Für A.
wo immer du bist
Finnische Tage
Finnische Nächte
Am schwersten fällt
das lange Warten
A. Aalto
Finnische Tage
Every man alone is sincere.
At the entrance of a second person,
hypocrisy begins.
Ralph Waldo Emerson
Nach Finnland war ich in erster Linie gefahren, weil ich etwas mit den Händen machen wollte. Etwas mit den Händen machen bedeutete 1973 etwas anderes als heute, anno 2020. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich die Schule beendet. Und so habe ich es auch immer empfunden: Endlich war vorbei, was schon viel zu lange gedauert hatte. Man hört oft von Leuten, die von Prüfungen träumen, die sie längst absolviert haben. Schweißgebadet wachen sie mitten in der Nacht auf. Zum Glück befinden sie sich in ihrem Zimmer, in ihrem eigenen Bett, das Abitur brauchen sie nicht mehr zu machen, das haben sie schon ein halbes Menschenleben hinter sich. Wer wissen will, was dieser Traum bedeutet, lässt sich einen Termin beim Psychologen geben oder schreibt einen Brief an die Rubrik »Leserfragen« der Libelle.
Mein Abiturtraum ist völlig anders. Ich muss zur Schule. In das Aufgabenheft trage ich den Stundenplan ein. Die Klingel läutet. In der nächsten Stunde haben wir Deutsch bei Frau Van Aakerinden-Hagenau. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Dann radle ich nach Hause. Allmählich dämmert es mir. In dem Haus, zu dem ich radle, wohne ich schon lange nicht mehr. Ich bin Schriftsteller. Ich brauche überhaupt nicht zur Schule zu gehen. Mehr noch: Wenn ich das ganze Jahr zur Schule gehe, bleibt viel zu wenig Zeit zum Schreiben. Ich mache es einfach nicht, sage ich zu mir selbst, während ich zu dem Haus radle, in dem ich gar nicht mehr wohne. Morgen gehe ich einfach nicht mehr hin. Sie können mich alle mal.
Im Traum durchströmt mich jetzt ein tiefes, warmes Glücksgefühl. Ich weiß, dass ich lächle, sowohl im Traum als auch in der Wirklichkeit, schlafend in meinem Bett, in meiner eigenen Wohnung. Nie wache ich schweißgebadet auf. Ich empfinde auch kein Gefühl der Erleichterung. Das Gefühl hatte ich schon im Traum. Jedes Mal, wenn ich aufwache, weiß ich, dass ich die einzig richtige Entscheidung getroffen habe.
Vor ein paar Jahren schrieb ich einen Leserbrief an die Libelle. Ich wollte wissen, was der Traum bedeutet. Schon nach drei Tagen kam die Antwort, die in gekürzter Form zwei Wochen später in der Rubrik (»Leser fragen«) erschien. Es tue mir leid, so deutete die Zeitschrift meinen Traum. Es tue mir leid, die Entscheidung nicht früher getroffen zu haben. Noch während der Gymnasialzeit. Das Leben hätte viel früher anfangen können. Dadurch, dass ich mich so lange auf der Schulbank herumgedrückt (und das Abitur gemacht) hätte, sei die Zeit, in der ich das echte Leben hätte leben können, um drei Jahre verkürzt worden.
Auf Fotos aus der Zeit sehe ich jemanden, der nur sehr entfernt etwas mit mir zu tun hat. Einen schlaksigen, etwas zu mageren Jungen in einer fahlgrauen Jacke, die man mit ein bisschen Fantasie als »Bauernkittel« bezeichnen könnte. Die Hosenbeine der genauso undefinierbaren Jeans stecken in fast kniehohen schwarzen Schaftstiefeln. Mit einem Arm lehnt er sich lässig auf einen gelben Karren, etwas weiter hinten sieht man gerade noch die verdreckten Reifen eines roten Traktors.
Der Junge auf dem Foto will den starken Mann markieren, aber das gelingt ihm nicht, dafür ist er wirklich zu mager und zu ungelenk. Was macht er da überhaupt?, fragt man sich. Oder: Taugt er eigentlich für solche Arbeit?
Auch in den späteren Jahren noch verfolgten mich diese Fragen. Irgendwann fingen die Leute (Verwandte, Freunde) an, sich das Lachen zu verkneifen, wenn meine Finnlandreise zur Sprache kam. Meist versuchte ich schon nach ein paar Anläufen (»Es war im Winter 1973, das Thermometer zeigte um zehn Uhr abends siebenundzwanzig Grad minus.« »Ich bin dorthingefahren, weil ich mit den Händen arbeiten wollte.« »Mit einer Motorsäge hätte ich mir fast ein Bein abgesägt.«), schnell das Thema zu wechseln. Aber das war dann oft schon zu spät. »Wollt ihr das wirklich hören?«, unternahm ich noch einen letzten Versuch. Aber ja, erzähl weiter, nickten die Zuhörer mir zu. Jedes Mal fing ich wieder mit der Schiffsreise durch die Eisschollen der Ostsee an, bis zur Ankunft im zugefrorenen Hafen von Helsinki, sehr wohl wissend, dass sich früher oder später das Grinsen auf den Gesichtern ausbreiten würde.
Oft fühlte ich mich wie mein Onkel, der gern erzählte, wie er während des Kriegs als Zwangsarbeiter an der Thailand-Burma-Eisenbahn gearbeitet, und vor allem, wie er vor seiner Flucht zwei Japanern eigenhändig die Kehle durchgeschnitten hatte. Zwischen meinem fünften und meinem fünfzehnten Lebensjahr habe ich mir diese Geschichte mindestens dreißigmal angehört, und jedes Mal habe ich mir große Mühe gegeben, das aufgedunsene Gesicht meines Onkels mit den die Fantasie durchaus beflügelnden bluttriefenden Kehlen der japanischen Soldaten in Übereinstimmung zu bringen. Ich spürte das ungläubige Grinsen auf meinem Gesicht und hielt mir die Hand vor den Mund, damit der unglaubwürdige Onkel es nicht merkte.
Wollt ihr das wirklich hören? Ich fragte das nicht nur aus Höflichkeit, sondern weil ich wusste, dass mein Aufenthalt in Finnland einfach unglaubwürdig wirkte. Denn auf den Fotos lehnte ich mich zwar lässig an den vom Traktor gezogenen Wagen, aber was nicht zu sehen war, war, wie ich auf demselben Traktor durch die verschneiten finnischen Wälder bretterte. Ja, wahrhaftig bretterte. Immer fuhr ich viel zu schnell, vor allem in den Kurven. Ich war neunzehn. Nicht lange davor waren Dinge passiert, die mein Leben völlig umgekrempelt hatten, um nicht zu sagen, dass sie mir den Boden unter den Füßen weggerissen hatten.
Ich hoffte auf etwas, so ganz allein dort auf dem Traktor in den Wäldern. Auf einen Unfall zumindest. Einen Unfall, bei dem ich mich schwer verletzen – notfalls auch das Leben lassen würde. Es war ein Gefühl der Befreiung, ein Gefühl, wie ich es später nie mehr erlebt habe. Es gab keine Gefahr oder besser gesagt: Es gab sie, aber sie war mein Freund – vielleicht der beste Freund, den ich anno 1973 hatte.
Größere Schneeflocken als die, die auf dem Bahnhof von Lieksa vom nächtlichen Himmel fielen, habe ich weder vor noch nach jener Zeit jemals gesehen. In den Niederlanden trudeln sie herab wie Fusseln, sie schweben vorsichtig nach unten wie Fallschirmspringer, die einen sicheren Landeplatz suchen – einen Ast, einen Pflasterstein, das Dach eines Autos. Dort bleiben sie kurz liegen und schmelzen dann friedlich dahin, die Arbeit ist getan, die Reise vollbracht.
Auf dem Bahnhof von Lieksa fielen die Schneeflocken mit der Geschwindigkeit von Backsteinen. Es waren ihrer sehr viele, und es war ihnen egal, wo sie landeten, sie kannten ihre Aufgabe, sie waren gekommen, die Welt unter einer unerbittlichen weißen Schicht zu begraben.
»Es ist jetzt zu spät«, sagte der Mann, der unter der einzigen Laterne des Bahnhofs auf mich wartete, nachdem er sich als Bruder des Bauern, bei dem ich arbeiten würde, vorgestellt hatte. Er hieß Risto. Auf seiner Mütze und seinem Bart lag Schnee. »Wir fahren morgen zum Hof.«
Zögernd setzte sich der Zug in Bewegung, hinaus in die Schneenacht; auch ohne mich umzuschauen, wusste ich, ich war der einzige Fahrgast, der in dieser Nacht in Lieksa ausgestiegen war.
»Wir sind darüber informiert, was passiert ist«, sagte Risto später bei einer Tasse Kaffee in seiner kleinen Küche. »Aber es ist jetzt wirklich zu spät. Es ist besser, wir übernachten hier, dann bringe ich dich morgen früh zum Hof.«
In den ersten Tagen fiel mir alles hin: Milchkannen, Eimer, Harken, Heugabeln, Besen und die Melkbecher der Melkmaschine, die man über die Zitzen der Euter stülpt. Ich konnte mich selbst nicht sehen, es war noch nicht wie später auf den Fotos – ich war noch zuversichtlich. Ich glaubte an eine weniger unbeholfene Version meiner selbst, die zwischen heute und nächster Woche aus dem alten Körper heraustreten würde. Ich glaubte an nichts weniger als an eine Wiedergeburt: Ich würde mein mit zwei linken Händen ausgestattetes, motorisch gestörtes Ich wie die Haut einer Schlange abstreifen und auf einem Felsen zurücklassen. Eine kräftigere Ausführung meiner selbst würde sich aufrichten und die Heugabeln, Harken und Besen in die Hand nehmen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Mit einer natürlichen Leichtigkeit würde ich das Heu zwischen den Kühen verteilen, den neugeborenen Kälbern würde ich den Sauger des Milcheimers zwischen die sich wie feuchte Handschuhe anfühlenden Lippen pressen, ohne dass sie mir den Eimer mit ein paar störrischen Tritten aus den Händen schlügen; lässig würde ich mich mit einer Hand auf den hinteren Kotflügel des Traktors stützen, während ich ihn mit der anderen rückwärts in die Scheune lenkte. Wie gesagt, ich konnte mich selber nicht von außen sehen, alles kam von innen, doch mit der Glaubwürdigkeit war es noch nicht weit her.
Eine halbe Stunde, nachdem Risto mich am nächsten Morgen beim Bauernhof abgesetzt hatte, war er wieder aufgebrochen – um sich die nächsten anderthalb Monate nicht mehr blicken zu lassen.
Ich fragte mich, ob Matti und Ritva, meine ausschließlich Finnisch sprechenden Gastgeber, wirklich wussten, was passiert war, ob man sie zumindest mit ein paar Worten über meinen Hintergrund informiert hatte. Aber dann fiel mir ein, dass Risto in seiner Küche in der Wirform gesprochen hatte – wahrscheinlich hielten Matti und Ritva es für besser, all das gar nicht erst zur Sprache zu bringen. Und in welcher Sprache hätten sie es auch tun sollen?, dachte ich nachts in meinem fensterlosen Dachbodenzimmer über der Scheune, wo der Traktor, die Egge, der Pflug und die Sämaschine standen.
Wir fuhren in die Wälder, wo der Traktor bis über die Hinterräder im Schnee versank. Ich lernte meine ersten finnischen Wörter. Die Wörter für »umfallender Baum«, für »Rückstoß der Motorsäge«, für »Wunden, die nicht mehr genäht werden können«. Beim Sägewerk, wohin wir die Baumstämme an Ketten mit dem Traktor zogen, sah ich Männer mit drei Fingern, mit Armstümpfen, Männer in karierten Holzfällerhemden, die ganze Baumstämme mit Schwung auf die Plattform hievten, wo die Kreissäge nie stillstand. Die Plattform bewegte sich auf die Säge zu, die Kunst bestand darin, rechtzeitig wegzuspringen, damit nur das Holz und nicht irgendein Körperteil zersägt wurde. Die Männer, die mehr Zahnlücken als Zähne im Mund hatten, soffen selbst gebrannten Wodka oder Spiritus aus Milchflaschen, deren Verschluss sie mit den paar verbliebenen Zähnen öffneten.
Ich spürte ihre Blicke auf meinem mageren Körper; ich sah, wie sie einander anstießen und den Kopf schüttelten; wie ein breites, ungläubiges Grinsen ihr Gesicht überzog. Wenn sie sich lautstark auf Finnisch unterhielten, war ich mir sicher, dass ich das Gesprächsthema war: Wie sie ihren Spaß mit dieser Bohnenstange treiben könnten, etwas mit der Kreissäge, etwas, was er sein Lebtag nicht mehr vergessen würde.
Ich habe auch Freunde (meine besten Freunde, würde ich gern sagen, aber das wäre vielleicht etwas voreilig), die, statt zu grinsen, das Besondere an meiner einsamen Reise nach Finnland hervorheben.
»Immerhin hast du es geschafft, schon mit neunzehn abzuhauen. Das können wir alle nicht behaupten.«
Warum habt ihr das eigentlich nicht gemacht?, denke ich, spreche es aber nicht aus.
»Aber du musst dich doch auch ziemlich einsam gefühlt haben«, sagen sie. »Das war ganz schön mutig von dir.«
Der Bauernhof lag auf einer abgelegenen Halbinsel in einem der hundertachtundachtzigtausend Seen, an denen Finnland so reich ist. Das Telefonieren ins Ausland war nicht einfach, erst musste man einer Telefonistin die gewünschte Nummer mitteilen, nach einer halben Stunde hörte man, wenn man Glück hatte, in der Ferne eine Stimme, die undeutliche Stimme eines Angehörigen oder Freundes. Und in den sechs Monaten, die mein Aufenthalt in Finnland dauern sollte, zweimal die Stimme meiner in Amsterdam zurückgebliebenen Freundin.
»Wie lange bleibst du noch?«, hörte ich. Es klang, als wäre sie in einem Badezimmer, jedenfalls in einem gekachelten Raum.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Neunzehnhundert Kilometer weiter südlich meinte ich einen Seufzer auszumachen, aber es konnte auch der Wind sein, der gerade Schneeflocken an die Fensterscheiben des Bauernhofs blies.
»Ich dachte, nach einem Monat hast du genug davon«, sagte sie. »Langweilst du dich nicht?«
Da waren unsere Briefe schon ergiebiger. Wir schrieben uns alle drei Tage, erzählten uns alles, jedenfalls all die Dinge, die man einander nicht so leicht am Telefon sagt, wenn eine Telefonistin mithört, auch wenn diese wahrscheinlich nur Finnisch verstand.
»Gestern habe ich in einem Sägewerk mitten in den Wäldern einen Baum der Länge nach durchgesägt«, unternahm ich noch einen Versuch. »Und dann aus einer Milchflasche reinen Spiritus getrunken. Neunzigprozentigen Alkohol.«
»Was hast du gesagt? Die Verbindung bricht ständig ab. Ich habe nur Säge verstanden.«
Während des Landeanflugs über den Nadelwäldern fielen mir unvermittelt ein paar finnische Wörter ein. Wörter, die irgendwo an einer unbeleuchteten Stelle meines Gedächtnisses fast vierzig Jahre lang verborgen gelegen hatten.
Es war Oktober 2012. Zum ersten Mal seit 1973 setzte ich wieder einen Fuß auf finnischen Boden. Aleksi Siltala, mein finnischer Verleger, holte mich vom Flughafen ab.
»Heute Abend hast du frei«, sagte er, als wir nach Helsinki hineinfuhren. »Morgen früh bin ich um neun Uhr beim Hotel, dann fahren wir zur Buchmesse nach Turku.«
Frei … Es klang nach Schule – morgen haben alle neunten Klassen die ersten beiden Stunden frei –, und es fiel mir schwer, einen Seufzer der Erleichterung zu unterdrücken. Ich hatte mit etwas anderem gerechnet: einem Essen mit Verlagsmitarbeitern, einem lokalen Autor und einem Journalisten, der keine Fragen stellt, sondern sich erst beim Kaffee mit Cognac wie wild Notizen zu machen beginnt.
Im Auto meines finnischen Verlegers demonstrierte ich noch mein umgängliches Ich, oder um es anders zu sagen: Ich spielte die Rolle des Causeurs, der ich nicht immer bin, mit Begeisterung. Es fiel mir weniger schwer, jetzt, da ich wusste, heute Abend würde ich allein sein – erst in meinem Hotelzimmer und danach in einem Restaurant.
Ich bin immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass dem Menschen pro Tag nur eine beschränkte Anzahl Wörter zur Verfügung steht. Etwa wie das Datenvolumen eines Handys. Irgendwann signalisiert das Flackern eines roten Lämpchens, dass der Wortvorrat fast verbraucht ist. Wenn man dann noch mit den Verlagsmitarbeitern, dem an sich schon nicht gesprächigen lokalen Autor und dem geduldig auf einen Moment der Schwäche lauernden Journalisten in einem Restaurant sitzt, hat man ein Problem.
Mehr als einmal ist es mir passiert, dass ich schon bei der Vorspeise Sendepause habe, der Motor stottert, ich zum Stehen komme. Ich unternehme noch einen verzweifelten Versuch und klammere mich an Aktualitäten: den letzten Terroranschlag, eine Frage nach der Anzahl der Immigranten in dem Land, in dem ich an dem Abend zu Gast bin, aber ich bin schon nicht mehr bei der Sache. Ich rede zwar noch, aber es sind nicht mehr meine eigenen Wörter. Fragmente von Zeitungsartikeln und Videotexten haben sich an meiner Zunge und an meinem Gaumen festgeklammert. Ich kaue darauf herum wie auf einem zu großen und zähen Stück Fleisch, am liebsten würde ich es runterschlucken, habe aber Angst, dass es mir in der Luftröhre stecken bleibt. Der Journalist beugt sich über den Tisch zu mir und sieht mich an.
»Habe ich Sie gerade sagen hören, dass die Immigranten auch in Ihrem Land ein Problem darstellen?«, fragt er, er holt Kugelschreiber und Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts und legt beides neben seinen Teller.
Ich entschuldige mich und gehe zur Toilette. Ich bleibe so lange, wie das redlicherweise möglich ist, bis jemand von der Gesellschaft vom Tisch aufsteht, um nach mir zu schauen. »Ihm wird doch nicht schlecht geworden sein?«
Ich spritze mir Wasser ins Gesicht. Im Grunde habe ich nur einen einzigen Wunsch: dass sie mich vergessen haben. Dass sie auch ohne mich einen netten Abend haben. Sie werden mich sowieso schnell vergessen, warum nicht schon heute?
Ich schaue in den Spiegel über dem Waschbecken und sehe ein müdes Gesicht. Erloschen. Ein Weihnachtsbaum, dessen Kerzen jemand ausgeblasen hat. Nur noch langweilige grüne Zweige. Dieses Gesicht glaubt nicht mehr daran, vor allem nicht an sich selbst.
Ich habe einen kritischen Punkt erreicht. Wenn ich mich gleich wieder der Gesellschaft anschließe, muss ich eine wichtige Entscheidung treffen. Reden ist nicht mehr drin. Zumindest nicht ohne Hilfsmittel. Mein Alkohollimit habe ich schon erreicht (vier Gläser Bier), der Alkohol befindet sich schon nicht mehr in meinem Gehirn, er hat sich irgendwo tief in meinem Körper eingenistet. Momentan macht er mich schwer und zieht mich nach unten. Wenn ich mich ab jetzt auf Wasser beschränke, werde ich noch einsilbiger. Im günstigsten Fall werden sie mich noch während des Essens vergessen und keine Notiz mehr von mir nehmen. Sie sind längst vom Höflichkeitsenglisch auf ihre eigene Sprache übergegangen. Sie lachen auch schallender, jetzt, da sie sich nicht mehr um mich zu kümmern brauchen. Ganz selten wendet sich mir noch jemand zu, fragt, ob es mir schmeckt, ob ich den Rehbraten in Rotweinsoße – eine Spezialität des Hauses – nicht zu zäh finde.
Ich bin übrigens der Einzige, der diese Spezialität des Hauses bestellt hat, die anderen mampfen Hamburger mit Pommes und Salat. Was gäbe ich jetzt nicht für einen Hamburger; der Rehbraten befindet sich in einem eigenen Tongefäß, ich habe bestimmt schon die Hälfte aufgegessen, aber der Boden ist noch lange nicht in Sicht. Es kommt mir so vor, als würde ich mich mit jedem Bissen vom Ende entfernen, ich gerate in Panik, eine ähnliche Panik wie die, die ich manchmal beim Schwimmen im Meer erlebt habe: Ich habe die Brandung hinter mir, und auf einmal bin ich müde, ich kehre um, aber der Strand will einfach nicht näher kommen, die Strömung ist zu stark, sie packt mich und zieht mich aufs offene Meer hinaus.
Der Journalist hat seinen Hamburger verzehrt und beugt sich wieder zu mir herüber. Hatte ich ihm seine Frage nicht längst beantwortet, die Immigrantenfrage, die in den letzten Jahren in keinem Interview fehlen darf?
»Einst waren wir alle Ausländer«, sage ich, und ich weiß inzwischen aus Erfahrung, dass dies wahrscheinlich auch die Überschrift des Artikels sein wird. Der Journalist sieht mich mit fragendem, ja verständnislosem Blick an.
»Wir sind doch schon seit Jahrtausenden einer permanenten Völkerwanderung ausgesetzt«, führe ich weiter aus – ich habe die Gabel hingelegt, je länger ich rede, desto sicherer bin ich vor dem Rehbraten. »Es war köstlich, nur etwas zu viel«, werde ich nachher mit pseudo-schuldigem Gesicht zum Ober sagen können.
»Der Mensch ist immer in Bewegung gewesen«, sage ich. Ich setze dabei keine interessante Miene auf, ich tue nicht so, als verkündete ich etwas Neues. Doch dann lege ich los, es ist ein Rätsel, woher plötzlich all die Wörter kommen, vor Kurzem noch fiel mir überhaupt nichts mehr ein. Und gerade noch habe ich allen Ernstes erwogen, der Gesellschaft ganz Adieu zu sagen.
»Die Finnen und Ungarn kamen aus der Mongolei«, höre ich mich zu dem Journalisten sagen. »Die Finnen zogen nach Norden, die Ungarn bogen ab nach Süden. Deshalb sind ihre Sprachen auch heute noch miteinander verwandt. Allerdings kommt diese Verwandtschaft vor allem in der Verwendung unverständlicher Wörter für Dinge und Begriffe zum Ausdruck, die sonst auf der ganzen Welt ziemlich ähnlich klingen. Weißt du, was Polizei auf Ungarisch heißt? Rendõrség. Telefon auf Finnisch? Puhelin.«
Der inzwischen etwas gesprächigere Lokalschriftsteller hält die Weinflasche über mein Glas. Ich nicke. Da ist der kritische Punkt. Oder eigentlich war er schon erreicht, als ich von der Toilette zurückkam. Alkohol oder kein Alkohol. Weniger oder mehr als drei, vier Gläser. Morgen ist ein neuer Tag. Ein voller Tag, das Programm, das mir im Taxi vom Flughafen in die Stadt in die Hand gedrückt wurde, habe ich zum Glück vergessen. Mit einem Kater, auch wenn er nur leicht ist, werde ich morgen keine Bäume ausreißen. Es wird ein Tag werden wie im Büro, wenn zu wenig Arbeit ist und die Uhrzeiger an der Wand still zu stehen scheinen. Aber jetzt ist jetzt. Man hat noch zu reden, auch ich.
»Warum die Finnen im Norden landeten und die Ungarn im Südosten, werden wir nie mehr erfahren. Ein Streit zwischen zwei Stammesführern. Wegen einer Frau wahrscheinlich. Vielleicht waren es sogar Brüder. »Ich gehe nach Süden, es ist mir hier zu kalt!«, schreit der eine. »Tu doch, was du nicht lassen kannst, du sturer Bock!«, schreit der andere und wendet sein Pferd gen Norden. »Und nimm die Hure gleich mit!«
Ich weiß nicht, woran es liegt, vielleicht ist das Wort Hure schuld, jedenfalls kommt es mir so vor, als würden mir jetzt nicht nur der Journalist und der Lokalschriftsteller zuhören. Die Gespräche der anderen sind verstummt, wer weiß, wie lange schon. Der einsilbige, ausländische Schriftsteller ist auf einmal der Mittelpunkt der Gesellschaft geworden. Am Ende des Abends werden sie darum würfeln, wer ihn zu seinem Hotel begleitet.
Ich lasse mir nichts anmerken und wende mich wieder halb dem Journalisten, halb dem Lokalschriftsteller zu.
»Dann kamen die Hunnen«, setze ich meinen Vortrag fort. »Oder vielleicht kamen die schon früher, das sei mal dahingestellt. Auf alle Fälle kam in Europa alles aus dem Osten. Die Goten, die Germanen – jahrhundertelang gelang es den Römern, diese ungebildeten Barbaren an den Außengrenzen ihres Reiches auf Distanz zu halten. In manchen entlegenen Winkeln sogar mit einer Mauer wie der des Kaisers Hadrian an der Grenze des heutigen Englands zu Schottland. Aber schließlich überwanden sie auch die. Und schlugen alles kurz und klein. Statuen, Tempel, Thermen, alle Zeugnisse der Zivilisation. Es ist ein Wunder, dass man in Rom heute noch Ruinen bewundern kann, offenbar war ihre Zerstörungswut schon abgeflaut, bevor sie sie am Kolosseum oder dem Forum Romanum auslassen konnten.«
Was von all dem wird wohl morgen oder übermorgen in der Zeitung stehen?, frage ich mich während einer kurzen Atempause, in der ich die Gelegenheit nutze, mein Glas zu leeren, und dem Lokalschriftsteller ein so gut wie unsichtbares Zeichen gebe, es nachzufüllen.
»Das Unheil kommt also immer aus dem Osten, das ist auch heute noch so, und das galt im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert auch für die Indianer Nord- und Südamerikas. Auch dort wurden Statuen und Tempel zerstört, mit ganzen Volksstämmen wurde kurzer Prozess gemacht. Wir sprechen heute so leichthin von rückständigen und intoleranten Religionen, aber man versetze sich einmal in die Eingeborenen, in die Apachen und Sioux, hinein. Jahrhundertelang hat man Bisons gejagt, es gab ihrer auch immer genug, nie waren sie vom Aussterben bedroht, doch dann landen die Weißen in ihren Schiffen an den Küsten. Sie haben Gewehre, sie verbrennen die Totempfähle und schenken einem Taschentücher, die mit Windpocken und Masern infiziert sind. Im Nu gehört man zu einer aussterbenden Menschenart. Und die Weißen bringen noch etwas mit: religiösen Fanatismus. Die freudlosen Gebote der Reformierten des Nordens, aber auch den Missionierungswahn der südlichen Katholiken mit ihrer Inquisition und ihren auf dem Scheiterhaufen hingerichteten unbußfertigen Ketzern. Ob die Indianer in diesen in ihr Land einfallenden Massenmördern je die Befreier ihrer Kultur gesehen haben? Mit einem Schlag hatten die Eroberer achtzig Prozent der Ureinwohner massakriert, den Rest pferchten sie in sogenannte Reservate ein …«
»Die Indianer waren aber ja auch nicht gerade Chorknaben.«
Ich blicke in das Gesicht einer schönen Frau mittleren Alters, mit der ich bisher noch kein Wort gewechselt habe, da sie ganz am anderen Ende des Tisches sitzt. Ich habe vergessen, wer sie ist, eine Verlagsangestellte, eine Journalistin oder vielleicht sogar die Frau des Verlegers. Bei solchen Gelegenheiten werden einem eben immer viel zu rasch viel zu viele Leuten vorgestellt. Ihre Namen hat man schon vergessen, wenn man ihnen die Hand drückt.
»Die Azteken, die Mayas, bestimmt keine netten, braven, friedliebenden Jungs«, fährt sie fort. »Tausende wurden geopfert, um die Götter günstig zu stimmen. Jetzt besuchen wir ihre Tempel und Pyramiden, vergessen aber, dass es die ersten Vernichtungslager der Geschichte gewesen sind.«
Kaffee mit Cognac ist an der Reihe. Nein, eine zweite Runde Kaffee mit Cognac. Frisches Doping. Gesprächsdoping. Aber auch der reinste Raubbau am Gesprächsstoff. Heute Abend werde ich die mir zugemessene Anzahl Wörter weit überschreiten. Morgen bekomme ich die Quittung serviert. Morgen werde ich frostig und schweigsam sein, ungenießbar, nicht zuletzt für mich selbst.
Ich lächle die Frau an, kneife sogar die Augen kurz zusammen. Sie ist Anfang fünfzig, schätze ich. Sie trägt einen dunkelblauen Pullover, der weiße Kragen einer Bluse ist sichtbar. Ihr Haar ist hochgesteckt. Ich weiß jetzt auch, an wen sie mich erinnert: an Anna Karenina. Nicht an die Anna Karenina aus irgendeiner Verfilmung, sondern die Anna Karenina, wie ich sie mir vorstellte, als ich das Buch las.
»Du hast völlig recht«, sage ich auf Englisch, das zum Glück sprachlich keinen Unterschied zwischen dem Duzen und Siezen macht. Sie ist mehr eine »Sie«, kann aber durchaus eine »Du« werden, vielleicht schon heute Abend. »Es waren keine Chorknaben.«
Ich höre nicht auf zu lächeln, zweifellos sehe ich aus wie ein Idiot. Wenn mir nachher schlecht wird oder ich hier das Bewusstsein verliere, bringst du mich dann zu meinem Hotel?, frage ich sie in Gedanken, während ich sie immer noch anstarre. Die Stimmen der anderen nehme ich nicht mehr wahr. Ich höre nur noch das Sausen in den Ohren, das ich in den letzten fünfzehn Jahren immer höre, wenn die Umgebungsgeräusche wegfallen: Gehörschaden infolge jahrelanger Besuche von Popkonzerten in Paradiso und Melkweg, wie mein Hausarzt meint.
Und dann stehen wir auf einmal draußen. Es schneit. Die Schneeflocken fallen auf die glänzenden Pflastersteine, wie man sie überall im Zentrum der Stadt findet. Ich weiß ungefähr, wo ich bin: nicht in Finnland, sondern in einem vergleichbaren skandinavischen oder osteuropäischen Land, einer Stadt des Nordens, Oslo oder Stockholm, Reykjavik oder Sankt Petersburg. Ich weiß, wo mein Hotel ist: zwei Straßen weiter, dann nach rechts, schräg über einen kleinen Platz, da ist es. Aber ich blicke in die andere Richtung. »Ich weiß nicht genau, wie ich …«
»Mach dir keine Sorgen, ich begleite dich.« Die Frau hat sich zu mir gestellt, sie trägt einen bis über die Knie reichenden Pelzmantel. Einen echten. Vegetarier würden einen Wutanfall bekommen, aber hier, in dem Land, in dem ich mich gerade befinde, passt es irgendwie. Ein Glück, denke ich, ein Glück, dass es noch Länder gibt, wo ein Pelzmantel noch etwas Normales ist, so normal und selbstverständlich wie in einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts.
Sie hält mir eine Zigarettenschachtel hin. Ich habe am 12. November 1996 mit dem Rauchen aufgehört. Ich nehme mir eine, sie gibt mir Feuer, dann zündet sie sich selber eine an.
Der erste Zug hat die gleiche Wirkung wie der erste hinter dem Fahrradschuppen auf dem Schulhof. Ich habe das Gefühl, mich an irgendetwas festhalten zu müssen, um nicht umzukippen, und kurz fasse ich sie am Mantel.
»Aber hör mal … Wer bist du … sind Sie … you?«
Ich mache eine unbestimmte Geste zu der Gesellschaft, die sich aufzulösen beginnt.
»Ich bin deine Verlegerin, Herman«, sagt sie. »Das heißt, mir gehört der Verlag. Ich kümmere mich um die Finanzen, mein Mann um die Schriftsteller. Dafür bin ich ihm dankbar, mir fehlt dafür die Geduld.«
Hier draußen in ihrem Pelzmantel ist sie Anna Karenina noch ähnlicher als vorhin im Restaurant. Sie erinnert mich noch stärker an die allererste Anna Karenina meines Lebens.
Das ist lange her. Anno 1973, in Finnland.
Es war keine ausgemachte Sache, dass ich an dem Abend zu dem Tanzfest im Dorf gehen würde. Zuerst hatte ich nur mit der Schulter gezuckt und in meinem besten Finnisch – ich war inzwischen einen Monat dort – gesagt, ich würde eigentlich lieber zu Hause bleiben.
»Aber es ist gut, Leute kennenzulernen«, sagte Matti. »Für dich. Leute in deinem Alter. Du kennst hier doch noch niemand.«
Matti hatte recht. Jedenfalls mit seiner Feststellung, dass ich nach einem Monat noch immer niemanden kannte. Gut, ich »kannte« die Männer vom Sägewerk, die ich inzwischen auch ganz gut verstand. In den Mittagspausen wurde ich beim Herumgehen der mit Spiritus gefüllten Milchflasche nicht mehr übergangen. Sie erzählten Geschichten vom Sowjetisch-Finnischen Krieg 1939 bis 1940. Die Russen hätten geglaubt, sie könnten Finnland in ein paar Tagen überrennen, aber da hätten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Finnen machten den Mangel an Waffen wett durch Cleverness. Einer der Holzfäller erzählte, wie er als Sechzehnjähriger hinten auf einen russischen Panzer geklettert sei, die Turmluke geöffnet und einen Molotowcocktail hineingeworfen habe. Die russischen Soldaten, die als lebende Fackeln nach draußen sprangen, seien eine leichte Zielscheibe für die im Birkenwald versteckten Scharfschützen gewesen.
Der größte der Holzfäller – ich sage bewusst nicht der dickste, denn es war kein Fett, was ihn so dick machte –, von dem es hieß, er könne ein Fass mit zweihundertfünfzig Litern Dieselöl von einem Anhänger heben, erzählte, was sie einmal mit einem solchen russischen Soldaten gemacht hatten, der sich aus dem brennenden Panzer gerettet hatte. Ein Junge noch sei er gewesen, vielleicht achtzehn, neunzehn Jahre alt. Mein Finnisch reichte nicht aus, um alles ganz mitzukriegen, doch ich füllte die Lücken mit Fantasie. Die anderen waren verstummt, wahrscheinlich hatten sie die Geschichte schon hundertmal gehört oder selber Ähnliches erlebt. Einer spuckte seinen Priem in den Schnee, ein anderer schüttelte den Kopf. »Was wollt ihr?«, sagte der Erzähler. »Es war schlimm, aber es war Krieg. Solche Sachen machte man einfach.«
Ich kannte noch ein paar andere Leute im Dorf, obwohl »kennen« ein zu großes Wort ist. Genauso wie »Dorf«. In Finnland ist von einem Dorf die Rede, wenn die Häuser drei statt dreißig Kilometer voneinander entfernt liegen. Im Winter schafften es nur die Traktoren durch den Schnee. Und die Pferdeschlitten, denn die waren 1973 in Finnland noch ein ziemlich normales Transportmittel. Die Briefe, die ich meiner Freundin in Amsterdam alle drei Tage schrieb, brachte ich auf Langlaufskiern zum einzigen, zwei Kilometer vom Bauernhof entfernten Briefkasten. Erst den Hügel hinunter und dann über den zugefrorenen See. Ich hatte noch nie in meinem Leben auf Skiern gestanden und fiel daher ständig hin, meist seitwärts, und es kostete mich immer die größte Mühe, wieder aufzustehen.
Manchmal fuhr ich mit dem Traktor zu anderen Bauernhöfen, um etwas abzuholen oder abzuliefern: eine Landmaschine, säckeweise Kunstdünger, Milchkannen. Die meisten der Bauern luden mich zum Kaffee ein. Die Gespräche verliefen immer nach dem gleichen Muster. Wie alt? Eltern? Geschwister? Mein Finnisch reichte gerade zur Beantwortung aus, aber damit ist auch schon alles gesagt. Es klang wie ein Formular, auf dem man alle Fragen nur mit Ja oder Nein beantworten kann. Meist stockten die Gespräche denn auch bald. Dass meine drei Schwestern und mein einziger Bruder Kinder aus einer früheren Ehe meines Vaters waren, konnte ich gerade noch sagen, aber ohne nähere Erläuterung hörte es sich irgendwie sündiger an, als es in Wirklichkeit gewesen war. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber manchmal kam es mir so vor, als würden nach dieser Mitteilung die Gesichter der anfänglich noch lächelnden und interessiert zuhörenden Bauern für einen Moment erstarren. Sie sahen in mir vielleicht, was ich nicht war: ein sündiges Kind, hervorgegangen aus einer womöglich außerehelichen Beziehung meines Vaters. Jedenfalls hatte er seine erste Frau und vier heranwachsende Kinder im Stich gelassen, um seiner Lust auf eine viel jüngere und aller Wahrscheinlichkeit nach auch viel schönere Frau zu frönen. Mir fehlten die finnischen Wörter, um den Sachverhalt wahrheitsgemäß zu schildern. Mein Vater hat zuerst die Familie verlassen, hätte ich gern gesagt, als ob das etwas ausmachen würde, und erst danach ist er meiner Mutter begegnet.
Und dann die Geschwister, meine Schwestern und mein Bruder, so nannte ich sie, auch wenn sie es streng genommen nicht waren. Alles in allem war es also eine recht komplizierte Geschichte, die ich mithilfe von nicht mehr als vierzig finnischen Wörtern auf den umliegenden Bauernhöfen zum Besten gab. Nicht nur war mein Vater ein Sünder und ein Ehebrecher, ich selber war ein Einzelkind, auf das zweifellos all die gängigen Vorurteile zutrafen. Mehr noch als in den Niederlanden war das Einzelkind hier eine Ausnahme, eine Kuriosität. Vier bis acht Kinder waren die Norm, da konnte ich mit drei Halbschwestern und einem Halbbruder nicht mithalten. Oft habe ich gedacht, es sei besser, nichts zu haben als etwas Halbes. Allein das Wort: Es klang nach anderen Dingen, die halbvoll oder halbfertig sind. Nach Halbfettmilch, einem Produkt, das es allerdings anno 1973 noch nicht gab, schon gar nicht in Finnland, wo die Milch voll und schäumend direkt von der Kuh kam.
So landeten wir über die Geschwister zunächst bei meinem Vater und schließlich bei meiner Mutter. Was mein Vater beruflich machte, wollten die Bauern wissen, aber wieder reichte mein Wortschatz nicht aus, um ihnen zu sagen, dass mein Vater in diesem Jahr siebzig würde und also schon im Ruhestand war beziehungsweise ihn hätte genießen können, wenn er nicht immer noch jeden Morgen um halb acht aufstehen und zur Arbeit gehen würde. Mittendrin würden mir die Worte ausgehen, mein Gesicht würde rot anlaufen, ich würde zu stottern anfangen und schuldbewusst zu Boden blicken, als hätte ich mich nicht in der Komplexität der Erklärung, sondern in einem selbst gesponnenen Lügennetz verstrickt.
Deshalb beschränkte ich mich auf ein kurzes Pantomimenspiel, in dem ich auf einer imaginären Schreibmaschine tippte und obendrein noch einen ebenso imaginären Stapel Formulare ordnete.
Sie verstanden sofort, was ich meinte. »Ein Büro«, sagten sie, an das finnische Wort erinnere ich mich nicht mehr. »Dein Vater arbeitet in einem Büro.«
Das Tippen auf einer Schreibmaschine hätte natürlich auch etwas anderes bedeuten können, wie ich merkte, als ein Bauer mich einmal fragte, was ich denn werden wolle. Noch gerade rechtzeitig unterdrückte ich den Impuls, wiederum das Tippen auf einer Schreibmaschine nachzuahmen. Der Bauer hätte den verständlichen Schluss gezogen, ich wollte in die Fußstapfen meines Vaters treten.
Obwohl ich inzwischen auf Finnisch bis hundert zählen konnte, habe ich während all der Gespräche an den Bauerntischen nie das Alter meines Vaters verraten. So alt!, hörte ich die Bauern denken. Sie würden mich bemitleiden. Ein Vater, der nicht mit seinem Sohn Fußball spielen kann, weil er schon nach einem Schuss außer Atem und nach Luft schnappend in die Knie geht.
Das Gespräch näherte sich dem Ende. Was machte meine Mutter? Keine unlogische Frage in einem Land, in dem anders als in den Niederlanden fast alle Frauen arbeiteten, auch hier in der Provinz Nordkarelien, wo die Frauen auf den Bauernhöfen die gleiche schwere Arbeit verrichteten wie ihre Männer.
Meine Mutter macht gar nix mehr, dachte ich und sah die Bauern über den Tisch an, nahm noch einen Schluck Kaffee und holte tief Luft.
Noch lächeln sie freundlich, dachte ich jedes Mal aufs Neue, aber das Gespräch wird bald ein abruptes Ende nehmen.
Ich konnte also auf Finnisch zählen, ich kannte die Wörter für Kälber, Rinder und Kühe. Für Milch und Brot. Für Käse und Motorsäge, Traktor und Anhänger. Für Skier, Pferdeschlitten, Fichte und Birke. Für Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Für Fisch. Für Holzklötze, für warm und kalt, Eis und Schnee. Für Vater, Bruder und Schwester. Für Mutter und für tot.
So beantwortete ich auch immer die Frage, welchen Beruf meine Mutter ausübe, mit diesen zwei Wörtern, ohne ein Verb dazwischen.
Heute kann ich auf Finnisch nur noch bis drei zählen und »Motorsäge« müsste ich in einem Wörterbuch nachschlagen. Andere Wörter schlummern tief verborgen in meinem Gedächtnis, dort, wo sie erst wach geküsst werden müssen – etwas müsste sie aus ihrem Winterschlaf reißen, ein Duft, eine Landschaft, eine Melodie.
So geschah es 2012 während des Landeanflugs auf Helsinki. Unter mir sah ich die typischen roten und gelben Herbstfarben der Birken zwischen den ewig grünen Fichten. Eine Landschaft, die stark an die in Russland, Norwegen und Kanada erinnert, aber die ich sofort als finnische Landschaft erkennen würde.
Es waren die ersten zwei Wörter, die mir in den Sinn kamen. Ich hatte sie in all den Jahren nicht mehr in den Mund genommen, jedenfalls nicht auf Finnisch, aber da waren sie auf einmal wieder, als wären sie nie fort gewesen.
Äiti kuollut.
Mutter tot.
»Äiti kuollut«, wiederholten die Bauern – der eine wich meinem Blick aus und kratzte sich den Kopf, der andere schob die Schale mit den Keksen näher zu mir hin.
Der Ausdruck auf ihren Gesichtern, die eben noch gelacht hatten, änderte sich. Sie blickten ernst drein. Für eine jüngere Frau hatte mein Vater seine Familie im Stich gelassen. Aber sie, meine Mutter, war nun nicht mehr jung, sondern äiti kuollut, nur noch tot.
Das Fest fand in der Dorfschule statt. Von der Decke hingen Girlanden und Lampions, als hätte jemand Geburtstag, und ein Plattenspieler spielte finnische Volksmusik.
Es war niemand in meinem Alter da, das sah ich auf einen Blick, entweder waren sie viel älter oder viel jünger als ich. Es waren die Kinder, die miteinander tanzten, die meisten Erwachsenen saßen auf Stühlen an der Wand. Man hatte sich keine Mühe gegeben, eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen. Die Lampions hatten nicht die Spur einer Chance gegen das grelle Neonlicht an der Decke. Eine ältere Frau, die von einer anderen auf die Tanzfläche gezogen wurde, sträubte sich erst, folgte ihr dann aber bereitwillig.
Am liebsten hätte ich mich so schnell wie möglich wieder verdrückt, aber ich hatte schon zu lange in der Tür gestanden. Ich sah einige Gesichter, die mir irgendwie bekannt vorkamen, zwei Männer und eine Frau winkten mir, wahrscheinlich Bauern, bei denen ich einmal mit dem Traktor eine Egge oder einen Pflug abgeholt hatte. Jetzt steckten sie die Köpfe zusammen. Einer der beiden Männer flüsterte der Frau etwas ins Ohr, sie warf mir einen kurzen Blick zu und wandte sich dann dem anderen Mann zu.
Das ist der holländische Junge, der auf Mattis und Ritvas Hof arbeitet, sagten sie bestimmt. Der Junge, dessen Mutter tot ist.
Nein, es war jetzt zu spät, mich zu verkrümeln, Matti und Ritva würden es bestimmt erfahren. Ich würde sie nur unnötigerweise in Verlegenheit bringen.
Und wohin hätte ich gehen sollen? Es war mir diesmal gelungen, die drei Kilometer zur Schule zurückzulegen, ohne auch nur ein einziges Mal hinzufallen. Ich würde mindestens noch ein paar Stunden auf den Langlaufskiern durch die beschneiten Wälder irren müssen, um zu einer glaubwürdigen Zeit wieder am Bauernhof zu sein. Für den Hinweg hatte ich etwa eine halbe Stunde gebraucht. Unter meinem Mantel war ich schweißgebadet, sogar meine Hände in den doppelten Handschuhen fühlten sich klamm an. Rotz und Tränen auf meiner Oberlippe und in meinen Augenwinkeln waren unterwegs hart gefroren. Kurz vor der Tür hatte ich die Eisschicht entfernt, es fühlte sich an, als würde ich eine Kruste von einer Wunde abziehen. Ich machte es sehr behutsam, denn sowohl beim Sägewerk als auch beim Bauernhof hatte ich von Leuten gehört, die sich aus Versehen das ganze gefrorene Ohr oder ein Stück davon abgebrochen hatten. Es war also durchaus nicht undenkbar, dass ich länger als eine halbe Stunde in den Wäldern nicht überleben würde.
Ich ging quer über die Tanzfläche und setzte mich so weit wie möglich von den drei mir irgendwie bekannt vorkommenden Leuten entfernt auf einen freien Stuhl. Man schaute zu mir herüber. Kinder, Erwachsene, die Alten. Während des Tanzens drehten sich alle immer so, dass sie mich ungeniert betrachten konnten.
Oberflächlich gesehen ähnelten wir uns vielleicht, die Finnen und die Holländer, hier gab es genauso viele blonde und dunkelhaarige Menschen wie bei uns zu Hause, aber mein Gesicht konnte man beim besten Willen nicht als typisch finnisch bezeichnen. Dafür war es wie der Rest meines Körpers zu hager und zu schmal. Bei den Finnen war alles rund und breit, ihre Augen lagen tiefer, oft schien es, als müssten sie über ihre runden Backen hinwegschauen, wie über einen Hügel oder eine Düne. Ich fragte mich, wie es wohl ist, solche Backen zu haben, ob man sie immer, wenn man etwas oder jemanden ansah, unten im Gesichtsfeld hatte wie den Rahmen einer Kamera.
Zu meiner Rechten saß eine Frau mit braunem Kraushaar. Sie war mittleren Alters, schätzte ich, aber als ich mich ihr wieder zuwandte und mit der Frage, ob sie hier im Dorf wohne, ein Gespräch anzuknüpfen versuchte – zur Abwechslung brachte ich den Satz fehlerfrei heraus –, sah ich, dass es ein Mädchen war, ein Mädchen meines Alters obendrein, ja, vielleicht war sie sogar ein paar Jahre jünger als ich. Kleidung und Frisur waren eine Vermummung. Ein braunes, knapp übers Knie reichendes Blümchenkleid, dunkelbraune Strümpfe – wie alle hier hatte sie die Schuhe an der Tür ausgezogen, alle tanzten auf Socken oder Strümpfen, was dem Tanz nahezu jeden sinnlichen Charakter nahm –, aber es war in erster Linie ihr Haar, ebenfalls dunkelbraun, das sie um viele Jahre älter wirken ließ, als sie war.
Ich möchte mein neunzehnjähriges Ich nicht als Kenner des Frauenhaars bezeichnen, aber ich sah sofort, dass die Locken nicht echt waren, dafür bewegten sie sich zu wenig, eigentlich gar nicht, wenn sie den Kopf drehte, und auch nicht, als sie meine Frage mit einem kurzen Nicken beantwortete. Es war durchaus möglich, dass sie sich das Haar für dieses Fest mit Lockenwicklern in Form gebracht hatte – aber welches sechzehn- oder achtzehnjährige Mädchen tut so etwas? Welches sechzehnjährige Mädchen versucht, durch seine Kleiderwahl und seine Frisur auszusehen wie seine eigene Mutter?
Ich vergesse Gesichter schnell, heute noch schneller als vor vierzig, fünfzig Jahren. Ich begegne jemandem auf einer Party, sein oder ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor, aber wie sehr ich auch in meinen Erinnerungen krame, kein Name will sich zu dem Gesicht gesellen. Das ist umso peinlicher, wenn der namenlose Träger des Gesichts mich begeistert begrüßt und mich sogar beim Namen nennt.