nervensäge sondergleichen. Immer schlich er den Schrebergartenweg entlang, der durch die gesamte Anlage führte, und suchte jemanden, den er belästigen konnte. Dabei sah man hinter den akkurat auf einen Meter gestutzten Hecken nur das obere Drittel seines flusigen Kopfes.
Guido verunstaltete die kunstvoll in Form geschnittenen Buchsbäume, er sammelte Nacktschnecken und warf sie in die Salatbeete. Wenn man nicht aufpasste, rupfte er alle Blumen ab, die er finden konnte, und im Frühling klaute er die Eier aus den Meisennestern und schoss sie mit seiner Steinschleuder an die Lauben. Guido hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Dazu war er auch noch ein unglaublich großer Klugscheißer und petzte seinem Opa Herbert, dem Ersten Vorsitzenden des «Kleingartenvereins am Richterbusch», alles, was er in den Gärten als nicht rechtmäßig ansah: zu hoch gewachsener Rasen, zu niedrig gewachsener Rasen, zu laute Musik, zu leise Musik. Einmal erwischte er sogar Werner von gegenüber, wie er an den Himbeerstrauch strullte, weil Werner gelesen hatte, dass das den Pflanzen beim Wachsen helfe. Da hätten Grete und Werner bald ihre Laube zuschließen müssen, um für immer den Richterbusch zu verlassen, aber in letzter Minute konnte Werners Hausarzt sie noch vor der Vertreibung retten. Seitdem bekam Werner immer Kürbiskerne zum Geburtstag geschenkt, um das mit der Blase in den Griff zu bekommen, und seitdem strullte keiner mehr unkontrolliert in den Garten. Jedenfalls nicht bei Tag.
Und weil Guido der Enkelsohn von Herbert und somit Prinz der Schrebergärten war, tätschelten ihm die meisten nur seine blöde Birne und ließen ihn gewähren. Bloß Ilse, die den Garten nebenan bewirtschaftete, bot ihm Paroli. Und das mit sechsundsiebzig Jahren. Ilse dachte nämlich, dass man so einem verzogenen Blag Einhalt gebieten musste, sonst würde das alles noch wie 1933 enden, wenn man da nicht direkt den Riegel vorschob. Sie fühlte sich dazu verpflichtet, Diktatoren erst gar nicht groß werden zu lassen. Ein etwas hoffnungsloses Unterfangen war das als Einzelkämpferin, aber das war ihr egal. Sie erwischte Guido häufig, sie lag ihm regelrecht auf der Lauer, und es bereitete ihr fast so viel Freude, Guido richtig abzusauen, wie ihren Rhabarber zu ernten. Dann jagte Ilse mit der Faust drohend hinter Guido her, und man glaubt ja gar nicht, wie flink jemand mit sechsundsiebzig noch sein kann. Ilse sprach genauso schnell, wie sie rennen konnte, und hängte die Wörter immer in einem einzigen endlosen Satz aneinander, von Punkt und Komma hatte sie offensichtlich noch nie etwas gehört, ihre Sätze wuchsen wie monströse Bandwürmer aus ihr hinaus. Manche Menschen, so wie Ilse, die verstand man aber sowieso schon an ihrem Blick, da hätte es das «DeinFöttchenhatgleichKirmesdatkannichdirabbasagenwennichdicherwischedukleinerHosenscheißer!» nicht gebraucht, das sie Guido in den Lauf warf. Merkwürdigerweise war Ilse die Einzige, die nicht von Guido angeschwärzt wurde, obwohl ihre Bauernwiese meterhoch wucherte und sehr wahrscheinlich unerlaubtes Viechzeug im Dickicht hauste. Vielleicht sogar was Exotisches. Anakondas. Oder steinalte Schildkröten. Das hätte mich gefreut.
Im Richterbusch war so gut wie alles verboten, alles normiert und alles streng von Herbert und Guido überwacht. Im Gegensatz zu Ilse verzog der Rest der Kleingärtner allerdings keine Miene, sie schauten einfach weg, wenn Prinz Guido mit seinem Holzschwert die Krokusse malträtierte oder den Schwebefliegen die Flügel ausriss. Ich hasste Guido.
Die Flusen hinter der Hecke hüpften. Ich tat so, als sei ich ein frisch gepflanzter Rosenbusch, blieb auf dem Rasen sitzen und hielt den Atem an.
«Ey» – hüpf – «du» – hüpf – «Spasti!», krähte Guido und entschied sich dann, die Hecke an einer günstigen Stelle auseinanderzuzerren. Bärenkräfte hatte der, vielleicht wurde man zwangsläufig so stark, wenn man Enkelsohn eines hohen Amts- und Würdenträgers war. Die Hecke zitterte, als wäre direkt unter ihr, auf einem Quadratmeter, ein sehr starkes Erdbeben ausgebrochen. Guido bohrte seinen Kopf durch die Zweige, und plötzlich ragte sein Gesicht aus den Blättern und glotzte mich an. Ich blieb ein Rosenbusch und starrte wieder in den Himmel.
«Spasti, ich rede mit dir!» «Spasti» war Guidos neues Lieblingswort, das er bei den Jugendlichen aufgeschnappt hatte, die manchmal hinter dem Vereinsheim heimlich rauchten. Guido tigerte oft bei ihnen herum, weil er Jugendliche per se sehr aufregend fand. Ich stellte mir vor, dass er ständig so zornig war, weil er sich aus seiner Kindheit wegwünschte. Vielleicht ging ihm sein Kindsein auf die Nerven.
«Spaaaastiii», brüllte Guido, und die Hecke erbebte bis zum übernächsten Garten. Ich zuckte kurz zusammen, sah rüber zu Mina und Manfred, die immer noch nicht fertig mit dem Campingtisch waren, und murmelte dann: «Geh weg!»
Murmeln, leise sprechen, damit das Gesagte auch ja nicht ankommt, weil man sich vor dem Ankommen etwas fürchtet. Wenn man murmelt, gibt es kein Echo, da sind die Worte so fein, dass sie einfach davonfliegen und keiner mehr genau wissen kann, woher sie kamen. Oder ob sie überhaupt jemals ausgesprochen worden sind. Ich murmelte oft.
Guidos Zorn wuchs. «Ich steck dich gleich ins Gefängnis, Spasti!», zischte er, bevor jemand ruckartig an ihm zog.
«Hömmawasfälltdirdenneigentlichein?» Ilse zerrte an Guidos Hinterteil, und der furzte vor Schreck mit großen Kuhaugen so laut, dass man es mindestens bis zum Vereinsheim hören konnte.
«DasisjawohldieHöhekannstdudichnichbenehmen?»
Noch ein Ruck, Guido jammerte: «Au, au, au!», und fing an zu flennen. Er steckte fest. Sein Flusenkopf schwitzte hellrot und beleuchtete die Hecke von innen. Ilse rupfte, Guido heulte, Mina und Manfred ließen den fast fertig aufgestellten Campingtisch fallen, der auf die Waschbetonplatten schepperte – und beide wetzten durch das Gartentörchen zu Guidos Hinterteil. Ich war ein Rosenbusch. Alle drei rissen wie verrückt an Guido herum, aber der rührte sich keinen Zentimeter.
«Hilfe, Hilfe!», rief er, und dass wir alle ins Gefängnis kämen, und der Angstrotz lief ihm übers Gesicht, mitten hinein in den Zorn auf seinen Wangen.
Ich war begeistert.
Der Bergmann, das sah man ihm an, hatte nach fünf Minuten genug vom Geheule und Geziehe, Guidos Kreischen klingelte in unseren Ohren, und Manfred beschloss, die Heckenschere zu holen.
«IsdasalleseinElendhierdasgibtesdochgarnichunddasamSonntag!»
Manfred hockte auf dem Gehweg und schnitt Guido feinsäuberlich aus seinem grünen Gefängnis aus, als wäre er eine kostbare Briefmarke. Stück für Stück fitzelte er die Hecke in Konfettistücke und wunderte sich selbst über seine Geduld. Guido jaulte, ohne Luft zu holen, aber Manfred hörte ihn plötzlich gar nicht mehr, denn er dachte wieder über seine -keit-Worte nach. Und plötzlich, als Guido nach Opa Herbert schrie und Mina ihm sagte, er solle nun endlich mal still sein, fiel Manfred das beste und letzte Wort seiner Sammlung ein: Sinnlosigkeit.
Nach zehn Minuten war Guido befreit, der vor lauter Angst und Zorn in die Hose geschissen hatte. In unserer Hecke klaffte ein Loch, durch das man den Schrebergartenweg sehen konnte, Guido stand da, verheult und wie ein Limburger Käse stinkend, und seine Wut auf die Welt und auf sich selbst addierten sich in diesem Moment zu einer Supernova, die Guido vermutlich für den Rest seines Lebens mit sich herumschleppen würde.
Mina schüttelte den Kopf, Ilse schüttelte sich die Blätter von der Kittelschürze, und Manfred war schon längst wieder in seinen Liegestuhl gefallen. Guido starrte mich an, sein Blick eine Mischung aus Scham und Wut, die zu keinem Kind passte, die Kinder eigentlich noch nicht mal dann hervorbringen können, wenn sie sich wirklich anstrengen oder krank sind oder ihnen etwas Schlimmes passiert ist. Oder alles zusammen.
«Na warte, auf dem Sommerfest gleich krieg ich dich!», jaulte Guido und watschelte mit seiner Stinkehose auf und davon. Und als ob sein Abgang das Stichwort gewesen wäre, krochen mit einem Schlag alle Kleingärtner aus ihren Lauben, wuchteten Tonnen von Marmorkuchen, Eiersalat und eingelegten Schnibbelbohnen auf ihren Rücken und machten sich als langer, etwas trauriger Tross auf den Weg zum Vereinsheim. Alle schön in einer Reihe. Sie schleppten das, was sie mit arthritischen Fingern selbst fabriziert hatten, zum größten aller Großereignisse, das es im Richterbusch nur geben konnte: dem Sommerfest.
Während die Vorbereitungen für das große Fest schon in vollem Gange waren, saß ich immer noch auf dem Rasen. Mein Schreck über Guidos Auftritt war zusammen mit meiner Wut auf Minas Frisur längst ein gutes Stück weit in den Himmel geflogen, aber ich dachte immer noch darüber nach. Einmal nur so wütend werden können wie Guido, so vulkanartig ausbrechen und alles rauslassen, was in einem schmorte – das wäre was. Bei mir klappten immer bloß die Mimosenfensterläden meines schiefen Hauses zu, und ich setzte mich beleidigt in eine Ecke, schmollte vor mich hin und spielte mit meiner Wut Topfschlagen. Allein. Wofür hatte man überhaupt Wut, wenn man sie nicht teilte? Ich wusste nicht, wie das gehen sollte, und dass ich sie nicht einfach rausscheuchen konnte, machte mich schon wieder etwas wütend.
Der Campingtisch lag zusammengekracht auf den Waschbetonplatten, der Bergmann hielt die Augen geschlossen und dachte darüber nach, dass nach der Sinnlosigkeit wohl nicht mehr viel kommen würde. Er trommelte sich dabei mit seinen schwieligen Händen auf den dicken Bauch, als gäbe er seinem Inneren Morsezeichen.
Mina ließ sich nicht so einfach abschütteln, auch nicht von meiner Wut. Weil wahrscheinlich noch nicht mal ihre Ohrläppchen vertrocknen konnten, sprach sie immer sofort alles aus, was sie beschäftigte. Sie setzte sich mit ihrer struppigen Oma-Mütze neben mich ins Gras, dabei knackte ihr Knie, und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Falls es so etwas wie eine Olympiade des schlechten Gewissens gäbe, wäre ich diejenige, die mit allen Goldmedaillen nach Hause ginge. Dass man darauf stolz sein musste, glaubte ich allerdings nicht.
«Na, Ella. Das war ja wieder was mit dem Guido!», grinste Mina und legte mir ihre Herzhand auf die Schulter, die durch mein rotes Kleid puckerte.
«Mhmh.»
«Was ist denn los, mein Stöpsken?»
«Nix, Mina.»
Und das stimmte. Nur der Lufthauch von Minas Wärme und ihr Herzschlag auf meiner Schulter verwandelten alles Blöde dieser Welt in ein großes blaues Nichts. So saßen wir da, unter der Vormittagssonne, schweigend unter dem friedlichen Nichts. Vielleicht das beste Nichts, das man sich vorstellen konnte. Nebenan ließ Ilse ihren Schichtsalat fallen und ihr «Verdammichnocheins!» dröhnte durch den Sonntag. Der Dackel von Grete und Werner stand am Gartentor gegenüber und kläffte. Im Apfelbaum hinter der Laube tirilierte eine Amsel, und der rote Kater legte sich in den Schatten unter den Holunderbusch. Durch das Loch in unserer Hecke sah man Hosenbeine und Kittelschürzen vorüberwandern, die später, am Abend, zu Bontempi-Georgel ihre letzten Kräfte für einen Tanz zu Caramba, Caracho, ein Whisky mobilisieren würden, bis sie irgendwann in die Betten fielen und sich noch lange vom Sommerfest im Richterbusch erzählten. Alles war wie immer.
Weil man im Nichts manchmal die Zeit vergisst, und alles um einen herum auch, weil das Nichts gar nicht so etwas Schlechtes ist, wie viele immer meinen, hatten Mina und ich Yvonne nicht gehört, die sich an uns herangeschlichen hatte. Sie hüpfte auf unsere Rücken, schlang ihre langen Arme um unsere Hälse und steckte ihren Kopf zwischen Minas und meinen. Unser Nichts verpuffte mit einem Seifenblasenknall, und Yvonne brüllte uns erst «Hallo!» in die Ohren und dann: «Mina! Was hast du denn da auf dem Kopf? Das sieht ja blöd aus. Wie ein Schaf!»