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Autobiografie in Gesprächen
Mit 35 farbigen Abbildungen
ISBN 978-3-492-99026-4
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Redaktion: Wolfgang Gartmann, München
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de
Covermotiv: Enno Kapitza/Piper Verlag GmbH
Bildteilfotos: Hans Kammerlander Archiv, außer Nr. 26–35 (Enno Kapitza)/Nr. 23–25 (Stefan Keck)
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Für unsere Kinder Zara, Leni, Emilia, Josef und Konstantin
Start
Heimat
Jugend
Expeditionen
Glück
Kopf
Zu Hause
Oldtimer
Berufe
Fehler
Messner
Geld
Wettlauf
Beziehungen
Wege
Manaslu
Stube
Bildteil
Wenn ich mein Leben mit zwei Wörtern umschreiben müsste, dann wären das Berg und Tal. Ich erinnere mich noch genau, wie unser Lehrer in der Volksschule von Ahornach vom höchsten Berg der Welt erzählte oder wie ich mit meinem Bruder die Besteigung der Großen Zinne durch drei sächsische Bergsteiger tagelang vor dem Radio in der Stube verfolgte. Nie hätte ich mir damals träumen lassen, dass ich selbst einmal auf dem Everest stehen würde – und auf den anderen höchsten Bergen der Welt dazu. Geschweige denn, dass ich selbst Alpingeschichte würde schreiben dürfen, zuerst als Seilpartner von Reinhold Messner bis zu seinem 14. Achttausender. Und dann auf eigene Faust: als Rekordhalter der schnellsten Besteigung des Everest, mit meinen Skiabfahrten von Nanga Parbat und Everest oder der Erstbesteigung am Jasemba.
Rekorde, Geschwindigkeit, Konkurrenz: All das hat lange Zeit mein Leben beeinflusst. Auch wenn ich mir damals nicht eingestanden habe, dass es einen Wettlauf um die höchsten Berge gab – ich war mittendrin. Mit der Geburt meiner Tochter Zara vor zehn Jahren war die Zeit dieses Wettlaufs für mich dann aber vorbei. Eigentlich. Denn selbst als ich die Seven Second Summits in Angriff nahm, wurde mir von außen wieder eine Art Wettkampf aufgedrängt.
Dieser Konkurrenzkampf ist für uns Bergsteiger Segen und Fluch zugleich. Zu viele meiner Seilpartner sind am Berg umgekommen, darunter sehr gute Freunde. Vor den eigenen Augen einen Kameraden am Berg zu verlieren ändert vieles. Heute weiß ich, dass es besser ist, bald zu einem Berg zurückzukehren, der mit einem Unglück verbunden ist. Und doch hat es über 25 Jahre gedauert, bis ich das nach der verhängnisvollen Expedition zum Manaslu konnte. Die Rückkehr zum »Berg der Seele«, der lange mein Feindbild war, hat mich mit der Tragödie von 1991, bei der erst Carlo Großrubatscher in der Nähe unseres Zeltes aus unerklärlichen Gründen tödlich abstürzte und kurz darauf mein bester Freund Friedl Mutschlechner direkt neben mir vom Blitz erschlagen wurde, versöhnt. Rückblickend mag es ein Fehler gewesen sein, dass wir damals nicht früher umgekehrt sind. Aber Fehler gehören am Berg dazu, so traurig das ist.
Meinen größten Fehler machte ich jedoch nicht am Berg, sondern im Tal. Im November 2013 verursachte ich einen Unfall, bei dem ein junger Mann starb. Mein Bluttest ergab einen Alkoholwert von 1,48 Promille. Und damit war klar: Ich habe Schuld auf mich geladen. Als mich die Journalisten Verena Duregger und Mario Vigl zwei Jahre nach dem Unfall kontaktierten und um ein Interview baten, war ich erstmals bereit, über das Geschehene zu sprechen. Ich kenne die beiden schon seit vielen Jahren und war mir sicher, dass sie in fairer Weise berichten würden, was man von der Südtiroler Presse nicht durchgängig behaupten kann. Die Atmosphäre des Gesprächs hat lange in uns dreien nachgewirkt und brachte uns auf die Idee, uns weiter über das zu unterhalten, was mein Leben ausmacht. Diese Autobiografie in Gesprächen ist das Ergebnis vieler Stunden in meiner Stube.
Immer wenn ich früher über meine Erlebnisse am Berg erzählt habe, ob in Büchern oder bei Vorträgen, ging es vor allem um Daten und Fakten: Auf welcher Höhe lag das Basislager? An welchem Tag wurde die Besteigung in Angriff genommen? Wie kalt war es?
Dieses Buch erzählt mein Leben in Geschichten, die über Zahlen weit hinausgehen. Ich habe Abstand gewonnen und sehe heute vieles mit anderen Augen. Ich bin ein Überlebender wider alle Wahrscheinlichkeit.
Zu jedem Leben gehören Höhen und Tiefen. Meine spielen sich ab zwischen Berg und Tal.
Jetzt ist die Zeit gekommen, darüber zu berichten.
Hans Kammerlander, im Januar 2018
Wenn sich Hans Kammerlander auf seiner Terrasse einmal im Kreis dreht und dabei den Blick schweifen lässt, breitet sich sein ganzes Leben vor ihm aus: Berg und Tal. Höhen und Tiefen. Die Momente, die Jahre, die Jahrzehnte. Die guten wie die schlechten. Kindheit, Aufbruch, Gegenwart, Zukunft. All das spiegelt sich in diesem Panorama wider.
Die steinerne Terrasse mit dem schlichten Holztisch liegt in Richtung Süden. Im Sommer kann mittags die Sonne so heiß brennen, dass man sich besser in die Stube zurückzieht. Hans lebt immer noch in seinem Geburtsort Ahornach, dem kleinen Bergdorf am Südhang des Tauferer Ahrntals, über 1300 Meter hoch, mit wunderbarer Sicht ins Tal auf den Tauferer Boden mit seinen seit Jahrhunderten bewirtschafteten Feldern. Die große, grüngelbe Fläche ist unverbaubar – die Gemeinde Sand in Taufers hat sich und den Fraktionen Mühlen und Kematen seit jeher auferlegt, Wohngebiete, Sport- und Industriezonen nicht in die Talmitte auszudehnen. Bei den seit Jahren steil ansteigenden Immobilienpreisen eine wackere Haltung, die den ursprünglichen Charakter des Tals erhält und schützt.
Überhaupt hat es der Gegend gutgetan, sich im Windschatten der mondäneren Gebiete wie dem Meraner Land oder Alta Badia entwickelt zu haben – von manch touristischem Exzess, innerlich wie äußerlich, ist das Ahrntal verschont geblieben. Man lebt von den Gästen, aber nicht nur, und man lebt mit ihnen. Vieles beruht im Tal auf langjährigen Beziehungen, in den Dorfgemeinschaften wie auch mit den Stammgästen.
Zurück zur Terrasse. Wer die Augen etwas zusammenkneift und dadurch die modernen Gebäude unscharf verschwimmen lässt, genießt eine Aussicht, die der vor Hunderten von Jahren nicht unähnlich sein dürfte. Die Weite des Talbodens, die rasch ansteigenden bewaldeten Hänge, die schroffen Gipfel. Das höchste und markanteste Bauwerk am Boden, damals wie heute, ist die Kirche Maria Himmelfahrt. Als »Pfarre« 1240 erstmals erwähnt, wird sie auch heute noch von den Einheimischen so genannt und an den hohen Feiertagen fleißig besucht. Den Hans trifft man freilich eher selten dort an. Die Ahr, die dem Tal seinen Namen gegeben hat, glitzert von oben als silbernes Band. Auch hier ist Hans Kammerlander, bekennender Nichtschwimmer, selten zu finden. Wenn Wassersport, dann bitte schön mit Schnee.
Ist der Blick wieder scharf gestellt, wandert er in Richtung Süden bis nach Bruneck, streift links dahinter den Kronplatz und trifft rechts unweigerlich auf den Dolomitengipfel Peitlerkofel. Der allererste alpine Sehnsuchtsort des Bauernbuben Hans Kammerlander und einer der wichtigsten Berge für ihn. Die Höhe ist gar nicht mal so beeindruckend, 2875 Meter, doch die steilen Nordwände sind bis heute eine echte Herausforderung für Kletterer.
Der Hausberg von Ahornach, der Moosstock, ist höher, 3059 Meter, aber mangels Steilwand nicht zu erklettern – dafür allerdings zu erlaufen. Hier hat der Schulbub Hans in den Sommern das Gras die Hänge hinaufgeschleppt, in der auf den Rücken geschnallten selbst gebauten Kraxe, manchmal vom Morgengrauen bis zur Dämmerung. Im Winter ging es dieselben Wiesen auf Holzbrettern hinunter. Skifahren ohne Lift, also keine Abfahrt ohne Aufstieg im Seitschritt, wen hat’s gestört? Für den jungen Erwachsenen wird der Berg zum Trimm-dich-Pfad, Bergläufe sind inzwischen sein Hobby. Der Vater stellt stolz die Pokale ins Regal. 1630 Höhenmeter von der Haustür bis zum Gipfel in weniger als einer Stunde und zehn Minuten, ständiger Maximalpuls, ein brutales Programm. Das alles legt ungeplant den Grundstein für spätere Touren an und über der Schmerzgrenze.
Auch andere Pflöcke schlägt der junge Hans ein. Das Skigebiet Speikboden, zwei Kilometer Luftlinie entfernt, verschafft dem frisch lizensierten Skilehrer im Jahr 1976 Arbeit und viele Stunden auf den geliebten Brettern. Dem im Vergleich zum Schneezirkus am Kronplatz winzigen (aber charmanteren) »Speik« ist er immer treu geblieben; Winter für Winter gondelt er im roten Anzug hinauf, um an den Pisten des »Seenock« und »Glück« Kindern, Holländern und Rentnern das Carven näherzubringen. Hier ist er einfach der Hans. Die wenigsten wissen, dass ihr Lehrer der erste Mensch war, der vom Mount Everest auf Skiern abfuhr.
Das ist vielleicht das Erstaunlichste überhaupt: dass ein in Armut aufgewachsener Bauernbub sich die Welt erobert und Gipfel auf sieben Kontinenten ersteigt und die höchsten dazu. Aus einem Dorf, in das bis in die Sechzigerjahre keine Straße führte, aus einem Tal, dessen Bewohner im tiefsten Herzen eigentlich nur zwei Richtungen kennen: drinnen und draußen. Drinnen, das ist daheim. Draußen ist alles hinter Bruneck, ob Bozen, München oder Rom. Hat der Schulbub schon eine Ahnung von seinen häufigen Reisen gehabt, wenn er die damals viel selteneren Flugzeuge am Himmel gesehen hat?
Nach draußen führt seit Ewigkeiten die Tauferer Straße, sie ist von der Terrasse gut zu sehen. Zigtausendmal ist Hans Kammerlander auf dieser Straße gefahren: als Führerscheinneuling, als frischgebackener Bergführer zum ersten Treffen mit dem großen Reinhold Messner, pochenden Herzens, auf dem Weg zu Klettertouren in die Alpen, vollgepackt vor Expeditionen. Ein Heimweg, ein Heimatweg. Es ist auch die Straße, auf der ihm im November 2013 ein Unfall passiert, bei dem ein junger Mann stirbt. Als wenige Tage später bekannt wird, dass Hans Kammerlander fast 1,5 Promille Alkohol im Blut hatte, bricht die Entrüstung der Südtiroler über ihn herein. Die massive Kritik, die vernichtenden Schlagzeilen Südtiroler Medien, der Hass im Internet erschüttern ihn bis ins Mark. Wegziehen? Plötzlich eine Option.
Ein letzter Blick von der Terrasse. Die Sonne sinkt langsam hinter den Wasserfallspitz, die Farben im Tal verblassen sanft. Die Steine halten die Wärme noch eine ganze Weile gespeichert. Hinter dem Haus tuckert ein Traktor vorbei. Am graublauen Himmel malt ein Flieger Kondensstreifen in die Luft.
Als das sechste war ich ein nicht mehr geplantes Kind. Ich bin ein Nachzügler gewesen, eine Zugabe, ein Betriebsunfall.
Deutlich älter. Meine große Schwester Ida ist 17 Jahre älter als ich, sie ist heute über 75. Die anderen Schwestern, Berta und Sabine, haben die 70 auch schon überschritten. Und dann kamen noch zwei Brüder, Alois und Josef, und ich. Für mich hatte das den Vorteil, dass sich alle um mich gekümmert haben. Solange sie da waren jedenfalls. Meine Geschwister sind relativ jung von zu Hause weg, unser Hof war zu klein für alle und daher relativ arm. Die anderen Bauern um uns hatten mehr Vieh als wir, zwischen zehn und 25 Stück. Wir hatten drei oder vier. Die ersten Geschwister sind deshalb, als sie 15, 16 Jahre alt waren, ausgezogen und haben woanders ihr Glück gesucht. Und zwar – das wundert mich heute noch – für damalige Verhältnisse weit weg von zu Hause.
Sie sind alle in Richtung Landeshauptstadt, nach Bozen. Heute ist das eine kleine Fahrt, aber in den Sechzigerjahren war das aus dem Tauferer Tal eine weite Reise, 100 Kilometer per Bus, mit viel mehr Stopps und Wartezeiten als heute. Fast eine Tagesreise. Angefangen hatte das damit, dass meine älteste Schwester Ida nach Bozen ging und als ganz junges Mädel den Haushalt für einen Obstbauern erledigte. Sie hat dann nach und nach eines der Geschwister mitgenommen. Mein ältester Bruder Alois hat dort im Sommer auf der Wiese gearbeitet, bei der Obsternte. Einige Jahre später sind sie dann schon das ganze Jahr rüber, Arbeit gab es dort zur Genüge. Der Obstbauer hatte zwar einen Bruder, war aber ledig und hat die Hilfe dringend gebraucht.
Für mich als Kind war das Leben auf dem Hof sehr eintönig. Wir waren Selbstversorger, mein Spielzeug bestand aus ein paar Tannenzapfen, Zweigen und Holzstücken. Damit haben wir kleine Häuschen im Wald gebaut. Der Hof hatte kein Licht und auch keinen Strom – wie die meisten anderen im Dorf auch. Am Abend zündeten meine Eltern ein paar Kerzen oder die Petroleumlampe an. Wir Kinder sind nach Sonnenuntergang meist ins Bett und mit der Sonne wieder aufgestanden. In der Küche stand ein Holzherd, fließendes Wasser gab es nur vorm Haus. Abwechslung hatten wir selten. Am schönsten war für mich, wenn die älteren Geschwister aus Bozen zu Besuch kamen. Das waren besondere Momente, größer als Weihnachten. Sie haben uns immer etwas mitgebracht, wir kamen von zu Hause ja nicht weg. Es gab noch keine Straße nach Ahornach, sie endete unten im Tal. Bis zum Hof musste man 700 Höhenmeter zu Fuß marschieren.
Vielleicht einmal im Monat. Zu der beschwerlichen Busreise kam ja immer noch der Aufstieg von Sand in Taufers nach Ahornach hinzu, wie gesagt, 700 Höhenmeter. Sie sind ein oder zwei Tage geblieben und dann wieder zurück zu ihrer Arbeit. Das bedeutete für mich jedes Mal einen traurigen Abschied, weil danach wieder der Alltag einkehrte, und der war zwar ganz menschlich, aber sehr monoton.
Ein einfaches Spielzeug, einen Ball zum Beispiel, ab und zu ein Hemd oder eine Hose – schon aus einem Geschäft. Ich trug damals normalerweise die Kleidung, die ich von der Mutter oder der jüngsten Schwester bekommen habe. Oder wir haben von einem Fersentaler Wanderhändler ein paarmal im Jahr ein Stück Stoff und Knöpfe gekauft, aus dem meine Mutter uns etwas genäht hat.
Ein Werktags- und ein Sonntagsgewand, nicht mehr. Eine Hose, eine Jacke und einen Pullover, im Winter aus warmem Loden. Wenn die Hosen zu kurz wurden, hat die Mutter ein Stück Stoff an die Beine drangenäht. Wenn die Geschwister kamen, hatten sie immer irgendetwas dabei, das sie in der Stadt eingekauft haben. Wir haben das gewaltig geschätzt, das war für uns heilig. Wir sind dann sogar gern zur Messe gegangen, weil wir das neue Kleidungsstück tragen konnten.
Als Schuhmacher pilgerte er von einem Bauernhof zum anderen und machte dort alles, was mit Leder zu tun hatte. Schuhe natürlich, neue für die Bauern, für die Knechte hat er sie eher repariert. Er stellte auch Lederstricke her, Geschirr für die Pferde. Es war notwendig, dass er so sein Geld verdiente, denn der Hof war einfach zu klein. Wir mussten als Kinder schon allein deshalb kräftig mithelfen, weil er viel weg war. Und mein Vater war vom Krieg her angeschlagen. Seit er zurückgekehrt war, litt er unter starkem Asthma, aber er kämpfte sich durch und war immer fleißig. Von ihm haben wir als Kinder die Handarbeit gelernt. Er brachte uns das Schnitzen bei und wie man Körbe und Schlitten herstellt. Er war Schuhmachermeister und bildete auch andere Schuster aus. Das lief damals so, dass jemand ein bis zwei Jahre bei einem Meister blieb und danach sein Diplom erhielt. Für mich sind die damaligen Handwerker wahre Künstler, es war gigantisch, wie sie die Arbeit mit ihren Händen beherrscht haben. Davon haben wir Kinder viel profitiert. Meine Jugendzeit war arm, aber sie war auch sehr schön.
Sie war wie eine typische Bäuerin und hat den ganzen Haushalt gemacht und dazu noch auf dem Feld und im Stall geholfen. Die Frauen haben damals von früh bis spät gearbeitet. Wenn wir Kinder und der Vater längst im Bett waren, saß sie noch am Spinnrad oder hat gestrickt. Sie hat eigentlich nur gearbeitet. Aber ich habe gar nicht so viele Erinnerungen an sie, weil sie früh gestorben ist.
Als ich zehn Jahre alt war. Das bedeutete für uns einen großen Einschnitt, aber ich war damals noch zu jung, um das schmerzhaft aufzunehmen. Sie war erst 52, als sie krank wurde. Sie lag oft im Bett, doch ich wusste das nicht einzuordnen. Ich kann mich erinnern, wie sie sich von uns allen verabschiedet hat. Dann wurde sie auf einen Schlitten gepackt und wie eine Fuhre Holz nach Sand in Taufers hinuntergebracht. Zehn Tage später ist sie im Krankenhaus gestorben.
»Pfiat enk«, sagte sie und winkte uns zum Abschied. Sie war am Ende sehr schwach. Was sie hatte, haben wir damals gar nicht erfahren. Ich denke, es war Krebs. Sie sollte noch operiert werden, aber das kam für sie zu spät.
Zumindest hat mein Vater nicht mit uns darüber gesprochen. Die Ärzte hatten wohl noch begonnen, sie zu operieren, aber die Öffnung gleich wieder zugemacht. Es hatte offenbar keinen Sinn mehr. Sie war leider nie zum Arzt gegangen.
Meine Schwester Sabine ist sofort eingesprungen, hat den Haushalt übernommen und für alle gekocht. Sie hatte besonderes Mitleid mit mir, glaube ich. Sie behandelte mich sehr gut, beinahe tröstend. So habe ich fast ein bisschen mehr Zuwendung bekommen als von meiner Mutter, die sehr streng gewesen war. Dadurch konnte ich den Verlust ganz gut verschmerzen.
Wenn man so will, bis heute. Sabine lebt immer noch auf dem Bauernhof bei meinem Bruder Josef. Er hat den alten Hof saniert und betreibt ihn, obwohl er in Pension ist, immer noch. Von außen sieht er aus wie früher, aber innen ist alles modern. Es ist nun ein ganz gepflegtes Höflein mit ein paar Tieren. Mein Bruder gewinnt regelmäßig Preise für sein Südtiroler Fleckvieh. Auch bei mir kommt Sabine heute noch regelmäßig vorbei und macht den Garten oder bringt mir etwas zu essen. Manchmal hab ich das Gefühl, sie behandelt mich immer noch, als ob ich ihr Sohn wäre. Sie mischt sich ein, aber das ist immer lieb gemeint.
Sie hat nie geheiratet und blieb alleinstehend. Sie hat sicherlich ihr eigenes Leben ein bisschen verloren durch ihre Aufgabe, für die jüngeren Brüder da zu sein.
Überhaupt nicht. Für uns Bergbauernbuben war die Schule lästig. Wir Kinder waren über mehrere Jahrgänge in einer Klasse zusammengepfercht, je nachdem, wie viele jedes Jahr eingeschult wurden. Schule empfand ich als reines Pflichtprogramm. Ich hatte kein Interesse am Unterricht, und zu Hause hat das auch niemanden gestört.
Nein, das stimmt nicht, für meinen Vater standen eben nur andere Dinge im Vordergrund. Am Abend mussten wir im Stall helfen, das war wichtig. In der Früh nicht, da mussten wir in die Kirche, das war auch wichtig. Mein Vater behandelte uns immer nett, streng war er trotzdem, und er war ziemlich religiös. Im Dorf gab es jeden Tag die heilige Messe, und ich musste auch jeden Tag daran teilnehmen. Sommer wie Winter. Sie dauerte etwa eine halbe Stunde. Der Pfarrer hielt sie auf Latein, verstanden haben wir keinen Satz. Ich mochte das überhaupt nicht. Am wenigsten im Winter, weil die Kirche nicht beheizt wurde und eiskalt war. Nach der Messe gingen wir gleich nebenan in die Schule. Dort hat die Lehrerin den gusseisernen Ofen erst einmal mit Holz eingeheizt. Die Wärme war schön, aber machte auch schnell müde. Vielleicht war es auch der Unterricht.
Es war ein Unterricht mit dem Allernotwendigsten. Besonders lästig fand ich Italienisch und Religion. Diese Stunden kamen mir absolut überflüssig und sinnlos vor. Im Religionsunterricht hatten wir in den ersten Jahren einen recht alten Pfarrer, er trug immer den gleichen speckigen Mantel. Einmal hat er mir eine so böse Kopfnuss gegeben, dass mir schwarz vor Augen wurde. Der Pfarrer hatte ständig einen Metallkugelschreiber in der Hand. Wenn er hinter dir stand und merkte, dass du etwas falsch geschrieben hast, schlug er dir den Kuli mit voller Wucht hinten auf den Kopf. Auch wenn du die Schultern eingezogen hast, hat das nicht geholfen. Er war extrem grob.
Ich merkte ja schon als Kind, dass da vieles nicht zusammenpasst. Der Pfarrer ermahnt dich, dass du keinem Tier und keinem Menschen etwas zuleide tun darfst, und kurze Zeit später haut er dir auf den Kopf, dass die Sterne fliegen. Den Jungen wie den Mädchen. Am Abend mussten wir zu Hause auch noch 20 bis 30 Minuten den Rosenkranz beten. Ein reiner Zwang.
Die Züchtigungen hörten erst auf, als er starb. Da war ich in der dritten Klasse. Ein anderer Pfarrer kam, der gnädiger war. Der Unterricht machte sofort viel mehr Spaß. Wir verstanden jetzt, was der andere hätte rüberbringen sollen. Wir haben viel gesungen, im Unterricht und in der Kirche. Selbst die Messe war auf einmal nicht mehr ganz so schlimm. In den Schulpausen hat der Pfarrer sogar mit uns gespielt, Völkerball und Fußball. Wir haben ihn wirklich gerngehabt.
Zum Frühstück haben wir normalerweise eine Brennsuppe gehabt, Mehlschwitze mit Wasser und etwas Salz. Die Schüssel stand in der Mitte des Tischs, und alle haben mit ihrem Löffel daraus gegessen, dazu gab es ein Stück Brot. Seinen Löffel hat jeder nach dem Essen mit dem Tischtuch abgewischt und dann in eine Lederschlinge gesteckt, die unter dem Tisch befestigt war, bis man ihn das nächste Mal gebraucht hat. Jeder hatte seinen eigenen Löffel. Gabeln gab es nicht. Am Nachmittag bin ich meist hinter meinen Geschwistern hergelaufen oder bin den Eltern im Weg herumgestanden. Es gab kein Programm. Wir hatten keine Betreuung, dafür hatten die Eltern keine Zeit. Wir waren einfach auf dem Feld oder in der Werkstatt des Vaters mit dabei.
Wir fuhren Schlitten und Ski. Die Winter waren immer besonders schön. Schon mit fünf Jahren bin ich die Wiese neben unserem Hof heruntergerutscht. Mit dem heutigen Skifahren hatte das nicht viel gemein. Wir fuhren auf selbst gemachten Holzbrettern. Keine Skischuhe, keine Windjacken. Wir zogen das an, was wir auch im Stall anhatten. Aber es war unser größtes Glück, eine Bahn für die Skier zu trampeln und darauf hinabzugleiten. Das ähnelte mehr einer Bobbahn als einer Skipiste.
In Ahornach nicht, wozu auch? Es kamen ja keine Touristen in den Ort. Ich habe erst viele Jahre später meine erste Liftfahrt gemacht. Für uns bedeutete eine Minute hinunterfahren, sofort wieder zehn Minuten hinaufzusteigen. Das würde heute keiner mehr machen. Unten habe ich immer in derselben Kurve angehalten oder bin einfach hingeflogen. Unser Feld war gut geeignet zum Skifahren, steil genug und gleichmäßig. Ich musste immer mit einer Rechtskurve halten, links waren Bäume, und das ist mir dann all die Jahre nachgehangen. Die Rechtskurve bin ich immer viel schöner gefahren, mit hoher Geschwindigkeit. Links war ich viel schlechter – mir fehlte die Übung.
Niemand eigentlich. Ich habe immer nur geschaut, wie die anderen fahren.
Das war nichts Geplantes, das ist einfach passiert. Ich war acht Jahre alt und bin wie jeden Tag zur Schule gelaufen. Dabei traf ich zwei deutsche Touristen, einen Mann und seine Frau, die mich nach dem Weg zum Moosstock fragten. Ich dachte mir: Was wollen die da oben? Die beiden sind dann weitergegangen und an der ersten Kreuzung schon falsch abgebogen. Ich bin ihnen hinterher.
Ja, schon. Ich musste damals schon öfter kleine Aufgaben ausführen, zum Beispiel die Schafe irgendwohin treiben, und das habe ich immer gewissenhaft erledigt. Außerdem kam es mir gerade recht, dass ich nicht in die Schule musste. Die beiden Touristen fanden dann doch den richtigen Weg. Umgekehrt bin ich trotzdem nicht. Das war einfach zu spannend, ich war ja selbst noch nie so weit oben gewesen. Hinter jedem Stein habe ich etwas erwartet, eine Schlange zum Beispiel. Das Tal wurde immer kleiner, und mit jedem Schritt tat sich für mich eine neue Welt auf.
Erst als wir auf dem Gipfel ankamen. Die haben vielleicht gestaunt und mich gelobt. Ich hatte befürchtet, dass sie mich ausschimpfen würden. Sie haben mir sogar einen Apfel geschenkt. Ein Apfel war damals für uns schon etwas Besonderes, ihn dann auch noch da oben zu essen umso mehr. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich schneller hinauf. Aber dann hätten sie mich entdeckt. Also habe ich mein Tempo an ihres angepasst und bin immer ein Stück hinter ihnen geblieben.
Dieses Erlebnis auf dem Berg war einfach nur schön. Ich glaube heute, dass genau dieser Moment mit ein Grund dafür war, warum ich das immer wieder gesucht habe. Ein glücklicher Zufall – vielleicht wäre ich nie zum Berg gekommen, wenn die beiden von Anfang an richtig gelaufen wären. Ich habe die Wanderer nie mehr wiedergesehen. An ihren Anblick erinnere ich mich dennoch. Besonders die richtige Bergausrüstung des Mannes mit Kniebundhosen hat mir imponiert. Das kannte ich damals noch gar nicht.
Erst viel später, und auch nur meinen Freunden in der Schule. Daheim nicht, das hätte meine Mutter aufgeregt. Auch dass ich einen Tag lang nicht in der Schule war, ist nicht weiter aufgefallen. Da musste man schon mehrere Tage fehlen, damit mal jemand nachgefragt hätte.
Wir haben auf 1500 Meter Höhe gewohnt, da war klimatisch noch alles möglich. Ein großer Garten fürs Gemüse, ein Roggenfeld, Weizen, Hafer und Kartoffeln sowieso. Eigenes Mehl, eigenes Brot, das war ganz normal. Und ein Dutzend Hühner besaßen wir auch. Das war die Zeit, in der die Leute ganz wenig einkaufen mussten.
Nicht viel, vielleicht ein oder zwei Liter Milch am Tag an die Nachbarn. Oder ein halbes Schwein, wenn wir geschlachtet haben, eine Hälfte behielten wir für uns. Viel verkaufen hat damals niemand gekonnt in Ahornach, schon allein wegen der fehlenden Straße. Die größeren Bauern haben die Milch verwertet und Graukäse oder Butter daraus gemacht. Hauptsächlich haben die Bauern den Überschuss der Milch aber den jungen Kälbern gegeben. Bei uns ging es fast nur um den Eigenbedarf.
Ich glaube, sein Plan war, dass wir alle durchkommen. Nicht mehr und nicht weniger. An eine Ausbildung nach der Grundschule für uns Kinder hat er damals nicht gedacht. Dazu haben ihm die finanziellen Mittel gefehlt. Und deswegen war für ihn wichtig, dass die älteste Schwester aus dem Haus war und beim Obstbauern in Bozen arbeiten konnte.
Ja, sie hat selbst Geld verdient und ihre jüngeren Geschwister unterstützt. Das war eine Entlastung für meinen Vater. Er hat gewusst, sie ist gut untergebracht und hat eine Arbeit. Welche Arbeit das genau war, da hat er sich keine großen Gedanken gemacht. Sie hatte eine Stelle, und das war gut so.