Das Hotel in den Highlands

Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «Highland Inheritance» im Verlag Accent Press, Ltd., Abercynon.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Redaktion Johanna Schwering

«Highland Inheritance» Copyright © 2014 by Caroline Dunford

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlagabbildungen A.Y. Photography/Getty Images; thinkstockphotos.de

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-27231-8 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-56881-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-56881-5

«Big Data!»

Die Wörter blinken auf der Leinwand, Jake lächelt und zeigt schneeweiße Zähne. Jeder Zentimeter an ihm strahlt aus, dass er zu den Profis des neuen Jahrtausends gehört, von der makellosen Gelfrisur bis runter zu den auf Hochglanz polierten Schuhen. Er trägt Jackett, aber keine Krawatte, und seine Designerjeans hat mehr gekostet, als das Durchschnittspaar für einen Wochenendtrip ausgibt. Er ist ein Querdenker, der sich trotzdem im Rahmen der Konventionen bewegt. Hip und solide. Das ist sein Motto. Exakt so will er sein; Vordenker, Trendsetter – und gleichzeitig einer, auf den man sich hundertprozentig verlassen kann. Tradition trifft Moderne in charmanter Fünf-Sterne-Verpackung. Alle Gesichter im Raum sind ihm erwartungsvoll zugewandt, doch sein sexy Zwinkern gilt mir. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber dieser Typ gehört zu mir.

Na ja, nicht ganz. Aber wir sind uns auch darüber einig, dass wir noch nicht heiraten wollen. Jake meint, heiraten liegt im Augenblick nicht im Trend. Die Statistik besagt, dass immer mehr junge, karriereorientierte Paare ohne Trauschein zusammenleben, und die Datenkorrelation zeigt, dass sich unverheiratete Frauen Ende zwanzig – so wie ich – hinsichtlich ihrer Karriere besser entwickeln als ihre frisch vermählten

Inzwischen erklärt Jake, warum die Firma dringend in neue Server investieren muss und dass wir absolut auf Big Data angewiesen sind, um weiter zu den Top Playern gehören zu können. Überall im Raum nickende Köpfe. SkyBluePink – oder kurz und knackig SBP – gehört zu den sich am schnellsten entwickelnden Firmen für Digitales Marketing weltweit. Wir sind stolz darauf, für Themen wie Big Data offen zu sein. Die Tatsache, dass wir alle gerne hier sitzen, um Jakes Rede zu hören, obwohl wir wissen, dass gleich danach die Weihnachtsfeier beginnt, darf als Maßstab für unser Engagement betrachtet werden.

Während ich seinem Vortrag lausche, meldet sich trotzdem eine leise Stimme in mir, die sich fragt, ob Big Data nicht einfach nur ein schickes Wort für das Sammeln riesiger Datenmengen ist, und das tun wir doch sowieso schon. Ich arbeite als Datenanalystin. Was ich mit Excel nicht hinbekomme, kann mit Excel nicht gemacht werden. Trotzdem steht Jake da vorne und sagt, es reicht nicht, wir müssten noch größer, breiter, tiefer denken.

Draußen ragt St. Giles mächtig in den Himmel auf, so finster, als würde die Kathedrale alles Licht verschlucken. Sie steht seit Jahrhunderten mitten auf der Royal Mile, unbeeindruckt vom Kommen und Gehen der Menschen und ihrer Geschäftigkeit. Direkt davor ist das Heart of Midlothian in den Straßenbelag gepflastert. Dort, wo früher das alte Gefängnis stand, wird von jedem echten Schotten quasi erwartet, auf die Straße zu spucken – als Zeichen seiner Verachtung für das, was früher an der Stelle vor sich ging. Direkt daneben schließt sich der herrlich wirr zusammengeschusterte Georgian Parliament Square an. Ich kann die Lichter der Sternsänger sehen, die sich auf dem Platz versammelt haben. Dort ist ein kleiner Weihnachtsmarkt aufgebaut, inklusive Maronenstand. Er füllt sich gerade mit Familien und Leuten, die schon Feierabend haben.

Dann erblicke ich mein Gesicht im Fenster, eine gespenstische Spiegelung über der fröhlichen Szenerie. Ich sehe traurig aus, dabei gibt es gar keinen Grund dafür. Meine schulterlangen dunklen Locken wirken schlapper als sonst und hängen nach vorne über mein ungewöhnlich herzförmiges und dadurch derzeit ganz und gar nicht im Trend liegendes Gesicht. Ich sitze seitlich verdreht, um aus dem Fenster zu schauen, und mir fällt auf, wie schmal meine Schultern wirken. Das ist gut, glaube ich. Jake sagt, ein paar Pfund weniger würden mir gut stehen. Er meint das nicht kritisch, aber unsere Branche ist nun mal sehr imagebewusst. Ich werfe meinem Spiegelbild ein Lächeln zu, nehme die Schultern zurück und drehe mich wieder um. Spiele selbstsicher, und du bist selbstsicher, rezitiere ich still. Während ich den Blick vom Fenster löse, fällt mir auf, dass es draußen angefangen hat zu schütten. Die Leute auf dem Weihnachtsmarkt tangiert das nicht. Wir sind hier schließlich in Edinburgh. Man rechnet mit Regen in dieser Stadt. Ich muss blinzeln. Indirekte Beleuchtung ist out, und SBP hat in der Decke über jedem Tisch helle Halogenleuchten installiert, außerdem ein großes Scheinwerfergestell und Projektionssystem, das die riesige schwarze Rückwand des Büros bei Bedarf in ein Präsentationszentrum verwandelt. Den Laptop

Er beendet den Vortrag mit der Passage, die er immer wieder vor dem Badezimmerspiegel geübt hat: «Liebe Kollegen. Hier geht es nicht darum, was ich glaube. Hier geht es um das, was die Daten uns verraten. Die Herausforderung ist riesig, aber ich weiß, dass wir bei SBP große Herausforderungen lieben. Wenn wir auch in Zukunft ganz vorne mitspielen wollen, müssen wir in Big Data investieren, Big Data leben.»

Die Leute applaudieren frenetisch. Linda, unsere Geschäftsführerin, ein Fashionfreak Anfang vierzig, erklärt die Party für eröffnet und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Wodka-Eisrutschen, die inzwischen hereingerollt wurden. Unbemerkt, weil alle an Jakes Lippen gehangen hatten.

Eine halbe Stunde später befinde ich mich vor der Eisskulptur eines nackten Mannes. Wo der Schnaps da wohl rauskommt? Irgendwer gießt Chili-Wodka für mich in die Rille. Oh Gott, wie ich diese Spielchen hasse. «Lucy! Lucy!» tönt die Menge um mich herum, während ich darauf warte, dass der eiskalte Kick mich trifft. Wenn ich den Mund schnell genug wieder schließe, landet das meiste wahrscheinlich in meinem Gesicht. Das bringt alle zum Lachen und bewahrt mich davor, so betrunken zu werden, dass mir meine Beine nicht mehr gehorchen. Dies ist leider nicht meine erste Wodkarutsche. Die Kälte unterdrückt das Brennen, und man glaubt, man könnte viel mehr trinken, als man in Wirklichkeit verträgt. Bei so einer Gelegenheit sind Jake und ich vor fünf Jahren

Jake war schon dran. Er hat zwar inzwischen sein Jackett verlegt, schwankt jedoch nur ganz leicht. Kelly Martin hingegen hat es wie üblich übertrieben und hängt leicht derangiert auf dem runden roten Sofa. Ich frage mich flüchtig, was mein Dickens’scher Weihnachtsmarkt wohl macht, als der erste eisige Schluck mich trifft. Mein Timing ist schlecht, und ich bekomme die volle Ladung ab. «Lucy!», grölt die Menge erneut. «Einer geht noch!», schreit jemand. Die anderen stimmen ein. Ich huste leicht, schlucke den Schnaps runter und schaue zu der Eisrutsche hoch. Was soll’s. Wer A sagt, muss auch B sagen.

***

Weitere fünf Stunden später sage ich nicht mehr B, sondern nur noch Weh. Mein Kopf pocht. Ach was, er hämmert. Ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen bin. Ich liege auf dem Sofa im Wohnzimmer. Glücklicherweise ist es eins von diesen breiten Dingern, die eher wie ein Bett aussehen – bloß tut das leuchtende Orange mit den limettengrünen Rändern meinen Augen im Moment gar nicht gut. Alles dreht sich. Ich weiß schon, was jetzt kommt. Ich beuge mich über das Sofa, mein Magen zieht sich heftig zusammen, und dann übergebe ich mich in den bereitstehenden Eimer. Ich schwöre, ich lasse mich nie wieder auf Gruppenzwang ein. Ich betrinke mich sonst nie. Außer auf unserer Weihnachtsfeier. Da gehört Trinken zum Ethos. Feste arbeiten, feste feiern. Vor allen anderen Firmenfeten drücke ich mich erfolgreich, aber bei der Weihnachtsfeier kann ich nicht kneifen. Ich würde meinen Bonus riskieren. Nein, ernsthaft. Das stimmt.

Ich döse immer wieder ein, schlafe unruhig und wache ungefähr alle halbe Stunde auf, um mich meinem Eimer zu widmen. Wenigstens habe ich Jake nicht geweckt.

Unsere Wohnzimmeruhr zeigt elf, als ich ihn duschen höre. Eine halbe Stunde später kommt er ins Zimmer, munter, strahlend, umwerfend wie immer und nach Rasierwasser duftend. Aber ich habe nur Augen für das Lebenselixier in seiner Hand: ein Glas Wasser.

«Oh, Gott, Danke!», sage ich, greife nach dem Glas, stütze mich auf ein Kissen und trinke.

«He, langsam, Luce, sonst wird dir schlecht.»

«Ist sowieso nichts mehr drin», sage ich zwischen zwei Schlucken. Jake wirft einen angewiderten Blick auf den Spuckeimer. Er bugsiert ihn mit den Füßen über das Hochglanzlaminat zur Balkontür. Ein eisiger Schwall Winter dringt ins Zimmer, und ich jaule protestierend auf. Jake manövriert den Eimer ins Freie und macht sehr viel langsamer als notwendig die Tür wieder zu.

«Ich dachte, das macht dich vielleicht wach», sagt er. «Wir müssen in einer Stunde bei meinen Eltern sein.»

«Ich kann nicht», sage ich. «Das kann ich nicht.»

Jake runzelt die Stirn. «Süße, sie erwarten uns.»

«Ich weiß. Weiß ich.» In Jakes Familie wird Weihnachten übergroß gefeiert. Er hat Horden von Cousins und Cousinen, Onkeln, Tanten und wer weiß was sonst noch alles ersten, zweiten und dritten Grades, und dieses Jahr ist zur feierlichen Zusammenkunft sogar eine ganze Ladung Verwandter aus Australien angereist. Ich glaube nicht, dass die mich vermissen würden, vor allem diejenigen, die mich gar nicht kennen, aber Jake kann unmöglich mit einem leeren Fleck an seiner Seite dort auftauchen. Weihnachten ist es essentiell, als Paar aufzutreten. Jake sagt, die Leute hätten mit denen, die zu Weihnachten allein sind, riesiges Mitgefühl, hegten ihnen gegenüber aber zugleich auch ein Gefühl der Überlegenheit. Das ist zwar kein besonders netter Gedanke, aber ich muss ehrlich sagen, mir geht es genauso. Weihnachten kein Single zu sein ist ein Zeichen von Erfolg.

Trotzdem. Das schaffe ich heute beim besten Willen nicht. Ich unternehme einen letzten Schachzug. «Meinst du wirklich, ich kann so dahingehen?»

Auf seinem Gesicht zeigt sich Besorgnis, als ihm klarwird, dass ich es womöglich nicht schaffe, innerhalb der nächsten halben Stunde so strahlend und gesund auszusehen wie er. Ich persönlich bezweifle ernsthaft, dass ich je wieder von diesem Sofa aufstehen kann.

«Aber was soll ich denen denn sagen?»

«Sag, ich wäre in einer Suppenküche eingesprungen, weil

Jake gibt ein leises Grunzen von sich. «Und du wolltest unbedingt, dass ich meine australische Verwandtschaft endlich wiedersehe und hast darauf bestanden, dass ich alleine fahre. Das könnte klappen.»

«Das war ein Witz, Jake. Bei so was lügt man nicht.»

«Du willst ja wohl kaum, dass ich zu Hause erzähle, dass du auf der Firmenweihnachtsfeier so dicht warst, dass du auf dem Tisch getanzt hast, oder?»

Mein Magen macht eine bedrohliche Drehung. «Jetzt lügst du aber», sage ich mit schwacher Stimme.

«Du konntest nicht mal mehr dein Glas halten, Luce.»

«Oh Gott!», wimmere ich. Wie peinlich! «Warum hast du mich nicht aufgehalten?»

«He, Luce! Ich habe dir doch nichts zu sagen. Du bist eine moderne, unabhängige Frau.»

«Aber du weißt auch, dass ich so was normalerweise nie tun würde. Wie soll ich den Kollegen denn je wieder unter die Augen treten?»

«Es hat offensichtlich allen gefallen. Du hast jede Menge Applaus bekommen.»

«Oh Gott», wiederhole ich stumpf. Im nüchternen Zustand bin ich nicht einmal wagemutig genug, mir die Szene vorzustellen.

Jake grinst und zieht einen Brief aus der hinteren Hosentasche. «Schatz, das hier kam übrigens gestern per Einschreiben», sagt er. «Ich hab ganz vergessen, es dir zu geben.»

Und dann drückt er mir den Brief in die Hand, der mein Leben verändern wird.

Weihnachten ist auf die übliche Weise an mir vorbeigerauscht, den nachhaltigsten Effekt übte der immer enger werdende Hosenbund aus. Das Wetter war kalt, nass und trübselig, und mir ging es ähnlich. Seit besagter Brief ins Haus geflattert ist, haben Jake und ich andauernd Zoff.

Ich sitze in der warmen, vertrauten Gemütlichkeit meines Lieblingscafés und halte mich an einem grenzwertig gezuckerten Becher Milchkaffee fest.

«Er will also, dass du gehst?», fragt May, ein Traum aus langen, platinblonden Locken und Katzenaugen. Ein Dutzend silberne Ringe rankt sich um ihre schlanken, langen Finger. Von der Rose bis zur Schlange ist alles vertreten. Der orangefarbene Häkelpulli ist ihr über die Schulter gerutscht und entblößt einen schwarzen Spitzenriemen.

Jake hasst May. Sie ist meine beste Freundin, auch wenn sie Jakes Gefühle voll und ganz erwidert. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, standen auf dieselben Popstars, testeten dieselben Enthaarungsmethoden und durchlitten zusammen sämtliche weiteren Traumata des ganz normalen Teenagerdaseins. Dann ging May an die Kunsthochschule, und ich studierte Englisch. Unsere mittelmäßigen Schulerfolge hatten uns beide an die Universität von Edinburgh verwiesen, anstatt uns nach Oxford beziehungsweise an die Kunstakademie in

Jetzt lebt May das Leben einer am Hungertuch nagenden Künstlerin und haust in einem derart schäbigen Loch, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie die Wohnung besetzt hat oder tatsächlich Miete zahlt. Ich hatte nie den Mut, sie danach zu fragen. May kann sehr empfindlich sein. Zum Beispiel immer dann, wenn man ihr die Tatsache unter die Nase reibt, dass ihre Eltern reich sind. Und zwar nicht ein bisschen, sondern megareich. Jake sagt oft, May könne es sich nur deshalb leisten, so primitiv zu leben, weil sie eines Tages in Geld schwimmen wird. Im Gegensatz zu mir. Meine Eltern haben zwar immer versucht, mir bei meinen mehr oder minder erfolglosen Selbstfindungsversuchen unter die Arme zu greifen, aber eine ernsthafte finanzielle (oder emotionale) Stütze sind sie im Grunde für mich nicht. Ich wusste schon immer, dass ich meinen Weg selbst meistern muss. Deshalb hat mich auch der Brief so von den Socken gehauen.

«Er will, dass du alleine in die Highlands pilgerst, während er sich ein paar hundert Meilen weiter Richtung Süden verpisst? Gibt es da vielleicht etwas, von dem er dir nicht erzählt?» May beugt sich erwartungsvoll über den Tisch.

«Nein!», sage ich und stelle den Kaffeebecher ein bisschen zu heftig auf den Holztisch. Der Milchschaum schwappt über den Rand. «Das ist keine Trennung.»

«Hmm», macht May und stößt ein leises Schnauben aus.

«Also, Jake hat gesagt, es wäre gut …»

«Scheiß auf Jake!», motzt May mich an. «Erzähl mir endlich von deinem verschollenen Onkel Calum.»

Ich schüttle den Kopf. «Er war nicht verschollen. Er wurde verstoßen.»

«Oh, oh, das schwarze Schaf der Familie. Sehr sympathisch. Was hat er getan?»

Ich zucke die Achseln. «Keine Ahnung. Mum spricht nicht darüber, und Dad verlässt das Zimmer, sobald sein Name fällt.»

«Und der hat dir ein Hotel in den Highlands vererbt?»

«Offensichtlich. Es heißt Mormaer Inn. An der Sache gibt es nur einen Haken. Ich muss es ein halbes Jahr lang weiterführen, sonst wird es zugunsten eines Gnadenhofes für Esel verkauft.»

«Aber sobald die sechs Monate rum sind, dürftest du es auch zu deinen Gunsten verkaufen?»

«Ja. Leider habe ich keine Ahnung, wie man ein Hotel leitet.»

«Ach, was kann denn daran so schwer sein? Wo genau liegt es?»

«Am Arsch der Welt. Irgendwo in Argyll.»

«Also bitte. Das ist ja wohl kaum der Arsch der Welt», sagt May mit gespielter Empörung. «Meine Familie hat da oben ein Ferienhaus. Die haben uns für nächstes Jahr sogar Strom in Aussicht gestellt.»

Ich werde blass.

May wirft die Hände in die Luft. «Lucy! Das war doch nur Spaß! Sogar in den Highlands gibt es inzwischen Supermärkte.» Sie zögert. «Obwohl ich natürlich nicht weiß, ob man dort so etwas hier finden kann.» Sie macht eine ausladende Geste auf den Raum.

«Ach Süße, dein Gesicht müsstest du sehen können!» May kichert. «Da oben sind sie viel zu geizig, um solche Preise für eine Tasse Kaffee zu bezahlen. Und was dein Lieblingsnagelstudio betrifft …»

«Ist ja nur ein halbes Jahr», sage ich, schlinge die Hände um den Kaffeebecher und bewundere die French Manicure, die ich mir heute Morgen habe machen lassen. «Ich will natürlich so schnell wie möglich verkaufen. Und Jake kommt die ersten drei Monate mit mir rauf, ehe er nach London geht.»

«Und wenn du verkauft hast, ziehst du zu ihm?»

«Das ist unser Traum, May», sage ich sanft. «Uns zieht es nun mal ins kosmopolitische Herz der Dinge. Wir wollen uns in der Branche einen Namen machen, solange wir noch jung sind. Du kannst uns jederzeit besuchen kommen.»

«Ja, klar!» May zieht eine Grimasse. «Ich weiß jetzt schon, wie Jake sich darüber freuen wird.»

«Na ja, seine Beförderung bringt einiges an Reisen ins europäische Ausland mit sich …»

«Und du hoffst, dass ich immer genau dann zu Besuch komme, wenn er unterwegs ist?»

Ich werde rot. «Es ist ja schließlich nicht so, als würdest du ihn mögen.»

«Und es ist nicht dein Traum. Seit wann willst du bitte nach London! Das ist sein verdammter Traum, Lucy, sei ehrlich. Du tust immer nur, was Jake will.»

«Weißt du, May, in einer Beziehung muss man nun mal Kompromisse machen.»

«Jakes Vorstellung von Kompromissen ist offenbar, dass alles nach seiner Pfeife tanzt.»

«Du bist unfair!»

«Lass uns nicht streiten, May. Ich weiß doch noch gar nicht, ob ich überhaupt irgendwo hingehe. Ich habe noch nicht mal mit dem Anwalt gesprochen. Vielleicht ist das alles ja auch nur ein riesiges Missverständnis.»

«Wenn nicht in die Highlands, dann gehst du nach London. Für mich heißt das auf alle Fälle bye-bye.»

Ich schüttle wieder den Kopf. «Jake und ich sind uns einig, dass es für mein Selbstwertgefühl wichtig ist, finanziell unabhängig zu sein. Ich habe in London im Augenblick noch gar keinen Job, und ohne das Geld aus dem Hotel könnte ich gar nicht gehen.»

Mays Blick spricht Bände. Ich versuche, ihn zu ignorieren, und winke mit der weißen Fahne. «Ich habe nächsten Donnerstag einen Termin beim Anwalt. Willst du mitkommen?»

«Ist Jake auch dabei?»

«Nein, er hat an dem Tag eine wichtige Präsentation bei dem deutschen Neukunden, den er künftig betreuen wird.»

«Das ist aber jetzt nicht der Kunde, von dem du die ganze Zeit erzählt hast, oder? Der Auftrag, für den du die gesamte Recherche gemacht hast?»

«Es ist doch nur sinnvoll, wenn die in London einen eigenen Account Manager haben. Außerdem bin ich immer noch Datenanalystin.»

«Aber nur weil du Jake ständig deine besten Ergebnisse überlässt.»

«Wir sind ein Team», sage ich, so würdevoll ich kann.

May schnaubt schon wieder. Diesmal besonders abfällig. Von Kompromissen in der Beziehung hält sie nicht viel. Kein

Die Vorstellung, ein Hotel zu übernehmen, macht mir Angst, aber gleichzeitig weiß ich, dass mir mit Jake an meiner Seite fast alles gelingen würde. Jake bekommt so gut wie alles in den Griff. Er findet immer die richtigen Worte, weiß, wen man bezirzen muss, um einen Job erledigt zu kriegen, und er bleibt, anders als ich, immer charmant, egal wie hoch es emotional auch hergeht. Ehrlich, er ist der einzige Mensch ohne emotionalen Ballast, den ich kenne. Ich liebe May wie eine Schwester, aber sie hat sich, wie Jake irgendwann mal treffend bemerkt hat, seit der Schule nicht wirklich weiterentwickelt. Seit ich nicht mehr so viel Zeit mit ihr verbringe, bin ich hingegen zweimal befördert worden. Okay, es waren nur winzige Beförderungen, aber die Richtung stimmt. Jake und ich waren neulich sogar zusammen einen Teppich kaufen und haben ein todschickes, hochfloriges blaues Teil gefunden, das perfekt in unser Schlafzimmer passt. Ich meine, was bitte ist erwachsener und zweisamer, als zusammen Teppiche kaufen zu gehen?

***

Das Gespräch mit dem Anwalt ist nicht gerade der Renner. May erweist sich allerdings als in juristischen Dingen erstaunlich scharfsichtig. Ich wette, sie kennt ihren Treuhandfonds in- und auswendig. Nachdem ich mich gefühlte siebenhundert Mal ausweisen muss, stellt sich heraus, dass der Anwalt auch nicht

«Ist das alles?», will ich wissen. «Keine persönliche Botschaft oder so?»

Der Anwalt sitzt regungslos vor uns, als hätte er Angst, seinen perfekt gebügelten Anzug zu zerknittern. Vielleicht hat er aber auch nur Angst vor May. Das geht vielen Männern so.

«Nichts, Miss McIntosh.» Er schüttelt langsam den Kopf. Kein einziges Haar erzittert. «Er hat Sie einfach zur Erbin ernannt. Es hat eine Weile gedauert, Sie ausfindig zu machen, weil nicht mal Ihre Adresse angegeben war. Ich fürchte», sagt er mit einem Lächeln, das vor den Augen aufhört, «das wird sich auf die Gebühren auswirken.»

«Dafür haftet sie doch nicht!», fährt May ihn an.

«Nein. Das wird von der Erbmasse abgezogen.»

«Aha. Dann ist also doch Geld da!»

«Nicht für Miss McIntosh. Sie erbt lediglich das Hotel.»

«Ist doch egal, May», sage ich eilig. «Sogar eine kleine Frühstückspension in den Highlands muss irgendwas wert sein. Das ist wirklich sehr großzügig von Onkel Calum», sagte ich an den Anwalt gewandt. «Ich hatte keine Erwartungen.»

«Du klingst original nach Charles Dickens», murmelt May nicht gerade leise.

Jetzt kommt Bewegung in den Anwalt. Er schnellt vor und spreizt die Hände auf der Tischplatte. «Sie sitzen hier offenbar einer Fehleinschätzung auf, Miss McIntosh. Es handelt sich um eine Immobilie beträchtlichen Ausmaßes. Das Hotel besteht aus zweiundzwanzig Gästezimmern, einer Bar und sämtlichen anderen üblichen Einrichtungen.»

Mir fällt die Kinnlade herunter. Dann wird es plötzlich schwarz um mich herum.

Ein gutaussehender Mann mit besorgtem Gesicht beugt sich über mich. Ganz klar, ich träume.

«Schwanger? Epileptikerin? In medizinischer Behandlung?»

«Sie wird sie nicht verklagen», höre ich Mays bissige Stimme. «Sie hat nur einen Schock, das ist alles. Und jetzt weg da, sie braucht Platz. Komm schon, Lucy, hoch mit dir, du Trutscheltrine!»

Niemand in meinen Träumen benutzt das Wort «Trutscheltrine». Ich glaube, das sagt außer May überhaupt keiner. Mühsam setze ich mich auf. Ich war offensichtlich vom Stuhl gefallen. Der Rock ist mir hochgerutscht, und meine Strumpfhose wirft Falten wie bei einer alten Frau. Ich zerre an beidem erfolglos herum. Ungeduldig wie immer zieht May an meinem Arm und hievt mich zurück auf den Stuhl.

«Sagten Sie zweiundzwanzig Zimmer?»

Der Anwalt ist damit beschäftigt, sich seine breite Krawatte glatt zu streichen, so, wie man eine nervöse Katze streicheln würde. Er nickt. «Ich möchte jedoch nicht, dass Sie sich ein falsches Bild machen, Miss McIntosh. Ich würde nicht behaupten wollen, dass die Immobilie von hohem monetärem Wert ist. Ich habe sie zwar selbst noch nicht gesehen, aber die wenigen Erkundungen, die ich einholen konnte, lassen darauf schließen, dass das Hotel seine Glanzzeiten schon lange hinter sich

«Dann habe ich also eine Ruine geerbt?»

«Das nicht gerade, aber sagen wir so: Das Hotel floriert nicht mehr so wie vor, na ja, fünfzig Jahren. Ich glaube, die Bar, The Clootie Craw, ist bei den Einheimischen nach wie vor sehr beliebt, aber das Hotel selbst, nun … Ich muss Ihnen sicher nicht erzählen, dass die Tourismusbranche angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen Situation im Moment stark schwächelt.»

«The Clootie Craw. Das gefällt mir», sage ich nachdenklich. «Das klingt furchtbar …»

«Kitschig!», fällt May mir ins Wort. Ich werfe ihr einen bösen Blick zu, aber der Anwalt redet sowieso weiter.

«Also, Miss McIntosh, gehe ich recht in der Annahme, dass Sie beruflich noch nie mit dem Hotelgewerbe zu tun hatten?»

«Richtig. Es sei denn, Sie zählen die Aushilfsjobs als Kellnerin während meiner Schulzeit in den Sommerferien dazu.»

«Gut», sagt der Anwalt und fängt wieder an, seine Krawatte zu tätscheln. «Ich vermute, Sie sind nicht in der Lage abzuschätzen, wie viel Anstrengung notwendig wäre, um das Hotel wieder in Schwung zu bringen.»

«Oh, sie wird sowieso verkaufen, sobald die Halbjahresfrist verstrichen ist», sagt May.

«Ach. Gut. Sehr vernünftig», erwidert der Anwalt. «Ich würde ebenfalls stark zu einem Verkauf raten. Um genau zu sein, ich habe womöglich bereits einen Käufer für Sie.»

«Ich dachte, wenn sie das Hotel nicht weiterbetreibt, geht alles an die Esel?», fragt May.

Der Anwalt streichelt noch ein paarmal über seine

«Aber das wäre doch gegen den Willen meines Onkels!», protestiere ich.

«Du kanntest ihn doch nicht mal», sagt May. «Also, beschreiben Sie uns mal das Schlupfloch, das Sie uns hier anpreisen.»

Mein Blick schießt zwischen ihnen hin und her. Die kommen eindeutig gut ohne mich klar. Natürlich versucht May, das Beste für mich rauszuholen. Aber – The Clootie Craw. Ich habe es genau vor Augen: Feuer prasselt im offenen Kamin, alte Whiskysorten, die Einheimischen; die Alten beim Domino und die Jungen nach einem harten Arbeitstag an der Bar, um sich zu erholen von … was auch immer. Keine Ahnung, was man in den Highlands den ganzen Tag so treibt.

«Also, da oben gibt es einen lokalen Unternehmer, Graham Sutherland. Ein Immobilieninvestor, der bereits eine Baugenehmigung beantragt hat, um das Hotel in Wohnraum umzuwandeln.»

«Tatsächlich?», sagt May. «Das klingt ja interessant.»

«Wenn Miss McIntosh das Erbe antreten würde, für eine Weile dort raufginge, dann aber aus beruflichen Gründen dringend nach Edinburgh zurückmüsste, könnte das vorhandene Personal …»

«Das Hotel in aller Ruhe in Grund und Boden wirtschaften», beendet May den Satz.

«Wenn Sie so wollen. Der zuständige Stadtplanungsbeamte hat Sutherland bereits angedeutet, ihm die Baugenehmigung zu erteilen, er könnte also bereits mit den Vorplanungen beginnen. Er hat ein, wie ich meine, angesichts des Zustandes der Immobilie sehr großzügiges Angebot vorgelegt.»

«Moment mal!», sage ich laut. «Dieser Sutherland hat einen

«Nun ja … Er ist da oben der Laird.» Der Anwalt macht ein leicht verlegenes Gesicht.

«Aber man kriegt doch keine Baugenehmigung für fremden Besitz!» Ich kann es nicht fassen.

«Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz, wie das Gemeinschaftswesen in den Highlands funktioniert», sagt der Anwalt. «Die Familie dieses Mannes hatte immer großen Einfluss in der Gegend, und Sutherland ist für die Einheimischen eine wichtige Autorität.»

«Aber mir ist er so was von schnuppe!», brause ich auf. Ich werde plötzlich richtig sauer. Was bilden sich diese Leute denn ein?

«Komm schon, Luce!», sagt May. «Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.»

«Nein», protestiere ich. «Nein, nein. Ich will das Hotel meines Onkels haben. Ich will das Clootie Craw betreiben.» Ich weiß beim besten Willen nicht, was plötzlich in mich gefahren ist.

«Wie bitte? Seit wann willst du ein Hotel haben?» May ist sprachlos. «Hast du dir vorhin den Kopf gestoßen? Der gute Mann hier hat vollkommen recht. Du hast keine Ahnung vom Hotelbusiness. Warum um alles in der Welt solltest du plötzlich eine abgehalfterte Ruine von Hotel am Arsch der Welt betreiben wollen?»

Tja. Das ist in der Tat eine sehr gute Frage. Eben war ich noch bereit, den Laden so schnell wie möglich zu verkaufen und mit Jake nach London zu gehen. Keine Ahnung, ob sich da ein primitiver Instinkt gemeldet hat, der verlangt, dass ich das Eigentum meines Onkels gegen den gierigen Highland-Laird

«Ich trete das Erbe an», sage ich. «Machen Sie die Unterlagen fertig.»

***

May und ich betreten den gläsernen Außenlift des schlanken Büroturms und fahren schweigend nach unten. Ich konzentriere mich ganz auf den Ausblick. Durch den Regen kann ich die vertrauten Kirchturmspitzen und Türme meiner geliebten Wahlheimat erkennen. Mich durchzuckt ein heftiger Stich von vorausgeahntem Heimweh. Was zum Teufel tue ich hier eigentlich? Gleich um die Ecke gibt es eine Buchhandlung mit integrierter Kaffeebar. Es ist zwar nicht mein Stammcafé, aber der Kaffee schmeckt trotzdem gut. Zögerlich mache ich den Vorschlag, dort einen Cappuccino trinken zu gehen. May schnaubt leise. Das war nicht die Antwort, die ich mir erhofft habe.

«Also sag mal, dieser Anwalt!», wechsle ich das Thema. «Was hatte der eigentlich mit seiner Krawatte am Laufen?»

«Er war nervös!», sagt May. «Ihm war klar, dass er im Begriff war, den letzten Willen deines Onkels zu beugen, aber er hat versucht, dir damit einen Gefallen zu tun.»

Jetzt schnaube ich, aber bei mir klingt es leider eher nach Schweinchen Dick als nach verschnupfter Aristocat. «So ein Quatsch. Der wollte wohl eher diesem Graham Sutherland einen Gefallen tun. Ich wette, er hat Kohle dafür eingesteckt.»

«Aber das ist doch eine Frechheit von diesem Typen …»

«Wieso konntest du nicht einfach akzeptieren, dass es für beide Seiten ein super Deal gewesen wäre? Seit du mit Jake zusammen bist, katzbuckelst du vor ihm, tust immer alles, was er sagt, als hättest du überhaupt keine eigene Meinung mehr, und ausgerechnet jetzt, wo ein netter Typ versucht, dir einen Gefallen zu tun, entdeckst du deinen freien Willen neu.»

«Willst du damit etwa sagen, ich …» Mir fehlen die Worte.

Der Aufzug erreicht das Erdgeschoss, und die Tür öffnet sich in die große, weiße Empfangshalle, in der ein gelangweilter Concierge an seinem Pult sitzt. Ich schiebe May durch die Drehtür ins Freie. Unter dem Vordach bleibe ich stehen und hole tief Luft.

«Ich weiß, dass du Jake nicht ausstehen kannst», sage ich schließlich.

«Jake ist schon okay», antwortet May. «Oberflächlich, egozentrisch, aber auch nicht schlimmer als die anderen Typen aus der Werbebranche.»

«Digitale Medien …», hake ich ein.

«Aber was mir echt auf den Senkel geht, ist die Richtung, in die du dich an seiner Seite entwickelt hast. Mausgrau, ohne Selbstbewusstsein, unfähig, irgendeine Entscheidung für dich zu fällen …»

«Aber genau das versuche ich doch gerade mit diesem Hotel!» Ich höre meine Stimme schrill werden.

«Genau. Eine Pseudorebellion. Und zwar eine völlig bescheuerte!»

«Das ist keine besetzte Bude!», zischt May zwischen geschlossenen Zähnen. «Ich zahle Miete. Und nur zu deiner Information, ich spiele mit dem Gedanken, den Fonds auszuschlagen.»

«Ja, klar. Erzähl mir bitte nicht, dass du nicht regelmäßig bei Mutti und Vati auf der Matte stehst und die Hand aufhältst. Du kannst doch ohne ihr Taschengeld gar nicht überleben. Coole Silberringe, die du da trägst? Das ist pures Platin. Welcher brotlose Künstler könnte sich so was denn leisten?»

«Du warst immer schon neidisch auf mich, hab ich recht?»

Ein Mann im Kaschmirmantel tritt um uns herum, um an die Tür zu gelangen. Er beäugt uns kritisch.

Plötzlich sehe ich uns durch seine Augen – zwei erwachsene Frauen, die sich ankeifen wie zickige Teenager. Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt.

«Hör mal, es tut mir leid», sage ich. «Ich hänge im Moment echt ein bisschen durch. Jake haut in ein paar Monaten nach London ab, aber das ist auch keine Entschuldigung. Wir haben beide Sachen gesagt, die wir so nicht meinten …»

«Ich habe jedes Wort genau so gemeint», sagt May. «Du hast keine Ahnung, wie langweilig du geworden bist, seit du an Jakes Rockzipfel hängst. Es kommt mir so vor, als hättest du überhaupt keine eigene Meinung mehr. Immer nur Jake sagt

«Ich verstehe wirklich nicht, warum du dich so aufregst.» Ich bemühe mich verzweifelt um einen normalen Tonfall.

May steigen Tränen in die Augen. «Ich rege mich so auf, weil ich meine beste Freundin an einen Vollidioten verloren habe!» Sie dreht sich um und rauscht davon.

***

«Wahrscheinlich hätte ich ihr nachgehen sollen», sage ich zu Jake, als ich ihm zu Hause die glorreichen Einzelheiten erzähle. «Aber ich hatte das Gefühl, mich schon genug zum Affen gemacht zu haben.»

«Ich hab dir schon immer gesagt, die tickt nicht ganz richtig», erwidert Jake und schenkt mir exakt die richtige Menge Rotwein in mein großes Ballonglas. «Auf die kannst du echt gut verzichten.»

Ich nehme einen Schluck. «Ach, sie kriegt sich schon wieder ein», sage ich mit mehr Überzeugung in der Stimme, als ich in mir spüre. Jake grinst und setzt sich zu mir aufs Sofa. Er legt einen Arm um mich, und ich kuschele mich an ihn.

«Sie ist nur eifersüchtig, weil ich dich habe, und sie hat niemanden», sage ich. «Ich bin mir sicher, dass wir in den Highlands einen Riesenspaß haben werden. Das wird total romantisch.»

Jake macht sich los und sieht mich tief betrübt an. «Ach, ich wollte schon die ganze Zeit mit dir darüber sprechen, Liebling. So wie es aussieht, brauchen sie mich in London doch früher als erwartet.»

Jake räuspert sich. «Weißt du, Honey-Bunny, die Sache ist die. Es sieht momentan so aus, als könnten sie mich überhaupt nicht entbehren. Aber ich verspreche dir, ich bin jederzeit telefonisch für dich da. Wann immer du mich brauchst.»

«Du kommst nicht mit», sage ich tonlos. Ich weiß nicht, was ich denken soll.

Jake legt mir tröstend die Hand auf den Arm. «Ich glaube trotzdem, dass du das Richtige getan hast. Wenn du persönlich vor Ort bist, kannst du diesem Sutherland mit Sicherheit ein sehr viel besseres Angebot entlocken. Und dann kommst du zu mir nach London.»

«Aber ich will doch das Hotel leiten», sage ich verzagt.

«Aber Schatz!» Jake beugt sich zu mir und gibt mir einen Kuss auf die Nasenspitze. «Was weißt du denn schon davon, wie man ein Hotel leitet?»

Ich habe eine lange Diskussion mit der Personalabteilung. Es überrascht mich nicht, dass sie nicht gerade begeistert von meiner Idee sind, mehrere Monate unbezahlten Urlaub zu nehmen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass ich sie sowieso, sobald es geht, im Stich lassen werde, um Jake nach London zu folgen.

«Na ja, es ist schließlich dieselbe Firma», sage ich zu der supersmarten Personalchefin, die offensichtlich von der deutschen Firma stammt, mit der wir kürzlich fusioniert haben.

Sie klopft mit ihren perfekt manikürten pinkfarbenen Fingernägeln leicht auf die Schreibtischplatte. «Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz», sagt sie in akzentfreiem Englisch.

Ich lächle, streiche mein schickes schwarzes Oberteil glatt und sage fröhlich: «Also, wenn Sie sich die Informationen, die ich Ihnen zusammengestellt habe, näher ansehen, werden Sie feststellen, dass ich einen nicht unwesentlichen Beitrag zu den erfolgreichen Kampagnen unseres Unternehmens in den letzten sechs Monaten geleistet habe.» Ich weiß selbst, dass man sich in unserer Branche eigentlich immer nur für die letzten drei Monate interessiert, aber sechs Monate klingt natürlich viel besser. Außerdem ist es die Wahrheit. Okay, ich war zwar bei den entscheidenden Meetings und Vieraugengesprächen nicht dabei, aber dafür habe ich mich durch die Datenberge

Ein perfekter Fingernagel erhebt sich in die Luft. Fasziniert sehe ich zu, wie der Finger im Takt zu dem, was die Frau mir zu sagen hat, hin und her hüpft. «Niemand zweifelt hier an Ihren Fähigkeiten, Lucy.» Wackel. Wackel. Nick, nick, nick. «Es geht vielmehr um Ihre Entscheidung, Ihre eigene Karriere der Ihres Lebensgefährten unterzuordnen.» Wackel. Wackel. Nick.

«Wie bitte? Das ist doch lächerlich!»

Der Finger rügt mich. «Tz. Tz. Tz. Jake hat die Entscheidung getroffen, nach London zu gehen, um seine Karriere voranzutreiben, und Sie folgen ihm. Das offenbart nicht nur einen frappanten Mangel an Loyalität uns gegenüber; als karriereorientierte Frau muss ich Ihnen sagen, dass Sie Ihren Geschlechtsgenossinnen damit gar keinen Gefallen tun. Ich kann einen mit rein privaten Beziehungen begründeten Wechsel innerhalb des Unternehmens auf keinen Fall billigen. Jake hat nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht, ob er nach London wechseln soll.»

Ich löse den Blick von dem Finger und sehe ihr ins Gesicht. «Hat er nicht?»

«Nein. Er hat sogar darum gebeten, früher versetzt zu werden, um sich zusätzlich um den Bobbo-Bobbit-Account kümmern zu können.» Ungerührt erwidert sie meinen Blick.

Irritiert schüttle ich den Kopf und schiebe diese Information beiseite. «Dessen Auftrag in erster Line mir zu verdanken ist!», sage ich laut.

Ich glaube, wenn sie noch eine Sekunde länger mit diesem Finger vor meiner Nase herumfuchtelt, beiße ich hinein. Ich hole tief Luft. «Und was soll das jetzt heißen?»

«Das heißt, dass wir Sie zu unserem großen Bedauern ziehen lassen müssen.»

Ich will sie am Finger packen und im Judogriff quer durchs Zimmer schleudern. Aber ich lasse es bleiben, denn erstens weiß ich nicht, wie man das macht, und zweitens bin ich in Schockstarre verfallen.

«Ich fürchte, ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass es nach Ihrer Rückkehr aus den Highlands in sechs Monaten in unserer Londoner Niederlassung keine freie Stelle geben wird.» Sie lächelt mich bedauernd an.

Wir wissen beide, dass das völliger Bullshit ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass in unserer Branche ständig irgendwelche Stellen frei werden. Was sie mir wirklich sagen will, ist, dass ich aus Gründen, die ich nicht ganz nachvollziehen kann, bei SkyBluePink nicht mehr willkommen bin. Und wenn ich hier nicht mehr willkommen bin, dann werden mir auch alle anderen Agenturen die Tür vor der Nase zuknallen, wie eine Horde biestiger Teenager.

Ich kriege den Mund nicht auf. Der Wille ist da, aber ich kann nicht. Außerdem ist sowieso klar, dass sie jeden einzelnen Punkt perfekt parieren würde. Was mir alles durch den Kopf schießt! Das ist doch nicht okay! Es ist unfair und wahrscheinlich sogar illegal, aber mein pinkbefingernageltes Verderben bekommt natürlich einen großen Haufen Geld dafür bezahlt, um Situationen wie diese an den Hörnern zu packen

Allerdings bin ich nie ein gewalttätiger Mensch gewesen. Noch nicht mal in der Grundschule, wo die lieben Spielkameraden halb im Sandkasten zu ersticken als Äquivalent zu einem fröhlichen Hallo galt. Ich versuche, so viel Haltung aufzubringen, wie mir irgend möglich ist, und verkünde meine fristgemäße Kündigung zum Monatsende. Sie bittet mich, sofort meinen Schreibtisch zu räumen.

«Ich weise die Buchhaltung an, so schnell wie möglich die Endabrechnung zu machen. An welche Adresse soll ich Ihre Lohnsteuerkarte schicken lassen? Nachdem Sie die Wohnung ja aufgeben?»

Ich sehe sie verständnislos an.

«Jake hat Ihre Wohnung im internen Netzwerk als ab nächsten Monat zu vermieten inseriert.»

«Ich weiß», lüge ich und torkle zur Tür.

Als ich abends mit Jake darüber spreche, leuchtet mir natürlich vollkommen ein, weshalb er die Wohnung vermieten will. Er hat völlig recht. Ich könnte sie mir allein überhaupt nicht leisten. Außerdem ist er sich sicher, dass wir darüber

Was mich allerdings völlig überrascht, ist Jakes Reaktion, als ich ihm erzähle, dass ich meinen Job los bin. Er ist schockiert. «Du kannst unmöglich nach London runterkommen, solange du keinen Job hast. Wovon willst du denn leben?»

«Ich habe doch dann das Geld vom Hotel», sage ich.

«Ja, aber das solltest du anlegen und nicht verprassen. Wenn du keinen Job hast, müssen wir viele Themen noch mal gründlich überdenken. Du kannst doch sicher eine Weile bei deinen Eltern wohnen, oder?»

«Jake! Was ist denn bitte los? Warum zeigt SkyBluePink mir plötzlich so dermaßen die kalte Schulter? Verstehst du das?»

Jake gibt mir einen Kuss auf die Nasenspitze. «Die Firma entwickelt sich weiter, Liebling, und sie brauchen die richtigen Leute an den richtigen Stellen. Stark, unabhängig und karriereorientiert.»

«Ich dachte, das trifft auf mich zu?», murmle ich. Ich bin völlig verwirrt.

«Ach, Süße!», sagt Jake.