Mary E Pearson
Nieundewig
Aus dem Amerikanischen von Maren Illinger
Fischer e-books
Mary E. Pearson wurde 1955 in Südkalifornien geboren. Nach einem Universitätsstudium in San Diego unterrichtete sie viele Jahre, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Inzwischen hat sie vier Jugendromane veröffentlicht. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter und zwei Golden Retriever. Sie liebt das Lesen, lange Spaziergänge, Skifahren, Kochen, Reisen und Familienfeiern.
›Nieundewig‹ ist der Nachfolgeroman von ›Zweiunddieselbe‹, das ebenfalls im Programm der Fischer Schatzinsel erschienen ist und 2010 für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde. Bei Fischer Schatzinsel erschien außerdem ihr Roman ›Ein Tag ohne Zufall‹.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Fischer Schatzinsel
ist das Kinder- und Jugendbuchprogramm
der S. Fischer Verlage
www.fischerschatzinsel.de
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011
unter dem Titel ›The Fox Inheritance‹
bei Henry Holt and Company, LLC, New York
Copyrright © 2011 by Mary E. Pearson
All rights reserved.
Published by Arrangement with Mary E. Pearson
c / o Stimola Literary Studio Inc,
308 Livingston Court, Edgewater, NJ 07020 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401697-9
Den vielen Freunden,
die meinen Lebensweg gekreuzt
und mich für immer verändert haben
Jenna hält inne und betrachtet den Kieselstein, den Kayla auf den Küchentisch gelegt hat. Sie umschließt ihn mit der Hand und lächelt wehmütig. Es sind immer die kleinen, unbedeutenden Dinge, die dich kalt erwischen. Locke. Kara. Der Unfall. Karas und Lockes Erinnerungen sind jetzt an einem sicheren Ort, wo sie sie nicht mehr quälen können. Die Jahrhunderte tun das ihre, doch nicht einmal die Zeit kann die Erinnerung an die Menschen auslöschen, die einen geprägt haben. Kara und Locke waren diejenigen gewesen, die Jenna Mut gegeben hatten, den Mut, sich gegen ihre Mutter und ihren Vater zu behaupten, den Mut, das Richtige zu tun.
Selbst jetzt, nach all der Zeit, fragt sie sich manchmal, was wäre wenn, was wäre, wenn sie die Kopien nicht zerstört hätte? Was, wenn es einen anderen Weg gegeben hätte? Aber den hatte es nicht gegeben. Sie erinnert sich an den Tag, den Augenblick, die Sekunde, in der sie Kara und Locke befreite; erinnert sich an ihre eigene qualvolle Existenz, als ihr Geist in einen luftleeren schwarzen Würfel gesperrt war, ohne Hoffnung darauf, diesem Alptraum je zu entkommen. Sie hatte ihre Freunde auf die einzige Art gerettet, die sie kannte – indem sie sie zerstörte.
Jenna streicht mit dem Daumen über den glatten Kieselstein.
Sie hatte die Sicherungskopien ihrer Gehirne aus den Akkustationen genommen, die ihr Bewusstsein endlos am Laufen hielten, und sie in den Teich geworfen, an der tiefsten Stelle, an der ihre Eltern sie nicht erreichen konnten. Sie sah sie im Wasser verschwinden wie Kieselsteine, die Wasseroberfläche wellte sich in Kreisen, dann wurde sie wieder zu Glas. Kara und Locke waren fort. Fort aus dieser Welt, aber nicht aus Jennas Gedanken.
Dank des Bio-Gels hat Jenna zweihundertsechzig Jahre weitergelebt. Eine lange Zeit, um sich an die Freunde zu erinnern, die man geliebt hat. Die man immer noch liebt. Und vermisst.
Sie steckt den Kieselstein in ihre Tasche. Die kleinen Dinge. Du weißt nie, wann sie dich erwischen.
Meine Hände schließen sich um den Vorhang und winden ihn zu einem dicken Seil.
Etwa so dick wie ein Hals.
Ich lasse die Hände sinken und wische sie an meiner Hose ab, als könnte mir jemand die Gedanken von den Handflächen ablesen. Jemand wie Dr. Gatsbro. Ich frage mich, wie viel er wirklich von mir weiß.
Ich schaue aus dem Fenster im zweiten Stock. Von hier aus betrachtet ist Dr. Gatsbro nur ein kleiner Fleck auf dem Rasen. Das Mädchen, das ich angeblich so gut kenne, steht einige Meter von ihm entfernt. Ich sehe, wie er etwas zu ihr sagt. Sie behandelt ihn wie Luft. Ich weiß nicht, ob sie ihn absichtlich ignoriert oder ob ihre Gedanken in einem anderen dunklen Leben gefangen sind, das sie nicht loslässt, so wie es mir oft passiert. Es gibt vieles an ihr, was ich nicht verstehe, zumindest an der Person, die sie jetzt ist, und obwohl ich einen Kopf größer und mindestens zwanzig Kilo schwerer bin als sie, habe ich Angst vor ihr. Woran liegt das? Sind es ihre Augen? Dabei bin ich nicht mal sicher, ob ich meinen eigenen Augen bereits trauen sollte. Selbst meine Hände machen mir Angst. Ob Dr. Gatsbro auch das weiß? Er scheint alles zu wissen.
Ich drehe mich um und sehe zu meiner Linken eine Wand voll alter gebundener Bücher und zu meiner Rechten eine Wand, an der zahlreiche antike Gegenstände hängen. Dr. Gatsbro ist ein Sammler. Sind wir Teil seiner Kollektion? Wie wertvolle, gestohlene Gemälde, die er niemandem zeigen kann? Die er nur zu seinem Privatvergnügen aufbewahrt? Sein Anwesen ist meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt, und wir sind noch nie jenseits des Tors gewesen.
Er hat das ganze letzte Jahr damit verbracht, uns zu unterrichten, zu helfen, zu erklären und zu testen. Aber es gibt Dinge auf dieser Welt, die sich nicht erklären lassen. Vielleicht ist das der Punkt, an dem er einen Fehler gemacht hat, vor allem in Bezug auf uns. Vor drei Monaten wurde er vom Lehrer zur Beute. Zumindest für sie. Ich habe Angst um ihn. Ich habe Angst um mich.
Ich trete wieder ans Fenster, um zu sehen, ob sie kommen. Es ist Zeit für unsere morgendliche Sitzung. Sie haben sich dem Haus genähert, aber Dr. Gatsbro ist noch immer mehrere Meter von ihr entfernt. Ich versuche von seinen Lippen zu lesen, eine Fähigkeit, die ich früher nicht hatte, aber seine Hand verdeckt sein Kinn und versperrt mir die Sicht.
Sie steht mit dem Rücken zu mir. Ihr Kopf neigt sich auf die eine Seite, dann langsam auf die andere, als würde sie einen Gedanken abwägen. Plötzlich wirbelt sie herum und blickt direkt zum Fenster hoch. Zu mir. Sie lächelt. Ihre Augen sind kalt wie Eis. Ihre Lippen spitzen sich zu einem Kuss, und ich fühle ihre Kälte auf meiner Wange.
Ich kann mich nicht abwenden, obwohl ich weiß, dass es das Beste wäre. Ich kann mich nicht abwenden, weil sie mich in der Hand hat. Ich kann mich nicht von ihr abwenden, und sie weiß nur zu gut, warum.
Weil ich sie liebe.
Sie ist alles, was ich noch habe.
Ich zwinge meine Beine, sich zu bewegen. Sich vom Fenster zu entfernen. Einen Schritt. Und noch einen. Das Letzte, was ich sehe, ist, wie sie lachend den Kopf zurückwirft. Ich lasse mich in Dr. Gatsbros Sessel fallen und streiche mit den Händen über die Armlehnen. Ich lausche auf das leise Geräusch von Haut auf Leder, auf das Ticken der alten Uhr, auf das Knarren des Stuhls, während ich vor und zurück schaukle, und schließlich auf ihre Schritte auf der Treppe – seine schwer und schlurfend, ihre leicht und verstohlen wie die einer Katze.
»Locke, da bist du ja. Gut.« Dr. Gatsbro durchquert den Raum, und ich überlasse ihm seinen Stuhl. Er setzt sich, unter seinem Gewicht höre ich die Luft aus dem Polster strömen, als würde es ausatmen. »Ich hoffe, du hast nicht allzu lang auf uns gewartet. Wir haben im Garten die Zeit vergessen. Stimmt’s, Kara?«
Sie schaut mich an, ihre Augen verengen sich zu Schlitzen, ihr Haar, ein glänzender dunkler Vorhang, fällt locker auf ihre Schultern. Ihre Lippen sind perfekt, rot, wie sie schon immer waren, rot wie in meiner Erinnerung. Aber das Lächeln hinter diesen Lippen ist nicht dasselbe.
»Stimmt, Doc«, sagt sie. »Die Zeit ist nur so dahingeflogen.«
»Sollen wir anfangen?«, fragt Dr. Gatsbro.
Ich glaube, sie hat bereits angefangen.
Sie werden nicht kommen, mein Sohn. Niemand wird kommen. Sie sind alle tot.
Vor einem Jahr sind wir erwacht. Ich rang nach Luft. Ich erkämpfte mir einen Atemzug nach dem anderen, bis ich würgte und spuckte und roter Schmerz in meiner Brust brannte, doch ich schnappte weiter nach Luft, als wäre ich endlich aus einem tiefen dunklen Becken an die Oberfläche gekommen. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Als ich später die Augen wieder aufschlug, befand ich mich mit Dr. Gatsbro in einem hellen, freundlichen Zimmer. Ich schloss die Augen und weigerte mich, sie wieder zu öffnen, ich hatte zu viel Angst, dass dies eine weitere Foltermethode sein könnte, vielleicht eine, die ich mir selbst ausgedacht hatte, ein Trick, der mich glauben ließ, dass alles vorbei sei.
»Ganz ruhig, Locke. Du bist in Sicherheit. Schau mal. Schau dir die Welt an. Öffne die Augen.«
In diesem Moment hörte ich Kara schreien. Es war ein echter Schrei, der in meinen Ohren gellte, nicht in meinem Kopf. Meine Augen öffneten sich, und ich versuchte aufzustehen, aber etwas hielt mich zurück. Ja, ein neuer Trick. Du kannst ihr immer noch nicht helfen.
»Deiner Freundin geht es gut. Vertrau mir. Du kannst dich entspannen, mein Sohn. Entspann dich.«
»Jenna!«, schrie ich. »Was ist mit Jenna? Wo ist Jenna?« Ich hörte sie nicht. Nicht einmal ein Stöhnen. Die Zeit hatte für mich keinen Anfang und kein Ende mehr, aber ich wusste, dass ich in der Dunkelheit irgendwann auch Jenna gehört hatte.
Später erklärte mir Dr. Gatsbro, wo ich mich befand und was geschehen war. In diesem Augenblick verstand ich Karas Schrei.
Unsere Familien würden nicht kommen. Niemand würde kommen. Sie waren alle tot.
Niemand, den wir kannten, lebte mehr.
Wir waren zweihundertsechzig Jahre fort gewesen.
Am nächsten Tag ging ich einige Schritte. Und am übernächsten Tag durfte ich Kara sehen. Ich weinte. Ein Meter neunzig groß und neunzig Kilo schwer, und ich fiel auf die Knie und heulte wie ein Baby. Kara weinte nicht. Ihr Gesicht war leer, aber sie kam zu mir und hielt mich fest und flüsterte mir ins Ohr, wie sie es immer getan hatte.
»Ich bin hier, Locke. Ich werde immer für dich da sein.«
Aber später, als wir alleine waren, schlug sie mir ins Gesicht und sagte, dass ich Dr. Gatsbro nie wieder meine Schwäche zeigen dürfe. Meine Wange brannte den ganzen Nachmittag.
Die Sitzungen mit Dr. Gatsbro begannen am Tag darauf. Es gab vieles, was wir noch lernen mussten.
»Wisst ihr, welcher Tag heute ist?«, fragt Dr. Gatsbro.
Ich sehe Kara an. Eine Millisekunde lang liegt Wut in ihrem Blick, aber dann setzt sie sorgfältig das Lächeln auf, das der Arzt von ihr erwartet.
»Heute ist es ein Jahr her, seit wir aufgewacht sind«, sage ich. Zeit ist kein Thema, an das wir gerne erinnert werden, daher ist es besser, ich beantworte die Frage.
»Das stimmt!«, sagt Dr. Gatsbro fröhlich, als handele es sich um einen Geburtstag. »Und es ist …«
»Es ist an der Zeit, dass wir die Welt erobern, nicht wahr, Doc?«
»Kara, meine Liebe, wir haben doch schon im Garten darüber gesprochen. Alles zu seiner Zeit. Wenn ihr bereit seid.«
Das werden wir niemals sein, du Riesenarschloch!
Es sind Karas Gedanken, nicht meine. Ich höre sie noch immer von Zeit zu Zeit, auch dann, wenn ich es nicht will.
»Aber ich habe aus diesem besonderen Anlass eine Überraschung für euch. Einen Besucher.«
Er beobachtet unsere Gesichter, gespannt auf unsere Reaktion. Kara zögert nur eine Sekunde, dann lächelt sie. Braves Mädchen. Was immer er in meinem Gesicht liest, gefällt ihm nicht. Oder vielleicht habe ich gerade wieder einen Aussetzer gehabt, jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren, wie es mir häufig passiert, und bin ins Vorher abgedriftet, in meine dunklen Erinnerungen versunken.
»Hast du etwas gegen einen Besucher, Locke?«
Ich fange mich schnell. »Nein. Ich bin nur überrascht. Positiv überrascht. Es wird nett sein, jemand Neuen kennenzulernen.«
»Hast du genug von meiner Gesellschaft?«
»Natürlich nicht.« Ich setze mich aufrechter hin und lächle. Dabei ärgere ich mich, dass er mir Angst macht. Es kommt mir vor, als hätte ich immerzu Angst, als zögerte ich vor jedem Schritt, und kurz stelle ich mir vor, meine Hände lägen riesig und stark um seinen kleinen zerbrechlichen Eierkopf, bereit, ihn zu zerbrechen.
Kara kichert. Mach schon! Tu es!
Ich werfe ihr einen verwirrten Blick zu. Dr. Gatsbro ist immer gut zu uns gewesen. Er ist unser Retter. Das vergesse ich nicht. Er ist jetzt unser einziger Freund, abgesehen von den wenigen Hausangestellten hier auf dem Anwesen. Zum Beispiel Miesha, die sich tagsüber um uns kümmert, und Cole, der in der Nacht da ist. Hari, der unsere Gesundheit überwacht und unser Sportprogramm aufstellt, und Greta, die unser Essen zubereitet. Wie Dr. Gatsbro sich ausdrückt, führen wir ein äußerst privilegiertes Leben.
»Wer ist der Besucher?«, frage ich, beuge mich vor und versuche, seinen Eifer wenigstens halbwegs zu erwidern. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und hebe die Mundwinkel zu einem erwartungsvollen Grinsen. Ich weiß um die Wirkung, die dieser Gesichtsausdruck hat.
Er lehnt sich befriedigt zurück und legt die Fingerspitzen aneinander. »Erst mal machen wir eine kleine Wiederholung. Ich möchte, dass ihr auf unseren Besucher gut vorbereitet seid. Und, Locke«, sagt er und sieht mich scharf an, »ich möchte, dass du an deinen Aussetzern arbeitest. Konzentrier dich. Unser Gast wäre vielleicht befremdet. Es ist unglaublich wichtig, dass er sieht, wie außergewöhnlich ihr beide seid.«
Unglaublich wichtig?
»Natürlich«, erwidere ich. Meine Aussetzer sind bereits seltener geworden, aber wenn dein Geist sich einmal daran gewöhnt hat, endlos lange durch schwarze Korridore zu taumeln, kann er nicht über Nacht darauf gedrillt werden, von einem konkreten Gedanken zum nächsten zu springen. Das Dahintreiben war der Modus, in den ich schaltete, um zu überleben. Ich nutze ihn noch immer. Aussetzer sind für mich nichts Schlimmes. Ich verfalle dann in Schweigen und leeres Starren und erinnere mich an das Vorher meines Lebens. Vor dem Unfall. Vorher. Das Leben, das ich einst hatte.
Die Wiederholung beginnt. Ich hoffe, dass er den Teil mit Jenna auslässt. Das letzte Mal musste er mit einem Schlag gegen die Stirn dafür bezahlen. Er hat ihn erstaunlich gut weggesteckt, sich beinahe darüber gefreut. Er sagte, das beweise, dass wir noch immer wir selbst seien. Ich glaube nicht, dass Kara noch einmal so impulsiv reagieren wird. Je mehr sie weiß, desto kontrollierter verhält sie sich. Ich hinke ihr immer einen Schritt hinterher, und das ist nicht die sicherste Position. Ich sehe sie an. Sie ist schön wie immer, und ich möchte sie in den Arm nehmen und beschützen. Wenn ich sie genug liebe, kann ich vielleicht alles andere damit aufwiegen.
Ich hatte darum gebeten, sie zu sehen. Ich musste es wissen. Dr. Gatsbro hat sie aus seinem Labor in Manchester mitgebracht. Er fand es gut, dass ich danach gefragt habe. Er nannte es einen Abschluss. Aber es schloss überhaupt nichts ab.
»Allein«, sagte ich.
»Sie sind in der Kiste. Ich bin in der Bibliothek, falls du mich brauchst.« Dann ging er. Ich saß auf dem Sessel und starrte die Kiste an, aber ich war nicht bereit, hineinzuschauen. Den ganzen Nachmittag lang starrte ich sie an und versank in Erinnerungen.
öffnen statt schließen
dunkle Gänge entlanggehen
nach Wänden tasten, die verschwunden sind
nach Decken tasten, die nicht existieren
Ich saß da und verlor jedes Gefühl für die Zeit, genau wie damals. Gedanken wanderten für Stunden, Jahrhunderte – vielleicht nur Sekunden –, ich wusste es nicht. Ich konnte die Zeit nicht einmal mit dem Atem bemessen. Es gab keinen Atem. Keine Zunge. Keine Finger. Keine Berührung. Kein Geräusch. Nichts. Nur das Ticken der Gedanken.
Tick
Tick
Tick
Die Dunkelheit, in der ich mich befand, wurde zu etwas anderem, breitete sich aus, dehnte sich, wurde zu mehr, als ich gedacht hatte, das Dunkelheit sein könnte. Sie war geschmolzenes Metall in imaginären Lungen, Ohren, Spalten und Poren. Die Dunkelheit war überall, bis sie so tief in mich einsickerte, dass sie ein Teil von mir wurde, und ich fragte mich, ob jemals wieder Raum für etwas anderes in mir sein würde.
Als Jenna verschwand, war Karas Stimme das Einzige, das mir Hoffnung gab. Sie war mein einziger Lichtblick. Der einzige Luftzug. Selbst wenn sie schrie. Selbst wenn sie anklagte. Wenigstens wusste ich, dass ich nicht allein war. Und wenn sie nicht schrie, drangen ihre Gedanken zu mir durch, und meine zu ihr.
Bist du da?
Hier. Immer da. Für dich.
Bist du da?
Locke, ich bin hier, hier …
Nur Gedanken, die nichts ausrichten konnten. Nur Bewusstsein. Was zum Teufel auch immer hier los war, ich wusste, dass wir zusammen waren. Ich redete mir ein, dass ich uns irgendwann, irgendwie hier rausholen würde. Darauf hoffte ich. Aber die Dunkelheit kriecht überall hin, bis auch die Hoffnung so schwarz ist wie jeder andere Gedanke in dir.
»Locke, es ist schon spät«, mahnte Miesha vor der Tür.
»Ich komme«, rief ich. Ihre Schritte entfernten sich durch den Gang, und ich ging an den Tisch, auf dem die Kiste stand, und hob den Deckel an.
Abschluss.
Am Boden der Kiste lagen zwei kleine schwarze Würfel mit nicht mehr als zwanzig Zentimetern Durchmesser. Schlicht, unauffällig, ohne jeden Hinweis auf die endlose, grauenhafte Hölle, die sich in ihnen befand. Umgebungen, nannte Dr. Gatsbro sie. Sie waren die sogenannte bahnbrechende Technologie, die Matthew Fox entwickelt hatte, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern. Zumindest was Kara und mich anging. Wie konnte man diesen Würfel eine Umgebung nennen? Wie konnte ein ganzes Gehirn darin abgespeichert werden? Wie konnte irgendetwas darin zweihundertsechzig Jahre überleben?
Da waren wir drin gewesen. In diese Würfel war unser Bewusstsein überspielt und am Laufen gehalten worden, während der Rest der Welt uns für tot hielt. Ich nahm den Würfel, auf dem mein Name stand, und hielt ihn in beiden Händen. Mir war schlecht, ich war wütend und hatte Angst vor der Berührung, und dann wollte ich ihn plötzlich beschützen. Wenn ich schon einmal so leicht aus dieser Welt hatte verschwinden können, könnte es nicht noch einmal passieren?
Dann hob ich den zweiten Würfel aus der Kiste und hielt beide nebeneinander, so, wie sie die ganze Zeit über aufbewahrt worden waren, wie auf einem vergessenen Regalbrett im Kaufhaus. Ich starrte den schwarzen Würfel an, in dem Kara eingeschlossen gewesen war.
Tick
Tick
Tick
Jeder winzige Teil von ihr. Jede dunkle Ecke. War ihnen nichts entgangen?
In diesem Augenblick kam Kara herein und sagte, es sei Zeit fürs Abendessen. Sie hatte sie nicht sehen wollen. Sie brauche keinen Abschluss, hatte sie Dr. Gatsbro gesagt. Zwei Schritte in den Raum, und sie entdeckte die Würfel in meiner Hand. Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Das ist alles?«, als wäre es nichts, aber ich sah, wie ihr Blick an den Würfeln haften blieb und ihr Atem flach wurde.
»Das ist alles«, sagte ich.
Sie kam näher. Ihre Schritte waren kontrolliert und vorsichtig.
»Da drin haben sich mehrere Leben abgespielt«, sagte ich. »Auch wenn sie jetzt leer sind, müssten sie eigentlich einen besseren Platz bekommen als eine Kiste in einer Rumpelkammer.«
»Das waren keine Leben, Locke. Bilde dir bloß nicht ein, dass es welche waren.«
Sie nahm mir die Würfel aus der Hand, betrachtete sie, drehte sie, dann ging sie zu Dr. Gatsbros Schreibtisch und warf sie in den Papierkorb. Sie sah mich an und fegte dann, als wäre ihr noch ein Gedanke gekommen, einige Unterlagen vom Schreibtisch hinterher.
»So. Das ist ein würdiges Begräbnis. Das, was sie verdienen.«
Abschluss.
Vielleicht gibt es so etwas gar nicht.
»Kara, möchtest du anfangen? Erzähl uns etwas über den Nachlass von Dr. Fox.«
Kara fläzt sich auf ihrem Stuhl und gähnt. »Tja … rein, raus, aus die Maus.«
Dr. Gatsbro seufzt entnervt. »Vielleicht sollte nur Locke unseren Besucher treffen? Es sei denn, du versuchst es noch mal mit etwas mehr Esprit und Eloquenz. Ich glaube, das hat unser Gast verdient.«
Kara setzt sich gerade hin. Ein Gast ist eine Attraktion, die sie nicht verpassen will. »Welche Version?«
»Es gibt nur eine Version, meine Liebe. Die, die ich euch erzählt habe.«
Und es gibt die, die uns Cole eines Abends aufgetischt hat, als Kara und ich ihn in Dr. Gatsbros Büro erwischten, während er sich heimlich am Whisky bediente.
»Ja, richtig. Es gibt nur eine.« Sie steht auf und versprüht wie gewünscht Eloquenz und Esprit, setzt sorgfältige Pausen, lächelt, lässt ihre Stimme lauter und leiser werden und untermalt ihre Worte an den passenden Stellen mit Gesten.
»Locke und ich wurden Opfer eines höchst unglücklichen Unfalls. Locke erlag seinen Verletzungen zwei Wochen später, in meinem Fall wurden die Maschinen drei Wochen nach dem Unfall abgestellt.«
Ich denke an Coles Beschreibung. Sie hatte mehr Farbe und enthielt mehr Einzelheiten.
Im Krankenbericht stand, dass ihr einen grauenhaften Unfall hattet. Keine Chance, euch zu retten, aber eure Eltern wollten nicht aufgeben. Schließlich konnten die Ärzte sie überzeugen, dass es das Beste war, euch gehen zu lassen, und ihnen blieb auch gar keine andere Wahl. Dem Gesetz nach wart ihr nicht mehr zu retten. Eure Eltern wussten nichts über das Projekt. Was Fox BioSystems damals mit euch gemacht hat, war illegal. Ist es übrigens immer noch.
»Glücklicherweise gelang es Dr. Ash, einem ungeheuer weitsichtigen Forscher bei Fox BioSystems, unsere Gehirne zu scannen und in eine spezielle Umgebung hochzuladen, indem er eine neue, noch nicht getestete, aber vielversprechende Technologie verwendete. Als andere sich nach Rückschlägen von dem Projekt verabschiedeten, fertigte er sich eigene Kopien unserer Gehirne an und forschte weiter, fest entschlossen, uns zu retten.«
Matthew Fox, der Leiter von Fox BioSystems, blies das Projekt ab, als eure Eltern euch einäschern ließen, bevor er an Körperzellen von euch kommen konnte. Wahrscheinlich hat Fox die ursprünglichen Kopien zerstört. Aber sein Kollege Dr. Ash führte das Projekt heimlich weiter, ohne die Kenntnis von Fox BioSystems. Er machte Sicherungskopien von euren hochgeladenen Gehirnen und versteckte sie.
»Dr. Ash sicherte Gewebeproben, so dass unsere DNA konserviert werden konnte.«
Dann heuerte er zwei, sagen wir mal, Kleinkriminelle an, um Körperzellen aus euren Zimmern zu stehlen, als eure Eltern nicht zu Hause waren. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass sie während der Beerdigungen bei ihnen einstiegen. Diese Typen waren garantiert keine Experten in Sachen professionelle Gewebesicherung. Ihre Spezialität war vielmehr, Silberbesteck und Plasmafernseher mitgehen zu lassen.
»Mit akribischer Genauigkeit verschaffte sich Dr. Ash alle nötigen Materialien.«
Bei dir, Locke, war es ein abgeschnittener Fingernagel, den sie in einer Ecke im Badezimmer fanden. Bei Kara war es eine Haarsträhne in einer Bürste. Sie konnten nicht sicher sein, ob diese Teile wirklich zu euch gehörten, aber es war alles, was sie finden konnten. Sie wurden zusammen mit den Datenkopien, den medizinischen Berichten und mehreren Fotos aufbewahrt, die sie ebenfalls gestohlen hatten.
»Dieser brillante und selbstlose Mann verstarb leider unter tragischen Umständen, bevor er seine Hoffnungen für uns umsetzen konnte, und unsere gespeicherten Gehirne wurden ein Teil seiner Hinterlassenschaft, deren Wert und Bedeutung den Erben unbekannt blieb.«
Es mag sein, dass Dr. Ash ehrenwerte Absichten hatte, aber die Tatsache, dass er sein Projekt geheim gehalten hat, legt nahe, dass Geld bei seiner Motivation eine wichtige Rolle spielte – erhoffte Einnahmen durch Erpressung oder vielleicht den Verkauf an die Konkurrenz. Er steckte bis über beide Ohren in Schulden. Unglücklicherweise starb er kurz nachdem er die Sicherungskopien angefertigt hatte unter ungeklärten Umständen bei einem Bootsunfall. Einige vermuten, dass er bei dem Versuch, die Spuren seiner zwielichtigen Helfer zu verwischen, selbst zum Opfer wurde. So oder so konnte er seine Pläne nicht verwirklichen.
»Und als Folge seines frühzeitigen Todes gingen die Datenträger über mehrere Generationen hinweg durch viele Hände und warteten darauf, dass die richtige Person und die richtige Technologie zusammenkamen.«
Sie waren in Vergessenheit geraten und lagen jahrzehntelang in einem Lagerraum. Sie trugen lediglich die Aufschrift FOX und wurden als der Fox-Nachlass bekannt. Schließlich neigte sich der Akku, der euch mit Strom versorgte, zu Ende und gab über zwei Jahre Warnsignale ab. Das kleine Forscherteam, bei dem sie mittlerweile gelandet waren, verfügte nicht über die notwendigen Mittel, um die hochgeladenen Codes zu entziffern, und sie wollten nicht in etwas verwickelt werden, von dem sie fürchteten, es könnte illegal sein. Also haben sie sie Gatsbro überlassen, von dem es hieß, dass er sich bei seiner Forschung von Gesetzen nicht aufhalten ließ – gegen einen gewissen Preis, versteht sich.
»Endlich, nach zweieinhalb Jahrhunderten, tauchte die richtige Person auf – ein Mann mit den Mitteln, der Erfahrung und der Vision –, um uns eine zweite Chance zu geben. Niemand anders als unser verehrter Dr. Gatsbro.« Kara lächelt ihn zuckersüß an und neigt den Kopf, als wäre sie ernsthaft gerührt.
Dr. Gatsbro schweigt. Schließlich nickt er. »Ausgezeichnet, meine Liebe.« Er wendet sich an mich. »Locke, und deine Aufgabe ist es, eure neuen Körper zu beschreiben; dass sie in jeder Einzelheit so gut sind wie eure alten, oder sogar besser. Kannst du das tun?«
Ich betrachte meine Hände. Ihr Tastsinn ist verstärkt. Sie können ein Sandkorn auf meiner Handfläche ausmachen. Ich lege sie auf meine Schenkel, die stärker und muskulöser sind als die, an die ich mich erinnere. Besser. Aber eben nicht hundertprozentig meine. Es hat ein ganzes Jahr gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Hätte er sie auch so gestalten können, wie sie früher waren, oder hatte er nur ungefähre Richtwerte? Ich schaue auf. Sein Blick ist noch immer auf mich gerichtet.
»Ja, natürlich, Dr. Gatsbro. Sogar noch besser.«
Ich wiederhole mein einstudiertes Geschwafel, aber ich weiß, dass meine Schauspielkünste mit Karas nicht mithalten können. Trotzdem wirkt er zufrieden.
»Gut gemacht.« Er lässt die Worte auf der Zunge zergehen wie einen Leckerbissen. »Sehr gut gemacht«, wiederholt er bei sich und schickt uns auf unsere Zimmer, wo wir die Ankunft des geheimnisvollen Besuchers abwarten sollen. Als wir beinahe zur Tür hinaus sind – und vermutlich nach seiner Meinung in sicherem Abstand –, fügt er hinzu: »Und falls unser Besucher Jenna erwähnt, überlasst ihr das mir. Verstanden?«
Er hat es nicht lassen können. Meine Augen richten sich auf Kara, aber sie nickt nur und stolziert aus dem Zimmer.
Wo warst du, Locke? Wohin bist du gegangen, als du mir nicht mehr geantwortet hast? Als du mich alleine gelassen hast? Wohin bist du gegangen? Warum hast du mir nicht geantwortet?
Sie will es nicht wirklich wissen.
Sie darf es nicht wissen.
Denn es wäre schmerzhaft für sie, und ich will ihr nicht wehtun.
Ich bin dahin gegangen, wo ich hingehen musste. Ich bin dahin gegangen, wo ich von Erinnerungskrumen und Berührungsresten zehren konnte. Ich bin dahin gegangen, wo ich mich an eine gute Art der Stille erinnern konnte. An Frieden. Ich bin zu meinen Erinnerungen an Jenna gegangen. Ihre Stimme mochte nicht mehr da sein, aber meine Erinnerungen an sie waren noch immer lebendig.
»Ich weiß es nicht mehr. Ich bin gestorben. Ich habe abgeschaltet. Ich war in einem schwarzen Loch. So wie du.«
Wo warst du, Locke? Sag es mir. Wo warst du?
Kara, Jenna und ich waren unzertrennlich. Oder wenigstens schien es so. Wir waren erst seit eineinhalb Jahren befreundet, als der Unfall passierte, aber für mich bedeutete es ein Leben. Wir spürten sofort eine starke Verbindung zueinander. Vielleicht lag es daran, dass wir uns alle an einem Wendepunkt in unserem Leben befanden – es war exakt der Moment, in dem unsere Welten sich berührten, wir alle auf der Suche nach etwas waren. Wir richteten uns gegenseitig auf. Gaben einander Kraft. Wir hielten uns bei den Händen. Wir überschritten eine Grenze. Wir machten einander mutiger.
Ich war der Jüngste. Nur zwei Monate jünger als Jenna, aber ein ganzes Jahr jünger als Kara. Ein ganzes Jahr. Ich kann nur den Kopf schütteln, wenn ich jetzt daran denke, aber zu der Zeit hatte ein Jahr eine große Bedeutung. Wenn du vierzehn bist und ein Mädchen triffst, das fünfzehn ist und dich anlächelt und nett zu dir ist, nett, dann eröffnet sich dir eine neue Welt. Und als Jenna das Gleiche tat, konnte ich von keiner der beiden genug bekommen. Jenna war das erste Mädchen, das ich küsste, Kara das zweite. Es war nur aus Spaß und ich lachte mit ihnen, aber im Inneren fühlte es sich nach mehr an. Nach etwas Bedeutendem. Ich war ein anderer geworden.
Als Dr. Gatsbro uns mitteilte, dass Jenna den Unfall überlebt hatte, war ich erleichtert. Mehr als erleichtert – ich musste mich setzen und zweihundertsechzig Jahre der Schuld strömten aus mir heraus. Und zum ersten Mal dachte ich, ich könnte Tränen in Karas Augen sehen. Aber als Dr. Gatsbro uns dann sagte, dass Jenna immer noch lebte, musste sich auch Kara setzen. »Sie haben sie gerettet? Sie hat die ganze Zeit über gelebt? Frei? Während wir …«
Dr. Gatsbro fuhr mit seiner Erklärung fort, aber Kara hörte nur noch einen Bruchteil dessen, was er sagte, ihre Stimme wurde lauter, während sie zu begreifen versuchte.
»Nur weil sie noch zehn Prozent ihres Gehirns hatte und wir nicht? Zehn Prozent?«
Ich sah, wie sie sich verwandelte. Direkt vor meinen Augen. Als ob Marmor ihre Beine emporwüchse, über ihren Schoß, ihre Schultern, ihr den Nacken versteifte und schließlich ihr Gesicht bedeckte, bis eine versteinerte Version der Person zurückblieb, die sie einmal gewesen war.
»Sie haben sie gerettet, aber sich um uns nicht gekümmert?«
Sie stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. Dr. Gatsbro hatte seine Ausführungen unterbrochen und sagte ihr, dass sie die Sache auf sich beruhen lassen müsse. Ihre Stimme wurde nur noch lauter. Sie wiederholte Jennas Worte, die sie so oft zu uns gesagt hatte, wenn sie von ihren Eltern genervt war. »Unsere heißgeliebte Jenna. Unser Ein und Alles. Aber natürlich, Jenna, alles, was du willst.«
Sie blieb stehen, und ihr Blick bohrte sich in den Lampenschirm auf der anderen Seite des Zimmers, sie starrte ihn an, als wäre er Jenna. »Die ganze Zeit über hat sie schön ihr Leben weitergelebt und nicht einmal versucht, uns zu helfen?«
Im selben Moment griff sie nach dem Gegenstand, der ihrer Hand am nächsten lag, einem Briefbeschwerer aus Glas auf Dr. Gatsbros Schreibtisch, und schleuderte ihn. Ich glaube nicht, dass sie ihn treffen wollte. Die Kara, die ich kannte, hätte niemals einem Menschen weh getan. Aber andererseits war das nicht die Kara, die ich kannte. Das hatte ich vom ersten Tag an zu spüren bekommen, als sie mich geschlagen hatte. Sie hatte sich verändert. Wir hatten uns beide verändert. Und am nächsten Tag fragte ich mich ebenfalls: Warum hatte Jenna uns nicht gerettet? Wir hätten sie gerettet.
»Jetzt halt still und lass mich deinen Kragen richten.«
»Miesha, hör auf damit!« Ich versuche, mich unter ihren Händen wegzuducken, aber sie hat mich schon fest im Griff. »Als Nächstes spuckst du dir in die Hand, was?«
»Puh, wie eklig. Warum sollte ich das tun?«
Weil meine Mutter das immer getan hat, um meinen Haarwirbel zu bändigen. Aber das sage ich ihr nicht. Sie soll nicht denken, dass meine Mutter eklig war. Und sie soll auch nicht denken, ich wolle andeuten, sie sei für mich ein bisschen wie eine Mutter.
»Weil du ein Ekel bist«, sage ich.
Sie gibt mir eine sachte Kopfnuss. »Eigentlich bist du ein netter kleiner Junge«, sagt sie. »Auch wenn du es selbst nicht weißt.«
»Miesha, ich bin kein kleiner Junge. Schau mich an. Sehe ich aus wie ein kleiner Junge?«
»Größe hat nichts zu tun mit dem, was hier drin ist.« Sie tippt mir mit dem Finger an die Stirn. »Na los, dreh dich um.« Sie stupst mich an der Schulter, damit ich ihr Folge leiste, und ich füge mich. Ich weiß, dass sie so oder so gewinnen wird – das tut sie immer. Sie streicht nicht vorhandene Falten glatt und zieht den Stoff in unnötige Richtungen, um sicherzustellen, dass er perfekt sitzt. Ich weiß schon, dass sie mir, wenn sie fertig ist, zwei kleine Klapse auf den Rücken geben wird. Ich glaube nicht, dass diese Art von Schnickschnack zu ihrer Stellenbeschreibung gehört. Das erledigt sie als Zugabe.
Wenn ich mit Miesha zusammen bin, vergesse ich manchmal beinahe, wo ich mich befinde. Ich könnte in meinem alten Haus in der Francis Street sein. Ich fühle mich fast normal. Einmal hat sie mich nach meiner Familie gefragt, und ich hatte zwei Stunden lang einen Aussetzer. Seitdem fragt sie mich nicht mehr. Sie redet nicht über die Vergangenheit oder die Zukunft, nur über den Augenblick, und genau da versuche ich zu bleiben, wenn ich bei ihr bin, weil meine Zukunft zu ungewiss ist und sie meine Vergangenheit niemals begreifen würde.
Zwei Klapse in die Mitte meines Rückens. Fertig.
»Fertig«, verkündet sie, und ich lächle.
Ich drehe mich um und betrachte im Spiegel die neuen Sachen, die ich für unseren Besucher tragen soll. Wie immer weiß Dr. Gatsbro genau, was mir steht. Das Hemd ist grün, eine Farbe, die ich sonst nicht trage. Miesha sagt, es passe gut zu meinen Augen.
»Meine Augen sind braun, Miesha.«
»Aber mit grünen Sprenkeln.«
Früher hatte ich keine grünen Sprenkel. Zumindest glaube ich das. Ehrlich gesagt, habe ich nie so genau darauf geachtet. Wie kann jemand jeden Tag seines Lebens in den Spiegel sehen und so etwas nicht bemerken? Aber das habe ich nicht. Alles, was ich gesehen habe, waren Pickel oder eine Nase, die zu groß schien, oder Gesichtsbehaarung, die ich mir stärker wünschte, um endlich einen Bart tragen zu können. Grüne Sprenkel waren nicht mal auf meinem Radar. Ich drehe mich, betrachte mein Spiegelbild von allen Seiten und denke, dass ich stärker auf solche Sachen achten sollte.
Aber einige gewisse Einzelheiten habe ich sofort überprüft. Das hätte wohl jeder Typ getan. Ich bin gut ausgestattet. Dafür hat Dr. Gatsbro gesorgt. Und ich habe das Equipment ausprobiert, also weiß ich, dass alles funktioniert. Ob Gatsbro bei Kara genauso sorgfältig war wie bei mir? Ich kann sie schlecht fragen. Sie soll nicht denken, dass es mir wichtig ist. Das ist es nicht … Das sollte es zumindest nicht sein. Aber lange halte ich diesen Zustand nicht mehr aus. Ich bin ohne Zweifel die älteste Jungfrau in der Geschichte der Menschheit, und das ist kein Rekord, den ich aufrechterhalten möchte.
»Sag mal, Miesha«, sage ich, schaue in den Spiegel und tue so, als zupfte ich noch einmal den Kragen zurecht, »wer ist dieser mysteriöse Besucher, der heute kommt?«
Sie schnaubt und sieht mich von der Seite an, bevor sie anfängt, mein Zimmer aufzuräumen. »Du weißt doch, dass Dr. Gatsbro mir nie etwas sagt.« Sie hebt das Hemd, das ich heute Morgen anhatte, vom Boden auf und hält es mir unter die Nase. »Ich bin hier nur das Kindermädchen für zwei verwöhnte Gören.«
»Kindermädchen? Wohl kaum.« Ich nehme ihr das Hemd ab und falte es zusammen. »Aber du siehst viel. Und du hörst viel. Meinst du, wir sollten uns Sorgen machen? Wir hatten noch nie Besuch.«
Miesha bleibt stehen und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie kann nicht größer sein als eins sechzig, aber sie schafft es, wie eine drei Meter hohe Mauer zu wirken. Das konnte meine Mutter auch. Ich sehe die Narben auf ihrem Unterarm, lange gezackte Linien, die sich über ihre Haut winden wie Stacheldraht. Sie hat mir nie gesagt, woher sie die hat, und ich frage mich, warum sie sie nicht entfernen lässt, bei all den medizinischen Möglichkeiten, die es heutzutage gibt.
»Du machst dir zu viele Gedanken«, sagt sie. Sie hat recht. Das mache ich. Aber ich kann nicht anders. Sie räumt weiter auf und streicht die Decke auf meinem Bett glatt. Ich schweige. Eine Sache, die ich über Miesha gelernt habe, ist, dass sie keine Stille mag. Ich muss nur warten, bis sie sie ausfüllt.
»Und ich bin auch kein Schnüffler, wenn es das ist, was du meinst. Ich weiß es besser.« Sie verpasst meinem Kissen einen Knuff und klopft es leicht aus. »Ich brauche diesen Job – und ich bin dankbar, dass ich ihn habe. Niemand sonst würde mich einstellen. Und ich weiß sehr wohl, dass Dr. Gatsbro genauso gut einen BioBot für eure Betreuung nehmen könnte.« Sie dreht sich um und sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. »Euch zwei Kinder zu versorgen ist schließlich keine höhere Wissenschaft.« Sie räumt das Geschirr von meinem Mittagessen ab und stellt die altmodischen Porzellanteller und das Silberbesteck auf ein Tablett. »Aber das heißt nicht, dass mir alles gefällt, was ich hier sehe. Mein Gehirn habe ich jedenfalls nicht ausgeschaltet, als ich hier angefangen habe.« Sie stellt das Tablett auf dem Bett ab, das sie gerade frisch gemacht hat, und kommt einen Schritt auf mich zu. »Dieses Anwesen ist alt, und das lässt euch vieles vertraut erscheinen, aber da draußen …« Sie hält inne und schüttelt den Kopf. »Da draußen ist eine ganz neue Welt, die ihr noch nicht auf euren Videogrammen gesehen habt. Er sagt, dass er euch schützen will, aber manchmal denke ich, dass …«
»Was?«
Sie spricht nicht weiter, ihre Finger streichen abwesend über die hervortretenden Linien auf ihrem Arm. »Nichts. Wir machen uns beide zu viele Gedanken. Nun sieh aber zu, dass du fertig wirst«, sagt sie und wirft einen Blick auf meine nackten Füße. »Und kämm dir die Haare. Ich muss jetzt Prinzessin Kara Feuer unterm Hintern machen. Gott behüte, dass Ihre Hoheit sich mal wieder im Garten herumtreibt.« Die Tür schließt sich hinter ihr, und meine Frage ist noch immer unbeantwortet.
Größtenteils.
Sie weiß vielleicht nicht, wer der Besucher ist, aber sie ist genauso beunruhigt wie ich. Ich gehe in mein Ankleidezimmer und finde die Schuhe, die ich tragen will. Selbst die einfachsten Dinge wie Schuhe sind jetzt so anders. Ich habe das ganze letzte Jahr gebraucht, um mich an diese neue Welt zu gewöhnen, und Dr. Gatsbro hat ebenso viel Zeit damit verbracht, uns über sie zu unterrichten. Wir haben die Geschichte und die technischen Entwicklungen aus mehr als zwei Jahrhunderten gepaukt. Bei einigen Dingen stand mir der Mund offen, bei anderen musste ich lachen, bei wieder anderen weinen. Aber ich weine nur, wenn ich alleine im Zimmer bin und niemand mich sehen kann. Vielleicht hat Miesha recht. Vielleicht bin ich wirklich noch ein kleiner Junge. Aber ich habe meinen Vater dreimal weinen gesehen, und er hatte mehr von einem Mann als irgendjemand sonst, den ich kannte. Ich wünschte, ich wüsste was mit meiner Familie passiert ist. Ich denke jeden Tag an sie und frage mich, ob ich ihr Leben zerstört habe.
Ich schlüpfe in die Schuhe auf dem Boden. »Anpassen.« Ich denke, braun würde gut zu den Sachen passen, die ich trage, also füge ich hinzu, »dunkelbraun«. Die Schuhe gehorchen, schmiegen sich an meine Füße, so dass ich sie kaum spüre, und nehmen die Farbe an, die ich verlangt habe. Meine Mutter hätte solche Schuhe geliebt. Sie hat immer über ihre Füße gejammert, wenn sie nach einer langen Schicht auf dem Markt nach Hause kam, und zog sich die Schuhe aus, kaum dass sie durch die Tür war. Manche Dinge haben sich eindeutig verbessert. Andere nicht wirklich.
Als ich mich im Garten an den gemeinen Bienen-Bots vergiftet habe, ist mir klargeworden, wie anders die Welt jetzt ist. Bienen-Bots können nicht stechen, aber sie haben eine Verteidigungsstrategie entwickelt, die sie Pflanzengift auf ihren Hinterbeinen ansammeln lässt. Sie verpassen dir fiese Schwellungen, wenn du versuchst, ihre Ziele zu durchkreuzen, und wie das jeden anderen Tiers ist ihr Ziel, zu überleben. So ziemlich alle echten Honigbienen, die noch existieren, befinden sich in Insektarien. Man hat versucht, sie wieder auszuwildern, aber sie können sich nicht gegen die Bienen-Bots behaupten, die jetzt die Pflanzen bestäuben. Es hat sich als ebenso schwierig erwiesen, die Bienen-Bots auszurotten, weil sie eine unschlagbare Fortpflanzungsmethode entwickelt haben – sie teilen sich einfach und ergänzen die fehlende Hälfte, was genau ihrer Programmierung entspricht. In unseren vielen Geschichts- und Umweltstunden sind die gemeinen Bienen-Bots nicht vorgekommen, und bevor ich ihm die Schwellungen auf meiner Hand zeigte, hatte Dr. Gatsbro sie mit keinem Wort erwähnt.
All die Veränderungen, von denen er uns erzählt hat oder die wir uns auf Videogramm angeschaut haben, waren gut. Wie zum Beispiel die Umwandlung von Fäkalien in Energie. Ich muss insgeheim immer noch lachen, wenn ich daran denke, dass meine Sitzungen auf der Toilette dazu beitragen, die Welt mit Energie zu versorgen. Und ich finde auch, dass es eine gute Idee ist, gefährliche Arbeiten von Robotern erledigen zu lassen. Mein Onkel war Polizist, bei einer Routinekontrolle bekam er eine Kugel in den Kopf gejagt. Ich wünschte, es hätte damals schon Robozisten gegeben. Und ich liebe mein iScroll – ein winziges Touchpad auf meiner Handfläche, mit dem ich so ziemlich alles machen kann. Es gibt kein Spiel, das sich damit nicht spielen lässt. Ich werde sogar ein richtig guter Boxer dank meines virtuellen Trainers Percel. Er sagt, ich sei einer seiner besten Schüler. Ich weiß, dass er nicht echt ist, und wenn, wäre ich vermutlich nicht einer seiner besten Schüler, aber seine virtuellen Kicks tun trotzdem weh und lassen mich auf den Arsch fallen. Und zwar ziemlich oft.
Arsch. Noch eine Veränderung. Sie rümpfen bei manchen Wörtern nicht mehr die Nase. Vor Miesha und Cole kann ich tatsächlich Wörter benutzen, bei denen mir meine Mutter eine Moralpredigt gehalten hätte. Wenn du es nicht in der Kirche sagen darfst, Locke, dann darfst du es auch nicht in unserem Haus sagen. Es ist, als hätten Miesha und Cole einfach keine Ahnung, was das Wort bedeutet. Aber vermutlich habe ich selbst keine Ahnung von vielen Dingen. Vielleicht war es das, was Miesha meinte. Vielleicht gibt es vieles, was man nicht durch virtuellen Unterricht erlernen kann – wie so vieles, was ich in den Straßen Bostons aufgeschnappt habe, worüber im Unterricht aber nie gesprochen wurde. Was entgeht mir alles? Gibt es noch mehr, was Dr. Gatsbro uns nicht gesagt hat?
Ich stelle mich wieder vor den Spiegel und kämme mir mit den Fingern die Haare. Mein Haar sieht genauso aus wie früher, die dunkelbraune Farbe und die Dichte stimmen exakt, aber trotzdem ist da ein feiner Unterschied. Der Wirbel, den ich immer gehasst habe, ist nicht mehr da. Meine Haare liegen alle in die gleiche Richtung. Ich lecke meinen Finger an und ziehe eine Strähne gegen den Strich. Sie fällt mir übers Auge. Miesha würde das nicht gefallen. Dr. Gatsbro, der immer wie aus dem Ei gepellt ist, auch nicht. Aber mir schon.
Ich wende mich vom Spiegel ab, aber dann fällt es mir wieder ein. Der Besucher. Ich mustere mich noch einmal. Ein Mann. Ein Junge. Ein Etwas. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich bin, aber ich streiche die Strähne wieder an ihren Platz. In Karas Interesse – und in meinem eigenen – muss ich die Regeln befolgen. Ich kann kein Risiko eingehen. Das letzte Mal, als ich ein Risiko eingegangen bin, hat uns das zweihundertsechzig Jahre gekostet.
Kara kommt in mein Zimmer marschiert und schmettert dabei die Tür gegen die Wand. »Der Meister hat gerufen. Hast du unsere Show gut einstudiert?«
»Wie meinst du das?«
»Sei nicht so ein Schaf, Locke. Er will ganz offensichtlich mit uns angeben.« Sie dreht sich einmal im Kreis, zeigt ihr neues Kleid her, der Stoff, rot und leuchtend wie ihre Lippen, wirbelt um ihre Beine. Sie hält inne, und ihre Miene verdüstert sich. Dann kommt sie durch das Zimmer auf mich zu, und als ihr Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt ist, verzieht sie es zu der albernen Kara-Grimasse von vor so langer Zeit. Im nächsten Augenblick drückt sie ihre Lippen auf meine und streicht mit ihrer Zunge über meine Zähne. Ihre Lippen sind weich und kühl. Sie macht einen Schritt zurück und beobachtet mein Gesicht. Ich strenge mich an, ausdruckslos auszusehen. Das ist nicht die Art von Kuss, die ich will. Ein Kopftätscheln. Ein Spaß. Ich will einen Kuss, der etwas bedeutet.
Sie lacht. »Um Himmels willen, lach doch mal, Locke! Was ist los mit dir?«
Ich wünschte, ich wüsste es. Ich ringe mir ein kleines Lächeln ab. »Nervös wegen dem Besuch, schätze ich.«
»Komm«, sagt sie, hakt ihren Arm unter meinen und zieht mich zur Tür. »Kein Grund zur Sorge. Wir springen durch ein paar Reifen, machen Sitz und Rolle vorwärts und kriegen unsere Leckerli.«
Ich mag die Art nicht, wie sie über Dr. Gatsbro redet. Ohne ihn wären wir noch immer an dem Ort, den wir nicht mal erwähnen, weil nur wenige Worte ausreichen, uns für Stunden in eine Art Totenstarre verfallen zu lassen. Auch wenn er mit seiner Art manchmal erdrückend sein kann, ist Dr. Gatsbro derjenige, der uns gerettet hat.
Hey, du bist derjenige, der seinen Kopf wie ein Ei zerquetschen wollte!
Ich drehe mich abrupt um und bleibe stehen. »Lass das, Kara. Steck deine Nase nicht rein, wo sie nicht hingehört.«
Sie grinst. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Locke.«
Sie nimmt meine Hand und zieht mich durch die Tür, ihre neuen Schuhe klappern auf dem Marmor, während wir durch die Halle gehen. Sie steuert auf die Treppe zu.
»Nicht in seinem Büro?«, frage ich.
»Nein, im Wintergarten. Wahrscheinlich will er eine gemütliche Umgebung. Fühlst du dich dann wohler? Vielleicht ist der Besucher ja ein Gärtner oder ein Orchideenspezialist oder so was in der Art. Das würde dir doch gefallen, oder?«
»Ja, ich schätze schon. Glaubst du wirklich? Dr. Gatsbro liebt seine Orchideen.«
»Definitiv.«
Der Wintergarten liegt auf der anderen Seite des Hauses, einen langen Gang entlang und vorbei an mehreren Zimmern. In den meisten stehen verschiedenste Gegenstände, die Dr. Gatsbro sammelt. Ein Zimmer ist voller Türknäufe. Knäufe aus Glas, Knäufe aus Kupfer, Knäufe aus Holz, einige sehen so gewöhnlich aus wie die, die wir in unserem Haus in der Francis Street hatten. Sie sind in freischwebenden Vitrinen ausgestellt, damit man sie von allen Seiten betrachten kann. Ein anderer, sehr viel interessanterer Raum ist voll mit Büchern, echten Büchern, wie ich sie in Erinnerung habe. Bücher mit Papier und Bindung. Sie stehen in Glasschränken, nicht zum Lesen, nur zum Anschauen und Bewundern.
Wir biegen um die letzte Ecke und treten durch die Flügeltür in den Wintergarten. Ich stelle fest, dass ich jetzt weniger nervös als neugierig bin. Ein Besucher. Endlich. Sie stehen mit dem Rücken zu uns, als wir eintreten. Als sie unsere Schritte hören, dreht Dr. Gatsbro sich um, und der Besucher folgt seinem Beispiel.
»Ah! Da seid ihr ja! Nur zu, kommt herein, Kara und Locke! Ich möchte euch einen ganz besonderen Gast vorstellen.« Mir ist auf Anhieb klar, dass er keinen Schimmer von Gärten oder Orchideen hat. Er ist in eine leuchtend blaue Tunika gekleidet, die ihm bis über die Knie reicht. Darunter trägt er eine weite weiße Hose. Selbst ich, der kaum ein Hemd vom anderen unterscheiden kann, sehe, dass die Kleider aus einem extrem feinen Stoff maßgeschneidert sein müssen. Er streckt den Arm aus, um uns die Hände zu schütteln. Zuerst nimmt er Karas Hand und hebt sie an seine Lippen. Dort lässt er sie einen Moment verweilen. Kara zieht sie mit einem koketten Lächeln zurück.
»Sehr erfreut, Mademoiselle Manning.«
»Ganz meinerseits, Monsieur.«
Dann nimmt er meine Hand. »Und Sie sind Locke Jenkins.« Er hält meine Hand und drückt sie, nicht fest, aber so, als wolle er etwas unter meiner Haut fühlen – vielleicht die Knochen?
»Ja, das weiß ich. Ich bin Locke. Und Sie sind?«
»Verzeihung«, sagt Dr. Gatsbro. »Kara und Locke, dies ist mein Freund Mr Jafari. Setzen wir uns doch. Greta hat eine Erfrischung für uns vorbereitet.«
Kara und ich sitzen nebeneinander auf einem Sofa, Dr. Gatsbro und Mr Jafari sitzen uns gegenüber in großen bequemen Korbsesseln.
»Von woher sind Sie angereist, Mr Jafari?«, frage ich.
Er zögert und wirft seinem Gastgeber einen fragenden Blick zu. Dr. Gatsbro nickt zustimmend und Mr Jafari wendet sich wieder zu mir. »Ich komme aus Tunisar. Kennen Sie mein Land?«
»Wir sind nie dort gewesen – noch nicht«, entgegnet Kara. »Aber wir würden unglaublich gerne mal hinfahren. Stimmt’s, Locke?«
»Ja, natürlich«, sage ich. »Es hat früher zu Indien gehört, oder?«
»Ja, das stimmt, und zu China, aber das ist schon eine Weile her.«
»Was führt Sie in die Staaten?«, frage ich.
Ein weiterer fragender Seitenblick, und Dr. Gatsbro übernimmt das Reden. »Er interessiert sich für meine Forschungsarbeit, und nach einem Besuch in meinem Labor in Manchester wollte er mehr sehen, also habe ich ihn hierher eingeladen. Ich habe ihm ein bisschen von euch beiden erzählt, aber ich glaube, er würde gerne mehr aus eurem Mund hören. Kara, meine Liebe, wärest du so freundlich?«