Barbara Wood
Das Paradies
Roman
Aus dem Amerikanischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius
FISCHER E-Books
Barbara Wood ist international als Bestsellerautorin bekannt. Allein im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage ihrer Romane weit über 13 Mio., mit Erfolgen wie ›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Kristall der Träume‹, ›Das Perlenmädchen‹ und ›Dieses goldene Land‹. Die Recherchen für ihre Bücher führten sie um die ganze Welt. 2002 wurde sie für ihren Roman ›Himmelsfeuer‹ mit dem Corine-Preis ausgezeichnet. Barbara Wood stammt aus England, lebt aber seit langem in den USA in Kalifornien.
Im Fischer Taschenbuch Verlag ist das Gesamtwerk von Barbara Wood erschienen:
›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Herzflimmern‹, ›Sturmjahre‹, ›Lockruf der Vergangenheit‹, ›Bitteres Geheimnis‹, ›Haus der Erinnerungen‹, ›Spiel des Schicksals‹, ›Die sieben Dämonen‹, ›Das Haus der Harmonie‹, ›Der Fluch der Schriftrollen‹, ›Nachtzug‹, ›Das Paradies‹, ›Seelenfeuer‹, ›Die Prophetin‹, ›Himmelsfeuer‹, ›Kristall der Träume‹, ›Spur der Flammen‹, ›Gesang der Erde‹, ›Das Perlenmädchen‹ und ›Dieses goldene Land‹, sowie die Romane von Barbara Wood als Kathryn Harvey, ›Wilder Oleander‹, ›Butterfly‹ und ›Stars‹.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Coverabbildung: Ute Klaphake/Trevillion Images und Ricardo Liberato/Getty Images (Landschaft)
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Virgins of Paradise‹ im Verlag Random House, Inc., New York
© Barbara Wood 1993
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1993
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402236-9
Dieses Buch ist Achmed Abbas Ragab gewidmet.
Er hat zwei gestrandete Amerikaner gerettet und in seinem Haus aufgenommen.
Schokan, Achmed!
»Doktor! Doktor!«
Amira blickte zur Tür und sah draußen auf dem schmalen Weg Achmed; der junge Fellache kam in letzter Zeit öfter zur Krankenstation und bot stumm seine Dienste an. Achmed war intelligent und versuchte auf seine Weise, etwas von dem zu begreifen, was die Ärztin hier tat. Er saß auf einem Esel und deutete außer Atem zur Dorfstraße. »Ein Auto aus Kairo ist gekommen, Doktor! Das Auto steht mitten im Dorf! Eine vornehme Frau sitzt darin!«
»Danke, Achmed«, sagte Amira und dachte: Sie ist also gekommen. Ich bleibe hier und werde sie nicht begrüßen. Sie muß zu mir kommen …
Achmed wendete den Esel, trieb ihn mit leichten Stockschlägen an und ritt schnell zur Hauptstraße zurück. Amira unterdrückte ihre plötzliche Angst und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den kleinen Patienten, einen Säugling. Seine Fontanelle war so eingesunken, daß er ein Loch im Kopf zu haben schien. Während sie behutsam das Baby untersuchte, wehte vom Fluß ein sanfter Wind durch die offene Tür der Ambulanz. Er trug aus der Ferne Musik und Lachen in das Untersuchungszimmer und verbreitete auch den Bratenduft eines Lamms am Spieß. Dr. van Kerk erinnerte sich auf diese Weise daran, daß in einem Haus am Dorfrand eine Hochzeit gefeiert wurde. Der junge Hussein heiratete die hübsche, aber arme Sandra, die durch diese Ehe ihrer Familie zu mehr Ansehen im Dorf verhalf. Der aufreizende Klang der Trommeln verkündete den Dorfbewohnern, daß die Frauen den Bauchtanz begonnen hatten, um damit die Fruchtbarkeit des Brautpaars zu beschwören. So wie die Sitte es verlangte, würde später Blut fließen, um die Jungfräulichkeit der Braut unter Beweis zu stellen. Amira fragte sich, ob zu der Entjungferungszeremonie ihre Hilfe notwendig sein würde. Man rief sie manchmal, wenn es einem Bräutigam nicht gelang, die Jungfernhaut der Braut zu durchstoßen, und nur ein Skalpell diese Aufgabe erfüllen konnte. Obwohl Dr. Amira van Kerk keine Fellachin, keine Nilbäuerin, war, gehörte sie mittlerweile in allen Bereichen des Lebens zum Dorf und stand in dem ewigen Kreislauf von Geburt und Tod für alle hier an einem wichtigen Platz. Zu ihren Pflichten gehörte sogar manchmal, bei der Empfängnis eines Kindes zu helfen.
Aber was sollte sie tun, wenn die Brauteltern sie rufen ließen, während ihre Besucherin bei ihr war? Würde Amira den Mut aufbringen, den Gast aus Kairo einfach sitzen und warten zu lassen?
Habe ich überhaupt den Mut, sie zu begrüßen?
Amira konzentrierte sich auf den Säugling mit der eingefallenen Fontanelle, dem Zeichen für einen lebensgefährlichen Flüssigkeitsmangel. Diese Diagnose mußte die Ärztin in Al Tafla oft stellen. »Hör mir gut zu, Fatima«, sagte sie auf arabisch zu der noch sehr jungen Mutter, »ich habe dir das schon einmal gesagt. Dein Kind hat schweren Durchfall und bekommt nicht genug Flüssigkeit. Das Loch im Kopf bedeutet, daß du dafür sorgen mußt, daß dein Baby genug trinkt.«
»Oh nein, Doktorin, es ist der böse Blick, der meinen Abdu bedroht! Jemand beneidet mich um meinen Sohn und hat ihn verflucht!« Die junge Fellachin flüsterte eindringlich und bebend: »Ja Allah.« Bei Gott! »Nein, es ist nicht der böse Blick, Fatima«, widersprach Amira energisch, »in seinem Bauch sind Bakterien. Sie sind der Grund für den schweren Durchfall, und das führt zu der Austrocknung.« Sie hob mahnend den Finger und sagte nochmals streng: »Du mußt ihm mehr zu trinken geben.« Amira versuchte, nicht an die Frau zu denken, die jeden Augenblick in der Krankenstation erscheinen würde. »Fatima, dein Baby ist in großer Gefahr.«
Tränen stiegen der jungen Mutter in die Augen. Sie war vierzehn Jahre alt, und es war ihr erstes Kind.
Amira holte aus dem kleinen Kühlschrank hinter ihrem Schreibtisch eine Babyflasche mit einer klaren Flüssigkeit. Sie entfernte den Verschluß und schob dem Baby den Sauger zwischen die Lippen. Der Kleine begann sofort zu trinken. »So«, sagte sie und legte Fatima die Saugflasche in die Hand, »achte darauf, daß er alles trinkt.« Dann ging Amira zu einem Schrank und nahm einige Packungen mit dem Aufdruck der Weltgesundheitsorganisation heraus. Auf den Etiketten stand: Orales Rehydrationsmittel. Sie gab die Packungen der jungen Mutter und sagte: »Löse den Inhalt einer Packung in einem Krug Wasser von dieser Größe auf«, sie zeigte es ihr, »aber du mußt das Wasser zuerst kochen. Wenn es abgekühlt ist, füllst du damit die Flasche«, Amira deutete auf die Babyflasche, »laß ihn so viel und so oft trinken, wie er kann. Fatima, versprich mir, du mußt das auch wirklich tun, denn es ist Gottes Wille. Hast du verstanden? Komm morgen wieder, damit ich deinen Sohn noch einmal untersuchen kann.«
Amira sah der Fellachin nach, die auf dem staubigen, heißen Weg barfuß hinunter zum Nil ging, während die späte Nachmittagssonne bereits ihre schrägen, noch immer sengenden Strahlen über das Land warf. Amira nahm langsam das Stethoskop ab und schob es in die Seitentasche ihres weißen Arztkittels. Sie bezweifelte, daß die junge Mutter ihre Anweisungen wirklich befolgen würde. Der Aberglaube beherrschte das Leben der Fellachen so sehr, daß Mütter aus Angst vor dem bösen Blick einer neidischen unfruchtbaren Frau ihre Säuglinge nicht zu waschen wagten. Fatima hatte ihren Sohn seit der Geburt nicht ein einziges Mal gewaschen. Das hatten sie erst hier in der Ambulanz und fast gegen den Willen der Mutter getan. Kein Wunder, daß er bald nach der Geburt eine Infektion und Durchfall bekommen hatte.
Dr. van Kerk trat vor einen Spiegel an der weiß getünchten Wand. Er hing zwischen einem Bild von Ägyptens Präsident Mubarak und einem Kalender mit einem Photo des Assuanstaudamms. Auf dem Kalender war ein Datum eingekreist – ihr Geburtstag. Amira würde bald acht- undvierzig werden.
Unter eine Ecke des Spiegels hatte sie ein Photo geklemmt: Sie und Greg standen selbstbewußt lächelnd auf dem Pier in Santa Monica und hielten Zuckerwatte in den Händen. Damals feierten sie den Jahrestag ihrer Hochzeit – zwei Fremde, die trotz allem die Hoffnung nicht aufgeben wollten und auf die Liebe wie auf ein Wunder warteten.
So viele Jahre sind inzwischen vergangen, dachte Amira, und Santa Monica ist auf der anderen Seite der Welt. Es gab keinen Greg mehr, so wie es auch die anderen nicht mehr gab, die ihr einmal begegnet waren und in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten.
Amira betrachtete sich im Spiegel und schob ein paar blonde Strähnen unter ihren Turban. Diese Kopfbedeckung gehörte zu ihrem »islamischen Gewand«. Sie trug einen hellen pfirsichfarbenen Kaftan mit kunstvoller schwarzer Seidenstickerei auf Ärmeln und Kragen. Der veilchenblaue Turban paßte gut zu ihren hellblauen Augen – »Sie sind so blau wie der Nil bei Sonnenaufgang«, hatte Declan einmal gesagt. Dr. Declan Connor war so ganz anders als Greg. Wo mochte Declan in diesem Augenblick wohl sein? Wie weit war er von ihr entfernt? Wie viele Meilen war er vor ihr geflohen?
»Doktor!« hörte sie draußen Achmed wieder rufen. Die Fellachen hatten schon lange aufgehört, sie van Kerk zu nennen, denn im Arabischen gab es kein »V«. »Der Wagen kommt hierher. Sie haben eine sehr vornehme Besucherin«, rief der junge Mann, »eine Lady! Eine sehr reiche Lady!«
Amiras Herz begann heftig zu schlagen. Wie hatte Khadija sie nur ausfindig gemacht? Al Tafla war ein winziger Fleck auf der Landkarte. Amira hatte vor sechsundzwanzig Jahren Ägypten verlassen und geschworen, das Land nie wieder zu betreten. Woher wußte Khadija, daß sie zurückgekommen war? Warum hatte Khadija beschlossen, sie nach all den vielen Jahren aufzusuchen?
Amira blickte sich in der kleinen Ambulanz um, als könnte sie die Antworten auf ihre Fragen dort finden. Aber sie sah nur weiß getünchte Wände, den geputzten Fußboden und die Plakate, auf denen in arabisch stand, wie Krankheiten übertragen wurden. Auf einem sehr alten, vergilbten Plakat versicherte Gamal Abd el Nasser den Ägypterinnen, daß der Koran die Geburtenkontrolle billige. Das Plakat hing neben Amiras Universitätsdiplom aus dem Jahre 1977, auf dem das Castillo Medical College in Kalifornien ihr den erfolgreichen Abschluß des Medizinstudiums bescheinigte.
Als sie auf dem Weg Motorengeräusch und Stimmen hörte, holte sie tief Luft und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß sie nicht nur aufgeregt war, sondern auch Angst hatte.
Die große schwarze Limousine rollte im Schrittempo auf die Krankenstation zu. Dahinter folgten in gebührendem Abstand viele Dorfbewohner von Al Tafla. Die Nachricht von der Ankunft der reichen Lady hatte sich in Windeseile verbreitet, und immer mehr schlossen sich neugierig und aufgeregt den anderen an.
Als der Wagen vor dem kleinen Steingebäude hielt, stieg der Chauffeur aus und öffnete mit einer leichten Verbeugung den hinteren Wagenschlag. Khadija verließ würdevoll den Wagen, und alle verstummten bei ihrem Anblick. Auf einen Stock gestützt, ging sie die wenigen Schritte bis zur geöffneten Tür der Ambulanz. Sie war ganz in Weiß gekleidet, das Zeichen ihrer Pilgerreise nach Mekka. Kopf, Schultern und die untere Gesichtshälfte verhüllte ein weißer Seidenschleier. Sie trug einen blendend weißen Kaftan mit weiten Ärmeln, die bis zu den Handgelenken reichten. Der Saum des Kaftans schleifte über den Boden. Als sie in der Tür stand, wirkte sie im Gegenlicht der untergehenden Sonne wie ein geheimnisvoller weißer Schatten. Amira sah nur die dunklen Augen, die sich klar und forschend auf sie richteten. Die zwei Frauen betrachteten sich stumm, während hinter Khadija der aufgewirbelte Staub in den Sonnenstrahlen tanzte und die Dorfbewohner sich in einem dichten Halbkreis vor der Tür drängten und aufgeregt miteinander flüsterten. Wer war diese reiche, bedeutende Frau, die ihre Doktorin besuchte?
Khadija brach schließlich das Schweigen und sagte auf arabisch: »Gott schenke dir Frieden und SEINE Gnade.«
Amira starrte sie an. Diese Frau besaß noch immer die Macht, in ihr Angst, Ehrfurcht und auch Zorn auszulösen. Amira hatte sie einst aus ganzem Herzen geliebt und verehrt, aber dann geschah das Schreckliche, sie war bis ins Innerste verwundet und konnte diese Frau nur noch verachten.
Erinnerungen stellten sich bei ihrem Anblick blitzartig ein: die fünfjährige Amira sucht weinend mit einem aufgeschlagenen Knie bei Khadija Schutz und Trost – Amira hört staunend, wie Khadija wundersame Geschichten von Heiligen und Dschinns erzählt – Khadija erklärt Amira vor ihrer Hochzeitsnacht die ehelichen Pflichten einer Frau …
Oh ja, das war Khadija für sie gewesen, eine Frau, die alles zu wissen schien, die jede menschliche Schwäche, Tugend und alle Anfechtungen verstand und akzeptierte.
Aber Khadija hatte tatenlos zugesehen, wie Amira praktisch zum Tode verurteilt wurde.
Und jetzt stand diese Frau in dem ehrenvollen Gewand einer Pilgerin vor ihr und stützte sich mit der einen Hand nachdenklich auf den Stock. Amira fand, sie sei kleiner als in ihrer Erinnerung, aber ihr angeborener Adel und der förmliche Stolz, den alle an ihr kannten, waren noch immer unverändert spürbar. Amira lächelte unbewußt, denn sie erinnerte sich an Sandelholz und Veilchen, an das erfrischende Plätschern des alten Brunnens im Innenhof des herrschaftlichen Hauses in der Paradies-Straße und vor allem an den köstlichen Geschmack der reifen, zuckersüßen Aprikosen, die Khadija ihnen an heißen Nachmittagen in den Garten brachte. Und sie erinnerte sich an ihren letzten Tag in Ägypten, als sie enterbt, verflucht und verstoßen aus dem Land geflohen war.
»Auch dir schenke Gott Frieden, SEINE Gnade und SEINEN Segen. Mein Haus sei auch dein Haus.«
Aber das waren nur leere und bedeutungslose Worte, ein Ritual der Höflichkeit, weiter nichts.
Nach einer leichten Verbeugung und einer höflichen Geste verließ Amira mit ihrem Gast die Ambulanz. Wie immer, wenn Fremde nach Al Tafla kamen, begleiteten die Dorfbewohner die Besucherin. Während die Dunkelheit herabsank, gingen sie wie bei einer Prozession den Fußpfad am Nil entlang. Es roch nach gebratenem Fisch und kochenden Bohnen. Die Frauen standen vor ihren Hütten. Halbnackte Kinder drängten sich um sie und starrten mit großen Augen auf die weiß gekleidete vornehme Frau. Amira und Khadija schwiegen, aber die wachsende Spannung war nur allzu deutlich. Khadija blickte unverwandt geradeaus und hielt den weißen Schleier fest über die untere Gesichtshälfte. In ganz Ägypten trugen die Frauen wieder den traditionellen Schleier. Khadija Raschid hatte ihn nie abgelegt.
Als sie den Dorfrand erreichten, war die Sonne bereits dunkelrot hinter den Bergen im Westen versunken. Orangefarbene und rosarote Strahlen glühten wie ein heißes Feuer über dem blauen Nil und den grünen Feldern, die von der Dunkelheit bereits in tiefes Schwarz getaucht waren. Um Al Tafla wuchsen Orangen- und uralte Feigenbäume. Auch Wein wurde hier angebaut. Es war ein typisches Dorf am Nil. Die Frauen trugen riesige Wasserkrüge auf den Köpfen, die sie im Fluß gefüllt hatten. Kinder trieben Wasserbüffel mit Stöcken vor sich her, und die Männer kehrten müde von den Feldern zurück – so wie ihre Ahnen schon zur Zeit der Pharaonen.
Amira bewohnte allein ein kleines, frisch gestrichenes Haus direkt am Nil. Es stand inmitten schattenspendender Maulbeerbäume. Sie führte Khadija zur Veranda hinauf, wo ein junges Dienstmädchen den vornehmen Gast scheu begrüßte. Auf eine Geste von Khadija reichte der Chauffeur dem Dienstmädchen die braune Ledertasche, die sie neben einen Stuhl stellte, und dann eilte sie ins Haus, um Tee und Gebäck zu bringen. Die Dorfbewohner blieben zurück, denn das Haus war der persönliche Bereich von Dr. van Kerk. Nur in Notfällen erschienen sie hier. Als sie sahen, daß sich die Ärztin mit ihrer Besucherin in die Rattansessel der Veranda setzte, nickten sie zufrieden, und die Menge zerstreute sich. Das aufregende Ereignis war für sie vorüber.
Unausgesprochene Worte lagen in der Luft, während Amira und Khadija schweigend beobachteten, wie der Feuerzauber im Westen langsam verblaßte und der Himmel schließlich so violett wie aufblühender Lavendel wurde. Der zärtliche Wind, der über den Nil wehte, strich sanft über die weißen Falten und spielte mit dem fleckenlosen Seidenschleier der alten Frau. Amira staunte, daß Khadija die lange Fahrt allein gemacht hatte, denn sie verließ so gut wie nie das Haus. Erst als Neun- undvierzigjährige hatte sie sich zum ersten Mal allein auf die Straße hinaus gewagt. Jetzt war Khadija bestimmt bald neunzig, aber noch immer bei Kräften, denn nur auf ihren Stock gestützt, hatte sie den Weg von der Klinik zu dem Haus zu Fuß zurückgelegt. So würdevoll war sie gegangen, daß niemand ihr Alter und ihre Gebrechlichkeit ahnte.
Weiter reichte Amiras Bewunderung nicht, denn Khadija war ihre Feindin, und nur zögernd und widerwillig hatte sie die Wiederbegegnung über sich ergehen lassen – die erste nach so vielen Jahren. Amira biß die Zähne zusammen. Sie würde nicht zuerst sprechen. Khadija hatte in einem Telegramm ihren Besuch in Al Tafla angekündigt, also sollte sie das Schweigen brechen.
Das Dienstmädchen servierte auf dem besten Messingtablett und in Porzellantassen den heißen Minztee. Auf zwei Tellern brachte sie Aprikosenplätzchen und Mandarinen. Sie stellte die gefüllte Teekanne auf den Tisch und verschwand wieder im Haus.
Als sie gegangen war, richtete Khadija ihre dunklen mandelförmigen Augen auf Amira. Die großen Schwäne am Fluß verließen das sumpfige Ufer und glitten ins Wasser zurück. Amira konnte das Schweigen nicht länger ertragen und fragte:
»Wie geht es dir?«
»Mir geht es gut, und dafür bin ich Gott dankbar.«
»Wie hast du erfahren, daß ich hier bin?«
»Ich habe Itzak Misrachi nach Kalifornien geschrieben. Er kannte deine Adresse. Du siehst gut aus, Amira«, fügte sie mit leichtem Beben in der Stimme hinzu. »Du bist jetzt Ärztin, das ist gut so. Du hast einen sehr verantwortungsvollen Beruf.« Sie breitete die Arme aus. »Willst du mich nicht umarmen?«
Amira zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Diese Frau war bei ihrer Geburt die Hebamme gewesen. Ihre nach Mandeln duftenden Hände hatten Amira berührt, als sie auf die Welt kam. Sie wußte, Khadija hatte sie geküßt, wie sie alle Neugeborenen mit einem Kuß auf dieser Welt begrüßte. Aber als sie das unergründliche Glühen in den schwarzen Augen sah, konnte sie diese Frau nicht umarmen. Khadija hatte das kantige Gesicht der Beduinen aus der Wüste und hielt das schmale Kinn so stolz wie eine Königin – alle ihre Kinder und Enkel besaßen diese Züge, auch Amira van Kerk, denn sie war eine geborene Raschid, und diese Frau war ihre Großmutter.
Khadija suchte ihren Blick. Der Schleier vor dem Gesicht bewegte sich kaum, als sie sagte: »Du gehörst nicht mehr zu uns, Amira. Du bist Amerikanerin. Und doch trägst du ein islamisches Gewand. Bist du noch eine Gläubige?«
Amira stockte der Atem. Welch eine Kraft lag in dieser Stimme, die sie in ihren Träumen verfolgt hatte – auch noch während des Exils in den USA, und sie dachte bitter: Also hat sich im Grunde nichts geändert? Sie antwortete: »Sechsundzwanzig Jahre war ich für euch tot. Ihr habt mir meinen Namen und meine Identität genommen und mich zu einem Geist unter den Lebenden gemacht. Warum kommst du jetzt zu mir?«
»Amira, ich bin gekommen, weil mir im Traum ein Engel erschienen ist, und ich weiß, daß ich bald sterben werde. Der Engel hat gesagt, daß mir Gott in SEINER großen Gnade eine letzte Möglichkeit schenkt, um vor meinem Tod die Familie von dem Fluch zu befreien, der auf ihr liegt. Wenn mir das nicht gelingt, dann werden die Raschids in alle Ewigkeit verdammt sein … verdammt bis zum Jüngsten Gericht.«
Khadija hob die Hand mit der zarten Haut, unter der sich die dunkelblauen Adern deutlich von dem weißen Gewand abhoben, und nahm den Schleier vom Gesicht. Als die weiße Seide zur Seite fiel, sah Amira ihre gealterten Züge, aber noch immer war die Schönheit von einst unverkennbar, als Khadija mit überraschend sanfter und jugendlicher Stimme sagte: »Nur du, Amira, kannst Gottes Fluch von unserer Familie nehmen. Es ist in deine Hände gegeben.«
Amira starrte sie voll Entsetzen an. Sie hörte wieder Khadijas Worte an jenem Abend in Kairo, als sie erklärt hatte: »In der Stunde deiner Geburt fiel ein Fluch auf unsere Familie.« Seit sechsundzwanzig Jahren lebte Amira in dem schrecklichen Bewußtsein: Ich habe meiner Familie Unheil gebracht …
Khadija schien ihre Gedanken zu lesen und sagte: »Du bist nicht schuld an diesem Fluch, obwohl er in der Nacht deiner Geburt uns alle aufs neue traf. Ein anderer hat diesen Fluch über uns gebracht.« Und sie dachte: Jetzt weiß ich, wer es war. Aber dieses Geheimnis wollte sie mit ins Grab nehmen, wenn der Fluch von ihnen allen genommen sein würde.
Amira blickte auf den Nil, der in dem letzten Licht des Tages noch einmal blaßblau schimmerte, ehe er völlig schwarz wurde. Feluken – schmale Boote mit dreieckigen Segeln – zogen geometrische Wellen über das Wasser; die hohen Dattelpalmen wurden vor dem Nachthimmel zu zottigen Silhouetten.
Geliebte und vertraute Namen fielen Amira ein – Jasmina, Tahia und Mohammed. Diese Namen waren ihr in all den Jahren nie über die Lippen gekommen. Jetzt sehnte sie sich danach, sie auszusprechen. Amira wollte wissen: Leben sie noch? Fragen sie nach mir? Aber diese Genugtuung würde sie Khadija nicht gewähren. »Du hast mich sechs- undzwanzig Jahre in dem Glauben gelassen, ich hätte meine Familie ins Unglück gestürzt und sei von Gott verflucht worden. Du hast mir all mein Glück, meine Liebe und eine Familie geraubt. Warum sollte ich dir helfen? Und warum gerade ich?«
»Weil mir nur noch wenig Zeit bleibt, Amira«, erwiderte Khadija ruhig. »Komm mit mir nach Kairo zurück. Du bist Ärztin, du mußt deine Familie heilen.«
Als Amira verbittert den Kopf schüttelte und stumm auf den Fluß starrte, fügte Khadija leise hinzu: »Wir dürfen keine Feindinnen sein, Amira. Du bist meine Enkeltochter, und ich liebe dich aus ganzem Herzen.«
»In aller Achtung vor dir, Großmutter, ich kann nicht vergessen, was damals geschehen ist …«
»Es war für uns alle traurig, mein armes Kind. Aber laß dir sagen, ich habe als kleines Mädchen etwas so Schreckliches erlebt, daß ich nur noch weinen konnte. Ich habe geweint, bis keine Tränen mehr kamen und ich zu sterben glaubte. Ich bin nicht gestorben, aber in meinem tiefsten Innern blieb eine grauenhafte Angst zurück. Damals habe ich geschworen, daß ich meine Kinder vor solchen Qualen schützen würde. Ibrahim war mein Sohn und ist dein Vater. Amira, ich konnte mich damals nicht gegen ihn stellen. Nach dem Gesetz kann ein Mann mit seinen Kindern tun, was ihm beliebt. Er ist Herr über seine Familie. Aber ich habe um dich getrauert, Amira.«
Amira erstarrte. Hatte Khadija deshalb das Telegramm geschickt? Mit zitternder Stimme fragte sie: »Ist mein Vater … ist er tot?«
»Nein, Amira, dein Vater lebt noch. Aber um sein Leben zu retten, bitte ich dich, nach Hause zu kommen. Er ist sehr krank, Amira. Er liegt im Sterben. Er braucht dich.«
»Hat er dich darum gebeten, mich zurückzuholen?.«
Khadija schüttelte den Kopf. »Dein Vater weiß nicht, daß du hier bist. Ich habe gefürchtet, wenn er erfährt, daß ich bei dir bin und du vielleicht nicht mit mir kommst, dann würde ihn das völlig vernichten.«
Amira mußte mit den Tränen kämpfen. »Warum stirbt er? Was für eine Krankheit ist es?«
»Nicht sein Körper ist krank, Amira, sondern seine Seele. Seine Seele stirbt. Er hat den Willen verloren zu leben.«
»Wie kann ich ihn dann noch retten?«
»Er stirbt auch deinetwegen. An dem Tag, an dem du Ägypten verlassen hast, verlor er seinen Glauben. Er war überzeugt davon, daß Gott ihn verlassen hatte. Das glaubt er noch immer. Amira, du darfst deinen Vater nicht so sterben lassen, denn dann wird Gott ihn wirklich verlassen, und er kommt nicht in das Paradies.«
»Es ist seine Schuld …«, aber Amira versagte die Stimme.
»Amira! Glaubst du wirklich, daß du alles weißt? Glaubst du zu wissen, warum dein Vater das tat, was er getan hat? Kennst du alle Geschichten unserer Familie? Bei dem Propheten – Friede sei mit ihm –, du kennst die Geheimnisse unserer Familie nicht, die Geheimnisse, die auch dein Leben bestimmen. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, daß du sie kennenlernst.« Khadija nahm die Ledertasche auf den Schoß und holte eine alte geschnitzte, mit Elfenbein eingelegte Schatulle heraus. Auf dem Deckel stand auf arabisch: Gott der Barmherzige. »Du erinnerst dich an die Misrachis. Sie waren unsere Nachbarn in der Paradies-Straße. Sie mußten Ägypten verlassen, weil sie Juden sind. Marijam Misrachi war meine beste Freundin. Wir haben unsere Geheimnisse gegenseitig gehütet. Ich will dir alle unsere Geheimnisse anvertrauen, denn du stehst meinem Herzen am nächsten, und ich möchte dich mit deinem Vater aussöhnen. Ich werde dir sogar Marijams größtes Geheimnis erzählen. Sie ist gestorben, deshalb darf ich mit dir darüber sprechen. Und dann werde ich dir von meinem eigenen schrecklichen Geheimnis berichten, das nicht einmal dein Vater kennt. Aber zuerst mußt du dir alles andere anhören.«
»Ich kann nicht mit dir nach Kairo zurückfahren. Vergiß nicht, ich bin für euch alle tot«, sagte Amira und verschluckte das gewohnte »Umma«, Mutter, mit dem sie Khadija immer angesprochen hatte.
»Dein Vater und ich haben dich für tot erklärt, mein Kind, weil …«
Amira hob die Hand. »Sajjida«, unterbrach sie Khadija und wählte bewußt die förmliche Anrede, »was geschehen ist, ist geschehen. Und alles stand von Anbeginn der Zeit so bei Gott geschrieben. Ich werde nicht mit dir nach Kairo zurückfahren!«
Aber Khadija achtete nicht auf ihren Einwurf, sondern öffnete den Deckel der Schatulle. Amira erschauerte. Sie hatte Angst vor dem, was dort zum Vorschein kommen mochte, aber sie wollte es auch wissen. Es klang kläglich, als sie flüsterte: »Ich möchte deine Geheimnisse nicht hören …«, denn sie begriff, daß Khadija sie auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen wollte.
»Du wirst mir deine Geheimnisse anvertrauen«, sagte Khadija. »Ja, denn auch du hast Geheimnisse.« Sie seufzte. »Wir wollen uns vertrauen, und wenn Gott aus unserem Mund die ganze Geschichte hört, dann flehe ich IHN an, uns in SEINER großen Güte erkennen zu lassen, was wir tun müssen.« Sie holte tief Luft und begann langsam zu erzählen: »Das erste Geheimnis, Amira, reicht in das Jahr vor deiner Geburt zurück. Damals war der Zweite Weltkrieg gerade vorüber, und die Welt feierte den Frieden. Es geschah in einer warmen Sommernacht, einer Nacht voller Hoffnungen und Versprechungen. In dieser Nacht versank unsere Familie noch tiefer in den Abgrund …«