[1]
Schestilawotschnaja Straße: Die heute Majakowski-Straße geheißene liegt im zentralen Litejny-Bezirk von St. Petersburg.
[2]
… grünen, grauen, blauen, roten und auch sonstigen bunten Scheinen: Die grünen waren Drei-Rubel-Scheine, die grauen Fünfzig-Rubel-, die blauen Fünf-Rubel-, die roten Zehn-Rubel-Scheine.
[3]
… en passant: französisch, nebenbei, beiläufig.
[4]
abordieren: vom französischen aborder abgeleitet, sich jemandem nähern, ihn anreden.
[5]
… der Weg ist breit …: In der Bergpredigt, Matthäus 7,13, heißt es: »Denn weit und breit ist der Weg, der ins Verderben führt, und viele wählen diesen Weg.« Leo Tolstoi vermerkte in Für alle Tage. Ein Lebensbuch folgendes Zitat mit »nach Gogol«: »Der Weg des Lebens ist breit, aber viele kennen ihn nicht und wandeln den Weg des Todes.« Er bezog sich wohl auf Nikolaj Gogols Tote Seelen.
[6]
Gostiny Dwor: wörtlich übersetzt: Gästehof, wurden in Russland Markthallen genannt, in denen die angereisten Kaufleute auch wohnten, bis ihre Waren verkauft waren; das hier gemeinte Petersburger Warenhaus wurde in den Jahren 1761–1785 von Bartolomeo Francesco Rastrelli und Jean-Baptiste Vallin de La Mothe entworfen und errichtet. Es nimmt am Newski Prospekt, der Flaniermeile und Prachtstraße, bei einer Fassadenlänge von mehr als einem Kilometer fast ein gesamtes Stadtviertel ein.
[7]
Façon: französisch, Mode, Machart.
[8]
… einer mageren nationalen Zeitung: höchstwahrscheinlich eine Anspielung auf Die nordische Biene (Severnaja pčela), einen Almanach, herausgegeben von Faddej Bulgarin, der auch ein Agent der sog. Dritten Abteilung war, einer Abteilung des Geheimdienstes, und in seiner Zeitschrift mit besonderem Eifer das von Zar Nikolaus I. (1796–1855) geförderte Programm der Russifizierung und Orthodoxierung propagierte.
[9]
entre nous: französisch, unter uns.
[10]
dem Jäger läuft das Wild entgegen: abgeleitet von einem russischen Sprichwort, das übersetzt »Die Beute folgt dem Jäger« lautet.
[11]
Das Diner beginnt wohl kaum vor vier …: In Russland war es üblich, sehr spät zu Mittag zu essen.
[12]
sans façon: französisch, zwanglos, ungezwungen.
[13]
französischen Minister Villèle: Jean Baptiste Guillaume Marie Anne Séraphin Joseph, Comte de Villèle (1773–1854), ein Ultraroyalist, hatte in der Zeit der französischen Restauration in den 1820er Jahren mehrere Ministerposten inne, führte zeitweise auch das Kabinett an und beförderte den Jesuitenorden, der im Jahr 1713 auf Betreiben der Könige von Frankreich, Portugal und Spanien von Papst Clemens XIV. aufgehoben worden war – eine von den Aufklärern begrüßte Maßnahme –, da die Jesuiten nicht gewillt waren, sich den absolutistischen Ansprüchen der Herrscher zu beugen, und vor allem in Frankreich die pontifikale Macht gebrochen werden sollte. Einige Jesuiten fanden in Russland Zuflucht, da die Zarin Jekaterina die Große die Vorteile des jesuitischen Schulsystems zu schätzen wusste und zudem Seelsorger für die katholische Bevölkerung Polens brauchte. 1814 wurde der Orden restauriert. – Herr Goljadkin schöpft sein Wissen aus Almanachen und Lesebüchern, wie etwa der Lesebibliothek von Ossip Senkowski (siehe auch Anmerkung zu S. 102, Baron Brambeus).
[14]
Belsazars Hofe: Belsazar war nach der Bibel König von Babel und Gelagen sehr zugetan: »König Belsazar machte ein herrliches Mahl seinen tausend Gewaltigen und soff sich voll mit ihnen. Und da er trunken war, hieß er die goldenen und silbernen Gefäße herbringen, die sein Vater Nebukadnezar aus dem Tempel zu Jerusalem weggenommen hatte, dass der König mit seinen Gewaltigen, mit seinen Weibern und mit seinen Kebsweibern daraus tränke.« (Daniel 5,1–3)
[15]
Veuve Clicquot: Der Champagner der Witwe Clicquot gelte, so heißt es 1865 in der Allgemeinen Moden-Zeitung (herausgegeben von Dr. A. Diezmann in Leipzig), »… der allgemeiner Meinung nach als der beste der Welt«.
[16]
Jelissejew: 1815 von Pjotr Jelissejew, einem aus der Leibeigenschaft entlassenen Gärtner, gegründetes Handelskontor für Luxusgüter, später das berühmteste Feinkostgeschäft in St. Petersburg.
[17]
Homer oder Puschkin: Während Homer (um 800 v. Chr.) mit seinen Werken Ilias und Odyssee als Vater der europäischen Dichtung gilt, die er aus der erzählten Tradition ins Schriftliche übertrug, wird Alexander Puschkin (1799–1837) als Begründer der modernen russischen Literatur und der russische Nationaldichter verehrt.
[18]
Demosthenes: Der Athener (um 384 v. Chr.–322 v. Chr.), in seiner Jugend ein Stotterer, überwand dieses Handicap und wurde der wortgewandteste Redner Griechenlands.
[19]
Kavaliere, die größtenteils Französisch mit den Damen parlierten: Französisch war die Sprache des Hofes und des Adels, viele Adlige sprachen kein Russisch oder lernten es – wie etwa der Romancier Iwan Turgenjew (1818–1883) – in der Kindheit nur von den Leibeigenen.
[20]
… türkische Wesir Marzimiris … nebst der durchlauchtigen Markgräfin Luise: Figuren aus Der Roman vom Abenteuer des englischen Milord George und der brandenburgischen Markgräfin Friederike-Luise (1782; Povest’ o priključenii aglinskogo milorda Georga i o Brandeburgskoj markgrafine Friderike-Luize) von Matwej Komarow (1730?–1812?), über dessen Leben so gut wie nichts bekannt ist und dessen abenteuerliche Werke noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts ungeheuer populär waren.
[21]
Retirade: fluchtartiger militärischer Rückzug, vom gleichbedeutenden spanischen retirada entlehnt.
[22]
… arabischen Emire … den grünen Turban, den sie zum Zeichen der Blutsverwandtschaft mit ihrem Propheten Mahom tragen …: Der Prophet Mohammed soll zeitlebens, so die islamische Überlieferung, gerne grüne Gewänder und einen grünen Turban getragen haben. Grün wird deshalb nach seinem Tod zur Farbe seiner Erben, der Scherifen oder Emire von Mekka.
[23]
… die Polka … noch neu und modisch: In den 1840er Jahren in Mode gekommen, entwickelte sie sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Form des bürgerlichen Protestes gegen die Starrheit der höfischen Tanzordnung. Im Gegensatz zu den Hoftänzen benötigte man beim Walzer und bei der Polka – die noch größere Spontaneität und Freiheit zuließ – keinen Tanzführer, die Tanzpaare konnten sich frei im Raum bewegen.
[24]
Fontanka: ein Arm der Newa, einer der 93 Flüsse und Kanäle St. Petersburgs, an dem viele Adelspalais stehen und der die Fontänen des Sommergartens speiste; daher der Name.
[25]
Kanonensalve: Bei starken West- und Nordwinden war Petersburg von den Fluten der Ostsee bedroht. Nach der verheerenden Überschwemmung von 1777 veranlasste Zarin Jekaterina die Große, die Bevölkerung durch Signale, die durch Kanonenschüsse, Glockengeläute, Flaggen und Laternen gegeben wurden, vor der drohenden Gefahr zu warnen.
[26]
»das Kästchen öffnete sich leicht«: Zitat aus Krylows Fabel Das Kästchen, darin ein Besserwisser, ein Jünger der Mechanik, in jenem ein Geheimnis und einen komplizierten Schließmechanismus vermutet; er probiert, drückt und zieht bis zur Erschöpfung daran herum und gibt dann auf. Ein anderer nimmt sich sorglos der Sache an. Der letzte Satz lautet lapidar: »Das Kästchen öffnete sich leicht.« Iwan Andrejewitsch Krylow (1769–1844) gilt als der bedeutendste Fabeldichter Russlands, er ist bis heute beliebt und wird viel zitiert.
[27]
Schnee und Neue: (die) Neue, Ausdruck aus der Jägersprache für frisch gefallenen Schnee.
[28]
der große Suworow: Der russische General Alexander Wassiljewitsch Suworow (1730–1800) kämpfte u.a. im Siebenjährigen Krieg, in den Russisch-Türkischen Kriegen und im zweiten Koalitionskrieg gegen Frankreich; er war für seine Marotten berühmt und gab in einem der Türkenkriege das Signal zum Angriff, indem er wie ein Hahn krähte.
[29]
per pedes: lateinisch, zu Fuß.
[30]
das Gemälde Brjullows: Gemeint ist das Gemälde »Der letzte Tag von Pompeji« von Karl Brjullow (1799–1852), welches er 1833 in Italien beendete und 1834 nach Russland brachte, es wurde in der Petersburger Akademie der Künste ausgestellt und sorgte für ein großes gesellschaftliches Echo.
[31]
das Gitter des Sommergartens: Der Sommergarten ist eine barocke Parkanlage, die sich ursprünglich von der Newa bis zum Newski Prospekt erstreckte, Zar Peter der Große ließ sie um 1710 an seinem Sommerpalais anlegen; ihre Fontänen wurden mit dem Wasser aus der später so genannten Fontanka gespeist; das filigrane eiserne Parkgitter an der Newa-Seite, das der Architekt Georg Friedrich Veldten, der Schöpfer der Eremitage, um 1771 entwarf, ist bis heute berühmt – und soll, so will es die Anekdote, Anfang des 19. Jahrhunderts einen Engländer so außerordentlich beeindruckt haben, dass er abreiste, ohne eine andere Sehenswürdigkeit besucht zu haben.
[32]
hier/die Kunst der Verse sprießt wie Blumenzier: Zitat aus dem Ballett Die neuen Lorbeeren (Novye lavry) des Dichters Alexander Sumarokow (1717–1777), einer der Begründer der russischen Kunstdichtung, das mit Musik von Hermann Friedrich Raupach und Josef Starzer und der Choreographie von Franz Anton Hilverding 1759 in St. Petersburg zur Feier des Sieges der russischen Armee über die preußische bei Kunersdorf (im Siebenjährigen Krieg) aufgeführt wurde.
[33]
Nordischen Biene: eine 1825 vom Schriftsteller und Journalisten Faddej W. Bulgarin (1789–1859) begründete politische Zeitung (siehe auch Anmerkung zu S. 34).
[34]
Baron Brambeus: Die 1833 erschienenen Phantastischen Reisen des Baron Brambeus (Fantastičeskie putečestvija Barona Brambeusa) des in Litauen geborenen Orientalisten, romantischen Schriftstellers und Journalisten Ossip Julian Iwanowitsch Senkowski (1800–1858), die er unter dem Pseudonym Baron Brambeus veröffentlichte, waren ein Bestseller des Zarenreichs.
[35]
ein Quatrain: eine vierzeilige ursprünglich französische Gedichtform.
[36]
… übermäßigen Gebrauch von Mohnsaft: Das aus der Kapsel des Schlafmohns gewonnene Opium war das wohl beliebteste Rauschmittel des 19. Jahrhunderts und gehörte zu den wichtigsten Exportgütern des Osmanischen Reiches.
[37]
Pjotr: die russische Form des Namens Peter, deren Diminutiv Petruschka ist.
[38]
tête-à-tête: französisch, unter vier Augen, vertraulich.
[39]
Grischka Otrepjew, dem Pseudo-Demetrius …: Als Pseudo-Demetrius oder falscher Dimitri wurden in der russischen Geschichte drei Männer bezeichnet, die vorgaben, Dimitri Iwanowitsch, der Sohn des 1592 ermordeten Zaren Iwan des Schrecklichen, zu sein. Der erste, Grischka Otrepjew, tauchte um 1600 während der Herrschaft von Boris Godunow auf, wurde nach dessen Tod 1605 zum Zaren gekrönt und im Jahr darauf bei einer Revolte ermordet. Der zweite erschien um 1607 und wurde 1610 getötet, der dritte meldete seine Ansprüche 1611 an, wurde 1612 von den Kosaken als Zar anerkannt und noch im selben Jahr hingerichtet.
[40]
… um die Schlange zu zertreten, die da machtlos im Staub um sich beißt: Hier zitiert Dostojewski Alexander Puschkins Versdrama Mozart und Salieri (Mocart i Sal’eri, 1830) – »Wann war Salieri – dieser stolze Mann –/ein schnöder, ein verachtenswerter Neider,/die Schlange, die man tritt und die im Tode/noch machtlos um sich beißt im Staub der Erde?« (Übersetzung: Alexander Nitzberg).
[41]
zum Pasquillischen: von Pasquille, Schmäh- oder Spottschrift; seit der Antike beliebt, lebte die Pasquille im 16. Jahrhundert wieder auf, als dem Volk von Rom die Macht des Papsttums als erdrückend erschien – die Römer machten ihrem Unmut mit anonymen Epigrammen und kurzen satirischen Versen auf öffentlichen Statuen Luft. Die berühmteste war die des »Pasquino« auf der Piazza Pantaleo. Die Pasquille erfreute sich so großer Beliebtheit, dass Papst Hadrian VI. (1522–1523) drohte, den Pasquino in den Tiber werfen zu lassen.
[42]
… die Zeit zu säen ist vorbei, nun aber kommt die Zeit zu ernten: Anspielung auf Prediger 3,1–2: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist …«
[43]
Da kommt ein Mensch und wird angenommen; aber angenommen, nur mal angenommen …: auch bei Dostojewski ein seltsames Wortspiel – »ustroilsja«/»ustroilsja« –, das wohl den assoziativen Gedankenverlauf Goljadkins zeigen soll.
[44]
… entkleidete sich ganz …: Möglicherweise wird hier auf die Herkunft des Namens Goljadkin, das russische gol’ bedeutet nackt, angespielt; doch auch Alexander Puschkin soll in seinem Haus im Adamskostüm herumgegangen sein und so Besuchern die Tür geöffnet haben.
[45]
Goljadkin hat erst einen Brief geschrieben; zu der Verwirrung ob der Briefe siehe auch S. 304–306 im Nachwort des Übersetzers.
[46]
tournure: französisch, Wendung.
[47]
bon ton: französisch, der gute Ton, Anstand; auch: die gute Gesellschaft, die vornehme Welt.
[48]
primus inter pares: lateinisch, Erster unter Gleichen, als solchen bezeichnete sich der römische Kaiser Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.), der demonstrative Bescheidenheit an den Tag legte, in seinen Res Gestae Divi Augusti (Die Taten des vergöttlichten Augustus).
[49]
… jeder Mensch ist sein eigener Hüter: eine antwortende Variation auf die Frage des Kain, nachdem er den Abel erschlug: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« (1. Mose 4,9)
[50]
Narren Balakirew: Iwan Balakirew (1699–1763), war ein russischer Adeliger an den Höfen von Zar Peter dem Großen sowie der Zarinnen Anna und Jekaterina der Großen. Im 19. Jahrhundert kursierten Bücher mit Anekdoten über den »Narren Balakirew«. Unter seinen volkstümlichen Portraits steht oft der Satz, Balakirew wäre stets aufrichtig und hätte »unter der Larve des Närrischen immerzu die Wahrheit gesprochen«.
[51]
Elftes Hauptstück: In der russischen Ausgabe von 1846 wird dieses Kapitel irrtümlich als »Zwölftes Hauptstück« aufgeführt, im Folgenden wurde dann »Dreizehntes …«, »Vierzehntes …«, »Fünfzehntes …« gezählt.
[52]
unser russischer Faublas: eine Anspielung auf die erfolgreiche Trilogie Les Amours du Chevalier de Faublas, Die Liebesabenteuer des Chevalier de Faublas (Une Année de la vie de Faublas, Ein Jahr im Leben Faublas’, 1787; Six Semaines de la vie de Faublas, Sechs Wochen im Leben Faublas’, 1788; La Fin des amours du Faublas, Das Ende der Liebesabenteuer Faublas’, 1790) von Jean-Baptiste Louvet de Couvray (1760–1797). Die galanten, frivolen Romane, die sich in Russland großer Beliebtheit erfreuten, erzählen vom jungen Faublas, der sich, kaum sechzehnjährig, in die noch jüngere Sophie verliebt, sich von der älteren Madame de B*** verführen lässt und dann seinerseits zahlreiche Frauen verführt. Ein wesentliches Element ist Faublas’ Crossdressing, in Frauenkleidern verführt er verheiratete Damen, deren Ehemänner sich wiederum an die vermeintliche Schöne heranmachen.
[53]
Freidenkerei: die geistige Haltung eines Freidenkers, eines Freigeists, der sich nicht durch Autoritäten, insbesondere religiöse oder kirchliche, bevormunden lässt, sondern kraft seines eigenen Verstandes die Dinge der Welt ergründet. Die Bezeichnung »Freidenker« kommt aus dem Englischen, der irische Naturphilosoph William Molyneux (1656–1698) nannte 1697 in einem Brief an den Vordenker der Aufklärung John Locke (1632–1704) den Verfasser des um eine vernunftgemäße Erklärung des Christentums bemühten Buches Christianity Not Mysterious (1696, Das Christentum ohne Geheimnis) John Toland einen »candid freethinker« (unvoreingenommenen Freidenker). John Anthony Collins, ein Schüler von Locke, führte schließlich 1713 in seinem Werk A Discource of Freethinking, occasioned by the Rise and Growth of a Sect call’d Freethinkers den Begriff in den öffentlichen Diskurs ein; der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) übertrug die Bezeichnung 1715 erstmals mit »Freidenker« ins Deutsche. Von Seiten der in Frage gestellten Autoritäten gab es natürlich Gegenwind, der evangelische Pastor Johann Anton Trinius tat in seinem 1759 erschienenen Freydenker-Lexicon Freidenker als »Atheisten, Naturalisten, Deisten, grobe Indifferentisten, Sceptiker und dergleichen Leute« ab.
[54]
Polizeilichen Nachrichten: Gemeint ist die Zeitung Nachrichten der St. Petersburger Stadtpolizei, die von 1839–1917 erschien und u.a. über kuriose Vorfälle in der Hauptstadt berichtete.
[55]
Pokulieren: das Zechen, Bechern, entlehnt aus dem gleichbedeutenden lateinischen poculare, zu poculum Trinkgefäß, Becher, Trank.
[56]
… die mittels einiger Forscher aus deutschen Landen … angeschlagene Reputation … Mahom, des türkischen Propheten …: Die beiden Herren Goljadkin scheinen ihr Wissen aus Romanen, gern reißerischen Kolportageromanen, Verserzählungen und Lyrik zu ziehen. So tat etwa der russische Orientalist Ossip Senkowski unter seinem Pseudonym Baron Brambeus (vgl. Anmerkung zu S. 102) Mohammed als Heuchler und Lügenpropheten ab und wetterte gegen seinen deutschen, in Heidelberg wirkenden Kollegen Gustav Weil (1808–1889). Dieser übersetzte erstmals werkgetreu die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht ins Deutsche (1837–1841; allerdings ließ sein Verleger Friedrich Gottlob Franckh (1802–1845) die Übersetzung durch den Schriftsteller August Lewald (1792–1871) von frivolen Stellen befreien), veröffentlichte eine Historisch-kritische Einleitung in den Koran (1844–1878) sowie 1843 Mohammed der Prophet, sein Leben und seine Lehre. Diese wohlwollende Prophetenbiographie fußte auf arabischen Quellen wie der Sīra al-Ḥalabīya des Kairoer Religionsgelehrten Nūraddīn al-Halabī (1567–1635). Im deutschsprachigen Raum hatten Gelehrte unter der Führung von Jacob Reiske (1716–1774) im 18. Jahrhundert begonnen, die Arabistik als selbständige philologische Disziplin zu etablieren. Die Beschäftigung mit den orientalischen Sprachen ging mit dem Studium der Geschichte der islamischen Welt, die als bedeutender Teil der Menschheitsgeschichte aufgefasst wurde, einher. Im frühen 19. Jahrhundert förderte der Wiener Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856) die Loslösung der orientalischen Studien von der Theologie.
[57]
Reich mir die Hand, mein Leben: die deutsche Übersetzung der ersten Worte des Duetts Là ci darem la mano aus Wolfgang Amadeus Mozarts (1756–1791) Oper Don Giovanni (1787), deren Held wie Faublas ein großer Verführer der Damen war. Im russischen Original steht hier die Anfangszeile eines Gassenhauers mit einem sehr ähnlichen Text.
[58]
Entrechat: im Ballett ein gerader Sprung in die Höhe, bei dem die Fersen in der Luft (mehrmals) gekreuzt übereinandergeschlagen werden.
[59]
Märchen von der Wurst: Gemeint ist das Märchen Les Souhaits ridicules (Die törichten Wünsche) von Charles Perrault (1628–1703), das in Versen erstmals 1693 erschien, in Prosa dann 1697 in der Sammlung Contes de ma Mère l’Oye (Märchen der Mutter Gans).
[60]
Gouvernement Wjatka: heute die Oblast Kirow, im nordöstlichen Teil des europäischen Russlands, etwa 1100 Kilometer von St. Petersburg entfernt, tiefste Provinz.
[61]
… da Sie Ihr Haupt hinlegen: vgl. Matthäus 8,20: »Jesus sagt zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.«
[62]
Chwalynischen Meeres: alte Bezeichnung für das Kaspische Meer, abgeleitet von den Chwalisen, die im 9. und 10. Jahrhundert an dessen Westseite am Einfluss der Wolga lebten.
[63]
Kleinrussland: historische Bezeichnung für den nördlichen Teil der heutigen Ukraine.
[64]
Chemisetten: eine gestärkte, einknöpfbare Hemdbrust, abgeleitet vom französischen chemise, Hemd.
[65]
Plumeau: mit Federn (französisch: plumes) gefüllte Bettdecke.
[66]
Atlas: speziell gewebter Seidenstoff mit stark glänzender Oberfläche.
[67]
Madame Française: französische Madame, französische Dame.
[68]
Emigrantin Falbala: falbala, französisch für Rüschen, Firlefanz. Der Ausdruck »die Emigrantin Falbala« stammt aus Alexander Puschkins heiterem Poem Graf Nulin (1836) und ist sprichwörtlich für oberflächliche französische Erzieherinnen geworden.
[69]
Voyage: französisch, Reise.
[70]
in Ihre Hände befehle ich mein Geschick: Paraphrase von Psalm 31,6.
[71]
Surcoûp: beim Kartenspiel ein Überstechen des Trumpfes.
[72]
… dass ich in Nachfolge alberner Abenteuerromane … beim Anblick Ihrer so kühlen Klause …: Dieses Motiv erscheint in Friedrich Schillers Ballade Ritter Toggenburg (1797), bekannt in der russischen Übersetzung von Wassilij Schukowski (1818); der Ritter Toggenburg muss nach der Rückkehr vom Kreuzzug erfahren, dass die von ihm Geliebte den Schleier genommen hat, so baut er sich eine Hütte mit Blick auf ihr Kloster … doch als sie sich nach Jahren an einem Fenster zeigt, ist er »eine Leiche«. Das Motiv der Hütte erscheint auch in Schillers Gedicht Der Jüngling am Bache (1803), das ebenfalls Wassilij Schukowski ins Russische übersetzte (1838): »Raum ist in der kleinsten Hütte/Für ein glücklich liebend Paar.« – was wiederum eine Reminiszenz an Christoph Martin Wielands (1733–1813) Verserzählung Musarion (1768) sein dürfte, in der es heißt: »›… Allein mein Haus ist klein.‹ – ›Und wenn es kleiner wäre, für eine Freundin hat die kleinste Hütte Raum.‹«
[73]
Jean-Jacques Rousseau: Der Aufklärer (1712–1778) sah im Fortschritt eine Gefahr für die Sitten, 1749 schrieb er: »In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt geworden.« Die neuen Umgangsformen entstünden aus dem anerzogenen und daher unnatürlichen Zwang, seine wahren Gefühle zu verbergen. »Keine aufrichtigen Freundschaften mehr, kein wirkliches Ansehen, kein gegründetes Vertrauen. Verdächte, Argwohn, Furcht, Kälte, Reserve, Hass, Verrat verbergen sich ständig unter dem gleich aussehenden und scheinheiligen Schleier der Höflichkeit – hinter jener so gepriesenen Urbanität, die wir der Aufklärung unseres Jahrhunderts verdanken.« Frauen wies er Tugenden wie Sanftmut, Bescheidenheit und Mütterlichkeit zu, die sie, vorzugsweise auf dem Lande, bewahren sollten.
[74]
Als er jedoch wieder zu sich kam …: Die Romanfassung von 1866 endet folgendermaßen: Als er jedoch wieder zu sich kam, stellte er fest, die Pferde trugen ihn auf einem Weg, der ihm unbekannt war. Links und rechts nur schwarze Wälder; ansonsten war alles wüst und leer. Aber plötzlich gefror er vor Schreck: Zwei glühende Augen starrten ihn an, und diese zwei Augen glänzten im Dunkeln mit unheilverkündender Freude. Nein, das ist nicht Christian Iwanowitsch! Wer aber ist es? Oder doch er? Er ist es! Das ist Christian Iwanowitsch, aber nicht der alte, vielmehr der neue, der andere Christian Iwanowitsch … – Christian Iwanowitsch, ich … ich, nein, rein gar nichts. Christian Iwanowitsch –, stammelte unser Held schüchtern und bebend, bemüht, soweit es nur möglich war, den erschröcklichen Christian Iwanowitsch mit Ergebenheit und Demut zu besänftigen. – Sie werden bekommen frei Kost und Logis, mit Brennholz, mit Licht und Domestik, was Sie gar nicht haben verdient –, erklang streng und erschröcklich, wie ein Richtspruch, die Antwort von Christian Iwanowitsch. Unser Held schrie auf und packte seinen Kopf. Ach! Er hatte das schon lange im Voraus geahnt!
[75]
Textgrundlage für die Pläne und Entwürfe: Fedor Dostoevskij: Polnoe sobranie sočinenij, Izdatel'stvo Nauka, Bd. 1, (Hrsg. G. M. Fridlender), S. 432ff., Leningrad 1972.
[76]
Ich bin bei den Beketows: Dostojewski war eng mit den Brüdern Andrej (1825–1902, Botaniker, Rektor der Universität St. Petersburg), Alexej (?–?; hatte mit ihm an der Ingenieurschule studiert) und Nikolaj (1827–1911, Professor für Chemie an der Universität Charkow) Betekow befreundet, die sich für den französischen Frühsozialisten Charles Fourier begeisterten. Nachdem die Kritiker seinen Doppelgänger verrissen hatten, besuchte er regelmäßig ihren literarischen Zirkel und lebte 1846/1847 mit ihnen in einer Wohngemeinschaft.
[77]
Gehe zu Turg<enjew>: Iwan Turgenjew (1818–1883) gilt als einer der ersten russischen Romanciers, die die Nöte und Ängste der russischen, auch der bäuerlich-leibeigenen, Gesellschaft thematisierten; seinen literarischen Ruhm begründeten die 1852 erschienenen Erzählungen Aufzeichnungen eines Jägers. 1867 kam es zum Zerwürfnis zwischen Dostojewski und Turgenjew, der slawophile Dostojewski glaubte, Russland müsste gesellschaftlich und politisch einen eigenen Weg gehen; Turgenjew, der seit 1855 im Ausland, hauptsächlich in Paris und Baden-Baden, lebte, war der Überzeugung, Russland müsste sich nach westlichen Ideen reformieren; ihre Feindschaft zelebrierten sie fortan öffentlich.
[78]
Es kommt schon fast zu den Manilow’schen Generälen: Manilow ist eine Figur aus Nikolaj Gogols Roman Die toten Seelen (1842), ein rührseliger, schwärmerischer Gutsbesitzer, der sich am Ende des zweiten Kapitels, nachdem sein Freund Tschitschikow, der Held des Romans, ihn besucht hat, ausmalt, wie er und Tschitschikow die Moskauer Gesellschaft mit ihrer inniglichen Freundschaft so bezaubern, dass der Zar sie zu Generälen macht.
[79]
Pargolowo: Ort im Norden St. Petersburg mit Sommerpalais des Adels.
[80]
Élie de Beaumont: in ganz Europa hochangesehener Geologe (1798–1874), der sich vor allem mit der Entwicklungsgeschichte der Gebirgsbildungen befasste, seit 1853 ständiger Sekretär der Académie des Science (Akademie der Wissenschaften) in Paris, seit 1857 korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg.
[81]
Die verborgensten Geheimnisse der Beamtenseele à la Tolstoi: wahrscheinlich eine Anspielung auf Kosma Prutkow, siehe Anmerkung 12 unten.
[82]
Petits-jeux: französisch, wörtlich: kleine Spiele; gemeint ist ein damals sehr beliebtes Gesellschaftsspiel, bei dem sich die Teilnehmer Geheimnisse und verborgene Gedanken anvertrauten, ähnlich wie bei »Wahrheit oder Pflicht«.
[83]
Perikles: griechischer Staatsmann (um 490 v. Chr.–429 v. Chr.), dessen demokratische Reformen in Athen u.a. auch den einfachen Bürgern politisches Mitspracherecht gaben.
[84]
Louis XVI.: Der französische König Ludwig XVI. (1754–1793), ein schwacher, unentschlossener Herrscher, der sich gegen gesellschaftliche Reformen wehrte, wurde im Zuge der Terrorherrschaft während der Französischen Revolution guillotiniert.
[85]
Petits je<ux> innocents: französisch, wörtlich: unschuldige kleine Spiele; vgl. Anmerkung 8 zu Petits-jeux.
[86]
Kosma Prutkow: Im 19. Jahrhundert für seine Aphorismen, Lyrik, Prosa und Dramen berühmt, zudem Beamter, in dessen Nachlass sich ein »Projekt über die Einführung eines einheitlichen Denkens in Russland« fand; sein Nonsens-Dramolett Fantasija entfachte bei seiner Uraufführung im Kaiserlichen Theater in Sankt Petersburg im Januar 1851 in Anwesenheit von Zar Nikolaus I. einen Skandal; allerdings war Prutkow ein imaginärer Schriftsteller, die ihm zugeschriebenen Werke wurden von dem bekannten Schriftsteller und Dramatiker Alexei Tolstoi (1817–1875, ein Vetter des berühmten Leo Tolstoi) sowie dessen Cousins Alexej (1821–1908) und Wladimir (1830–1884) Schemtschuschnikow verfasst.
[87]
… er sei ein Garibaldi: Guiseppe Garibaldi (1807–1882), Kämpfer, der sich in Italien und Südamerika für die Freiheit einsetzte und sich daher den Namen »Held zweier Welten« (Eroe dei due Mondi) erwarb, sowie der charismatischste Vertreter der italienischen Einigungsbewegung (Risorgimento), die gegen den päpstlichen Kirchenstaat, das bourbonische Königreich Neapel und das österreichische Kaiserreich kämpfte; von den einen wurde er romantisch verklärt, von den anderen als »Räuber« oder »roter Teufel« (wegen der roten Hemden, die er und seine Freischärler trugen) verdammt; so ist auch weiter unten im Text der Entwürfe vom »Räuber Garibaldi« die Rede – in diesem Hinweis klingt allerdings auch die im 19. Jahrhundert ungemein populäre Räuberliteratur mit hauptsächlich wildromantischen italienischen Protagonisten an, die Christian August Vulpius (1762–1827, Goethes Schwager) 1799 mit seinem Roman Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann einleitete.
[88]
Progressist: Anhänger des Fortschrittsglaubens bzw. einer fortschrittlichen Partei.
[89]
Sauerstoff und Wasserstoff: Die beiden Gase waren erst im 18. Jahrhundert entdeckt worden (der Sauerstoff in den 1770er Jahren u.a. von dem deutsch-schwedischen Apotheker und Chemiker Carl Wilhelm Scheele, der Wasserstoff 1766 vom englischen Forscher Henry Cavendish); die Namen – »oxygene« (»Säurebildner«) und »hydrogène« (»Wassererzeuger«) – erhielten sie vom französischen Chemiker Antoine Laurent Lavoisier, der die Bedeutung der Gase für die Atmung und Wasserbildung und damit für das Leben entschlüsselte.
[90]
… bei Lomowski: Alexander Lomowski (?–1893) war seit Kindertagen mit Dostojewski befreundet.
[91]
Petraschewski: Michail Petraschweski (1821–1866), ein Anhänger Charles Fouriers (siehe unten, Anmerkung 19), dessen Wohnung ab 1844 zu einem Treffpunkt von Intellektuellen, die dem utopischen Sozialismus anhingen, wurde, daraus bildete sich der Zirkel der sogenannten Petraschewsken, dem auch Dostojewski angehörte. 1848 versuchte Petraschewski, eine Untergrundbewegung zum revolutionären Kampf gegen das repressive Regime des Zaren Nikolaus I. (1796–1855) zu gründen, im Jahr darauf wurde er mit einigen Mitstreitern, darunter Dostojewski, verhaftet, zum Tode verurteilt und in letzter Minute zu Zwangsarbeit und lebenslanger Verbannung verurteilt.
[92]
Timkowski: Konstantin Timkowski (1814–1881) lebte in Reval, kam ab und an nach St. Petersburg, wo er lose zum Petraschewski-Zirkel gehörte; 1848 erlebte Dostojewski einen Fourier-Vortrag von Timkowski, den er für einen außerordentlichen Menschen hielt, der in der Lage sei, eine Idee herauszukristallisieren, zu erklären und über alles andere zu stellen.
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Das System Fouriers: Der französische Gesellschaftstheoretiker, Frühsozialist und utopische Visionär Charles Fourier (1772–1837) erläuterte in seinem 1808 erschienen Werk Théorie des quatre Mouvements (Theorie der vier Bewegungen), alle Bereiche des Kosmos – Natur und Geschichte, Gesellschaft und Individuum – seien dem aus Isaac Newtons Gravitationstheorie abgeleiteten Gesetz der wechselseitigen Anziehungs- oder Assoziationskraft unterworfen und eben nicht der Vernunft. Daraus leitete er seine »Theorie einer genossenschaftlichen Ordnung« samt freier Liebe (Théorie de l’ Unité universelle, 1822); »Die neue industrielle und sozietäre Welt« (Le nouveau monde industriel et sociétaire 1829/30) sowie »Die falsche, zerstückelte, abstoßende, lügnerische Industrie und das Gegenmittel: die natürliche, wahrhafte und anziehende Industrie« (La fausse industrie 1833/36) ab.
Das Erwachen des Titularrats Goljadkin. Sein Ankleiden, sein Aufbruch zu dem Ort, wohin zu begeben er sich beflissen. Herrn Goljadkins Rechtfertigung vor der eigenen Person und die daraus gewonnene Maxime, sich in all seinem Wandel immerzu von Beherztheit und Freimut leiten zu lassen, welche nicht ohne gewisse Noblesse. Sowie der Ort, an den Herr Goljadkin letztendlich zu gelangen geruht.
Noch hatte die Uhr nicht acht geschlagen, als der Titularrat Jakow Petrowitsch Goljadkin aus einem langen Schlaf erwachte, gähnte, sich rekelte und letztendlich seine Augen ganz und gar aufschlug. An die zwei Minuten lag er freilich regungslos in seinem Bett, wie ein Mensch, der noch nicht mit Gewissheit sagen kann, ob er nun ganz und gar erwacht sei oder aber weiterhin schlafe, ob das, was sich um ihn herum ereignet, tatsächlich und wahrhaftig geschieht und nicht etwa bloß eine Fortspinnung seiner wirren und nebligen Träume ist. Doch schon bald begannen Herrn Goljadkins Sinne, immer klarer und schärfer ihre gewohnten alltäglichen Eindrücke zu beherzigen. Vertraut blickten ihn die rußigen dreckig grünen staubigen Wände seines kleinen Zimmers an, mit der Kommode aus roter Kirsche, den Stühlen aus rotem Kirschimitat, dem Tisch, bestrichen mit rotem Lack, dem türkischen lederartigen Diwan von rötlicher Farbe mit grünen Blümchen und letztendlich den gestern auf die Schnelle ausgezogenen Kleidungsstücken, als Klumpen mitten auf den Diwan geworfen. Letztendlich lugte der graue herbstliche Tag, verdreckt und schummrig, derart grimmig und mit einer derart sauren Grimasse durchs trübe Fenster ins Zimmer herein, dass Herr Goljadkin keinerlei Anlass mehr für etwaige Zweifel besaß, er sei nicht in irgendeinem Zauberreich, vielmehr in St.Petersburg, der Hauptstadt nämlich, und daselbst in der Schestilawotschnaja Straße,[1] im dritten Stockwerk eines wuchtigen Massivbaus, in seiner höchsteigenen Wohnung. Diese wichtige Entdeckung gemacht habend, schloss Herr Goljadkin die Augen so krampfhaft, als würde er dem jüngst Geträumten nachtrauern und sich wünschen, es kurz zurückzuerhaschen. Doch schon kurz darauf hüpfte Herr Goljadkin mit einem einzigen Satz aus seinem Bett, alldieweil es ihm letztendlich und offenbar jene Idee zu erwischen gelang, um welche seine bisher zerstreuten und nicht in die rechte Ordnung gebrachten Gedanken gekreist waren. Er hüpfte aus dem Bett und trippelte sogleich zu jenem kleinen runden Spiegel, welcher sich da auf der Kommode befand. Obzwar die vom Spiegel reflektierte Gestalt, verschlafen, halbblind und überaus beglatzt, in der Tat derartig unscheinbar war, dass sie auf den ersten Blick keinerlei erhöhte Aufmerksamkeit zu erregen vermochte, blieb doch der Eigentümer derselben offensichtlich ganz und gar zufrieden mit all dem, was er im Spiegel geschaut. – Das wäre ja eine recht ausgefuchste Chose –, sagte Herr Goljadkin mit gedämpfter Stimme. – Das wäre ja eine recht ausgefuchste Chose, sollte ich heute irgendwo fallieren, wenn heute zum Beispiel irgendetwas nicht ganz so passabel laufen würde – ein unangemeldeter Pickel zum Beispiel oder ein anderes Ärgernis; im Übrigen läuft es bislang ja nicht übel; läuft ja bislang eher äußerst ersprießlich. – Sehr froh darüber, dass alles ersprießlich läuft, stellte Herr Goljadkin den Spiegel zurück, während er selbst, ohne Rücksicht darauf, dass er barfuß war und jenen Aufzug trug, in dem er für gewöhnlich zu ruhen pflegte, zum Fenster eilte und mit den Augen emsig den Hof zu durchspähen begann. Das, was er im Hof dann erspäht hatte, befriedigte ihn sichtlich ganz und gar; sein Gesicht erstrahlte selbstgefällig. Darauf – doch zunächst einmal sah er hinter die Trennwand nach seinem Kammerdiener Petruschka, um sich zu vergewissern, dass Petruschka abwesend war – näherte er sich auf Zehenspitzen dem Tisch, schloss eine der Schubladen auf, durchwühlte den allerfernsten Winkel der Schublade, holte letztendlich unter den alten vergilbten Briefen und irgendwelchem Krimskrams eine grüne abgeschabte Brieftasche hervor, öffnete diese vorsichtig und blickte behutsam und voller Wonne in deren tiefstes verborgenes Fach. Offenbar blickte das Päckchen aus grünen, grauen, blauen, roten und auch sonstigen bunten Scheinen[2] Herrn Goljadkin ebenfalls freundlich und wohlwollend an: Mit strahlender Miene legte er die offene Brieftasche vor sich auf den Tisch und rieb sich die Hände zum Ausdruck des allergrößten Vergnügens. Letztendlich holte er es hervor, sein tröstliches Päckchen staatlicher Banknoten, und obzwar er sie seit dem gestrigen Tag bereits an die hundertmal gezählt hatte, begann er –, sie abermals durchzuzählen, wobei er jedes einzelne Blatt mit Sorgfalt zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. – Sieben-hundert-und-fünfzig Rubel in Banknoten! –, schloss er halb flüsternd. – Sieben-hundert-und-fünfzig Rubel … ein stolzes Sümmchen! Das ist ein recht possierliches Sümmchen! Gern hätte ich jetzt einen Menschen gesehen, dem dies Sümmchen ein nichtiges Sümmchen schiene! Solch ein Sümmchen kann einen Menschen wohl weit führen … Wäre ja kurios zu erfahren, wohin solch ein Sümmchen, nur zum Exempel, einmal mich selbst führen könnte –, schloss Herr Goljadkin, – wenn ich, zum Exempel, einfach mal so, aus diversen Beweggründen, mich womöglich beurlauben ließe und auf die Weise gänzlich ohne etwaige Einkünfte bliebe? – Diese denkwürdige Frage stellte sich Herr Goljadkin und versank in tiefernstes Grübeln. An dem Puncto halten wir es für angebracht, eine kleine Absonderlichkeit Herrn Goljadkins ganz en passant[3] festzustellen. Es ist nämlich so, dass er es überaus liebte, in Bezug auf sich selbst von Zeit zu Zeit gewisse romanhafte Designationen zu treffen; er liebte es, sich selbst zum Heroen eines höchst ergötzlichen Romans zu deklarieren, sich in Gedanken in allerhand Kabale und Heimtücke zu verstricken und sich letztendlich aus jeder Bredouille mit Ehr und Ruhm herauszuführen, dabei alle Barrieren zu überwinden, alle Kabale aus dem Weg zu räumen und seinen Widersachern gütiglichst zu vergeben. Aus seinen Betrachtungen zurückgekehrt, tat Herr Goljadkin mit einer ernsten und bedeutungsschwangeren Miene sein Geld in die Brieftasche, die Brieftasche in die Schublade, an die alte Stelle, und sah auf die Uhr. Die Uhr schickte sich an zu schlagen. Es war Punkt acht Uhr.
– Aber, aber, was ist denn das? –, dachte Herr Goljadkin. – Wo bleibt Petruschka? – Noch immer denselben Aufzug tragend, blickte er erneut hinter die Trennwand. Und wieder war hinter der Trennwand von Petruschka nicht die leiseste Spur, hitzig und ganz und gar außer sich war einzig der Samowar dort am Boden, der unentwegt fortzulaufen drohte und glühend vor Zorn nur pausenlos brabbelte, in lispelndem stammelndem Kauderwelsch an Herrn Goljadkin gewandt, so als wollte er sagen: Ihr lieben Leute, bitte, nehmt mich, ich bin doch schon längst am Siedepunkt.
– Den Teufel aber auch! –, dachte Herr Goljadkin. – Diese faule Bestie kann einen Menschen wirklich außer sich bringen, wo steckt er denn bloß? – In seinem mehr als gerechten Zorn betrat er den kleinen Korridor, an dessen Ende sich ein Türchen hin zur Diele befand, schob dieses Türchen einen Spalt breit auf und erblickte seinen Bediensteten, umringt von allerhand Domestiken und lauter dahergelaufenem Volk. Petruschka gab da etwas zum Besten, die anderen hingen wie gebannt an seinen Lippen. Weder das Gesprächsthema noch das Gespräch selbst waren nach Herrn Goljadkins Geschmack. Er rief Petruschka auf der Stelle zu sich und ging in sein Zimmer, missgelaunt, ja verstimmt. – Diese Bestie hat keinerlei Skrupel, einen Menschen mit Haut und Haar zu verkaufen, und am ehesten noch seinen gnädigen Herrn –, dachte er im Stillen, – und hat es auch schon, und hat es auch schon, so wahr ich hier stehe, ja, hat mich mit Haut und Haar verkauft. Nun, was gibt es?
– Die Livree ist gebracht worden, Herr.
– Dann zieh sie an und sieh zu, dass du herkommst.
Nachdem er die Livree angezogen hatte, betrat Petruschka mit blödsinnigem Lächeln das Zimmer seines gnädigen Herrn. Kostümiert war er geradezu hanebüchen. Er trug eine grüne, stark abgenutzte Lakaienlivree mit goldenen, aber bereits absplitternden Tressen, vermutlich für einen Menschen genäht, der Petruschka um einiges überragte. In der Hand einen Hut, ebenfalls mit Tressen und grünen Federn, und an der Seite einen Lakaiendegen mit lederner Scheide. Letztendlich, um das Bild abzurunden und seiner Lieblingsgewohnheit zu frönen, stets häuslich leger im Negligé zu wandeln, war Petruschka auch jetzt barfüßig. Herr Goljadkin musterte Petruschka rundum und war, wie es schien, überaus zufrieden. Ganz offensichtlich war die Livree ausgeborgt, und zwar zu einem festlichen Anlass. Des Weiteren fiel befremdlich auf, dass Petruschka während der gesamten Musterung den Gnädigen mit einem auf seltsame Weise erwartungsvollen Blick beäugte und mit höchst ungewöhnlicher Neugier dessen noch so geringsten Bewegungen folgte, was bei Herrn Goljadkin für äußerste Konfusion sorgte.
– Und was ist mit dem Wagen?
– Der Wagen steht bereit.
– Für den ganzen Tag?
– Jawohl. Fünfundzwanzig Scheine.
– Und die Stiefel sind gebracht?
– Die Stiefel sind gebracht.
– Sind gebracht, gnädiger Herr! Verstanden, du Schafskopf? Los, gib sie her.
Seine Freude zum Ausdruck gebracht habend darüber, dass die Stiefel gut passten, geruhte Herr Goljadkin, nun Tee zu trinken, sich frischzumachen und zu rasieren. Er rasierte sich mit äußerster Sorgfalt, machte sich mit demselben Eifer frisch, schlürfte auf die Schnelle etwas Tee und schritt dann über zum Allerwichtigsten – zu seiner Ankleidezeremonie: Als Erstes schlüpfte er in eine Hose, die beinahe absolut neuwertig war; legte sich dann ein Chemisett mit kleinen Bronzeknöpfen an, als Nächstes eine Weste mit schrillen hübschen Blümchen; um den Hals knüpfte er sich ein buntes Seidentuch, zuletzt zog er seinen Uniformrock an, ebenfalls nagelneu und gründlich gereinigt. Beim Ankleiden schielte er wiederholt voller Liebe auf seine Stiefel, hob allaugenblicklich mal den einen, mal den anderen Fuß, weidete sich an der Façon und murmelte unentwegt etwas vor sich hin und würdigte seine Grübeleien hin und wieder mit zwinkernden expressiven Grimassen. Im Übrigen aber war Herr Goljadkin an diesem Morgen mehr als zerstreut, sonst hätte er nämlich die grinsenden Grimassen Petruschkas bemerkt, der ihm beim Ankleiden geholfen hatte, Grimassen, die ganz allein ihm gegolten. Als alles so war, wie es sich gehört, und die Toilette erfolgreich komplettiert, steckte Herr Goljadkin die Brieftasche in seine Uniform, bewunderte zum letzten Mal Petruschka, der bereits seine Stiefel angezogen hatte und somit ebenfalls fertig zum Ausgehen war, stellte fest, dass nichts mehr zu tun wäre und es sich nicht lohnte, noch länger zu warten, und trippelte hurtig, in aller Eile und mit verhaltenem Herzklopfen seine Haustreppe hinunter. Ein azurner Wagen mit irgendwelchen Wappen rollte polternd vor die Eingangstüre. Petruschka zwinkerte dem Kutscher und einigen Stutzern auf der Straße zu, half dem Gnädigen, Platz zu nehmen, und mit einer gestelzten Stimme und sein blödsinniges Lachen kaum noch zurückhaltend, rief er »Und los!«, sprang hinten auf den Tritt, und das Ganze rollte nun mit Gedröhn und Gepolter, mit Schall und Geratter Richtung Newski Prospekt. Sobald der azurne Wagen durchs Tor gefahren war, rieb sich Herr Goljadkin krampfhaft die Hände und zuckte vor leisem kaum hörbarem Lachen, wie eine lustige Person, der es gelungen ist, einen Streich zu spielen, und die darob quietschvergnügt ist. Aber schon bald nach dem Lachanfall wich das Lachen irgendeinem seltsam kummervollen Ausdruck in Herrn Goljadkins Gesicht. Ungeachtet der feuchten und grauen Jahreszeit, öffnete er beide Wagenfenster und begann, emsig die Passanten rechts und links zu studieren, nahm jedoch eine solide und würdevolle Haltung an, sobald er bemerkte, dass jemand ihn ansah. An der Ecke der Litejnaja und des Newski Prospekts zuckte er zusammen, da ihn ein höchst verdrießliches Gefühl beschlich, und mit verzerrtem Gesicht, wie ein Unglücklicher, dem jemand auf ein Hühnerauge getreten, rutschte er eilig, gar verängstigt in den Andrej Filippowitsch ihn nun ganz und gar erkannt hatte, ihn mit großen Augen fixierte und es vor ihm kein Entrinnen gab, und lief rot an bis an die Ohrenspitzen. – Sich verneigen oder nicht? Ihn grüßen oder nicht? Sich zu erkennen geben oder nicht? –, dachte unser Held in unbeschreiblicher Wehmut. – Oder so tun, als sei ich ein anderer, welcher mir zum Verwechseln ähnlich sieht, sich so verhalten, als ob nichts wäre? Eben nicht ich, nicht ich, und Punctum! –, sagte Herr Goljadkin und zog seinen Hut vor Andrej Filippowitsch, den er unverwandt anstarrte. – Es ist rein gar nichts –, flüsterte er mit aller Kraft, – es ist rein gar nichts, ich bin’s jedenfalls nicht, Andrej Filippowitsch, das bin wirklich nicht ich, nicht ich, und Punctum. – Doch schon bald überholte die Karosse den Wagen, und der Magnetismus der höhergestellten Augen ließ bei Herrn Goljadkin letztendlich nach. Doch er war immer noch rot, grinste und murmelte etwas vor sich hin … – Ich Narr hätte auch etwas erwidern können –, dachte er letztendlich: – Ich hätte auch einfach mit Beherztheit und Freimut, welche nicht ohne gewisse Noblesse, antworten können: Tja, Andrej Filippowitsch, so schaut es aus, bin nämlich auch zum Diner geladen, und Punctum! – Da fiel unserem Helden plötzlich was ein und sogleich fing er Feuer, runzelte die Brauen und warf einen fürchterlichen kämpferischen Blick in den vorderen Winkel des Wagens, einen Blick, der einzig dazu bestimmt, auf einen Schlag all die Feinde niederzubrennen. Doch letztendlich, wie in plötzlicher Eingebung, zog er die Schnur, die am Ellenbogen des Kutschers befestigt war, ließ den Wagen halten und befahl, zurück zur Litejnaja zu fahren. Herr Goljadkin verspürte nämlich auf einmal, vermutlich zum Zwecke des inneren Friedens, die dringende Notwendigkeit, seinem Hausarzt, Christian Iwanowitsch, unverzüglich etwas höchst Denkwürdiges mitzuteilen. Und obzwar er Christian Iwanowitsch noch nicht sonderlich lange kannte, ihn vielmehr erst einmal in der vorigen Woche aufgrund gewisser Umstände aufgesucht hatte, wäre dennoch ein Arzt, wie es immerzu heißt, beinahe so etwas wie ein Beichtvater – sich zu verstecken, wäre dumm, und es zählt ja ohnehin zu seinen Aufgaben, den Patienten gründlich zu kennen. – Aber wird das auch alles statthaft sein? –, dachte unser Held und stieg aus dem Wagen vor dem Eingang eines vierstöckigen Hauses auf der Litejnaja, wo er seine Equipage hatte anhalten lassen. – Wird das auch alles statthaft sein? Ehrenhaft sein? Passend sein? Aber was soll’s –, setzte er fort, während er die Stufen hinaufstieg, nach Luft schnappte und das Pochen des Herzens zu unterdrücken versuchte, welches die Angewohnheit hatte, auf allen fremden Treppen zu pochen; – was soll’s? Es ist allein meine Angelegenheit und daran ist wahrlich nichts Ungebührliches … nein, wahrlich nicht, meiner Ansicht nach. Sich zu verstecken, wäre dumm. Nun, ich will es auf folgende Weise tun, will sagen, nein, es ist rein gar nichts, ich war bloß in der Nähe … Schon sieht er ein, dass alles seine Richtigkeit habe.
Christian Iwanowitsch Rutenspitz
Doktor der Medizin und der Chirurgie
zutreffend, morgen wäre es sicherlich sehr viel sinnvoller, jetzt bestünde doch gar keine echte Notwendigkeit, eigentlich gar keine echte Notwendigkeit. Doch da vernahm Herr Goljadkin plötzlich fremde Schritte im Treppenhaus und änderte schlagartig seinen jüngsten Entschluss und betätigte, einfach so, freilich mit recht entschlossner Miene, die Klingelschnur an der Wohnungstür seines Hausarztes Christian Iwanowitsch.