Russland
Das große Lesebuch
Herausgegeben von Ulrich Schmid
FISCHER E-Books
Der Herausgeber Ulrich Schmid (geb. 1965) ist seit 2007 Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands. Von 2010 bis 2014 war er Dekan der Kulturwissenschaftlichen Abteilung der Universität St. Gallen und von 2005 bis 2007 Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 1994 ist er ständiger freier Mitarbeiter im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung. Schmid koordiniert seit 2011 ein internationales Forschungsprojekt zum Regionalismus in der Ukraine. Wichtigste Publikationen: De profundis. Vom Scheitern der russischen Revolution (2017), Technologien der Seele. Die Verfertigung von Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur (2015), UA – die Ukraine zwischen Ost und West (2015), Schwert, Kreuz und Adler. Die Ästhetik des nationalistischen Diskurses in Polen (1926−1939) (2014).
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Die russischen Literaten nehmen seit jeher eine besondere Stellung in ihrem Land ein. Sie stehen mit der Staatsmacht auf Kriegsfuß, haben Unterdrückung und Demütigung erfahren oder erheben ihre Stimme für die von der Gesellschaft Vergessenen. Eins aber verbindet sie alle: die Liebe zu ihrem Land, das so vielfältig ist wie ein ganzer Kontinent. Der Herausgeber Ulrich Schmid lässt altbekannte Klassiker wie Puschkin, Pasternak oder Bunin zu Wort kommen, aber auch Stimmen der jüngeren Generation wie Michail Schischkin oder Zakhar Prilepin. Ein ausgezeichneter Band zum Neu- oder Wiederentdecken.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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ISBN 978-3-10-490535-8
Anton Pogorelski (1787–1836); Verfasser phantastischer Novellen in der Art E. T. A. Hoffmanns.
Symon Petljura (1879–1926), politischer Führer im kurzlebigen ukrainischen Staat.
Was hätte mir da in den Sinn kommen können? Eine Frau. Vielleicht war es eine zarte Nymphe, die ihn an sich band, an ihr Haus oder gar an gemeinsame Kinder, die dann gestorben war, ihn verraten hatte, ihm langweilig wurde. Der Protagonist singt für die zärtlich geliebte Frau aus dem Volk die leidenschaftliche Arie »Verzeih, doch mein Stern ruft mich fort«. Einer der Männer des Stadtrats, ein stiller und neugieriger Alter, beginnt zu ahnen, dass hinter der Serie rätselhafter Todesfälle von Jungfrauen aus aristokratischen Familien, deren Leichen zumeist in den Gewässern von Pontos gefunden werden, der Verbannte steckt, der sich Hoffnungen auf eine Rückkehr auf den Thron macht. Durch einen Pakt mit dem Fürsten der Finsternis vergiftet eine alte Hexe die christliche Seele des Protagonisten mit satanischem Stolz und infernalischem Zorn und lässt erst von ihm ab, als sie sicher sein kann, aus dem Basileus den Antichrist gemacht zu haben. Nachdem er die Realität neu überdacht hat, fordert der Protagonist die Gesellschaft heraus, doch die Trägheit der historischen Entwicklung verwandelt seine Anstrengungen zu Asche. Zehn Jahre lebt er unter der Fuchtel einer launenhaften, herrschsüchtigen und hysterischen Bestie und entschließt sich endlich zu einem verzweifelten Versuch, vor der Megäre zu fliehen; durch ein Wunder entkommt er seinen Verfolgern, wird aber nie wieder der Alte sein.
In russischen Dörfern pflegt man das Tor am Hause eines Mädchens, das gefehlt hat, mit Pech zu beschmieren.
Pjotr Nikolajewitsch Wrangel, General der Weißen Armee im Russischen Bürgerkrieg.
Die russische Erzählprosa gehört zum innersten Kern der Weltliteratur. Ohne die Schriftsteller des Realismus und der Moderne würden wichtige Gestaltungsmöglichkeiten im literarischen System fehlen: Tolstoj hat den verfremdenden Blick auf die Wirklichkeit perfektioniert, Dostojewski ist ein Meister der Vielstimmigkeit, Tschechow steht für die Abkehr vom Primat der Handlung. Neben diesen Stars gibt es allerdings eine Reihe weiterer Autoren, die entweder in Vergessenheit geraten sind oder die zumindest im Westen nie die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erhalten haben. Dazu gehören etwa der feinsinnige Chronist Nikolaj Leskow, der dekadente Stilkünstler Fjodor Sologub oder der hellsichtige Avantgardist Boris Pilnjak.
Die russische Prosa wird von einigen spezifischen Rahmenbedingungen bestimmt. Sehr oft steht bei den russischen Autoren nicht ein »unerhörtes Ereignis« (Goethe) im Zentrum der erzählenden Gestaltung, sondern eine polemische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, politischen oder ästhetischen Konventionen. Viele Erzählungen müssen vor dem Hintergrund dessen gelesen werden, was in ihrer Poetik als unzureichende Wirklichkeit auftaucht. Die Autoren stellen ihre Prosa der prekären Welterfahrung entgegen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Zumutungen des Lebens in literarischen Texten zu bewältigen. Zunächst kann das durch eine schonungslose Beschreibung der russischen Realität geschehen. Mögliche Spielarten sind dabei die bitterböse Schilderung von Missständen oder aber die humorvolle Satire. Daneben stößt man auf Versuche, die Lebenswelt in einer kunstvollen Sprache und extravaganten Komposition zu ästhetisieren. Schließlich gravitieren viele Texte auf einen phantastischen oder utopischen Wahrheitsentwurf, der weitreichende gesellschaftspolitische Implikationen aufweist.
Sowohl das Genre der Anthologie als auch die Lektüre gedruckter Prosa scheinen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Anachronismus zu sein. Die einzelnen Texte dieses Bandes fordern eine ganz unmoderne Konzentration. Es geht immer um Grundlegendes: um das menschliche Bewusstsein kurz vor dem Tod (Lermontow, Garschin, Sologub, Schalamow), um die Absurdität der Bürokratisierung des Lebens (Gontscharow, Leskow, Tschechow), um die Irrationalität des menschlichen Verhaltens (Charms, Leonow, Sorokin), um den Ursprung des Bösen (Dostojewski, Bulgakow, Ulitzkaja, Prilepin), um die Unmöglichkeit der Liebe (Pasternak, Bunin, Lewental).
Nicht nur die Themen, auch die Stilformen sind anspruchsvoll. Neben der naturalistischen Wirklichkeitsbeschreibung (Tschechow, Prilepin) finden sich phantastische Erzählelemente (Puschkin, Sorokin). Der dokumentarische Erzählgestus (Ulitzkaja) wird durch sorgfältig rhythmisierte Prosa (Lermontow, Sologub) oder ornamentale Schreibweisen (Babel, Pilnjak) ergänzt.
Die Autoren dieses Bandes richten ihr Schreiben immer auf ein bestimmtes Publikum aus. Ein Kafka, der mit seinem Schreiben in erster Linie seine eigene Psyche ergründen will und in seinem Testament auf der Vernichtung seines Werks besteht, ist in Russland kaum vorstellbar. Die wenigen Fälle von russischen Autodafés haben andere Gründe. So verbrannte etwa Nikolaj Gogol (1809–1852) das Manuskript zur Fortsetzung der Toten Seelen, weil er mit seinem Text unzufrieden war. Anders als bei Kafka war Gogols gesamte schriftstellerische Existenz auf die moralische Beeinflussung seiner Leser und auf das Zurückdrängen des Bösen in der Welt ausgerichtet. Deshalb ist auch das letzte Werk, das Gogol zu Lebzeiten veröffentlicht hat, eine Auswahl von Briefen an seine Freunde, in denen er ihnen bizarre Ratschläge für das richtige Leben erteilt. Noch Nabokov regte sich über eine Stelle aus diesem Buch auf, an der Gogol den russischen Gutsbesitzern empfiehlt, ihre Leibeigenen um sich zu sammeln, vor ihren Augen einen Hundertrubelschein zu verbrennen und ihnen damit zu demonstrieren, wie unwichtig materielle Güter seien.
Sehr oft wird in der russischen Prosa als literarisches Gestaltungsmittel die direkte Rede eingesetzt. Dostojewski hält sich etwa bei der moralischen Bewertung seiner Figuren sehr zurück. Es gibt auch kaum psychologische Introspektion in seinen Texten. Dafür verraten gerade die negativen Protagonisten sehr viel über ihren Charakter, wenn sie sich in ungelenken rhetorischen Versatzstücken mündlich ausdrücken. Dieser Kunstgriff erlaubt es Dostojewski, einer billigen Moral der Geschichte auszuweichen und den Leser selbst zum Zeugen des Geschehens zu machen. Der Literaturwissenschaftler Michail Bachtin hat diese Eigenart von Dostojewskis Texten in einem bahnbrechenden Buch aus dem Jahr 1929 mit den Konzepten der Polyphonie und Dialogizität beschrieben – diese Begriffe gehören heute zum analytischen Instrumentarium der Psychoanalyse, Soziologie oder Organisationsforschung.
Die russischen Schriftsteller insistieren auf der unbedingten Relevanz und Wahrhaftigkeit ihres Schreibens. Die Wahrheit kann nicht anonym sein, sie entsteht im Gegenüber von Ich und Du. Jeder literarische Dialog muss aus dieser Perspektive gelesen werden. Smalltalk kommt natürlich auch in der russischen Literatur vor, allerdings bildet das belanglos dahinplätschernde Gespräch in der Regel die Kontrastfolie für das, was Dostojewski das »Wort« nennt – jenen Ausdruck unbedingter Aufrichtigkeit, der den Sprechenden nicht nur über sich selbst, sondern auch über sein Weltverhältnis aufklärt. Am deutlichsten hat der Gulag-Autor Warlam Schalamow diese Besonderheit benannt. Er wandte sich gegen die literarische Ästhetisierung der Wirklichkeit und insistierte auf der Wahrheit des persönlichen Dokuments. Sorgfältig stilisierte Wortkunstwerke, wie sie etwa Isaak Babel hervorbrachte, bezeichnete er als Schnickschnack. Seine eigene Prosa reinigte er von allem Pathos und ließ seine Leser die Qual der Handlungsfiguren noch einmal in der Lektüre durchleiden.
Ulrich Schmid
Der Kultursemiotiker Juri Lotman hat im Anschluss an Hegel darauf hingewiesen, dass die Lyrik die ursprüngliche Form des literarischen Ausdrucks sei. In der russischen Kultur ist der Stellenwert der Poesie traditionell sehr hoch. Noch während der Sowjetzeit gehörte das Auswendiglernen des lyrischen Kanons zum Pflichtprogramm der Schule. Nicht wenige Intellektuelle konnten sogar ganze Verserzählungen rezitieren.
In vielen Fällen baut die russische Prosa auf lyrischen Konzeptionen und Formulierungen auf. Der erste ästhetisch wirklich eigenständige Roman in der russischen Literatur ist nicht zufällig der Versroman Jewgeni Onegin (1825–1833), für den Alexander Puschkin (1799–1837) sogar eine eigene Strophenform entwickelt hat. In diesem Text reflektiert der raffinierte Erzähler auch ironisch sein lyrisches Sprechen und fragt sich, ob er sich nicht zur »demütigen Prosa« herablassen soll. Bereits in einer Notiz von 1821 hatte Puschkin festgehalten, dass »Kürze und Genauigkeit die ersten Vorzüge der Prosa« seien. Sie erfordere vor allem Gedanken, ohne Gedanken nützten alle eleganten Formulierungen nichts.
Dass Puschkin selber Prosa geschrieben hat, verdankt sich einem Zufall. Im Herbst 1830 saß der Dichter wegen einer Choleraepidemie auf seinem Landgut Boldino fest und erlebte einen Schub literarischer Inspiration. Innerhalb weniger Wochen entstanden vier kurze Dramen, zwei Poeme, dreißig Gedichte und fünf Erzählungen. Puschkins Prosatexte sind enorm innovativ und haben ihre Modernität bis heute nicht eingebüßt. Im Zentrum stehen dabei die Erzählungen Belkins. Puschkin versteckt seine Textkunstwerke in einer verschachtelten Erzählstruktur mit fiktivem Herausgeber und Autor. In der Erstausgabe gab er sich nur indirekt mit den Initialen A.P. zu erkennen. Puschkins überbordende literarische Einbildungskraft überstieg sogar seine eigene Schreibkapazität. Die Sujets zum Revisor und zu den Toten Seelen stammen von Puschkin, der sie Gogol zur Ausarbeitung überließ.
Stark von Puschkin beeinflusst war Michail Lermontow (1814–1841), der sich mit einem scharfen Gedicht auf Puschkins Duelltod im Jahr 1837 den ersten literarischen Ruhm erwarb. Nicht nur die »Berühmtheit über Nacht« teilt Lermontow mit seinem großen Vorbild George Byron, sondern auch die Gestaltung des eigenen Lebens nach literarischen Mustern. In seinem Roman Ein Held unserer Zeit (1840) versuchte Lermontow, seine Epoche in eine narrative Ordnung zu fassen. Entstanden sind dabei sechs Prosastücke, die eher Erzählungen in einem Zyklus als Kapitel eines Romans darstellen. Seine Absicht hatte Lermontow in einem berühmten Vorwort formuliert:
Der Held unserer Zeit, meine Herrschaften, ist in der Tat ein Porträt, aber nicht das eines einzelnen Menschen: es ist ein Porträt, zusammengesetzt aus den Lastern unserer ganzen Generation, in ihrer vollen Entfaltung.
Geschickt spielte Lermontow mit dem romantischen Erwartungshorizont seiner Leser. Er rechtfertigte die emotionale Amplitude seines Helden mit der englischen und französischen Erzähltradition, in der nachgerade prometheische Protagonisten auftreten. Gleichzeitig wendet er sich aber auch gegen die empfindsame Literatur, in der die Handlung nur als Illustration für eine bestimmte Moral dient:
Denkt jedoch nicht, der Autor dieses Buches habe jemals den hehren Traum gehegt, die menschlichen Laster zu bessern. Gott schütze ihn vor solcher Torheit! Es hat ihm einfach Vergnügen bereitet, einen Menschen der Gegenwart zu zeichnen, so wie er ihn versteht und wie er ihm, zu seinem und Eurem Unglück, allzu oft begegnet ist. Mag denn genügen, dass die Krankheit benannt ist, wie sie indes zu heilen sei – weiß Gott allein!
Lermontow spiegelt sich in seinem Helden und übergießt ihn gleichzeitig mit ironischem Spott. Deshalb beschäftigte sich auch der große Trickster Nabokov intensiv mit Lermontow. 1958 übersetzte er – gemeinsam mit seinem Sohn – den Helden unserer Zeit ins Englische. Bereits 1941 hatte Nabokov in einem Essay auf die raffinierte Farbregie in diesem Roman aufmerksam gemacht: Lermontow sei der erste russische Autor gewesen, der die Farbe »violett« überhaupt gesehen habe.
Puschkin und Lermontow starben in je einem selbstverschuldeten Duell in den Jahren 1837 und 1841. Innerhalb von kurzer Zeit hatte damit die russische Romantik gewissermaßen ein gewaltsames Ende gefunden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte die Poesie im Gattungssystem der russischen Literatur in den Hintergrund. Gontscharow, Turgenjew, Dostojewski und Tolstoj präsentierten in ihren Gesellschaftsromanen ihre ambitiösen Wahrheitsentwürfe. Individuelle lyrische Stimmungen lagen windschief zu den drängenden Problemen des rückständigen Zarenreichs. Wer Lyrik schrieb, war entweder ein spätgeborener Romantiker wie Fjodor Tjutschew oder ein reimender Journalist wie Nikolaj Nekrassow.
Erst gegen Ende des Jahrhunderts schwang das Pendel wieder zurück. Nach 1880 entdeckte eine neue Generation von Autoren den französischen Symbolismus und importierte ihn nach Russland. Besonders die Dekadenz hatte es den russischen »bleichen Jünglingen« (Waleri Brjussow) angetan. Sie schwelgten in schwüler Erotik, sadomasochistischen Gewaltphantasien und melodramatischer Todesverliebtheit. Einer der radikalsten Symbolisten war Fjodor Sologub (1863–1927), der sich als Verfasser lautmalerischer Gedichte und des Romans Der kleine Dämon (1907) einen Namen gemacht hatte. Seine Erzählung »Der Stachel des Todes« (1903) thematisiert die jugendliche Sexualität und macht eindringliche Naturbeschreibungen als Seelenlandschaften lesbar.
Boris Pasternak (1890–1960) entzieht sich allen literaturgeschichtlichen Kategorisierungen. Er wollte erst eine akademische Laufbahn als Philosoph einschlagen und begann als Student, erste Gedichtbände zu veröffentlichen. Mit seiner subjektbetonten Lyrik geriet er bald in Konflikt mit der offiziellen Sowjetliteratur. Auch in seiner feinsinnigen Prosa verweigerte er sich der staatlich verordneten Aufbaubegeisterung. Obwohl sich ihm Anfang der zwanziger Jahre die Gelegenheit geboten hätte, mit seinen Eltern in den Westen zu emigrieren, blieb er im Moskau, das von der Revolution und vom Bürgerkrieg erschüttert wurde. Während der dreißiger Jahre musste er sich auf Übersetzungen (Shakespeare, Goethes Faust) verlegen. Auf Bitten des damals bereits entmachteten Nikolaj Bucharin verfasste Pasternak eine Stalinode, die am Neujahrstag 1936 auf der Frontseite der Iswestija erschien. Sein Verhalten schwankte zwischen Anpassung und Verweigerung. Seine Unterschrift findet sich zwar unter zwei offenen Briefen des Schriftstellervereins, in denen die Erschießung von hohen Parteifunktionären gefordert wird, nicht aber unter einer ähnlichen Hetzschrift gegen die Armeespitze. Isaiah Berlin, der den Dichter im Herbst 1945 in Moskau traf, gibt Pasternaks Position in seinen Memoiren mit deutlichem Befremden wieder: »Der finstere Albtraum von Verrat, Säuberungen, Massakern an Unschuldigen, gefolgt von einem schändlichen Krieg erschien ihm als notwendiges Vorspiel zu einem sicheren und unerhörten Sieg des Geistes.«
1958 erhielt Pasternak den Nobelpreis für seinen Roman Doktor Shiwago. Sowjetische Literaturredaktionen hatten das Werk abgelehnt, weil die Oktoberrevolution als »grausames und sinnloses Chaos« dargestellt werde. Nachdem Doktor Shiwago in Italien erschienen war, entfesselte die sowjetische Presse eine Hetzkampagne, unter deren Druck Pasternak auf die hohe Auszeichnung verzichtete. Die groben Anfeindungen stellten für Pasternak eine schwere Belastung dar, die ihn an den Rand des Selbstmordes brachte. Am 30. Mai 1960 verstarb er an den Folgen eines Lungenkarzinoms, das sich eineinhalb Jahre zuvor gebildet hatte. Noch im Tod gewährten die Behörden dem berühmten Schriftsteller keinen Frieden: Die Todesmeldung war der Literaturnaja gaseta mit dreitägiger Verspätung einen einzigen Satz auf der letzten Seite wert; Ort und Zeit der Beerdigung wurden nirgends publiziert. Trotzdem fanden sich über zweitausend Trauergäste ein, die dem Dichter das letzte Geleit gaben.
Ulrich Schmid
Sehn wir nicht Särge Tag für Tag, Siechenden Weltalls graue Haare?
Dershawin
Das letzte Gerümpel des Sargschreiners Adrian Prochorow wurde auf den Leichenwagen geladen, und die beiden abgemagerten Mähren schleppten sich zum vierten Mal von der Basmannaja zur Nikitskaja, wohin der alte Mann mit seiner Familie und allem, was ihm gehörte, übersiedelte. Nachdem er den ausgeräumten Laden zugesperrt hatte, brachte er am Eingang einen Zettel an, auf dem zu lesen stand, dass das Haus zu verkaufen oder zu vermieten sei, und machte sich zu Fuß auf den Weg zu seiner neuen Wohnung. Je mehr der Sargschreiner sich dem kleinen, gelb angestrichenen Haus näherte, das schon so lange seine Einbildungskraft gereizt und das er schließlich für eine nicht unerhebliche Summe erworben hatte, desto stärker fühlte er zu seinem Erstaunen, dass ihm der Umzug gar keine Freude bereitete. Als er über die ungewohnte Schwelle trat und in den neuen Wohnräumen einen heillosen Wirrwarr vorfand, seufzte er und dachte an seine alte Behausung, wo achtzehn Jahre lang die strengste Ordnung geherrscht hatte. Er tadelte seine beiden Töchter und das Dienstmädchen wegen ihrer Trägheit und begann ihnen zu helfen. So kam alles bald in Ordnung: Ikonenschrein, Geschirrschrank, Tisch, Kanapee und Bett erhielten die ihnen zugedachten Plätze im hinteren Zimmer; in der Küche und im Wohnzimmer wurden die Erzeugnisse des Schreiners untergebracht, Särge in allen Farben und Größen, ferner die Schränke mit den schwarzen Hüten, Trauermänteln und Fackeln. Über der Haustür hing ein Schild, auf dem ein rundlicher Amor mit einer umgekehrten Fackel in der Hand abgebildet war. Darunter stand geschrieben: »Hier werden einfache und angestrichene Särge verkauft und beschlagen, auch gebrauchte vermietet und repariert.« Die Mädchen gingen in ihre Stube, und Adrian machte einen Rundgang durch seine neue Behausung. Dann setzte er sich ans Fenster und ließ sich den Samowar bringen.
Der gebildete Leser weiß, dass Shakespeare und Walter Scott ihre Totengräber als fidele Possenreißer geschildert haben, um durch diesen Kontrast unsere Phantasie umso mehr anzuregen. Aus Achtung vor der Wahrheit können wir jedoch ihrem Beispiel nicht folgen und müssen gestehen, dass das Wesen unseres Sargschreiners seinem düsteren Handwerk vollkommen entsprach. Adrian Prochorow war gewöhnlich missmutig und wortkarg: Er brach sein Schweigen fast nie, es sei denn, dass er seine Töchter anfuhr, wenn sie untätig am Fenster saßen und den Vorübergehenden nachgafften, oder dass er ungebührlich hohe Preise für seine Erzeugnisse von Kunden verlangte, die das Unglück – zuweilen aber auch die Freude – hatten, diese Erzeugnisse dringend zu benötigen. So saß denn Adrian am Fenster, trank die siebente Tasse Tee und hing wie gewöhnlich seinen trübseligen Gedanken nach. Er dachte an den Platzregen, der vor einer Woche auf den Leichenzug des pensionierten Brigadiers niedergegangen war. Viele Trauermäntel und Hüte waren infolge der Nässe verdorben und unbrauchbar geworden. Unumgängliche Ausgaben standen bevor, denn die ohnehin veralteten Vorräte seiner Trauerartikel befanden sich jetzt in einem geradezu kläglichen Zustand. Prochorow hoffte zwar, diese Verluste bei der Beerdigung der alten Kaufmannsfrau Trjuchina, die schon seit bald einem Jahr im Sterben lag, wieder einigermaßen wettmachen zu können. Aber die Trjuchina kämpfte am weit entfernten Rasguljai mit dem Tode, und der Sargschreiner fürchtete, ihre Erben könnten es vorziehen, mit einem anderen Unternehmer in ihrer Nähe handelseinig zu werden, statt sich an ihn zu wenden, wie sie es ihm doch fest zugesagt hatten.
Diese Überlegungen wurden plötzlich durch ein dreimaliges Klopfen unterbrochen. »Wer ist da?«, rief Prochorow. Die Tür öffnete sich, und ein Mann, den er auf den ersten Blick als einen deutschen Handwerker erkannte, trat ein und kam mit heiterer Miene auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie, lieber Nachbar«, sagte er auf Russisch mit jener bezeichnenden Aussprache, die wir Russen bis heute nicht hören können, ohne dass sie uns ein Lächeln abnötigt, »entschuldigen Sie, wenn ich störe … ich komme, um mich mit Ihnen bekannt zu machen. Mein Name ist Gottlieb Schulze, ich bin Schuhmacher und wohne gleichfalls in dieser Straße, in dem Häuschen, das Ihren Fenstern gerade gegenüberliegt. Morgen begehe ich meine Silberhochzeit. Wollen Sie und Ihre Töchter die Güte haben, beim Festessen unsere Gäste zu sein?«
Die Einladung wurde bereitwilligst angenommen. Der Sargschreiner forderte Gottlieb Schulze auf, Platz zu nehmen und mit ihm Tee zu trinken. Dank der Unbefangenheit des Schusters war man bald mitten in einem freundschaftlichen Gespräch.
»Wie gehen die Geschäfte, Verehrtester?«, fragte Adrian.
»He, he, he«, lachte Schulze, »mal so, mal so. Ich kann nicht klagen. Meine Ware kommt natürlich der Ihren nicht gleich: Lebende können auf Stiefel verzichten, nicht aber Tote auf den Sarg.«
»Sehr wahr«, bemerkte Adrian, »indessen, wenn der Lebende nicht die Mittel hat, sich Stiefel zu kaufen, so läuft er eben – nichts für ungut – barfuß herum, aber der tote Bettler beschafft sich seinen Sarg umsonst.«
In diesem Ton unterhielten sich die beiden noch eine Weile, bis der Schuster schließlich aufstand und sich von dem Sargschreiner verabschiedete, nicht ohne seine Einladung zu wiederholen.
Am andern Tag pünktlich um zwölf Uhr verließ der Sargschreiner mit seinen Töchtern sein neu erworbenes Grundstück durch die Gartenpforte und ging zu dem Nachbarn hinüber. Ich versage es mir, Adrian Prochorows russischen Kaftan und die europäischen Kleider Akuljas und Darjas ausführlich zu beschreiben, womit ich freilich gegen die Regel unserer heutigen Romanschriftsteller verstoße. Trotzdem halte ich die Bemerkung nicht für überflüssig, dass beide Jungfrauen gelbe Hüte und rote Schuhe trugen wie immer bei feierlichen Gelegenheiten.
In den engen Räumen der Schuhmacherwohnung drängten sich die Gäste; deutsche Handwerker mit ihren Frauen und ihren Gesellen und ein Este namens Jurko, der es trotz seiner untergeordneten Stellung – er war städtischer Straßenaufseher – verstanden hatte, sich die besondere Gunst des Gastgebers zu erwerben. Fünfundzwanzig Jahre hatte er, wie Pogorelskis Postillon[1], seine Obliegenheiten brav und gewissenhaft erfüllt. Der große Brand von 1812, der Moskau, die erste Reichshauptstadt, einäscherte, hatte auch sein gelb angemaltes Wächterhäuschen zerstört. Aber gleich, nachdem die Feinde verjagt waren, hatte man ein neues, diesmal grau gestrichenes und mit weißen dorischen Säulchen verziertes Häuschen errichtet, und Jurko patrouillierte wieder wie früher mit einer Hellebarde und im »Harnisch« von grobem Bauerntuch in seinem Bezirk. Die meisten Deutschen, die in der Nähe des Nikita-Tores wohnten, kannten ihn, manche sogar recht gut, denn es war nicht selten vorgekommen, dass sie die Nacht vom Sonntag auf den Montag in seiner Bude hatten verbringen müssen. Adrian stellte sich ihm sogleich vor als einem Menschen, den man früher oder später würde brauchen können, und als man zu Tisch ging, nahmen sie nebeneinander Platz.
Die Eheleute Schulze und ihre Tochter, das siebzehnjährige Lottchen, ermunterten ihre Gäste zuzulangen und unterstützten die Köchin beim Bedienen. Jurko aß für vier, und Adrian stand ihm nicht nach, seine Töchter indessen zierten sich. Die in deutscher Sprache geführte Unterhaltung wurde von Stunde zu Stunde lebhafter. Plötzlich meldete sich der Gastgeber zu Wort. Er öffnete eine versiegelte Flasche und rief mit lauter Stimme auf Russisch: »Auf das Wohl meiner guten Luise!« Das champagnerähnliche Getränk schäumte in den Gläsern. Herr Schulze küßte das frische Gesicht seiner vierzigjährigen Ehegesponsin, und die Gäste tranken lärmend auf die Gesundheit der guten Luise.
»Auf das Wohlergehen meiner lieben Gäste!«, ließ sich der Hausherr abermals hören, nachdem er die nächste Flasche geöffnet hatte. Die Anwesenden dankten und leerten ihre Gläser zum zweiten Mal. Jetzt folgte ein Trinkspruch dem andern. Man trank auf die Gesundheit jedes Einzelnen, brachte ein Hoch auf Moskau aus, gedachte eines ganzen Dutzends deutscher Städte und Städtchen, stieß auf die Zünfte im Allgemeinen und im Besonderen an und dann auf die Meister und die Gesellen. Adrian trank wacker mit und war schließlich so aufgeräumt, dass auch er ein scherzhaftes Hoch ausbrachte. Darauf erhob einer der Gäste, ein feister Bäckermeister, sein volles Glas und rief: »Auf das Wohl derer, für die wir arbeiten! Unsere Kundschaft – sie lebe hoch!« Dieser Toast wurde wie alle übrigen auch mit einmütiger Begeisterung begrüßt. Die Gäste begannen sich gegenseitig zuzutrinken, der Schneider dem Schuster, der Schuster dem Schneider, der Bäckermeister diesen beiden, allesamt wiederum dem Bäcker und so fort. Auf dem Höhepunkt des fröhlichen Durcheinanders schrie plötzlich Jurko, zu seinem Tischnachbarn gewandt, mit lauter Stimme: »Wie wär’s, Batjuschka, erheb dein Glas auf das Wohl deiner Toten!« Alle brachen in ein brüllendes Gelächter aus, aber der Sargschreiner schien diesen Zuruf übelzunehmen und verzog sein Gesicht. Niemand hatte es bemerkt, man fuhr fort zu trinken, und erst als zur Abendmesse geläutet wurde, erhoben sich die Gäste von ihren Plätzen.
Erst später und mehr oder weniger berauscht gingen sie auseinander. Der dicke Bäcker und der Buchbindermeister, dessen Gesicht lebhaft an einen roten Saffianeinband erinnerte, hatten Jurko untergefasst. Auf diese Weise brachten sie ihn ohne Zwischenfall in seine Bude zurück, eingedenk des russischen Sprichworts: Wer seine Schuld bezahlt, vermehrt sein Gut.
Betrunken und verärgert kam der Sargschreiner nach Hause. »Was soll das heißen?«, sagte er laut vor sich hin, »ist denn mein Handwerk weniger achtbar als jedes andere? Will man es etwa dem des Henkers gleichstellen? Worüber machen sich eigentlich diese Ausländer lustig? Bin ich in ihren Augen vielleicht ein Hampelmann? Ich dachte daran, sie alle zur Einweihung meines neuen Hauses einzuladen und ihnen ein üppiges Festmahl vorzusetzen. Jetzt aber kann keine Rede mehr davon sein! Diese Ketzer werde ich nicht zu mir bitten, sondern die, denen meine ehrliche Arbeit gilt: die im wahren Glauben verschieden sind!«
»Was hast du, Batjuschka?«, fragte die Magd, die ihm die Stiefel ausziehen half. »Du sprichst ja lauter wirres Zeug. Bekreuzige dich! Die Toten herbeirufen – was ist das doch für ein grauenhafter Einfall!«
»Bei Gott, ich lade sie alle auf morgen ein. Ja, kommt nur, meine Wohltäter, erweist mir die Ehre, morgen Abend in meinem Hause mit mir zu feiern! Ich werde euch mit allem bewirten, was Gott gibt.« Und damit warf sich Adrian auf sein Bett und schnarchte gleich drauflos.
Es war noch dunkel, als Adrian geweckt wurde. Die Kaufmannsfrau Trjuchina war in der Nacht gestorben, und ihr Geschäftsführer hatte einen reitenden Boten gesandt, um den Sargschreiner davon in Kenntnis zu setzen. Adrian gab ihm ein silbernes Zehnkopekenstück als Trinkgeld und zog sich eiligst an. Dann bestieg er eine Droschke und fuhr auf den Rasguljai. Vor dem Haus der Verstorbenen standen bereits Polizisten, und Kaufleute schnüffelten dort herum wie Krähen, die sich um ein Aas sammeln. Die Leiche lag auf einem Tisch, gelb wie Wachs und umringt von Angehörigen, Nachbarn und Dienern. Alle Fenster waren geöffnet, Kerzen brannten, und Geistliche lasen Gebete. Adrian trat auf den Neffen der Trjuchina zu, einen jungen, nach der neuesten Mode gekleideten Kaufmann, und versicherte ihm, dass Sarg, Kerzen, Sargdecke und alles, was sonst noch dazugehörte, unverzüglich und ordnungsgemäß geliefert werden würden. Der Erbe dankte zerstreut und fügte hinzu, dass er mit den Kosten ohne jedes Feilschen einverstanden sei und sich ganz auf die Gewissenhaftigkeit Prochorows verlasse. Der Sargschreiner beteuerte wie immer in solchen Fällen, dass er nicht mehr verlangen werde, als angemessen sei, wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit dem Geschäftsführer und entfernte sich, um die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Den ganzen Tag über fuhr er zwischen dem Rasguljai und dem Nikita-Tor hin und her. Erst am späten Abend war alles erledigt; er entließ den Droschkenkutscher und begab sich zu Fuß durch die mondhellen Straßen nach Hause. Vor der Himmelfahrtskirche am Nikita-Tor wurde er von unserem Bekannten Jurko angerufen. Dieser hatte ihn erkannt und wünschte ihm eine geruhsame Nacht.
Adrian näherte sich seinem Hause, als ihm plötzlich auffiel, dass jemand seine Gartenpforte öffnete und im Hause verschwand. Was soll das heißen, dachte er, braucht mich schon wieder jemand? Oder ist es am Ende ein Einbrecher, vielleicht sogar ein Schürzenjäger, der bei meinen närrischen Töchtern einsteigen will? Etwas Gutes bedeutet es gewiss nicht … Doch während der Sargschreiner noch erwog, ob er seinen Freund Jurko zu Hilfe rufen sollte, tauchte schon eine neue Gestalt am Pförtchen auf und schien gleichfalls eintreten zu wollen. Als er aber den Hausherrn herbeieilen sah, blieb er stehen und nahm seinen dreieckigen Hut ab. Sein Gesicht kam Adrian bekannt vor, doch vermochte er sich in der Eile nicht klar darüber zu werden, mit wem er es zu tun hatte.
»Sie wollen wohl zu mir«, sagte Adrian, und der Atem stockte ihm, »treten Sie nur gefälligst ein, erweisen Sie mir doch die Ehre.«
»Keine Redensarten, mein Lieber«, wehrte der Fremde mit hohler Stimme ab, »geh nur voran und zeig deinen Gästen den Weg!«
Adrian blieb nichts anderes übrig, als dieser Weisung zu folgen. Den Unbekannten hinter sich, schritt er durch das offene Pförtchen und die ebenfalls offenstehende Haustür und begann die Treppe hinaufzusteigen. Dabei kam es ihm vor, als ob in seinem Haus eine Menge Leute umhergingen. Was für ein Höllenspuk! dachte er und beeilte sich hinaufzugelangen. Als er die Tür zu seiner Wohnstube aufstieß, schlotterten ihm die Knie: das Zimmer war voll von Toten. Der Mond schien durchs Fenster und beleuchtete die gelben, blau angelaufenen Gesichter, die eingefallenen Lippen, die trüben, halbgeschlossenen Augen und die scharf hervortretenden Nasen … Ein panischer Schrecken durchfuhr den Sargschreiner, als er in diesen unheimlichen Gestalten die Toten erkannte, die mit seiner Hilfe begraben worden waren; der Gast, der mit ihm zusammen das Haus betreten hatte, war der Brigadier, dessen Leichenzug ein Platzregen überrascht hatte. Sie alle, Damen wie Herren, begrüßten Adrian mit Verbeugungen, Kratzfüßen und Glückwünschen, ausgenommen ein armer Schlucker, der kürzlich umsonst verscharrt worden war und sich dessen ebenso schämte wie seines groben Hemdes. Als Einziger drückte er sich verlegen im Hintergrund herum. Alle übrigen waren angezogen, wie es sich gehörte: die Frauen trugen bebänderte Hauben, die Männer waren zwar unrasiert, doch je nach Rang und Würden in Uniformen gekleidet, und die Kaufleute hatten ihre Sonntagskleider an.
»Prochorow«, ergriff jetzt der Brigadier im Namen der ganzen ehrenwerten Gesellschaft das Wort, »schau her, wir alle sind deiner Einladung gefolgt, ausgenommen bloß die, die beim besten Willen nicht mehr kommen konnten, weil sie entweder schon völlig zerfallen sind oder weil von ihnen nichts als Knochen ohne Haut übriggeblieben sind. Aber selbst von denen hat einer es nicht über sich gewinnen können wegzubleiben – so sehr wünschte er dabei zu sein …«
In diesem Augenblick drängte sich ein kleines Skelett durch die Menge, die Adrian umringte, und trat auf ihn zu. Mit einem einnehmenden Lächeln blickte sein Schädel zu dem Sargschreiner auf. An dem Gerippe hafteten noch einige Fetzen von hellgrünem und rotem Stoff und von fadenscheiniger Leinwand, während die Beinknochen in den hohen Reitstiefeln klapperten wie die Mörserkeulen in einem Mörser.
»Natürlich erkennst du mich nicht, Prochorow«, sagte das Skelett, »aber du erinnerst dich vielleicht noch an den verabschiedeten Gardesergeanten Pjotr Petrowitsch Kurilkin, an jenen Kurilkin, dem du im Jahre 1799 deinen ersten Sarg verkauftest, der übrigens statt aus Eiche nur aus Tannenholz war!«
Bei diesen Worten schickte sich das Gerippe an, Adrian zu umarmen, aber Prochorow nahm alle seine Kräfte zusammen, schrie auf und stieß es von sich. Pjotr Petrowitsch taumelte, schlug hin und brach in lauter Stücke auseinander. Der Toten bemächtigte sich eine ungeheure Empörung. Allesamt traten sie für die Ehre ihres Kollegen ein und warfen sich schimpfend und drohend Adrian entgegen. Der arme Hausherr, fast erdrückt und wie betäubt von diesem Lärm, verlor seine Fassung, fiel nun selbst über die Knochen des verabschiedeten Gardesergeanten und blieb besinnungslos liegen. –
Die Sonne brannte schon längst auf das Bett, in dem der Sargschreiner schnarchte. Endlich erwachte er und erblickte die Magd, die mit dem Anblasen der Kohlen im Samowar beschäftigt war. Mit Schrecken vergegenwärtigte sich Adrian, was sich gestern begeben hatte. Die Trjuchina, den Brigadier und den Sergeanten Kurilkin sah er wie in einem Nebel vor sich. Stumm erwartete er, dass die Magd anfangen würde, über die nächtlichen Vorkommnisse zu sprechen.
»Du hast dich aber tüchtig verschlafen, Batjuschka«, sagte Aksinja und half ihm in den Schlafrock, »der Schneider von nebenan hat schon nach dir gefragt, und unser Schutzmann war ebenfalls da und sagte, dass der Polizeiaufseher heute Namenstag habe. Du aber beliebtest immer noch zu schlafen, und wir trauten uns nicht, dich zu wecken.«
»War nicht auch jemand von der verstorbenen Trjuchina da?«
»Der verstorbenen? Seit wann ist denn die tot?«
»Dumme Gans! Hast du mir nicht selbst gestern bei den Vorbereitungen für ihre Beerdigung geholfen?«
»Was faselst du da, Batjuschka? Bist du denn ganz von Sinnen oder noch immer betrunken? Von welcher Beerdigung redest du? Du hast den ganzen Tag bei diesen Deutschen gezecht, kamst betrunken nach Hause, krochst ins Bett und wachtest erst auf, nachdem es schon lange zur Mittagsmesse geläutet hatte.«
»Stimmt das auch?«, sagte der Sargschreiner zweifelnd und nur halb beruhigt.
»Aber sicher«, erwiderte die Magd.
»Nun, wenn es sich so verhält, dann gib mir schnell den Tee und ruf die Töchter herein.«
Aus dem Russischen von Fred Ottow
Einst hatte ich Gelegenheit, zwei Wochen in einer Kosaken-Staniza an der linken Flanke zu verbringen; hier stand ein Bataillon Infanterie; die Offiziere versammelten sich reihum beieinander, abends spielte man Karten.
Einmal, als wir, des Bostons überdrüssig, die Karten unter den Tisch geworfen hatten, blieben wir noch sehr lange bei Major S*** sitzen; das Gespräch war, wider alle Gewohnheit, interessant. Wir sprachen davon, dass der muselmanische Glaube, wonach das Schicksal des Menschen in den Sternen stehe, auch unter uns Christen viele Anhänger finde; jeder erzählte verschiedene ungewöhnliche Fälle pro oder contra.
– All das, meine Herren, beweist nichts, – sagte der alte Major, – war doch niemand von Ihnen Zeuge jener sonderbaren Fälle, mit denen Sie Ihre Meinungen bekräftigen?
– Natürlich niemand, – sagten viele, – aber wir haben es von glaubwürdigen Leuten gehört.
– All das ist Unsinn!, – sagte jemand, – wo sind diese glaubwürdigen Leute, die das Verzeichnis gesehen hätten, in dem die Stunde unseres Todes eingetragen wäre? … Und wenn es wirklich eine Vorherbestimmung gäbe, wozu ist uns dann Wille, Verstand gegeben? und warum müssen wir Rechenschaft über unsere Handlungen ablegen?
In dem Moment stand ein Offizier, der in einer Ecke des Raumes saß, auf und maß, langsam auf den Tisch zutretend, alle mit einem ruhigen und triumphierenden Blick. Er war gebürtiger Serbe, wie seinem Namen zu entnehmen war.
Das Äußere von Lieutenant Vulić entsprach voll und ganz seinem Charakter. Der hohe Wuchs und die sonnengebräunte Gesichtsfarbe, die schwarzen Haare, die eindringlichen schwarzen Augen, die große, aber regelmäßige Nase, wie sie seiner Nation eignet, das bekümmerte und kalte Lächeln, das ewig seine Lippen umspielte, – all das stand im Einklang miteinander und verlieh ihm das Äußere eines besonderen Wesens, das unfähig ist, seine Gedanken und Leidenschaften denen mitzuteilen, die ihm das Schicksal als Kameraden zugewiesen hat.
Er war tapfer, sprach wenig, aber scharf; niemandem vertraute er seine seelischen und familiären Geheimnisse an; Wein trank er beinahe nie, den jungen Kosakentöchtern, deren Reize schwerlich ermessen kann, wer sie nicht gesehen hat, – machte er nie die Cour. Man sagte indes, die Frau des Obristen sei gegen seine ausdrucksvollen Augen nicht gleichgültig gewesen; doch wurde er ernstlich böse, wenn jemand darauf anspielte.
Es gab nur eine Leidenschaft, aus der er kein Hehl machte: die Spielleidenschaft. Am grünen Tisch vergaß er alles und verlor für gewöhnlich; doch die beständigen Misserfolge reizten seinen Eigensinn nur umso mehr. Man erzählte, dass er einmal, nachts, während einer Expedition, auf einem Kissen Bank hielt und dabei schreckliches Glück gehabt habe. Plötzlich ertönten Schüsse, man schlug Alarm, alle sprangen auf und stürzten zu den Waffen. »Setz vabanque!«, – rief Vulić, ohne sich zu erheben, einem der hitzigsten Pointeure zu. »Auf die Sieben«, – antworte der und lief davon. Ungeachtet des allgemeinen Durcheinanders spielte Vulić die Taille zu Ende; die Sieben lag auf.
Als er in der Kette erschien, war dort schon eine heftige Schießerei im Gange. Vulić scherte sich weder um Kugeln noch um tschetschenische Säbel: er suchte nach seinem glücklichen Pointeur.
– Die Sieben hat gewonnen!, – rief er, als er ihn schließlich in der Schützenkette sah, die begann, den Feind aus dem Wald zu verdrängen, und zog, nähergetreten, Geldbörse und Brieftasche und gab sie dem Glücklichen, ohne auf dessen Einwände gegen den unangebrachten Zeitpunkt der Zahlung zu achten. Nachdem er diese unangenehme Pflicht erfüllt hatte, stürmte er vorwärts, zog die Soldaten mit sich und lieferte sich bis zum Ende des Gefechts höchst kaltblütige Schußwechsel mit den Tschetschenen.
Als Lieutenant Vulić an den Tisch trat, verstummten alle in Erwartung irgendeiner originellen Auslassung.
– Meine Herrn!, – sagte er (seine Stimme war ruhig, wenn auch tiefer als gewöhnlich), – meine Herrn! wozu dieser läppische Streit? Sie wollen Beweise: ich schlage Ihnen vor, an uns selbst zu erproben, ob der Mensch nach eigenem Willen über sein Leben verfügen kann, oder ob jedem von uns die Schicksalsstunde vorbestimmt ist … Wer möchte?
– Ich nicht, ich nicht!, – ertönte es von allen Seiten, – was für ein Sonderling! wie kommt er darauf!
– Ich schlage eine Wette vor, – sagte ich im Scherz.
– Und die wäre?
– Ich behaupte, dass es keine Vorherbestimmung gibt, – sagte ich und schüttete etwa zwanzig Dukaten auf den Tisch – alles, was ich in der Tasche hatte.
– Ich schlage ein, – antwortete Vulić mit dumpfer Stimme. – Major, Sie werden Schiedsrichter sein; hier sind fünfzehn Dukaten: die restlichen fünf sind Sie mir schuldig, und Sie werden so freundlich sein, sie draufzulegen.
– Schön, – sagte der Major, – nur verstehe ich nicht, worum es geht und wie Sie den Streit lösen wollen?
Vulić ging schweigend ins Schlafzimmer des Majors; wir folgten ihm. Er trat zur Wand, an der die Waffen hingen, und nahm aufs Geratewohl eine verschiedenkalibrige Pistole vom Nagel; wir verstanden ihn noch immer nicht; doch als er den Hahn spannte und Pulver auf die Pfanne schüttete, schrien viele unwillkürlich auf und packten ihn an den Armen.
– Was willst du tun? Hör zu, das ist Wahnsinn!, – schrien sie.
– Meine Herrn!, – sagte er langsam, seine Arme befreiend, – wer möchte für mich zwanzig Dukaten bezahlen?
Alle verstummten und traten beiseite.
Vulić ging in den anderen Raum und setzte sich an den Tisch; alle folgten ihm; mit einem Zeichen lud er uns ein, uns reihum zu setzen. Schweigend gehorchten wir: in diesem Moment hatte er eine geheimnisvolle Macht über uns gewonnen. Ich schaute ihm eindringlich in die Augen; doch er begegnete meinem forschenden Blick mit einem ruhigen und regungslosen Blick, und seine bleichen Lippen lächelten; doch seiner Kaltblütigkeit zum Trotz schien mir, als läse ich auf seinem bleichen Gesicht das Siegel des Todes. Ich habe mehrfach beobachtet, und viele alte Krieger haben meine Beobachtung bestätigt, dass auf dem Gesicht eines Menschen, der einige Stunden später sterben muss, oft ein sonderbarer Abdruck des unausweichlichen Schicksals liegt, so dass geübte Augen schwerlich irren können.
– Sie werden heute sterben!, – sagte ich zu ihm. Er wandte sich schnell zu mir um, doch antwortete er langsam und ruhig:
– Vielleicht ja, vielleicht auch nein …
Dann, an den Major gewandt, fragte er: ist die Pistole geladen? Der Major in seiner Verwirrung konnte sich nicht genau erinnern.
– Hör schon auf, Vulić!, – rief jemand, – bestimmt ist sie geladen, wenn sie am Kopfende hing; damit ist nicht zu scherzen!
– Ein dummer Scherz!, – fiel ein anderer ein.
– Ich wette fünfzig Rubel gegen fünf, dass die Pistole nicht geladen ist!, – rief ein dritter.
So kam eine neue Wette zustande.
– Hören Sie, – sagte ich, – entweder Sie erschießen sich jetzt, oder Sie hängen die Pistole an ihren Platz zurück, und wir gehen schlafen.
– Allerdings, – riefen viele, – gehen wir schlafen.
– Meine Herrn, ich bitte Sie, rühren Sie sich nicht von Ihren Plätzen!, – sagte Vulić und setzte die Mündung der Pistole an seine Stirn. Alle waren wie versteinert.
– Herr Petschorin, – setzte er hinzu, – nehmen Sie eine Karte und werfen Sie sie hoch.
Ich nahm, ich weiß es wie heute, das Coeur-Ass vom Tisch und warf es hoch: allen stockte der Atem; alle Augen, die Angst und eine vage Neugierde ausdrückten, liefen hin und her zwischen der Pistole und dem verhängnisvollen Ass, das, in der Luft flatternd, langsam herabsank; in dem Moment, als es den Tisch berührte, drückte Vulić ab … Versager!
– Gott sei Dank!, – schrien viele auf, – sie war nicht geladen …
– Das werden wir sehen, – sagte Vulić. Er spannte den Hahn noch einmal, zielte auf eine Schirmmütze, die über dem Fenster hing; der Schuss erscholl – Rauch erfüllte das Zimmer. Als er sich verzogen hatte, nahm man die Mütze herunter: sie war genau in der Mitte durchschossen, und die Kugel saß tief in der Wand.
Drei Minuten lang brachte niemand ein Wort heraus; Vulić schüttete seelenruhig meine Dukaten in seine Geldbörse.
Erörtert wurde nun, weshalb die Pistole das erste Mal versagt habe; die einen behaupteten, sicher sei die Pfanne verschmutzt gewesen, andere sagten flüsternd, das erste Mal sei das Pulver feucht gewesen und Vulić habe frisches nachgefüllt; ich dagegen behauptete, letztere Vermutung sei unzutreffend, denn ich hatte die ganze Zeit kein Auge von der Pistole gelassen.
– Sie haben Glück im Spiel, – sagte ich zu Vulić …
– Zum ersten Mal im Leben, – antwortete er, selbstgefällig lächelnd, – das ist besser als Bank halten und Stoß spielen.
– Dafür ein wenig gefährlicher.
– Ja und? Glauben Sie jetzt an Vorherbestimmung?
– Ja; nur verstehe ich nicht mehr, warum mir vorhin schien, dass Sie heute unweigerlich sterben würden …
Derselbe Mensch, der sich eben noch so seelenruhig auf die Stirn gezielt hatte, errötete plötzlich und wurde verlegen.
– Genug jetzt!, – sagte er im Aufstehen, – unsere Wette ist ausgetragen, und Ihre Bemerkungen scheinen mir fehl am Platz … – Er nahm seine Mütze und ging. Das schien mir sonderbar – und nicht ohne Grund!
Bald gingen alle nach Hause, verschiedener Meinung über Vulićs wundersame Launen und vermutlich einstimmig der Ansicht, ich sei ein Egoist, weil ich die Wette gegen einen Menschen gehalten hatte, der sich erschießen wollte; als hätte er nicht auch ohne mich eine passende Gelegenheit finden können!