Franz Zeller

Sieben letzte Worte

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Franz Zeller

Franz Zeller, Jahrgang 1966, hat Germanistik und Anglistik in Salzburg und Oxford studiert. Seit 2004 moderiert er beim ORF-Sender Ö1 die Sendereihen „Matrix“ und "Digital.Leben". Wenn er nicht gerade „on-air“ ist oder schreibt, kocht er mit seiner Familie, spielt Bass, braut Bier oder erzählt seinen Söhnen vom Wasserkobold „Bubbelmuck“, dessen Geschichten als ebooks bei Knaur erschienen sind.

Mehr Infos über den Autor unter: www.franzzeller.at

Impressum

eBook-Ausgabe 2014

Knaur eBook

© 2014 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42303-5

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Für Bibiane

1

Warum schaut der Mann so?«

Das Mädchen mit dem Schokoladenmund starrte der Heiligenstatue ins Gesicht. Mit geneigtem Haupt ruhte der hölzerne Kirchenmann auf seinem Steinsockel.

Die Mutter hob den Kopf, während sie einem Säugling im Kinderwagen das Fläschchen hielt.

»Er sieht das Kreuz mit dem Herrn Jesus in seiner Hand an.«

Lea drückte eine geblümte rosa Plastiktasche enger an sich und fixierte unverwandt den heiligen Nepomuk unter seinem Blechdach.

Kaum zehn Meter entfernt toste aus dem Mönchsberg das Wasser des Almkanals heraus und stürzte über eine Holzrinne auf ein riesiges Wasserrad neben der Stiftsbäckerei von St. Peter. Für das Kind, das nun endlich dem Blick der Heiligenfigur folgte, war das rotierende Rad ein gleichermaßen faszinierendes wie beängstigendes Ungetüm, fast viermal so hoch wie es selbst. Es drehte sich so rasch, dass Lea Angst bekam, das wuchtige Holzding könnte sie mitreißen.

»Jetzt weiß ich es«, sagte das Mädchen ruhig, aber so laut, dass es das Wasser übertönte. »Wegen dem roten Wasser.«

»Rotes Wasser«, murmelte die junge Frau, die erst vor kurzem mit ihren zwei Kindern alleingelassen worden war. Manchmal war die Fantasie von Lea überbordend. Und momentan fand sie für die Flausen ihres Kindes einfach keinen Platz in ihrem Leben.

»Blutrot«, setzte Lea nach und versuchte, das Wort überdeutlich und so theatralisch wie möglich auszusprechen. So wie die Kinder in ihrer Lieblingsserie Little Amadeus.

Erst jetzt sah ihre Mutter von der kleinen Schwester auf.

Aus der Rinne über dem mächtigen Wasserrad schoss rotes Wasser hervor. Blutrotes Wasser. Zumindest war dies der erste Vergleich, der auch der jungen Frau unwillkürlich in den Sinn kam.

Die Frau wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und brachte das Kleinkind im Wagen dazu, sein Fläschchen kurz selbst zu halten. Sie war mit ihren Kindern allein im kleinen Hof der Stiftsmühle. Kurz vor halb neun spazierten trotz Festspielzeit erst wenige Menschen durch die Altstadt. Schnell zog sie Lea zum Kinderwagen.

»Warte hier einen Moment«, rief sie mit einem weiteren Blick auf das blutrote Wasser.

Die junge Frau hüpfte die paar Stufen zum Eingang des Bäckereiladens an der Stiftsmühle hinunter. Er war noch versperrt. Sie schlug mit dem Metallring gegen die Holztür. Währenddessen behielt sie Lea im Auge. Das Mädchen war immer für Überraschungen gut. Aber im Moment starrte die Fünfjährige fasziniert auf das Wasserrad, über dessen Rippen rote Gischtkaskaden heruntersprühten, um in einem schmalen Kanal gesammelt zu werden und unter dem Hof der Bäckerei zu verschwinden.  

Niemand öffnete.

Links von der Tür entdeckte sie eine elektrische Klingel. Sie drückte dreimal ungeduldig dagegen. Es war schließlich dringend. Aber auch jetzt öffnete niemand. Und noch immer hatte der Hof keine anderen Besucher angezogen.

Mittwoch. Da war die Stiftsbäckerei geschlossen. Sie hatte es ganz vergessen. Zu selten kaufte sie hier ein.

Sie ging mit raschen kurzen Schritten zurück zum Kinderwagen und zog ein teures Handy aus der Ablage unter der Babyschale hervor. Wasser spritzte in ihre Richtung, sie sprang angeekelt zurück, entschloss sich dann aber, die roten Fontänen zu fotografieren. Wer wusste schon, woher das rote Zeug stammte?

Als sie das Mobiltelefon in den Kinderwagen zurücklegte, atmete sie lange aus, so wie nach einer anstrengenden Turnübung im Fitnesscenter. Aber diese unbeschwerte Zeit auf Laufbändern und Ergometern war längst vorbei, seit dem ersten Kind, seit Lea. Seit sie eine brave, fleißige, aufopfernde und damit uninteressante Mutti geworden war.

Dann Leas Schrei wie eine Detonation kindlichen Schreckens, langgezogen und schrill, ähnlich den Lauten exotischer Vögel im Palmenhaus im Zoo. Im selben Moment durchzuckte auch ihren Körper ein Schauer, von der Schulter abwärts bis in die Oberschenkel.

Aus der Holzrinne über dem Wasserrad kamen zwei Beine zum Vorschein. Sie wurden vom Rad mitgenommen und zogen einen Torso samt Kopf hinten nach, der etwas sehr Seltsames an sich hatte. Der Körper aus dem Almkanal überschlug sich auf dem Rad, sah irgendwie verwundert in Richtung Dom und stürzte trotzdem recht langsam zum Kanal hinunter, während er sich halb um seine Achse und die Augen in den Himmel drehte. Bevor er vom Wasser wieder in sein unterirdisches Gerinne mitgerissen werden konnte, verklemmte er sich. Der Oberkörper blieb auf einer kleinen Steinbrücke über dem Kanal liegen.

Die junge Frau hielt Lea die Augen zu. Das Mädchen hörte sofort zu schreien auf und verfiel in eine Art Starre. Dafür begann der Säugling zu plärren, weil ihm das Fläschchen aus den Händen gerutscht war.

»Hilf ihr mal«, sagte die Frau und drehte Lea zum Kinderwagen. Sie gab das Gesicht frei und drückte ihrer großen Tochter die Babyflasche in die Hand.

In ein paar Schritten war die junge Mutter beim Wasserrad und blickte hinunter auf den Körper.

Der Mund stand weit offen, ein unnatürlich runder Mund mit leuchtend roter Umrandung. Langsam begriff sie, während sie die Augen in diesem seltsamen Kopf suchte. Das war kein Toter. Das war eine Puppe. Eine lebensgroße Puppe aus Plastik. Eine Puppe für Einsame.

2

Oberhollenzer hob den kleinen violetten Teller hoch, starrte den Fischlappen auf dem Reis kurz an wie ein Kaninchen die Schlange und setzte das Sushi dann kopfschüttelnd zurück auf das Förderband.

»Hat dich der Mut verlassen?«

Franco Moll schob sich ein rohes Stück Thunfisch in den Mund. Zwischen ihm und Martina Pelegrini stapelten sich bereits die bunten Teller.

Ohne eine Antwort zu geben, griff sich Oberhollenzer ein Minischnitzel vom Band.

»Das gibt’s doch nicht, Oberhollenzer.«

Pelegrini strich grüne Wasabipaste auf ihr vegetarisches Maki. »Erst wünschst du dir, dass wir zum Running-Sushi gehen, und dann isst du nur uncoole Bröselfetzen, wie der Wiener sagt. Das ist mindestens schon das achte Schnitzel, grob geschätzt.«

Der stark übergewichtige Polizist aus dem gebirgigen Pinzgau hatte nicht einmal zehn Sekunden gebraucht, um das hellbraun panierte Fleisch zu verschlingen. Er klopfte sich auf den Bauch. Es war nicht ganz klar, ob er die mächtige Wölbung aus verhaltenem Ärger schlug oder sie mit seinen Riesenhänden spielerisch liebkoste.

»Ja, du hast recht, Martina. Ich habe Angst vor meiner eigenen Tapferkeit bekommen. Wir Pinzgauer sind im Herzen Bauern und essen nur, was mindestens zwei Beine hat. Und wir sind manchmal roh, aber wir essen niemals roh.«

Zur Abwechslung griff sich Oberhollenzer einen Teller mit Hummerchips. Er schnüffelte daran. Mit einem gefälligen Nicken ließ er die zwei weißen Scheiben krachend zwischen seinen Zähnen verschwinden.

»Das ist immerhin ein Anfang.«

Der schlanke, hochgewachsene Moll klopfte Oberhollenzer über den Tisch hinweg auf die Schulter. Oberhollenzer zuckte unwillkürlich zurück. Eben noch hatte Pelegrinis Blick seine Wampe gestreift, jetzt tätschelte ihn sein gutaussehender Kollege herablassend wie einen folgsamen Berner Sennenhund.

»Hat eine zarte Note von Fisch, Oberhollenzer. Stammt auch nicht aus dem Meer, sondern wahrscheinlich aus einer Algenkultur, im besten Fall, oder überhaupt nur aus dem Reagenzglas. Dazu eine dezente Brise würziger Seeluft im Abgang.«

»Ich glaube, die Krautsuppendiät hat mich psychisch gebrochen«, stammelte Oberhollenzer. Sein voller Mund hinderte ihn daran, mit Grobheiten zurückzuschlagen.

»Davon habe ich bei unserem Hausbesuch nichts gemerkt«, sagte Moll ohne alle Ironie und änderte damit schlagartig die Stimmung am Tisch. Er strich sich durch die kurzen schwarzen Haare, ein Erbe seiner italienischen Mutter. »Ich dachte, du erwürgst den Schläger mit einer Hand.«

»Die hat sich bei seinen trostlosen Ausreden einfach selbständig gemacht.« Oberhollenzer hob entschuldigend die Schulter. Er hatte es satt, immer wieder auf seine impulsiven Ausbrüche angesprochen zu werden, wollte aber jetzt keine Diskussion darüber beginnen. Er wollte essen. Nichts anderes. »Manchmal glaube ich, meine linke Hand hat ein Gerechtigkeitsempfinden, das nicht zu kontrollieren ist«, sagte er beiläufig.

»Zumindest der Unkontrollierbarkeit würde ich zustimmen.«

Francos Blick blieb länger als gewollt an Oberhollenzer hängen. Manchmal tat ihm dieses gestandene Mannsbild mit seinen Bauernschrankausmaßen fast leid, wenn ihm die linke Hand wieder mal ausrutschte und er sich nachher regelmäßig dafür schämte. So wie jetzt. Innerhalb weniger Sekunden war er in sich zusammengesunken. Geistesabwesend blickte der korpulente Polizist in den bröselnden Schaum mit Fischgeschmack. Manchmal sah Oberhollenzer richtig niedergeschlagen aus, trotz der immensen Kraft, die in ihm steckte. Dann wieder konnte seine Stimmung innerhalb einer Sekunde ins Gegenteil umschlagen.

Pelegrini stieß Franco unter dem Tisch an. Nein, er würde sowieso nicht noch länger in dieser Wunde bohren. Zu gut verstand er das Aufbrausen seines Kollegen. Oberhollenzers Gerechtigkeitsempfinden hatte etwas Krankhaftes. Oder einfach eine Delle, woher auch immer sie kommen mochte.

Eine junge Frau hatte ihren Mann angezeigt, weil er sie wieder einmal grün und blau geschlagen hatte. Als das Kripo-Trio vor kaum einer Stunde in ihrer Mietwohnung in Liefering erschien, war plötzlich wieder alles eitel Sonnenschein gewesen. Die kleine schwarzhaarige Frau stand mit geschwollener und dunkel verfärbter Wange in der Tür und erklärte stotternd, sie sei im Suff gefallen und habe nur eine Ausrede gebraucht.

Pelegrini fragte, was sie denn getrunken habe.

Nach kurzem Luftholen meinte die Frau: »Schnaps.«

»Stimmt doch gar nicht«, hörten die Beamten eine gedämpfte junge Stimme, die nur auf ihren Einsatz gewartet zu haben schien. Ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen mit ebenso dunklen Haaren wie seine Mutter zwängte sich durch eine schmale Seitentür in den kleinen Flur.

»Verschwinde in dein Zimmer, aber schnell«, brüllte ein drahtiger Mann mit Ruderleibchen und Trainingshose, der unerwartet hinter ihnen auftauchte.

Bevor er das Mädchen am Arm packen konnte, hatte Oberhollenzer mit einer Hand seine Gurgel umfasst und drückte ihn gegen die Garderobe. Der rabiate Familienvater verstummte augenblicklich und rührte sich nicht mehr.

»Warum stimmt das nicht?«, fragte Oberhollenzer das Kind.

Das Mädchen sah unsicher zu seinem Vater. Pelegrini ging einen Schritt vorwärts, um den Blickkontakt mit dem Mann zu unterbrechen.

»Mama hat doch solche Probleme mit der Speiseröhre. Sie kann gar nichts trinken, was so scharf ist wie Schnaps. Sie kann nicht einmal Tomaten essen, weil die ihr beim Schlucken weh tun.«

»Gut«, sagte Moll. »Wie machen wir weiter?«

»Gar nicht«, antwortete die junge Frau plötzlich sehr couragiert. »Sie verlassen jetzt die Wohnung. Und ich ziehe die Anzeige zurück.«

»Überlegen Sie sich das noch mal.« Moll fixierte die Frau. Sie sah zu Boden und schien von ihrer plötzlich aufwallenden Stärke schnell wieder verlassen worden zu sein. »Bei Ihnen in der Wohnung ist es immer wieder mal überdurchschnittlich laut, sagen die Nachbarn, um es vorsichtig auszudrücken. Wir werden auf jeden Fall das Jugendamt verständigen. Die sollen sich mal Ihre Kinder ansehen. Sie haben ja noch zwei kleinere, soviel wir wissen. Wenn wir dort irgendwelche Anzeichen von Misshandlungen finden, kommen wir wieder.«

Oberhollenzer presste den Mann noch immer mit seiner linken Hand gegen die Garderobe. Der Schläger stand dort wie paralysiert auf Zehenspitzen und wagte unter dem Griff des 120-Kilo-Mannes kaum zu atmen.

»Ich komme auch wieder, mein kleiner Prügelknabe«, flüsterte Oberhollenzer dem Mann deutlich hörbar ins Ohr. »Aber wenn ich wieder zu dir kommen muss, dann machen wir ein kleines lehrreiches Rollenspiel. Eine Übung im Fach Demut. Du wirst deine Frau sein. Und ich bin du.«

Oberhollenzer kicherte jetzt ein wenig, als würde er eben verrückt werden. »Und glaub mir. Mit dir als Frau kann ich deine Rolle weitaus besser spielen als du selbst. Falls du mit deinem kleinen Schlägerhirn überhaupt begreifst, was ich meine.«

An den sich plötzlich weitenden Augen des Mannes erkannte Moll, dass Oberhollenzers Pranke sich um den Hals des Schlägers schloss. Moll klopfte seinem Kollegen begütigend auf die Schulter. Langsam, ohne den unrasierten Typen aus den Augen zu lassen, lockerte der Kriminalpolizist seinen Griff und nahm die Hand von der Kehle.

»Schnucki.« Der korpulente Kriminalbeamte tätschelte dem Mann die Wange. »Beim nächsten Mal machen wir dort weiter, wo wir jetzt aufgehört haben, ja?«

Der Mann rührte sich auch nicht, als Oberhollenzer sein Jackett ordnete und damit seine Bereitschaft zum Aufbruch signalisierte.

»Vergesst die Geschichte.« Die knapp fünfundzwanzigjährige Pelegrini stellte scheppernd den Teller auf dem Tisch ab und holte Moll wieder in die Gegenwart des japanischen Restaurants zurück. »Das war nicht das erste Mal, dass der Racker sie verdroschen hat. Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Wahrscheinlich hat die Frau gar keine andere Wahl, als entweder ins Frauenhaus zu gehen oder bei ihrem Typen zu bleiben. Keine Arbeit, kein Spielraum. Und darum werde ich mich nie von einem Mann abhängig machen.«

»Ich auch nicht«, antworteten Moll und Oberhollenzer fast gleichzeitig. Sie grinsten sich wegen ihrer synchronen Replik an. Die Stimmung zwischen dem äußerlich so ungleichen Ermittlerpaar war wieder im Lot. Die Tür zum kleinen Elend von vorhin schloss sich.

Pelegrini wischte mit einer Serviette Schweiß aus ihrem Nacken. Selbst bis hier in den gekühlten Innenraum des Sushi-Restaurants war die Hochsommerhitze vorgedrungen.

Moll sah sie über seinen Thunfisch hinweg an. Die junge Kollegin hatte sich gut in ihr Team integriert, obwohl sein ungeliebter Vorgesetzter, Brigadier Gokl, ihnen die junge Polizistin aufs Auge gedrückt hatte. Pelegrini trug die hellblonden Haare wild hochgesteckt und tat auch sonst im Dienst alles, um sich so burschikos wie möglich zu geben. Moll versuchte, sich die schlanke Frau mit offenen Haaren vorzustellen. Es gelang nicht. Überhaupt: Die Sache mit den Frauen war nicht gerade sein Ding. Seit Eva ihn und seinen Sohn Felix wegen Mondsteinen, Chakren und anderem Eso-Zeugs verlassen hatte, hatte er die Beine beziehungstechnisch nicht mehr auf den Boden gebracht. Jetzt auch noch die Pleite mit Alexandra.

»Iss endlich deinen Thunfisch, sonst wird er kalt«, sagte Pelegrini, ohne ihn anzusehen. Sie schmunzelte sichtlich. Hoffentlich konnte sie nicht Gedanken lesen. Die Hitze kochte offenbar gerade sein Gehirn auf. Die Vorstellung ließ ihn grinsen.

Die junge Beamtin nahm einen Teller mit einer Riesenmuschel vom Band und überlegte, wie sie das schleimige Unding ohne allzu viele Kollateralschäden aus seinem Sojabad kriegen würde. Sie entschied sich für den Frontalangriff und schlürfte die Muschel aus.

»Heute ohne Schalldämpfer unterwegs, die junge Frau Kollegin.« Oberhollenzer wartete keine Erwiderung ab und sah sich nach einem neuen Opfer seines Hungers um. Er saß ungünstig, mit dem Rücken zur Laufrichtung des Sushi-Bandes. Immer wieder entwischte ihm ein Schnitzelteller, weil er zu langsam auf die vorbeigleitenden Speisen reagierte. Um zu sondieren, was da in nächster Zeit auf ihn zukommen würde, drehte er sich um.

»So wählerisch oder so hungrig?«, fragte die Frau am nächsten Tisch und sah Oberhollenzer amüsiert über ihre Zeitung hinweg an. Sie hielt das Blatt trotz des großen Formats mit einer Hand, während die andere immer wieder wie nebenbei nach Essen griff.

»Nein, so gierig.« Der wuchtige Kriminalpolizist lächelte unaufdringlich zurück und langte mit Heißhunger nach dem gelben Teller, auf dem er vor ein paar Sekunden ein Schnitzel hatte näher kommen gesehen. Plötzlich stockte seine Hand. Ungläubig starrte Oberhollenzer auf den rohen, weiß geäderten Lachs.

»Falls du dein Schnitzel suchst«, sagte Franco, »das hat sich Richtung Küche aus dem Staub gemacht. Ich glaube, es hatte bei deinem Anblick Todesangst, nachdem du seine ganze Familie ausgerottet hast. Wenn du ganz lieb bist zu mir, zieh ich die Glock und stelle es, bevor es in die nächste Runde geht.«

»Geben Sie her«, sagte die Frau hinter Oberhollenzer belustigt. »Ich kann Sie nicht leiden sehen. Aber gestatten Sie mir eine Frage. Kann es sein, dass Sie sich im Lokal geirrt haben?«

»Negativ.« Oberhollenzer stellte den Fischteller vor ihr ab. »Wo gibt es sonst Schnitzel am laufenden Band?«

Die Frau lächelte Oberhollenzer und Moll an. »Ja, diese Teller mit ihrem Plastiksturz sehen wirklich aus wie kleine Fischsärge.« Kurz lachte sie und verbarg sich wieder hinter den Salzburger Nachrichten. Sie hatte üppige schwarze Haare und trug selbst jetzt, Ende Juli, lange dunkle Ärmel, die hauteng ihre schlanken Arme modellierten. Das kurze rote T-Shirt darüber wirkte, als hätte sie sich beim Weggehen noch besonnen, dass der Sommer auch einen Farbtupfer brauchte.

»Festspielstar vermisst«, las Moll aus der Ferne eine Schlagzeile im Lokalteil der Zeitung. Schnell desinteressiert verlagerte er seine Aufmerksamkeit von dem Artikel, der aus der Entfernung ohnehin schwer lesbar war, zurück zum Sushi-Band.  

Oberhollenzer verdrückte innerhalb kürzester Zeit ein Dutzend Minischnitzel und so gut wie alle Hummerchips. Die dunklen Schweißflecke auf dem weißen Hemd stammten trotzdem nicht von der Anstrengung des Essens, sondern von der Julihitze.

»Verzeihen Sie«, sprach ein junger Mann Oberhollenzer überraschend an. »Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein. Aber dürfte ich Sie um etwas bitten? Meine Kinder  …«, er deutete zu einem Tisch weiter hinten im Lokal, an dem eine Frau gerade einen circa vierjährigen Buben zu trösten schien, während ein älterer Junge erwartungsvoll in Richtung Vater sah, »… meine Kinder drehen durch, wenn sie nicht bald ein paar Hummerchips bekommen. Zwei Teller würden einstweilen reichen, nur damit Sie hier nicht Zeuge einer Familientragödie werden.«

»Das wäre wenigstens ein einfach zu klärender Fall«, erwiderte Oberhollenzer ernst. »Aber natürlich hebe ich in diesem begründeten Fall das Embargo auf. Sie können sich auf mich verlassen.«

Der junge Mann nickte dankbar und kehrte zu seinen Kindern zurück, denen er aufmunternd zuzwinkerte.

Moll flüsterte Pelegrini etwas ins Ohr und verließ mit einem entschuldigenden Nicken und einem schelmischen Grinsen in Richtung Oberhollenzer den Tisch.

Als er wenig später zurückkam, unterhielt sich Oberhollenzer intensiv mit dem attraktiven Gast in Schwarz-Rot. Die Frau um die dreißig hatte die Zeitung zusammengefaltet und neben sich auf den Tisch gelegt. Vor Oberhollenzer zählte Franco sechsundzwanzig Teller. Offenbar servierten die Restaurantbetreiber nicht ab, um zu erfahren, was ein Mensch im Extremfall essen konnte. Der Koch und ein weiterer Mann standen mit verschränkten Armen an der Bar und unterhielten sich lachend, während sie immer wieder auf den Tisch des Trios blickten und das Geschehen hier offenbar kommentierten.

Mitten in seiner angeregten Unterhaltung mit der fröhlichen Frau stockte Oberhollenzer plötzlich. Auf dem Sushi-Band näherte sich ein bunter Fremdkörper zwischen all den kleinen Tellern mit den Miniportionen, ein aufgeblähter großer Sack mit Hummerchips. Eine gelbe Notiz klebte auf der roten Verpackungsfolie. Als die Riesentüte den Tisch seiner Gesprächspartnerin passierte, konnte der stämmige Kriminalpolizist die Schrift auf dem Post-it lesen: Fül Obelhollenzel.

3

Sie hatte sein Herz in Salzsäure getränkt. Nach all dem Balsam, mit dem sie es ins Leben zurückgeholt hatte, aus einem Wachkoma der anderen Art. Nur um ihn samt seinen frisch belebten Liebes-Innereien dorthin zurückzuschicken, woher er gekommen war. Zurück in die Dürrezeit.

Mit einem Papiertaschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Hier drin in der Kaverne war es zwar vergleichsweise kühl, aber der Aufstieg hatte all seine Poren geöffnet. Das T-Shirt klebte an ihm. So wie die Leiche zu seinen Füßen ab nun an ihm haften würde.

Alles klebte momentan. Die leichten Stoffe an den Hüften der Frauen, wenn sie durch die Stadt flanierten. Die Unterwäsche, die sich sichtbar in die Falte zwischen den Pobacken fraß. Die Sommerkleider drückten sich feucht auf das Gesäß, der Saum hob sich und zeigte noch mehr Oberschenkel als erlaubt. Bei den Radfahrerinnen rutschten die Röcke hoch, und ihre Schenkel blitzten in der Sonne, als schrien sie nach Berührungen. Nicht auszudenken, welch glitschiges Regenwaldbiotop erst unter den Stoffen lauerte. Am liebsten hätte er all diese Hüften umklammert und sich in all diese überbordenden Teiche von Verlangen versenkt.

Das Leben entglitt einem in Sekundenbruchteilen. Und wenn es ein weiteres Mal entgleiste, hüpfte es trotzdem nicht auf die altbewährten Schienen zurück. Im Leben ergab minus mal minus nicht unbedingt plus. So war es gewesen, als er seine spätere Frau Elisabeth unabsichtlich geschwängert hatte, so war es gewesen, als er Mira vor exakt zweiunddreißig Tagen getroffen und vor drei Tagen wieder verloren hatte.  

Die Flasche und der Kopf. Ein Sekundenbruchteil. Er hatte sich gebückt, die grüne Flasche am Hals gepackt, den Oberkörper aufgerichtet, den Arm gehoben und einmal draufgeschlagen auf die Aufkündigung ihrer Zuneigung und damit ihrer gemeinsamen Zukunft. Mira war lautlos zusammengesackt. Danach hatte ihn eine große Ruhe befallen wie andere ein Schlafvirus. Erst Stunden später war das Zittern in ihm angekommen, als hätte es aufgrund einer beschwerlichen Anreise sehr lange gebraucht.

Selbst jetzt kam er aus diesem Pendeln zwischen höchster Erregung angesichts seiner Notwehr, ja es war Notwehr, Notwehr gegen die Einsamkeit, und einer großen Gleichgültigkeit nicht heraus. Vielleicht hätte es ihm geholfen, diese Geschichte jemandem beichten zu können. Aber da gab es niemanden, zu dem er genug Vertrauen gehabt hätte. Am allerwenigsten zu seiner Frau, zu Elisabeth. Und auch seinem Sohn erzählte man nicht, dass man eben jemanden erschlagen hatte. Noch dazu, wenn es die Geliebte war, das vermeintliche Absprungbrett aus dem jahrelangen Ehefrost. Wie hatte Mira es wagen können, ihn zu verlassen.

Vielleicht sollte er es seiner Schwester schreiben, die Einzige, zu der er Vertrauen hatte. Sie war weggezogen. Aber sollte man den Tiefpunkt seines Lebens einem Brief anvertrauen? Oder konnte er ihr etwas andeuten? Vielleicht hätte auch das geholfen.

Mira war zu Boden geglitten, so fließend und langsam, als würden sich die Knochen in ihrem Inneren auflösen. Dann fiel ihr Oberkörper zurück, und sie starrte an die Decke, emotionslos und gar nicht verwundert über das, was ihr passiert war. Sie hatte wahrscheinlich begriffen, warum sie den Schlag verdiente. Ihn nach vier Wochen Glück plötzlich zurückzuweisen und zurückzustoßen in die alte Einsamkeit, das stand ihr nicht zu.

Das kleine Rinnsal, das aus einer Sturzwunde über ihrem linken Ohr sickerte, hatte er anfangs gar nicht bemerkt. Als es sich in einem großen Fleck sammelte und klar vom Felsboden abhob, war ihm seine finale Bedeutung schlagartig bewusst geworden. Miras Leben war ausgeronnen, so wie sein eigenes. Seines tröpfelte seit fast zwei Jahrzehnten aus ihm hinaus, ihres hatte sich durch einen Schleusenbruch schnell entleert.

Er hatte Mira erst Stunden später berühren können. Aber das war nicht mehr die Mira gewesen, deren Haut er kannte, fest und starr fühlte sie sich an. Alle Weiblichkeit war aus ihrer Hülle gewichen. Selbst im Tod bemühte sie sich noch, die letzten Bande zu kappen. Nicht einmal für die Hände gab es Trost.

Fliegen hatten sich in der kleinen roten Lache zu schaffen gemacht. Er hatte einen alten Fetzen aus seiner Hosentasche gezogen und den Blutfleck so gut wie möglich entfernt.

Und dann hatte er Miras Blick an die Decke nicht mehr ausgehalten und den starren Körper auf den Bauch gedreht. Das Haar in ihrem Nacken war zur Seite geglitten und gab einen dunkelviolett verfärbten Hals frei. Zuletzt schob er seinen Strohhut unter ihren Kopf. Ihr Gesicht sollte nicht im Staub liegen. Nein, das hatte sie nicht verdient, auch wenn sie eine untreue Seele war.

Mittlerweile bevölkerten die Fliegen das blutige Stofftuch, das er achtlos zu Boden geworfen hatte. Mit spitzen Fingern fasste er den alten Fetzen an und sah sich nach einer Entsorgungsmöglichkeit um. Schließlich schob er ihn in den Slip der Leiche. Dort kamen gewiss keine Fliegen hin.

Das war vor fast zwei Tagen gewesen. Seitdem hatte er sie nicht mehr berührt. Es wurde Zeit, Mira wegzuschaffen. Mittlerweile suchte man schon nach ihr. Einige Male hatte er probiert, einen klaren Gedanken zu fassen und Vorbereitungen für ihren Abtransport getroffen, aber dann hatte ihn unversehens dieses seltsame Zittern erfasst, dieses Totenfieber, das ihn erst nach langen, intensiven Attacken losließ. Ein Zittern wie jenes von Mira, wenn sie sich auf ihrem Lager unter dem Dach durchstreckte, die Hände über ihrem Kopf gegen die Wand gestemmt, dazu die Schreie, diese lauten Schreie, die ihrer beider Lust etwas Verzweifeltes, Endgültiges gegeben hatten, und das lange Nachbeben in ihrem verkrampften Körper, das Gesäß, das sich wie unter Liebesschmerzen vom Leinentuch hob, selbst dann noch, als er schon heftig atmend neben ihr gelegen hatte.

Allein beim Gedanken daran fing er heftig nach Luft zu schnappen an. Er musste sich an der Steinbrüstung festhalten und starrte eine Weile durch ein schmales Felsloch auf die Erhardkirche hinunter, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Erst als er die grünliche Kuppel und die zwei Türme erkannte, begannen sich seine Gedanken wieder zu ordnen. Ihn fröstelte plötzlich, auch wegen des Luftzugs durch das Felsfenster.

Er drehte sich um. Toter Liebesengel. Jetzt lag dieser Engel allein mit seiner Strafe am Boden dieses Felsenlochs. Die Liebesgruft. So würde er fortan an die Kaverne denken.

Er ging in die Knie und stieß die Leiche mit den Fingerkuppen an. Überrascht zog er die Hand zurück. Und drückte seinen Zeigefinger noch einmal in den toten Körper. Die Haut war wieder weich geworden. Der Tod war ein Verwandlungskünstler.

Es war wirklich Zeit, Mira wegzubringen. Und noch eines wusste er: Jener Mann, der sich in sein Glück gezwängt hatte und damit an Miras Tod schuld war, dieser Mann würde nicht ungeschoren davonkommen. Die Vorarbeiten hatte er schon erledigt.

4

Franco rieb sich das Gesicht mit Eiswürfeln ab. Selbst unter seinen Haaren schien der Juli zu kochen. Felix, sein neunjähriger Sohn, sah ihm von der Couch aus interessiert zu.

»Ich muss dir was sagen, Papa. Aber ich warte noch. Es ist gut, wenn du einen kühlen Kopf dabei hast.«

Mit Schwung warf Franco den Eisrest Richtung Spüle. Er verfehlte sie.

»Na, da bin ich aber gespannt, wenn du so geheimnisvoll tust. Hast du eigentlich schon gepackt? Deine Mutter holt dich morgen um sechs Uhr früh ab, hat sie versprochen.«

Felix zog an einer seiner blonden Locken und verneinte. Offenbar wusste er immer besser Bescheid, wie charmant er auf seine Umwelt wirkte, selbst auf seinen störrischen und tendenziell unausgeglichenen Vater.

»Wir zwei packen gemeinsam. Du bist ja mein Papa und meine Mutter zugleich. Behauptet der Uropa.«

Franco hielt erneut das Eisstück in der Hand, das sein Ziel verfehlt hatte. Und warf es verspielt auf Felix. Wieder traf er nicht.

»Du redest, als wärst du fünfzehn. Wer hetzt dich denn so auf? Melinda?«

Einerseits mochte Franco seine neue Nachbarin sehr, andererseits traute er der schrulligen Pferdenärrin auch zu, den Kleinen zu einem Teil ihres Tierwahns zu machen. Und Felix war ganz klar die Nummer eins bei Melinda. Da konnte er sich selbst Gel ins Haar schmieren, so viel er wollte.

Felix dachte nach und schüttelte wieder den Kopf. »Nein, meine Lieblingsnachbarin kennt sich ja mit nichts aus, außer mit Fischstäbchen und Pferden.« Er machte eine Pause. »Und genau darüber möchte ich ja mit dir reden.«

Er klopfte mit der Hand auf die Couch und nickte Franco lächelnd zu. Der verstand den Wink und setzte sich neben Felix.

»Ich hab mir etwas überlegt«, fuhr Felix staatstragend fort. »Auf dieser Couch wäre durchaus noch Platz für jemanden.«

»Du sagst jetzt aber nicht, dass Melinda bei uns einziehen soll. Ich bin noch nicht mal per Du mit ihr.« Franco sah seinen Sohn entgeistert an. Er und die rothaarige Bankerin, die vor knapp einem Jahr nebenan eingezogen war, das konnte er sich doch etwas schwer vorstellen. Obwohl er den unberechenbaren Charme des kleinen Energiebündels durchaus zur Kenntnis nahm. Moll dachte an den erst kurz zurückliegenden Auszug von Alexandra und wischte den Gedanken sofort wieder beiseite. Litt Felix wirklich so unter der abwesenden Mutter, dass er sich insgeheim eine Frau im Haus wünschte?

Felix hatte die Hände zwischen seine Knie geklemmt. »Nein, Melinda ist zwar klein und schmal; sie braucht aber trotzdem zu viel Platz. Ich hab an etwas gedacht, was sich leichter halten lässt.«

»Nicht schon wieder ein Haustier«, stöhnte Franco. Erneut rann ihm Schweiß über das Gesicht. Und es war ihm nicht ganz klar, ob ihn die Diskussion mit seinem findigen Sohn so erhitzte, oder ob es nach wie vor der Sommer war.

»Ich möchte eine Katze«, strahlte Felix. »Die würde gut zu uns passen. Es kann auch ein Kater sein, dann sind wir drei Männer.«

»Warum ausgerechnet eine Katze und nicht  … eine Schildkröte?«

»Papa, die willst du dann wieder essen  … Schildkrötensuppe oder so. Bisher wolltest du alle meine Tiere kochen. Das Kaninchen, den Karpfen, und  … ich weiß leider nicht, ob man auch Hamster essen kann, sonst würde ich mir vielleicht einen wünschen.« Felix stockte kurz. »Ich kenne zumindest niemanden, der Katzen isst. Darum hoffe ich, dass selbst du meine Katze nicht in den Kochtopf werfen willst.«

»Gut, dass wir darüber reden«, sagte Franco und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Offenbar habe ich da für einige Missverständnisse gesorgt.«

Felix redete voller Verständnis weiter. »Nein, kein Missverständnis, Papa. Ich hab dich schon verstanden. Es ist nur  … Es ist so mühsam, wenn ich alle Tiere vor dir in Sicherheit bringen muss. Krabbe, den Karpfen, den wir im letzten Sommer freigelassen haben, den hättest du sicher auch gekocht, oder?«

»Ja, serbisch«, antwortete Franco und hätte sich im gleichen Augenblick am liebsten auf den Mund geschlagen.

»Eben. Und das Kaninchen vor zwei Jahren?«

Mit einem Seufzer drehte Franco sich zu seinem Sohn. Jetzt war es Zeit, mal ein paar Dinge klarzustellen. »Das Kaninchen ist eines natürlichen Todes gestorben, Felix. Keine Gewalteinwirkung. Das hat den Linoleumboden im Abstellraum aufgefressen. Und offenbar nicht vertragen. Obwohl wir es gefüttert haben. Mit allem, was man Kaninchen laut Internet geben soll. Gerade dass wir ihm in der Apotheke keine Vitamintropfen gekauft haben.«

Felix nickte betrübt. »Ich glaube, es hat sich in den Tod geflüchtet, weil es nicht im Backrohr landen wollte.«

»Sag mal, Felix, nimmst du irgendwo Rhetorikunterricht? Oder Coaching für angehende Viertklässler?«

»Wenn du mir sagst, was das ist, dann kann ich dir eine Antwort geben.«

Franco schüttelte verwundert den Kopf und fühlte sich wie im falschen Film. Der Felix, der da mit ihm redete, steckte offenbar in einem zu jungen Körper. Hatte er irgendetwas übersehen?

»Egal. Der Karpfen hat aber überlebt«, rechtfertigte er sich.

»Ja, aber nur, weil ich dich erpresst habe, Papa.«

»Immerhin, es hat funktioniert.«

»Aber ich will dich nicht andauernd erpressen müssen. Das ist so anstrengend«, klagte Felix mit ehrlichem Bedauern.

»Klingt überzeugend.« Das waren offenbar wirklich schwierige Verhandlungen mit seinem Sohn. »Bin ich tatsächlich so verfressen?«, fragte Franco vorsichtig nach.

»Nein, du bist ja superschlank. Aber das ist deine Art, Zuneigung auszudrücken. Sagt Melinda.«

»Sagt Melinda«, echote Moll. Er zögerte. Vielleicht ließ sich sein Sohn ablenken. »Und wie wär’s, wenn Melinda die Katze nimmt?«

Felix schüttelte den Kopf. »Die hat schon ein Pferd. Vielleicht können wir ab und zu ihre Hilfe in Anspruch nehmen.«

»Ich denke darüber nach. Jetzt fährst du ohnehin erst mal fünf Tage mit deiner Mutter nach Italien.«

»Ja, aber danach wird es ernst. Das verspreche ich dir.« Felix stützte sich auf Francos Oberschenkel und hüpfte von der Couch. Dann drehte er sich mit einem Grinsen noch einmal zu seinem Vater um. »Und wenn du nein sagst, gehe ich zu Melinda, um mich bei ihr auszuheulen. So lange, bis sie dich für einen Schwerverbrecher hält. Ich kann nämlich furchtbar klein sein, wenn ich will.«

Damit küsste Felix seinen Vater auf die Wange und zog einen blauen Rucksack unter dem Tisch hervor.

Franco blieb auf der Couch sitzen. Das war gerade eine Heimsuchung der anderen Art gewesen. Seit wann konnte sein Sohn so reden? Offenbar verabschiedete sich der kleine Junge in Felix eben, um einem größeren Platz zu machen. Im Vergleich zu Felix' Bestimmtheit war das Katzenproblem klein.

Schon wieder rann der Schweiß. Das graue Haus im alten Nonntal war normalerweise gut temperiert. Die dicken Steinmauern in Kombination mit den kleinen Fenstern hielten die Wärme im Winter drinnen und die Hitze im Sommer draußen. Aber dieser Juli brannte die Stadt ab, ohne dass auch nur eine Flamme zu sehen gewesen wäre. Die Sonne schmolz das Leben auf, machte alle mürbe und widerstandslos. Was immer gut unter Verschluss gewesen war: Die Hitze brach sich ihre Bahn und züngelte in schwer zugängliche Finsternisse hinab.

Franco dachte an Alexandra. Die Psychologin. Hatte er vielleicht irgendwo tief in seinem Inneren gehofft, dass ihm Alexandra helfen würde? Wobei? Er hatte keine Bindungsprobleme. Auch nicht nach Evas Abgang vor drei Jahren. Ein bisschen Enttäuschung durfte wohl sein. Ohne dass er es bemerkte, winkte seine Hand mit einer gleichgültigen Geste die Vergangenheit ab, als spielten die letzten Monate keine Rolle mehr. Irgendwie hatte sich das bisschen Kitt, das ihn und Alexandra zusammengehalten hatte, im damaligen Salzburger Nieselregen aufgelöst und war im Boden versickert.

Vielleicht verstand er, Chefinspektor in der Abteilung »Leib und Leben«, wirklich wenig von Zwischenmenschlichem, sobald keine Gewalt im Spiel war. Mehr oder weniger sanft entschlafen. So hätte man das Ende durchaus umschreiben können. Selbst das Begehren hatte sich aufgelöst, dieser Klebstoff in schwierigen Zeiten. Vielleicht war es gut so.

Nun brannten die Augen vom Schweiß. Irgendwie tat der Schmerz gut. Er erdete einen schnell wieder. Aber Zeit, darüber nachzudenken, blieb ihm keine mehr. Das Leben rief. Es rief verzweifelt: »Papa, wo ist meine gelbe Taucherbrille? Und der Schnorchel?«

5

Hallstatt im Juli

Liebste Leonore!

Du hast gewusst, was ich mit ihr vorhabe, nicht wahr? Du hast es gespürt, als ich am Schädelhaus vorbeiging und seufzte. Seufzte wie ein Anfänger im Schauspielseminar, so überzogen und lang, dass niemand die Tiefe des Seufzers glauben mochte. Und Du wusstest auch, dass ich mit ihr weit hinter die Grenzen ihres Körpers gehen würde.

Aber ich musste wissen, ob sie eine Wesensverwandte ist oder nur eine Statistin in diesem Spiel zwischen Leben und Tod. Es fällt mir nicht mehr ganz so leicht, das Kreuz im Keller aufzustellen. Ich habe es geschultert wie ein armer Büßer, die fünf Meter zur Wand geschleppt und es dort aufgerichtet, mit einer Mühe, die ich meinem zerfallenden Körper gar nicht zutrauen würde, und mit einer verborgenen Kraft, die ich im Leben nicht mehr in mir finde. Zu kaum einem anderen Zeitpunkt bin ich so bei mir wie in diesen Minuten, in denen ich das Eichenkreuz mit seinen hundertzwanzig Kilogramm über den Boden ziehe, in diesen Minuten, in denen es nur meinen flüchtigen Atem und das Scharren zu hören gibt, wenn das Holz über den Boden schleift. Ich dachte, ich würde es nicht mehr aus seinem Winkel holen müssen. Aber nun konnte ich diesem Verlangen nicht mehr widerstehen.

Wenn ich denke, wie lange wir nach diesem Haus gesucht haben. Ein Haus mit einem großen Kellergewölbe. Hoch genug für dieses Kreuz, das ich so lange schon mit mir herumschleppe. Und Du hast es immer mitgetragen. All die Jahre. Aber wenn ich es gegen die Mauer lehne, ist die Erregung noch immer die gleiche wie vor fünfundzwanzig Jahren, als ich sein Mysterium zum ersten Mal erforschen wollte. Mittlerweile kenne ich jede Narbe im Eichenholz, jede Vertiefung, die irgendein Tier in ihm hinterlassen hat, ich kenne seinen Trauergeruch, den Odem, den es noch immer ausstößt, ein Geruch zwischen zartem Moder und dem Atem der Nacht. Warum nur diese Obsession? Was habe ich verbrochen? Wofür büße ich?

Ich habe überlegt, ob ich Mira die ganze Wahrheit sagen soll. Aber dann habe ich ihr nur erzählt, dass dies Teil der Vorbereitung auf das Theaterstück ist, eine kleine Einübung in das Leiden und den Abschied und das, was zwischen den letzten Worten des Erlösers liegt, die Wunde innen.

Ich kann meine Gedanken kaum mehr zusammenhalten, seit Du fort bist, Leonore. Sie brechen auseinander wie eine billige Vase aus dem Chinamarkt. Ich breche auseinander. Mein Leben ist ein Laden aus Restbeständen, eine Konkursmasse. Aber ich wehre mich gegen meine Auflösung.

Mira kam am Montagnachmittag zu mir. Ich eiste sie von der Probe los und ließ den Regieassistenten Gänge mit Statisten einstudieren. Sie schnüffelte, als sie ins Haus trat. Offenbar stieg ihr der Geruch des Moders in die Nase. Sie sieht aus wie das Leben. Sie ist das Leben. Sie konnte diesen Geruch der alten Mauern nicht mögen. Es sind unsere Mauern. Unser Leben ist in ihnen. Sie spürte das, Mira ist sensibel.

Ich hab ihr nicht weh getan. Nicht wirklich.

Sie zögerte, als sie das Kreuz sah. Ich weiß nicht, ob sie mich für einen Perversen hält. Wenn ja, dann hat sie nichts verstanden.

Sie ist nicht schwer. Ich bat sie, ihre Unterwäsche auszuziehen, aber ihr Kleid anzubehalten. Du weißt warum, oder? Ich hob sie hoch, das gehört zum Ritual. Sie klammerte sich an den Querbalken und stellte ihre nackten Füße auf die kleine Erhebung. Dann drückte ich ihre Leisten gegen das Holz. Sie ist gelenkig, sie hatte keine Probleme damit und zeigte keine Anzeichen von Schmerz. Das ganze Bein samt Fuß muss in einer geraden Linie sein, wie beim Vorbild.

Sie schwieg, als ich ihre Hände an den Balken zurrte. Das Leder ist rissig, Du weißt es. Es schmerzt schon, wenn man es ansieht. Ich habe es absichtlich nicht eingefettet. Diese Dinge sind voller Kraft, wenn man sie sein lässt.

Mira schloss die Augen, instinktiv. Ich weiß noch immer nicht, ob das die Ohnmacht ist oder die Müdigkeit aus dem Kreuz kriecht, weil sie in ihm steckt. Und dann habe ich auf die Uhr gedrückt.  

Ich setzte mich in die dunkelste Nische des Gewölbes und beobachtete sie in ihrer Einsamkeit.

Anfangs spielte sie noch. Sie spielte ihre Rolle. Aber nach fünf Minuten neigte sie ihren Kopf auf die andere Seite. Ein untrügliches Zeichen, dass etwas passiert. Bei Dir war es genauso, beim ersten Mal. Nach zehn Minuten atmete sie schon schneller. Genauso, wie es Frederick Zugibe beschrieben hat in seinen Kreuzigungsexperimenten. Das eigene Gewicht beginnt auf das Leben zu drücken. Die Lunge wird zusammengepresst, der Atem schwerer.

Als sie zum ersten Mal mit heiserer Stimme fragte, wie lange es noch dauern würde, öffnete ich ihr Kleid. Es ist immer noch etwas möglich an Einsamkeit und Ohnmacht. Nach oben ist der Mensch begrenzt, aber in seinen Tiefen ist er grenzenlos.

Ich sah den Speichel, der unwillkürlich aus ihrem Mund floss. Das war nicht gespielt. So beginnt der Kontrollverlust über den Körper. Die Kraft lässt nach, der Oberkörper drückt auf den Bauch. Der Atem wird flacher. Das Innere schreit nach Luft.

Bald danach kam die Angst, ich könnte aus dem Spiel Ernst machen. Ich holte die Lanze aus der Nische und steckte sie fünf Meter vor dem Kreuz in das Loch im Lehmboden. Das sind die Augenblicke, in denen eine Tür aufgeht. Ich sah es an Miras Augen. Ich war hinabgestiegen in das Reich der Hoffnungslosigkeit, ihre Hoffnungslosigkeit. Und dies alles wie in einem Zeitraffer, nach kaum zwanzig Minuten, in diesem Zeitraffer des menschlichen Elends, durch die Kreuzigung.  

Nach siebenundzwanzig Minuten gab Mira auf. Ich habe sie nicht gequält. Als sie nach ein paar Schreien und hilflosen Flüchen ins Flehen überging, wartete ich noch drei Minuten. Erst als ihr Atem verzweifelt wurde, nahm ich sie vom Kreuz.

Sie konnte nicht mehr gehen, als ich sie herunternahm. Niemand würde meinem Körper diese Stärke zutrauen, aber ich ließ Mira auf meine Schulter gleiten und trug sie auf das weiße Bett. Diese Kraft hat mich selbst verwundert. Sie hatte Mühe, wieder Luft zu bekommen. Ich wollte ihre Hand halten. Aber sie zog sie mir weg. Sie hielt ihre Augen geschlossen. Ich glaube, sie weinte in sich hinein. Ihre Lippen, diese vollen dunklen Lippen, waren plötzlich so schmal geworden, das Blut war aus ihnen gewichen.

»Warum?«, fragte sie nur.

Sie schwieg lange und öffnete die Augen nach wie vor nicht.

Ich gab keine Antwort. Es ging nicht um Method Acting, nicht um Lee Strasberg, nicht um Konstantin Stanislawski, nicht um das tiefe Erinnern, es geht um den Blick in unbetretene Teile des Selbst.

Ich rief einen der Studenten an, die die Schauspieler bei den Festspielen zu allen Tages- und Nachtzeiten herumkutschieren. Mira döste noch ein wenig. Sie schien Angst zu haben, neben mir einzuschlafen, und bemühte sich trotz ihrer Erschöpfung mit aller Kraft, wenigstens halb wach zu bleiben.

Ich habe ihr nicht weh getan, wirklich nicht. Glaub mir, bitte. Bitte.

Dein Kajetan