I |
12 min read |
88% match |
Score: 86.67 |
II |
11 min read |
81% match |
Score: 82.18 |
III |
14 min read |
67% match |
Score: 89.22 |
III |
18 min read |
62% match |
Score: 92.54 |
IV |
66 min read |
97% match |
Score: 61.34 |
V |
81 min read |
91% match |
Score: 71.45 |
VI |
09 min read |
34% match |
Score: 78.91 |
VII |
23 min read |
55% match |
Score: 98.33 |
VIII |
45 min read |
28% match |
Score: 90.12 |
IX |
78 min read |
13% match |
Score: 76.89 |
X |
91 min read |
76% match |
Score: 45.87 |
XI |
10 min read |
92% match |
Score: 41.45 |
XII |
10 min read |
83% match |
Score: 09.18 |
XIII |
10 min read |
89% match |
Score: 14.66 |
XIV |
13 min read |
44% match |
Score: 56.86 |
XV |
32 min read |
67% match |
Score: 42.81 |
XVI |
23 min read |
33% match |
Score: 93.87 |
XVII |
92 min read |
39% match |
Score: 91.65 |
XVIII |
64 min read |
46% match |
Score: 84.02 |
XIX |
32 min read |
53% match |
Score: 86.43 |
XX |
11 min read |
94% match |
Score: 88.12 |
XXI |
07 min read |
63% match |
Score: 90.22 |
XXII |
01 min read |
78% match |
Score: 81.33 |
XXIII |
88 min read |
75% match |
Score: 44.63 |
XXIV |
76 min read |
84% match |
Score: 58.04 |
XXV |
07 min |
18% match |
Score: 01.54 |
XXVI |
12 min |
23% match |
Score: 34.87 |
XXVII |
09 min |
98% match |
Score: 81.77 |
XXVIII |
11 min |
91% match |
Score: 86.08 |
XXIX |
41 min |
67% match |
Score: 45.68 |
XXX |
34 min |
34% match |
Score: 90.67 |
XXX |
I23 min |
37% match |
Score: 45.67 |
XXXII |
07 min |
66% match |
Score: 76.01 |
XXXIII |
08 min |
61% match |
Score: 26.17 |
XXXIV |
76 min |
74% match |
Score: 88.60 |
XXXV |
44 min |
71% match |
Score: 81.41 |
XXXVI |
22 min |
80% match |
Score: 99.67 |
XXXVII |
18 min |
76% match |
Score: 82.27 |
XXXVIII |
12 min |
23% match |
Score: 80.98 |
XXXIX |
56 min |
11% match |
Score: 76.01 |
XL |
12 min |
65% match |
Score: 86.67 |
XLI |
09 min |
88% match |
Score: 67.02 |
XLII |
22 min |
91% match |
Score: 81.98 |
XLIII |
17 min |
02% match |
Score: 34.92 |
XLIV |
23 min |
76% match |
Score: 90.02 |
XLV |
11 min |
81% match |
Score: 88.91 |
Acks |
14 min |
76% match |
Score: 75.81 |
Note A |
10 min |
51% match |
Score: N/A |
Note B |
88 min |
67% match |
Score: 100.91 |
Note C |
42 min |
83% match |
Score: 44.51 |
»Gib den Menschen ein neues Wort, und sie glauben, sie haben eine neue Tatsache.«
– Willa Cather
»Wenn eine Idee zuerst nicht absurd erscheint, dann taugt sie nichts.«
– Albert Einstein
»Gibt es vielleicht außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung?«
– Erich Fromm
Vorbemerkung: Diese Geschichte spielt in der nahen Zukunft. Versuchen Sie nicht herauszufinden, wann. Eventuelle zeitliche oder physikalische Anachronismen sind gewollt. Alle Fehler in Bezug auf Technologie, Chronologie oder Urteilsvermögen sind Absicht und in Ihrem Interesse.
Delaney trat aus der dämmrigen U-Bahn in eine Welt aus reinem Licht. Es war ein klarer Tag, und die Sonne, die auf die unzähligen Wellen der Bucht traf, warf goldene Funken in alle Richtungen. Delaney wandte dem Wasser den Rücken zu und ging die rund hundert Schritte bis zum Every-Campus. Schon das allein – die U-Bahn zu nehmen, sich unbegleitet und zu Fuß dem Tor zu nähern – machte sie zu einer Anomalie und irritierte die beiden Posten in ihrem Wachhaus. Ihr Arbeitsplatz war aus Glas und pyramidenförmig, wie die Spitze eines Kristallobelisks.
»Sie sind hierher gelaufen?«, fragte der weibliche Wachposten. ROWENA, ihrem Namensschild nach, war um die dreißig, schwarzhaarig und trug ein adrettes gelbes Top, hauteng wie ein Fahrradtrikot. Als sie lächelte, kam eine charmante Lücke zwischen ihren Vorderzähnen zum Vorschein.
Delaney nannte ihren Namen und sagte, sie habe ein Vorstellungsgespräch mit Dan Faraday.
»Finger bitte«, sagte Rowena.
Delaney drückte ihren Daumen auf den Scanner, und auf Rowenas Monitor erschien ein Raster aus Fotos, Videos und Daten. Es waren Fotos von Delaney, die sie selbst noch nicht gesehen hatte – war das eine Tankstelle in Montana? Auf den Ganzkörperaufnahmen hatte sie eine gekrümmte Haltung, die Folge davon, dass sie als Teenager zu groß geraten war. Delaney stellte sich gerader hin, während ihr Blick über die Bilder glitt, die sie in ihrer Park-Ranger-Uniform zeigten, in einer Mall in Palo Alto, in einem Bus, der anscheinend durch Twin Peaks fuhr.
»Sie haben sich die Haare wachsen lassen«, sagte Rowena. »Sind aber immer noch ziemlich kurz.«
Delaney fuhr sich reflexartig mit den Fingern durch den vollen schwarzen Bubikopf.
»Hier steht, Sie haben grüne Augen«, sagte Rowena. »Sehen aber braun aus. Treten Sie bitte näher.« Delaney trat näher. »Ah! Hübsch«, sagte Rowena. »Ich geb Dan Bescheid.«
Während Rowena Faraday anrief, stand der zweite Wachposten, ein hagerer Mann um die fünfzig mit einem britischen Akzent, vor einer anderen Herausforderung. Ein weißer Van war vorgefahren, und der Fahrer, ein rotbärtiger Mann, der ein gutes Stück höher als das Wachhausfenster saß, erklärte, er habe eine Lieferung.
»Was für eine Lieferung?«, fragte der hagere Wachmann.
Der Fahrer drehte sich kurz in seinem Sitz um, als wollte er sich vergewissern, dass seine bevorstehende Beschreibung stimmte. »So ein Haufen Körbe. Geschenkkörbe. Stofftiere, Pralinen und so«, sagte er.
Jetzt schaltete sich Rowena ein, von der Delaney annahm, dass sie in dem Glasobelisken das Sagen hatte. »Wie viele Körbe?«, fragte sie mit Blick auf einen Monitor im Wachhaus.
»Keine Ahnung. Etwa zwanzig«, sagte der Fahrer.
»Und werden die von jemandem erwartet?«, fragte Rowena.
»Keine Ahnung. Ich denke, die sind vielleicht für potenzielle Kunden«, sagte der Fahrer, der plötzlich erschöpft klang. Dieses Gespräch zog sich offensichtlich schon sehr viel länger hin, als er das gewohnt war. »Oder es sind Geschenke für Leute, die hier arbeiten«, sagte er, nahm ein Tablet vom Beifahrersitz und tippte ein paarmal darauf herum. »Hier steht, die sind für Regina Martinez und das Initiative K Team.«
»Und wer ist der Absender?«, fragte Rowena. Sie klang jetzt fast amüsiert. Es war klar, zumindest für Delaney, dass diese spezielle Lieferung ihr Ziel nicht erreichen würde.
Wieder konsultierte der Fahrer sein Tablet. »Hier steht, Absender ist etwas namens MDS. Bloß M-D-S.« Jetzt hatte die Stimme des Fahrers einen fatalistischen Ton angenommen. Würde es etwas ändern, so schien er sich zu fragen, wenn er wüsste, wofür MDS stand?
Rowenas Gesicht entspannte sich. Sie murmelte in ein Mikrofon, sprach offenbar mit einer anderen Security-Bastion innerhalb von Every. »Ist schon gut. Ich hab’s im Griff. Wird abgelehnt.« Sie nickte dem Fahrer mitfühlend zu. »Sie können gleich da vorne wenden.« Rowena zeigte auf einen Wendehammer fünfzehn Meter weiter.
»Soll ich die Körbe da ausladen?«
Rowena lächelte wieder. »Oh nein. Wir haben keine Verwendung für Ihre …« – die Pause schien dafür gedacht, genug Verachtung in das nächste, bislang so harmlose Wort zu legen – »Körbe.«
Der Fahrer hob die Hände gen Himmel. »Seit zweiundzwanzig Jahren fahre ich Lieferungen aus, und noch nie ist eine abgelehnt worden.« Er sah Delaney an, die noch immer neben dem Wachhaus stand, als suchte er in ihr eine potenzielle Verbündete. Sie wandte den Blick ab und betrachtete das höchste Gebäude auf dem Campus, einen aluminiumverkleideten gewundenen Turm, der Algo Mas beherbergte, den Algorithmus-Thinktank des Unternehmens.
»Erstens«, erklärte Rowena, die sich offensichtlich nicht für die berufliche Erfolgsgeschichte des Fahrers interessierte, »Ihre Ladung entspricht nicht unseren Sicherheitsvorgaben. Wir müssten jeden einzelnen Ihrer …« – wieder spuckte sie das Wort förmlich aus – »Körbe durchleuchten, und dazu sind wir nicht bereit. Zweitens, das Unternehmen hat Richtlinien, die es untersagen, nicht nachhaltige oder unsachgemäß beschaffte Waren auf den Campus zu lassen. Ich vermute, diese Körbe« – es klang aus ihrem Mund jetzt wie ein Schimpfwort – »enthalten aufwendige Plastikverpackungen? Und verarbeitete Lebensmittel? Und Obst aus der Intensivlandwirtschaft ohne Bio- oder Fair-Trade-Siegel, höchstwahrscheinlich mit Pestiziden besprüht? Sind vielleicht auch Nüsse in diesen« – noch mehr Gehässigkeit – »Körben? Ich nehme es an, dieser Campus aber ist nussfrei. Und sagten Sie nicht was von Stofftieren? Völlig ausgeschlossen, dass ich Ihnen erlaube, billige, nicht biologisch abbaubare Spielsachen auf den Campus zu bringen.«
»Sie akzeptieren keine nicht biologisch abbaubaren Spielsachen?«, fragte der Fahrer. Er hatte jetzt eine Hand gegen das Armaturenbrett gestemmt, als müsste er sich abstützen, um nicht zusammenzubrechen.
Rowena atmete geräuschvoll aus. »Sir, hinter Ihnen warten jetzt schon einige Fahrzeuge. Sie können da gleich hinter dem Wachhaus wenden.« Sie zeigte auf den Wendehammer, auf dem sicherlich den ganzen Tag lang von Every unerwünschte Menschen, Lastwagen und Waren ihren Rückweg in die ungeprüfte Welt antraten. Der Fahrer starrte Rowena lange an, bevor er schließlich seinen Van startete und Richtung Wendehammer rollte.
Die Szene war in vielerlei Hinsicht merkwürdig, dachte Delaney. Schon allein der nicht zu Every gehörende Auslieferungsfahrer. Fünf Jahre zuvor hatte der Circle einen E-Commerce-Giganten aufgekauft, der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war. So war das reichste Unternehmen entstanden, das die Welt je gesehen hatte. Die Übernahme machte es erforderlich, dass der Circle seinen Namen in Every änderte, was den Unternehmensgründern einleuchtend und zwangsläufig erschien, da es Allgegenwart und Gleichheit suggerierte. Auch der E-Commerce-Riese war froh über einen Neuanfang. Man hatte den ehemals rationalen, ehemals verlässlichen Online-Marktplatz zu einer chaotischen Wüstenei von dubiosen Verkäufern, Produktfälschungen und offenem Betrug verkommen lassen. Das Unternehmen hatte alle Kontrolle und Verantwortung aus der Hand gegeben, woraufhin die Kunden sich nach und nach zurückzogen; niemand lässt sich gern betrügen oder täuschen. Als das Unternehmen den Kurs korrigierte, hatte es das Vertrauen der wankelmütigen Öffentlichkeit bereits verloren. Der Circle arrangierte eine Aktienübernahme, und der Gründer des E-Commerce-Giganten, zunehmend durch Scheidungen und Gerichtsverfahren abgelenkt, ließ sich nur allzu gern auszahlen. Zusammen mit seiner vierten Frau widmete er sich fortan der Erkundung des Weltraums, schließlich planten die beiden, ihren Lebensabend auf dem Mond zu verbringen.
Nach der Akquisition wurde ein neues Logo entworfen. Es bestand im Wesentlichen aus drei Wellen, die um einen vollkommenen Kreis wirbelten, und deutete das Strömen von Wasser an, das Aufblitzen neuer Ideen, Interkonnektivität, Unendlichkeit. Beliebt oder nicht, es stellte auf jeden Fall eine Verbesserung gegenüber dem früheren Logo des Circle dar, das an einen Gullydeckel erinnert hatte, und übertraf das langjährige Logo des E-Commerce-Giganten, ein verlogenes Grinsen, ohnehin. Da die Verhandlungen angespannt und schließlich feindselig verlaufen waren, war es jetzt, nach Abschluss der Fusion, unklug, den früheren Namen des E-Commerce-Unternehmens auf dem Campus zu benutzen. Falls es überhaupt erwähnt wurde, hieß es nur der dschungel, wobei das kleingeschriebene d Absicht war.
Der Circle war seit seiner Gründung im nahen San Vincenzo angesiedelt, doch eine zufällige Kette von Ereignissen brachte das Unternehmen nach Treasure Island, eine größtenteils künstlich angelegte Insel mitten in der San Francisco Bay – und eine Erweiterung der natürlichen Insel Yerba Buena. Auf der 1938 aufgeschütteten Landmasse hatte ursprünglich ein neuer Flughafen gebaut werden sollen. Doch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte man die Insel zum Militärstützpunkt, und in den Jahrzehnten danach wurde der Flickenteppich aus Flugzeughangars allmählich in Werkstätten, Winzereien und bezahlbaren Wohnraum umgewandelt – mit atemberaubender Aussicht auf die Bucht, die Brücken und die Berkeley Hills. Dennoch, aufgrund des unbekannten militärischen (und mutmaßlich giftigen) Mülls, der unter dem meterdicken Beton begraben lag, zeigten große Bauträger kein Interesse an dem Areal. In den 2010er-Jahren aber handelten Spekulanten schließlich eine Risikominderung aus, und es wurden wunderbare Pläne entworfen. Ein neuer Hafen entstand, die Insel bekam eine U-Bahn-Station, und zum Schutz vor dem erwarteten Anstieg des Meeresspiegels in den folgenden Jahrzehnten wurde um das ganze Gelände herum eine ein Meter zwanzig hohe Mauer errichtet. Dann kamen die Pandemien, der Finanzfluss versiegte, und die Insel war zum Spottpreis zu haben. Der einzige Haken bestand in den kalifornischen Gesetzen, die verlangten, dass der Öffentlichkeit Zugang zum Uferbereich gewährt werden musste. Every ging erst diskret, dann öffentlich dagegen an, jedoch ohne Erfolg, sodass eine fünfeinhalb Meter breite Uferzone um die Insel herum für jeden zugänglich blieb, der dorthin gelangen konnte.
»Delaney Wells?«
Delaney fuhr herum und sah einen Mann Anfang vierzig vor sich stehen. Sein Kopf war kahl geschoren, und er hatte große braune Augen, die von einer randlosen Brille noch vergrößert wurden. Der Kragen seines schwarzen Reißverschluss-Shirts war hochgeschlagen, seine Beine steckten in einer engen grünen Jeans.
»Dan?«, fragte sie.
Seit den Pandemien galt Händeschütteln als hygienisch bedenklich – und aggressiv, wie viele fanden –, aber man hatte sich auf keine Ersatzbegrüßung einigen können. Dan entschied sich, einen imaginären Zylinder zu ziehen. Delaney verbeugte sich knapp.
»Gehen wir ein Stück?«, fragte er und schlüpfte an ihr vorbei durch das Tor. Er spazierte nicht auf den Campus, sondern hinaus auf den schmalen Uferstreifen von Treasure Island, der Every umgab.
Delaney folgte ihm. Sie hatte gehört, dass die meisten ersten Vorstellungsgespräche bei Every so abliefen. Um das Risiko auszuschließen, dass der Campus kontaminiert wurde, sollten weder Menschen noch biologisch nicht abbaubare Spielsachen, die nicht durchleuchtet worden oder ausdrücklich erwünscht waren, hereingelassen werden. Jede neue Person stellte ein Risiko dar, und da Bewerberinnen wie Delaney keine Sicherheitsfreigabe hatten und nicht gründlich überprüft worden waren – abgesehen von drei oberflächlichen KI-Screenings –, war es ratsam, das erste Gespräch außerhalb des Campus zu führen. Dan sagte jedoch etwas anderes.
»Ich muss auf meine Schritte kommen«, erklärte er und zeigte auf sein Oval, ein allgegenwärtiges Armband, das zahllose Gesundheitswerte maß und von sämtlichen Versicherern und den meisten Behörden verlangt wurde.
»Ich auch«, sagte Delaney und zeigte auf ihr eigenes Oval, das sie mit Inbrunst hasste, für ihre Tarnung aber unerlässlich war.
Dan Faraday lächelte. Delaney war sicher, dass die meisten Kandidaten alle möglichen Every-Produkte trugen. Das war keine Anbiederei. Es war ein obligatorischer Einsatz, ehe das Spiel begann. Dan signalisierte ihr, die Straße zu überqueren und die öffentliche Uferpromenade anzusteuern.
Verzeih mir, dachte Delaney. Von jetzt an ist alles gelogen.
Fürs Erste war es Delaneys Aufgabe, Dan Faraday so unverschämt zu bezaubern, dass er sie für ein zweites, gründlicheres Bewerbungsgespräch empfahl. Danach würde es noch mindestens drei weitere geben. Manche Every-Beschäftigte, so hatte sie gehört, waren über einen Zeitraum von sechs Monaten zwölf Mal interviewt worden, bevor man sie einstellte.
»Wir können plaudern und uns ein bisschen umschauen«, sagte Dan. Seine Augen waren freundlich, klar, scheinbar unfähig, etwas anderes auszustrahlen als bedächtige Ruhe. »Wenn du unterwegs einen Imbiss siehst, wo du etwas essen oder trinken möchtest, können wir eine Pause machen und uns setzen.«
In der Umgebung vom Every-Campus hatte sich eine Reihe von anscheinend privat geführten Läden angesiedelt, in denen die Touristen einkauften, die wegen der spektakulären Aussicht gekommen waren. Das Ganze sah aus wie eine hastig zusammengezimmerte Filmkulisse. Es gab ein dämmrig beleuchtetes, menschenleeres Architekturbüro, einige bunt dekorierte, aber wie ausgestorben wirkende Konditoreien und vegane Eiscafés. Die Straßen waren größtenteils leer, bis auf das ein oder andere Duo, das genauso aussah wie Delaney und Dan: Every-Beschäftigte – genannt Everyones –, die sich mit potenziellen neuen Kollegen – genannt Möchtegern-Everyones – unterhielten.
Delaney, die sonst selten nervös wurde, war aufgeregt. Über Jahre hinweg hatte sie gezielt und mit akribischer Sorgfalt ihr Profil, ihr digitales Selbst aufgebaut, aber es gab so viele Dinge, von denen sie nicht wusste, ob sie sie wussten. Außerdem, und das machte ihr noch mehr zu schaffen, war sie auf dem Weg zum Campus geshamt worden. Auf dem U-Bahnsteig hatte sie eine Verpackung fallen lassen, und bevor sie sie aufheben konnte, hatte eine ältere Frau das Vergehen mit ihrem Smartphone gefilmt. Die Erfindung und Verbreitung von Samaritan, einer Standard-App auf Everyphones, und einer wachsenden Mehrheit von anderen Tech-Innovationen wurde angetrieben durch eine Mischung aus gut gemeintem Utopismus und pseudofaschistischer Verhaltenskonformität. Millionen Shams – eine krude Verschmelzung von Samaritan und shame – wurden täglich gepostet, prangerten rücksichtslose Autofahrer an, laute Stöhner in Fitnessstudios, Vordrängler in Louvre-Warteschlangen, Benutzer von Wegwerfplastik und unbekümmerte Eltern, die ihre Kinder in der Öffentlichkeit weinen ließen. Geshamt werden war nur dann ein Problem, wenn du identifiziert und getaggt wurdest, das Video oft geteilt und kommentiert wurde und deine Sham-Bilanz in inakzeptable Höhe trieb. In diesem Fall aber konnte es dich dein Leben lang verfolgen.
»Zunächst mal, herzlichen Glückwunsch, dass du hier bist«, sagte Dan. »Nur drei Prozent der Bewerber schaffen es so weit. Du kannst dir ja denken, dass die KI-Screenings sehr streng sind.«
»Absolut«, sagte Delaney und zuckte innerlich zusammen. Absolut?
»Dein Lebenslauf hat mich beeindruckt, und mir persönlich gefällt, dass du Libarts studiert hast«, sagte Dan. Libarts. Entweder hatte Dan diesen Terminus für Geisteswissenschaften erfunden, oder er versuchte, ihm zum Durchbruch zu verhelfen. Als wäre er unsicher, wie die Neuschöpfung ankam, zupfte er an der Schlaufe seines Shirt-Reißverschlusses. »Wie du weißt, stellen wir ebenso viele Geisteswissenschaftler ein wie Techniker. Alles, um neue Ideen in die Welt zu bringen.« Er ließ den Reißverschluss wieder los. Das war anscheinend seine Art, die Luft anzuhalten. Während er einen Satz formulierte und aussprach, hielt er den Reißverschluss fest; wenn er ihm ganz passabel über die Lippen gekommen war, entspannte er sich und ließ den Reißverschluss los.
Delaney wusste, dass Every auch sehr viele Nichttechniker beschäftigte, und verließ sich darauf. Dennoch, sie hatte sich große Mühe gegeben, um selbst in ihrer mathe-schwachen Gruppe positiv aufzufallen.
Vor zwei Jahren war Delaney nach Kalifornien gezogen und hatte in einem Start-up namens Ol Factory angefangen, das sich vorgenommen hatte, Computerspiele um Gerüche zu bereichern. Das erfolgreichste Release, Stench of War!, brachte die Gerüche von Diesel, Staub und verwesendem Fleisch in Jungenzimmer weltweit. Delaney ging richtigerweise davon aus, dass Ol Factory darauf spekulierte, von Every gekauft zu werden, und als dieser Deal achtzehn Monate später über die Bühne ging, wurden die Gründer, Vijay und Martin, ebenfalls von Every übernommen, ohne irgendetwas zu tun zu bekommen. Da Delaney noch relativ neu bei Ol Factory gewesen war, wurde sie nicht automatisch übernommen, Vijay und Martin aber waren entschlossen, jeder und jedem bei Ol Factory ein Every-Bewerbungsgespräch zu verschaffen, falls das gewünscht war.
»Dein beruflicher Hintergrund und deine Ansichten sind wirklich genau das, wonach wir suchen«, sagte Dan. »Du bist widerständig, und genau das möchten wir auch sein.« Widerständig war ein seit Neustem beliebtes Wort. Es hatte rebellisch verdrängt, das aufsässig verdrängt hatte, das Störung/Störer verdrängt hatte. Dan hielt wieder die Reißverschlussschlaufe in den Fingern. Es war, als wollte er ihn komplett aufziehen, sich von seinem Shirt befreien, wie ein kleiner Junge, den sein kratziger Pullover juckt.
Sie kamen an einem Laden vorbei, der allem Anschein nach Haushaltswaren verkaufte und auch tatsächlich hübsch arrangierte Haushaltswaren im Schaufenster ausstellte, in dem aber weder Kunden noch Personal zu sehen waren.
»Das habe ich an Every immer bewundert«, sagte Delaney. »Ihr habt eure Flagge auf dem Titan gehisst, während alle anderen noch mit dem Mond liebäugelten.«
Dan wandte ihr den Kopf zu, und Delaney wusste, dass sie einen Treffer gelandet hatte. Bewundernd sah er sie aus seinen warmen Augen an, doch dann verengten sie sich, kündigten den Wechsel zu ernsteren Themen an.
»Wir haben deine Abschlussarbeit gelesen«, sagte er.
Delaneys Gesicht wurde für einen Moment heiß. Obwohl die Abschlussarbeit das A und O ihrer Bewerbung war und mit Sicherheit der Hauptgrund, warum sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden war, hatte sie nicht damit gerechnet, so schnell darauf zu sprechen zu kommen. Sie war davon ausgegangen, dass das erste Gespräch lediglich eine Art Plausibilitätstest sein würde.
Sie hatte ihre Abschlussarbeit über die Absurdität von Kartellverfahren gegen den Circle geschrieben, denn die Frage, ob der Konzern eine Monopolstellung hatte oder nicht, war irrelevant, solange er den Menschen das bot, was sie wollten. Sie prägte den Begriff Menschenfreundliche Marktbeherrschung für die nahtlose Symbiose zwischen Unternehmen und Kunde und damit den perfekten Seinszustand des Konsumenten, in dem sämtliche Wünsche effektiv und zu Niedrigstpreisen bedient wurden. Das zu bekämpfen, lief dem Willen des Volkes zuwider, und was hatte es für einen Sinn, wenn Regulierungsbehörden im Widerspruch zu den Wünschen der Bevölkerung standen? Delaney postulierte, dass einem Unternehmen, das alles weiß und alles am besten weiß, doch wohl erlaubt werden sollte, das Leben der Menschen ungehindert zu verbessern. Sie sorgte dafür, dass der Text online veröffentlicht wurde. Er wurde, wie sie erfuhr, in mehreren internen Threads der Every-Belegschaft erwähnt und kurz, aber an wichtiger Stelle, in einem seltenen EU-Urteil zitiert, das zugunsten von Every ausfiel.
»Die Hauptpunkte, die du da formuliert hast, sind bei uns viel diskutiert worden«, sagte Dan. Er war stehen geblieben. Delaney staunte, wie schnell ihre Achselhöhlen zu Feuchtgebieten werden konnten. »Du hast Dinge geschrieben, die wir natürlich für wahr halten, aber nicht so überzeugend in Worte fassen konnten.«
Delaney lächelte. Every war für die Verbreitung der Ideen der Welt – in Form von Worten, Audios, Videos und Memes – von entscheidender Bedeutung, und doch hatte das Unternehmen keine Ahnung, wie es sich gegenüber Regierungen, Regulierungsbehörden und Kritikern erklären sollte. Die Every-Führungsriege, besonders seit dem erzwungenen Halbruhestand von Eamon Bailey, ehemals Marktschreier und Prediger in Personalunion, verhielt sich fortwährend unsensibel, arrogant und gelegentlich geradezu beleidigend. Sie hatten nie den Eindruck erweckt, irgendeinen Kartellrechtsverstoß zu bedauern oder durch die eventuell verderbliche oder Schäden verursachende Nutzung ihrer Produkte zur Einsicht gebracht zu werden. Der Circle hatte jeden Tag millionenfachen Hass verbreitet, was zu unsäglichem Leid und zahllosen Todesfällen geführt hatte; er hatte zum Niedergang der amerikanischen Demokratie beigetragen, und als Reaktion darauf Ausschüsse gebildet, in denen das Problem diskutiert wurde. Das Unternehmen optimierte Algorithmen. Es verbannte bekannte Hassprediger und stellte schlecht bezahlte Moderatoren in Bangladesch ein.
»Wie du unsere Kartellrechtsprobleme aus historischer Perspektive betrachtet hast«, fuhr Dan fort, »das war sehr erhellend, selbst für jemanden wie mich, der ich von Anfang an dabei bin.« Seine Stimme war wehmütig geworden. »Du hast einen sehr wachen Verstand, und genau danach suchen wir hier.«
»Danke«, sagte Delaney und schmunzelte in sich hinein. Genau danach suchen wir hier.
»Wie hat deine Professorin die Arbeit bewertet?«, fragte Dan.
Sie dachte mit einem jähen Bedauern an ihre Professorin, Meena Agarwal. Delaney hatte ihr Seminar »Freie Dinge > Freier Wille« im dritten Semester belegt und war unter Agarwals massivem Einfluss zu der Überzeugung gelangt, dass der Circle nicht nur eine Monopolstellung innehatte, sondern auch das skrupelloseste und gefährlichste Unternehmen war, das es je gab – eine existenzielle Bedrohung für alles Ungezähmte und Faszinierende der menschlichen Spezies.
Als Delaney zwei Jahre später Agarwal bat, ihre Arbeit zu betreuen, sagte die bereitwillig zu, war aber entsetzt, als Delaney ihre 77 Seiten starke Abhandlung über die unternehmensfeindliche Torheit der Reglementierung des Circle abgab. Agarwal hatte Delaney eine Eins gegeben. »Ich habe mich wegen der sorgfältigen Argumentationsführung und Recherche für diese Note entschieden«, schrieb sie, »aber mit tiefen moralischen Vorbehalten gegen Ihre Schlussfolgerungen.«
»Ich war zufrieden«, sagte Delaney.
Dan lächelte. »Gut. Dann gibt es in der akademischen Welt noch immer etwas Respekt für intellektuelle Unabhängigkeit.«
Sie bogen um eine Ecke und wären fast in ein anderes erstes Bewerbungsgespräch geraten. Eine elegante junge Everyone ging neben einem mindestens fünfzigjährigen Mann her, der krampfhaft versuchte, dynamischer und unverzichtbarer zu wirken, als sein Alter vermuten lassen könnte. Sein Brillengestell war orange, sein Button-down-Hemd glänzend schwarz, seine Sneaker neu und neongrün. Die Interviewerin war eine schlanke junge Frau in silbrigen Leggings, und Delaney war sicher, dass sich die Augen der Frau, als sie Dan erblickte, eine Mikrosekunde in gespielter Verzweiflung weiteten.
»Das Alter der Bewerber spielt für uns keine Rolle«, sagte Dan, und Delaney fragte sich, ob er sie mit ihren zweiunddreißig Jahren als jemanden sah, der eine Art Anti-Altersdiskriminierungsquote erfüllte. »Ältere Kandidatinnen und Kandidaten können aus so viel Lebenserfahrung schöpfen«, sagte er und ließ den Blick über Delaneys Schultern gleiten, als ob ihre Lebenserfahrung genau dort zu finden sei.
»Sieh mal«, sagte er und führte Delaney zu einem Spielplatz, der nach einem Entwurf von Yayoi Kusama angelegt und von Every bezahlt worden war. Erwachsene willkommen! stand auf einem Schild und darunter in Klammern: Nur in Begleitung eines Kindes. Delaney überflog das Kleingedruckte, das erklärte, wie wichtig PLAY! (immer mit Ausrufungszeichen) für die Kreativität von Erwachsenen war.
PLAY! war der Name der aktuell vorherrschenden Managementtheorie und folgte damit auf Trends wie Multitasking, Singletasking, Ausdauer, Aus-Fehlern-Lernen, Powernapping, Cardio-Training, Nein-Sagen, Ja-Sagen, Weisheit der Vielen > Bauchgefühl, Bauchgefühl > Weisheit der Vielen, die Viking-Management-Theorie, die Commissioner-Gordon-Workflow-Theorie, X-Teams, B-Teams, Einfachheit schätzen, Komplexität anstreben, Zemblanität suchen, Kreativität durch radikalen Individualismus, Kreativität durch Gruppendenken, Kreativität durch Ablehnung von Gruppendenken, organisatorische Achtsamkeit, organisatorische Blindheit, Mikroarbeit, Makroträgheit, angstvolle Kameradschaft, liebevolle Kameradschaft, liebevoller Terror, Arbeiten im Stehen, Arbeiten im Gehen, Lernen im Schlaf und, zuletzt, Limetten.
»Wie war es so bei Ol Factory?«, fragte Dan und setzte sich auf einen übergroßen Gummipilz. Delaney setzte sich ihm gegenüber auf ein Lama aus recycelten Plastikfasern. Delaney wusste, dass der größte Fehler, den sie jetzt machen konnte, der wäre, ihre früheren Chefs zu kritisieren. »Es war unvergleichlich«, sagte sie. Sie hatte gehört, dass das Wort unvergleichlich bei Every beliebt war. »Sie haben mich sehr gefördert. Ich habe jeden Tag eine neue Welt kennengelernt.« Eine neue Welt kennengelernt. Diese Formulierung hatte sie noch nie benutzt. Aber als sie zu Dan hinüberschaute, sah sie, dass er sie zu befürworten schien.
»Ich fand die Akquisition gut«, sagte Dan. »Der Preis war hoch, aber das Talent war …« Delaney vermutete, dass er normalerweise unvergleichlich gesagt hätte, aber das Wort hatte sie ihm geklaut. Er fand eine Alternative: »… herausragend. Was denkst du über den Übernahmepreis?«
»Talent ist teuer«, sagte sie, und er lächelte. Es war die einzig richtige Antwort, denn die Zahlen entbehrten jeder Logik. Every hatte Ol Factory, ein drei Jahre altes Start-up, das mit seinen zweiundzwanzig Beschäftigten keinen Gewinn erwirtschaftete, für knapp unter zwei Milliarden Dollar gekauft.
»Gut gesagt«, antwortete Dan.
Anscheinend machte eine Firmenübernahme für Tech-Käufer oder -Verkäufer keinen Sinn, wenn der Preis nicht mindestens eine Milliarde betrug. Delaney hatte ein Auge auf Ol Factorys Umsätze gehabt, und ihres Wissens hatte das Unternehmen in der gesamten Dauer seines Bestehens nicht mehr als 23 Millionen Dollar eingenommen. Dennoch hatte Every 1,9 Milliarden Dollar bezahlt. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem unprofitablen Kopfhörerhersteller, der 1 Milliarde gekostet hatte, der unprofitablen VR-Firma, die 2,8 Milliarden gekostet hatte, sowie der unprofitablen Gewaltfreies-Gaming-Firma, die 3,4 Milliarden gekostet hatte. Die Preise schienen eigentlich nur auf der Rundheit der Zahlen und auf einer herrlichen logischen Volte zu basieren: Wenn du eine Milliarde zahltest, war es auch eine Milliarde wert – eine kühne Vorstellung, die die Lehren aus tausend Jahren Geschäftsbuchhaltung im Handumdrehen vergessen machte.
»Ich habe Vijay und Martin noch nicht kennengelernt«, sagte Dan. Er schaukelte jetzt, und Delaney merkte, dass der Pilz einen biegsamen Stiel hatte. Sie fragte sich, ob ihr Lama ähnlich flexibel war. Sie versuchte es. Vergeblich.
»Ich glaube, sie sind in der Romantik«, sagte er und deutete vage in Richtung Campus. Irgendwo dort hockten Vijay und Martin. Delaney mochte die beiden sehr und vermutete, dass sie jetzt unglücklich waren, so wie jedes Gründerteam, das seine Firma verkauft hatte, und dass sie es auch während der vereinbarten fünfjährigen Sperrfrist bleiben würden. Danach würden sie sich vom Acker machen, um Familienstiftungen zu gründen.
Doch die milliardenschweren Akquisitionen sorgten dafür, dass die Technologiewelt weiterlebte und weiterträumte, und die cleversten Unternehmer waren diejenigen, die erkannten, dass es sehr viel leichter und sehr viel logischer war, sich auf eine Übernahme durch Every einzustellen, als entweder auf eigene Faust Profit machen zu wollen – sisyphusmäßiger Irrwitz – oder den tückischen und unberechenbaren Weg eines Börsengangs einzuschlagen.
»Ich weiß, deine Stellenbezeichnung hat sich ein paarmal geändert, deshalb wüsste ich gern mehr über deine Aufgaben bei Ol Factory. Muss nicht unbedingt chronologisch sein«, sagte Dan. »Darf ich?« Er stand auf und deutete an, dass er auf Delaneys Lama wechseln wollte. Delaney verließ ihr Lama und nahm seinen Pilz-Platz ein. »Sie waren amorph«, sagte sie und sah jähe Bewunderung in Dans Augen aufblitzen. Noch so ein Wort, das ihm gefiel. Er war leichtes Spiel, erkannte sie. Jahrelang hatte Every durch seine AutoFill-Algorithmen Tausende Wörter verdrängt und stets die wahrscheinlichsten den weniger verbreiteten vorgezogen, was den unerwarteten Effekt gehabt hatte, dass ganze Bereiche der englischen Sprache nahezu obsolet geworden waren. Wenn ein Wort wie amorph verwendet wurde, war das Ohr eines Everyones überrascht, als hörte es ein schwach vertrautes Lied aus einer fast untergegangenen Zeit.
Delaney schilderte ihren Werdegang bei Ol Factory. Sie hatte mehr oder weniger als Executive Assistant angefangen und war danach eine Zeit lang Office Manager genannt worden, obwohl sich an ihrer Tätigkeit im Grunde nichts änderte, da sie nach wie vor alles umfasste. Sie organisierte die Verpflegung der Beschäftigten, kümmerte sich um die Instandhaltung der Räumlichkeiten, beauftragte die Gärtner und gab ihnen Anweisungen. Sie arrangierte jedes Event, von zwanglosen Meetings der Belegschaft über Geschäftsausflüge nach Presidio bis hin zu Martins Hochzeit auf dem Gipfel des Mount Tamalpais (für die sie ein Team Paraglider engagieren musste, die bereit waren, in Smokings zu fliegen). Das alles erklärte sie Dan mit absoluter Offenheit, aber in der Hoffnung, ihm unmissverständlich klarzumachen, dass sie nicht vorhatte, bei Every Partys zu planen und sich ums Catering zu kümmern.
»Ich habe auch Bewerbungsgespräche mit Bewerbern geführt«, bemerkte sie. »Bloß die ersten Plausibilitätstests.« Sie lächelte Dan vielsagend an, hoffte, dass ihm diese Anspielung auf gemeinsame Aufgaben gefiel.
Er lächelte zurück, aber nur flüchtig. Sie hatte einen wunden Punkt getroffen. Und sie hatte zuvor schon wunde Punkte getroffen. Bei den Everyones, die sie kennengelernt hatte, sechs oder sieben, die ihr in Bars oder bei Abendessen vorgestellt worden waren, handelte es sich ausnahmslos um normale Menschen. Sie waren allesamt idealistisch, sehr oft herausragend auf ihrem Gebiet, und die meisten von ihnen waren imstande, offen über ihre Arbeit und ihr Leben zu reden. Aber bei jedem Einzelnen von ihnen gab es eine Grenze, die nicht überschritten wurde. So konnte sie mit ihnen zwanzig Minuten lang angeregt über die vielen fragwürdigen und lächerlichen Aspekte ihres Lebens bei Every oder über die mitunter positiven, doch meistens fatalen Auswirkungen des Konzerns auf die Welt plaudern, doch gerade wenn Delaney das Gefühl hatte, dass dieser Everyone wirklich sagen und denken konnte, was er wollte, ging irgendein Thema, irgendein Satz zu weit, und der neue Every-Freund nahm eine förmlichere, defensivere Haltung ein. Das Wort Monopol wurde nicht ausgesprochen. Kool-Aid blieb ungesagt. Jeder Vergleich, selbst scherzhaft und im beschwipsten Zustand, von Jim Jones oder David Koresh oder Keith Raniere mit Eamon Bailey – dem Mitgründer des Circle – wurde als geschmacklos und nicht mal annähernd zutreffend eingestuft. Jede Erwähnung von Stenton, einem anderen der Drei Weisen des Circle, der Every verlassen hatte, um eine unheilige Allianz mit einem öffentlich-privaten Unternehmen in China einzugehen, verdarb unwiderruflich jedes Gespräch. Was über Mae Holland, die derzeitige CEO von Every, gesagt werden durfte, war schwer abzuschätzen.
dschungel
Delaney wusste, dass er die Zahl kannte. Sie wusste auch, dass sie, falls sie nicht die genaue Zahl nannte, als jemand dastehen würde, dem nichts an seinen Kolleginnen und Kollegen lag oder der nicht zählen konnte.
»Die hatten da eine gute Work-Life-Balance, findest du nicht?«, fragte Dan. Er zupfte wieder an seinem Reißverschluss.
»Das gefällt mir«, sagte Dan. »Aber nachdem du in so einem kleinen Laden angefangen hast – denkst du, du wirst dich in einem so viel größeren Unternehmen wie Every wohlfühlen? Uns geht es auch um eine gewisse Absorptionsfähigkeit.«
Absorptionsfähigkeit.
Delaney hatte die Absicht, dieses Unternehmen zu vernichten. Sie hatte jahrelang auf die Chance gewartet, für Every zu arbeiten, in das System einzudringen, um es zerschlagen zu können. Ihre College-Abschlussarbeit war der Auftakt zu ihrem Sabotageplan gewesen. Schon da hatte sie gewusst, dass sie für Every wie eine Verbündete wirken musste, eine Schwester im Geiste, die sie gern in ihre Mitte aufnehmen würden. Sobald sie drin war, wollte Delaney die Maschinerie genau unter die Lupe nehmen, nach Schwachstellen suchen und den ganzen Laden in die Luft jagen. Sie würde den Konzern snowden, sie würde ihn manningen. Sie würde ihn ausspionieren und dann deep-throaten. Ihr war egal, ob mit der kultivierten, verdeckten Infodump-Methode, die ihre Vorgänger angewendet hatten, oder mit einem Frontalangriff. Sie hatte nicht die Absicht, irgendwen zu verletzen, würde kein reales Haar krümmen, trotzdem würde sie Every den Garaus machen, seine bösartige Herrschaft auf Erden beenden.
»Hast du in letzter Zeit ein MRT machen lassen?«
»Das ist Adira«, sagte er, während die Thumbnails vorbeiglitten. Er schien zu überlegen, welches Video er Delaney zeigen sollte, einer Person, die er gerade erst kennengelernt hatte. »Sie war schon im Stadium IV, als der Tumor entdeckt wurde«, sagte er und blickte hoch Richtung Bay Bridge, wo ein winziges Auto das Sonnenlicht reflektierte, während es lautlos gen Westen fuhr. »Jedenfalls. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich gesundheitsmäßig vorbeuge. Ich rate dir dringend, das auch zu tun.«
Er scrollte weiter. Delaney betete, dass er kein Video aussuchen, dass er sie nicht bitten würde, es sich anzuschauen. Doch er tat es.
»Hab ich das wirklich geschafft?«, keuchte Adira lächelnd.
Dans Finger tippten aufs Display, er scrollte erneut, suchte nach weiteren Momenten in Adiras Leben, die er ihr zeigen wollte. Er schien alles dazuhaben, alles, was Adira ausmachte, an seinen Arm geschnallt, und Delaney stand neben ihm, sah zu, wie er suchte und suchte.