Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2016
Die Erzählungen der vorliegenden Ausgabe wurden dem Band «Tödliche Gaben. Die spannendsten Weihnachtskrimis», herausgegeben von Silke Jellinghaus, sowie dem Band «Tatort Tannenbaum. Kommissare feiern Weihnachten», herausgegeben von Friederike Ney, entnommen.
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Satz Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN Printausgabe 978-3-499-29072-5 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-40097-9
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40097-9
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
Was von ihr übrig war, sah übel aus. Haut und Fleisch waren weitgehend weggerissen, darunter kamen die Rippen zum Vorschein, das ganze Skelett. An einigen entfleischten Gelenken hing noch der Knorpel, aber die meisten der langen Gliederknochen waren exartikuliert. Rechts fehlten Elle und Speiche völlig, ebenso der rechte Oberschenkelknochen. Der linke hing nur an einem dünnen Hautfaden.
«Hättest du gern ein Stück Gans, David?», fragte Anja und trat zu mir ans Buffet. Mia, ihre kleine Tochter, hielt ihren Hals umschlungen und schlief schon halb. «Es gibt noch reichlich.»
Ich war in Gedanken weit weg gewesen. Mit einem Lächeln riss ich mich von der Leichenschau los. «Im Augenblick nicht, danke.»
«Ich weiß auch nicht, warum wir immer so einen großen Vogel kaufen. Die reine Verschwendung. Ach ja.» Sie lächelte mich an. «Egal, greif bitte zu. Im Moment sind hauptsächlich Reste im Angebot, aber es kommt gleich Nachschub. So, und jetzt bringe ich erst mal diese kleine Leiche hier ins Bett, dann muss ich gucken, wo Jason mit dem Glühwein bleibt.»
Sie drehte sich um, schlängelte sich mit ihrer todmüden Kleinen durch das Gedränge und wechselte noch kurz mit dem einen oder anderen Gast ein Wort. Anja war eine gute Gastgeberin, eine von denen, für die der Umgang mit Gästen so natürlich ist wie das Atmen. Sie kam aus Kopenhagen und war mit einem Studienfreund von mir verheiratet. Jason war Orthopäde geworden, während ich in eine ganz andere Sparte gewechselt war. Aber wir waren in Kontakt geblieben, und die Weihnachtsfeier bei ihnen zu Hause war inzwischen zu einem alljährlichen Ritual geworden. An diesem Abend hatte ich noch zu tun gehabt, und da ich deshalb das vorangegangene traditionelle dänische Weihnachtsessen verpasst hatte, war die Party schon in vollem Gange, als ich schließlich eintraf. Das Haus war geschmackvoll mit selbstgebastelten Gestecken aus Stechpalmenzweigen und Kiefernzapfen dekoriert, und an strategischen Stellen in dem weitläufigen Wohnzimmer brannten stimmungsvoll Bienenwachskerzen. Der Raum quoll über vor Menschen, und das Stimmengewirr, durchsetzt mit Lachen und Gläserklirren, übertönte beinahe, aber nur beinahe, die im Hintergrund spielenden obligatorischen Weihnachtslieder. Ich schloss mit mir selbst eine Wette ab, dass vor Ende des Abends noch Nat King Cole laufen würde.
Na dann, fröhliche Weihnachten, Hunter. Ich nahm mir einen Teller und beäugte die Speisen mit mäßigem Appetit. Zu Mittag hatte es ein abgepacktes Sandwich und einen Kaffee aus dem Automaten im Krankenhaus gegeben, beides eine Zumutung. Anja war eine gute Köchin, und die Platten mit Bratenaufschnitt, Fisch und dänischen Weihnachtsspezialitäten sahen wie immer verlockend aus. Aber ich hatte keinen Hunger. Ich versuchte, mir einzureden, dass mir die unerfreuliche Arbeit vorhin im Leichenschauhaus nachhing, zu der ich noch nichts Weiteres gehört hatte. Doch ich wusste, dass das nur Ausflüchte waren: Meine Appetitlosigkeit hatte einen anderen Grund.
Ich war nervös.
Ich sondierte die versammelten Gesichter in der Hoffnung, das der jungen Frau darunter zu entdecken. Sie war nicht da. Vor Enttäuschung zog sich mein Magen zusammen. Mir war klar, wie lächerlich das war. Ich wusste gar nichts über sie, kannte nicht einmal ihren Namen, sodass es doppelt und dreifach absurd war, wie sehr sich meine Hoffnungen im Laufe des Abends hochgeschaukelt hatten.
Vor lauter Unruhe wollte ich schon überprüfen, ob ich neue Nachrichten auf dem Handy hatte. Eigentlich hatte ich es bewusst im Flur in der Manteltasche gelassen. Ich hätte mich natürlich von der jungen Frau ablenken können, andererseits hatte ich vor kurzem erst nachgeschaut, und ich war schließlich Gast auf einer Weihnachtsfeier.
Komm, entspann dich. Und mach ein freundliches Gesicht: Es ist Weihnachten. Ich schenkte mir nach und tat mir pro forma ein paar Stückchen Käse auf den Teller.
Dann nahm ich zur Stärkung einen Schluck Wein und mischte mich unters Volk.