[1]
»Rostock erinnert an die 30er Jahre«, in Der Tagesspiegel, 13.09.1992, Seite II; die Übersetzung habe ich an einigen Stellen an die englische Fassung des Briefs angeglichen, die unter dem Titel »black women find racism rampant in germany« in der Zeitschrift off our backs erschienen ist (Off Our Backs, Vol. 22, No. 10 (november 1992), S. 18)
[2]
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/_inhalt.html [zuletzt abgerufen am 05.05.2021]
[3]
https://mediendienst-integration.de/artikel/abgeordnete-mit-migrationshintergrund.html [zuletzt abgerufen am 05.05.2021]
[4]
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Bildungsstand/_inhalt.html [zuletzt abgerufen am 05.05.2021]
[5]
https://www.forschung-und-lehre.de/politik/mehr-als-80-prozent-akademiker-im-bundestag-1861/ [zuletzt abgerufen am 05.05.2021]
[6]
Torsten Körner. In der Männerrepublik. Wie Frauen die Politik eroberten, Kiepenheuer & Witsch 2020, S. 30
[7]
Ulrike Schultz: Ein Quasi-Stürmlein und Waschkörbe voller Eingaben: Die Geschichte von Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz; in: Frauen und Recht. Reader für die Aktionswochen der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten, Düsseldorf 2003, S. 54–60 ((https://www.fernuni-hagen.de/rechtundgender/downloads/Art._3.pdf))
[8]
Torsten Körner: In der Männerrepublik. Wie Frauen die Politik eroberten, Kiepenheuer & Witsch 2020, S. 74 ff.
[9]
https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/mdb_zahlen_19/frauen_maenner-529508 (Stand Januar 2021) [zuletzt abgerufen am 05.05.2021]
[10]
https://www.landtag.ltsh.de/parlament/der-19-lt/ (Stand Juni 2017) [zuletzt abgerufen am 05.05.2021]
[a]
Der Job einer Kanzlerin ist das Anstrengendste, das ich mir vorstellen kann. Davon träume ich nicht. Aber was ist, wenn die kleine Samiah davon träumt?
[b]
heute: Schwarze Frauen in Deutschland
[c]
heute: Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
[d]
Der Begriff ist nicht unumstritten. Manche verwenden biracial oder andere Begriffe. Sprachliche Prozesse sind eben komplex und selten abschließbar.
[e]
Danke noch mal, dass ihr mir bei den unzähligen Umzügen geholfen habt. Ich habe es sehr ernst genommen, als ihr mir bei meinem letzten Umzug gesagt habt, dass es jetzt wirklich reicht und ihr nicht mehr helfen werdet. Aber wenn’s doch so weit kommen würde, rufe ich euch trotzdem an xoxo
[11]
https://www.hochschulbildungsreport2020.de/report/ [zuletzt abgerufen am 05.05.2021]
[12]
Maya Angelou sagt diese Sätze zu Dave Chappelle in der Sendung Iconoclasts.
[13]
Aus dem Film »James Baldwin: The Price of the Ticket«.
[14]
Audre Lorde: Sister Outsider. Essays & Speaches, Crossing Press 1984, S. 37; Audre Lorde: Sister Outsider, aus dem Englischen von Eva Bonné und Marion Kraft, Carl Hanser 2021, S. 29f.
Für Mama, Saka, Mariam, Medina & Joschka.
Für alle, die Wege gehen, die vor ihnen noch niemand gegangen ist.
rupi kaur
home body
break down
every door they built
to keep you out
and bring all your people with you
- storm
Es war ein großer Tag und ich stand ratlos vor dem Kleiderschrank. Schon an normalen Tagen ist mir Kleidung wichtig. Sie hat eine Symbolkraft. Aber ich war nicht sicher, was ich darstellen wollte. Welche Bedeutung hatte dieser Moment? Eigentlich hatte ich mir seit Wochen ganz genau vorgestellt, was ich heute tragen würde: ein weißes Cape. Aber es sah nicht gut aus. Ich fragte meine Schwestern und sie stimmten mir zu. Außerdem, dachte ich, war es vielleicht doch ein wenig zu extravagant.
Am Tag zuvor war ich bei der Ostseeparlamentarierkonferenz in Oslo gewesen, am Flughafen hatte ich in einem Laden einen dunkelgrünen Jumpsuit gesehen. Ich hatte ihn anprobiert, er passte, ich kaufte ihn. Jetzt war er plötzlich das perfekte Outfit.
Draußen war es wärmer als mir lieb war und ich nahm ein Taxi, um an diesem großen Tag nicht völlig verschwitzt anzukommen. Ich sprach mit dem Taxifahrer, der mir alles Glück der Welt wünschte: »Das wäre großartig, wenn Sie gewählt werden würden. Was für ein Zeichen für so viele Menschen in diesem Land. Ich habe ja auch einen Migrationshintergrund!« Ich bedankte mich für die herzlichen Worte und dachte darüber nach, was alles passieren könnte.
Theoretisch dürfte nichts schiefgehen. Mein Kollege Rasmus Andresen war ins Europaparlament gewählt worden, sein Amt als Stellvertreter des Landtagspräsidenten musste neu besetzt werden, und die Koalition hatte beschlossen, mich vorzuschlagen. Ich war trotzdem nervös. Würde ich wirklich die erforderliche Mehrheit bekommen? Die Wahl war geheim und vielleicht waren doch nicht alle begeistert davon, dass ich in meinem Alter ein solches Amt bekomme.
Ich stieg aus und atmete tief durch. Zwei Kamerateams warteten auf mich, die mich in den kommenden Monaten immer wieder zu Terminen begleiten würden. Das wusste ich schon und ich hatte mich über die Anfragen gefreut, aber jetzt steigerte es einfach nur die Nervosität. Wenn ich heute nicht gewählt werden würde, dann wäre es nicht nur durch die Liveübertragung des Parlamentsfernsehens, sondern auch noch durch zwei extra angereiste Kamerateams dokumentiert. Super.
Ich ging rein, rauschte an meinen Kolleg*innen vorbei, die mir alle Glück wünschten und mein Outfit positiv kommentierten. In meinem Büro machte sich eines der Kamerateams startklar. Ich sah meine Mitarbeiterin Katrine, was mich immer beruhigt, weil sie weiß, wie es mir in solchen Momenten geht, und dann die Organisation im Blick hat. Wir gingen zusammen runter zum anderen Kamerateam, das ein Vorabstatement aufnehmen wollte. Wie ich mich fühle, wollte der Journalist wissen. »Ich bin sehr aufgeregt!«, antwortete ich.
Der Vorraum des Plenarsaals füllte sich mit Abgeordneten, Gäst*innen und Journalist*innen. Einige fragten mich, ob ich nervös sei, andere wünschten mir Glück, ich bejahte und bedankte mich. Die Wahl war als letzter Punkt vor der Mittagspause angesetzt. Ehrlich gesagt konnte ich mich nicht so ganz auf die Debatten davor konzentrieren. Ich saß im Plenarsaal, blickte zur Tribüne und hoffte, dass meine Freund*innen Anne, James und Annso rechtzeitig erscheinen würden und vor allem meine Familie. Zum ersten Mal würden sie alle gleichzeitig da sein.
Am Tag der Landtagswahl, dem 7. Mai 2017, hatte ich nur eine Person mitnehmen dürfen und ich hatte Saka gefragt, meine älteste Schwester. Am Tag meiner Vereidigung waren meine Freundin Lara, mein Mann Joschka und meine Mutter da, aber meine Schwestern konnten nicht dabei sein. Bei unserer Antirassismuskonferenz, für mich einer der bedeutendsten Tage in diesem Parlament, saßen unzählig viele Freund*innen, Mariam, meine ein Jahr ältere Schwester, und Medina, meine kleine Schwester, meine Mutter und Joschka im Plenarsaal, nur Saka konnte nicht teilnehmen. Heute waren sie alle da. Als ich sie reinkommen sah, war ich beruhigt und glücklich.
Nun stellten sich mir andere Fragen, zum Beispiel, wie es genau ablaufen würde. Musste ich, falls ich gewählt würde, nach vorne gehen und noch mal einen Eid schwören? Würde die Sitzung einfach weitergehen? Ich beschloss, dass das erst mal nicht so wichtig war. Wichtiger war, dass es mit der Wahl klappte. Im schleswig-holsteinischen Landtag gibt es 73 Abgeordnete, demnach reichten 37 Stimmen, so viel hatte ich mir vorher ausgerechnet. Da sich für heute 4 Abgeordnete abgemeldet hatten, würden 35 Stimmen reichen. Ich wollte in dem Moment, in dem das Ergebnis verlesen wird, nicht lange überlegen müssen. Es war nicht meine erste Wahl und auch nicht meine erste Ergebnisverkündung, aber dazu kommen wir später.
Der Tagesordnungspunkt dreizehn wurde aufgerufen: »Wahl einer Landtagsvizepräsidentin«. Ich konnte die Aufregung kaum unterdrücken und rutschte nervös auf meinem Stuhl herum. Auf der Tribüne saß meine Familie in der letzten Reihe hinter Schüler*innen und anderen Besucher*innengruppen und reckte die Köpfe. Ich hatte ihnen eine Nachricht geschickt, dass sie sich nach vorne setzen sollten, aber sie antworteten, sie könnten von ihren Plätzen alles sehr gut sehen. Es war so typisch! Wenn es eine Sache gibt, die meine Familie wirklich gut kann, dann ist es, sich bloß nicht unnötig in den Vordergrund zu drängen. Aber da hatten sie die Rechnung ohne Daniel Günther und Monika Heinold gemacht. Der Ministerpräsident kam zu mir und sagte, er habe Monika, seine Stellvertreterin und meine Parteikollegin, gebeten, meiner Familie vorzuschlagen, sich nach vorne zu setzen. Ich war sehr dankbar für diese herzliche Geste, und auch dafür, dass er mir viel Glück für die Wahl wünschte. Nun saß meine Familie dort, wo ich sie sehen konnte, und es ging los.
Der Landtagspräsident eröffnete den Tagesordnungspunkt: »Mit der Drucksache 19/1625 haben die Fraktionen von CDU, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP die Abgeordnete Aminata Touré zur Wahl als Landtagsvizepräsidentin vorgeschlagen …« und nun wurde es hart für den schüchternen Teil meiner Familie (und das sind eigentlich alle außer Saka und mir), »… in diesem Zusammenhang darf ich die Familie ganz herzlich auf der Tribüne des Schleswig-Holsteinischen Landtages begrüßen!« Es wurde geklatscht und ich bin mir sicher, dass es ihnen da oben todesunangenehm war. Aber sie ließen sich nichts anmerken und lächelten tapfer. Für einige Sekunden dachte ich daran, wie unglaublich gut es ist, dass wir immer zusammengehalten haben. Ich glaube, dass es vielen Menschen so geht, die außer der Kernfamilie keine weiteren Verwandten im selben Land haben. Es gab immer nur uns sechs. Uns fünf, als mein Vater uns verließ.
Nachdem das Prozedere erklärt worden war, riefen die Schriftführer*innen die Abgeordneten einzeln auf, zur Wahlkabine zu gehen und ihre Stimme abzugeben. Als mein Name vorgelesen wurde, stand ich auf und ein Kamerateam folgte mir bis kurz vor die Wahlkabine. Ich hatte dem Film zugestimmt, also musste ich da jetzt durch. Nachdem alle gewählt hatten, wurde die Sitzung für zehn Minuten unterbrochen und ich konnte endlich wieder Luft holen.
Nach der Pause folgte das Ergebnis. Ich warf noch einen Blick zur Tribüne, zu meiner Familie, und konzentrierte mich dann darauf, nach vorne zu schauen. »Abgegebene Stimmen 69, gültige Stimmen 69, ungültige Stimmen keine, Jastimmen 46, Neinstimmen 15, Enthaltungen 8. Damit ist der Wahlvorschlag mehrheitlich angenommen worden.« Im offiziellen Protokoll der Sitzung stehen danach in Klammern die Worte »Anhaltender Beifall im ganzen Haus«. Kolleg*innen stürmten auf mich zu, umarmten mich und ich erhielt Blumensträuße. Anscheinend gab es also keine zusätzliche Vereidigung. Nach den Glückwünschen folgten die Interviews. Eine Journalistin fragte mich, ob ich enttäuscht sei, dass nicht alle Abgeordneten der demokratischen Fraktionen für mich gestimmt hätten, ich erwiderte, dass ich einfach nur froh sei, gewählt zu sein. Wenn man die Dinge so mache, wie ich sie mache, sagte ich ihr, dann wisse man, dass nicht alle Menschen es nur großartig finden.
Der Saal war inzwischen leer, weil alle in die Mittagspause gestürmt waren. Ich ging raus und da standen meine Familie und meine Freund*innen. Ich lief auf sie zu und umarmte alle. Zuletzt meine Mutter und ich verkniff mir die Tränen, denn natürlich hielten auch die zwei Kamerateams auf diesen Moment.
Ich hatte völlig unterschätzt, was nach dieser Wahl passieren würde. Meine Wahrnehmung war falsch, ich dachte nämlich, dass es vielleicht für meine Familie und mich etwas Besonderes war, und dass vielleicht politikinteressierte Menschen in Schleswig-Holstein davon Notiz nehmen würden. Es kam anders. Die nächsten Tage bestanden aus einem einzigen Ansturm von Presseanfragen, es gab nicht nur in Deutschland alle möglichen Meldungen und Berichte, sondern auch in den USA, in Großbritannien und sogar in Mali, dem Land, in dem meine Eltern geboren waren. Und was noch viel wichtiger war: unfassbar viele Menschen, die sich mit mir freuten, die mir Nachrichten schrieben.
Ich war zur ersten afrodeutschen und jüngsten Vizepräsidentin in einem deutschen Parlament gewählt worden. Obwohl ich eigentlich sehr viel über diese Dinge nachdenke, hatte ich unterschätzt, wie viel es auch anderen Menschen bedeuten würde, mich an diesem Ort zu sehen.
Der 28. August 2019, als ich zur Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags gewählt wurde, war einer der Tage, an denen ich mich frage, wofür ich stehen möchte. Was ich mit der Aufmerksamkeit tun will, die mir entgegengebracht wird, und was ich mit der Macht anstellen möchte, die ich als Abgeordnete ja zweifellos habe. Aber natürlich sind das keine Fragen, die man sich einmal stellt, beantwortet und abhakt. Sie begleiten mich jeden Tag, seit ich Politik mache.
Auch in diesem Buch möchte ich mich diesen Fragen widmen. Ich möchte aufschreiben, was es bedeutet, jung, Schwarz und eine Frau zu sein. In unserer Gesellschaft. In Deutschland. In der Politik. Ich möchte meine Erfahrungen teilen und den vielen Schwarzen Menschen, Frauen, People of Color, Menschen aus marginalisierten Gruppen und jungen Menschen, die etwas ändern wollen, aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen, den Anstoß geben, den ich brauchte, um in die Politik zu gehen. Nicht einfach, weil das für mich die richtige Entscheidung war, weil diese Arbeit mich erfüllt, weil sie tolle Begegnungen und große Momente (auf die frustrierenden komme ich erst später zu sprechen) mit sich bringt, sondern, weil die Politik genau diese Menschen braucht.
Das Bild, das viele junge Menschen von Parteipolitik haben, und das auch ich einmal hatte, ist nicht besonders gut. Manches davon sind Vorurteile, manches sind Dinge, die auf den ersten Blick nicht besonders einladend, in einer Demokratie aber ganz einfach notwendig sind. Doch es gibt durchaus Elemente in diesem negativen Bild, die der Wahrheit entsprechen. Posten, die nur der Posten wegen angestrebt werden und nicht für die Gestaltungsmacht, die mit ihnen einhergeht. Aufmerksamkeit, die nur für das eigene Ego gesucht wird und nicht der Macht zur Veränderung wegen, die sie bedeutet. Es gibt Entscheidungen, die aus den falschen Gründen getroffen werden, und Entscheidungen, die nicht richtig erklärt und begründet werden. Das alles gibt es, ich konnte es nun schon ein paar Jahre erleben. Und die Folgen davon lassen sich leider auch von außen sehr leicht beobachten: Das Vertrauen in Politik als den Ort, an dem der Rahmen für unser Zusammenleben gefunden wird, nimmt ab. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem wir mit unterschiedlichen Krisen konfrontiert sind, die kluge Korrekturen dieses Rahmens brauchen. Sei es die Klimakrise, die Spaltung der Gesellschaft oder soziale Ungerechtigkeit.
Das sind Probleme, für die die Politik Lösungen finden muss. Und dafür braucht es Menschen, die sich dieser Aufgabe annehmen, die die Probleme sehen und die den Anspruch haben, etwas zu verändern. Denn ich glaube, dass Politik mehr sein kann – mehr sein muss – als die Verwaltung der gegebenen Verhältnisse, dass es um mehr gehen muss als um Machterhalt.
Ich möchte Menschen dafür begeistern, sich politisch einzubringen, weil es notwendig ist und weil es sich lohnt. Denn obwohl viele junge Menschen in Deutschland es nicht anders kennen, ist unsere Demokratie keine Selbstverständlichkeit. Sich für sie einzusetzen und sie zu verteidigen muss unser aller Anliegen sein. Sie lebendig zu halten und sie mit neuen Ideen zu bereichern, ist keine Sache, die wir irgendwem oder anderen Generationen überlassen können. Und dafür braucht es Menschen, die mit verschiedenen Erfahrungen, Motivationen und Vorstellungen zusammenkommen, um gemeinsam gute Lösungen zu finden.
Meine Eltern sind in einem Land aufgewachsen, in dem es keine funktionierende Demokratie gab. Ich bin immer dankbar dafür gewesen, in einer Demokratie zu leben und es ist eine Ehre für mich, Abgeordnete sein zu dürfen. Aber es gibt unzählige Möglichkeiten, sich politisch einzusetzen, in einer Partei, in Organisationen, hauptberuflich oder ehrenamtlich. Nicht alles liegt allen gleich gut, nicht alles passt zu den eigenen Talenten oder Fähigkeiten. Ich treffe oft Menschen, die es sich nicht vorstellen können, ein politisches Amt zu übernehmen. Weil sie Angst haben, dann ständig unterwegs und erreichbar sein zu müssen, ihr ganzes Privatleben einzubüßen, sich ständig auf anstrengende Diskussionen einlassen zu müssen oder sich zu langweilen – es gibt natürlich unzählige Gründe. In diesem Buch möchte ich von meiner Arbeit als Politikerin erzählen, denn ich habe schon oft die Erfahrung gemacht, dass sich mit ein bisschen Wissen sehr viele der Vorbehalte auflösen, die sich auf Gerüchte und Vermutungen stützen. Ich verspreche nicht, dass die folgenden Geschichten in allen Punkten dem widersprechen, was an Vorurteilen über Politiker*innen und ihre Arbeit in Umlauf ist. Aber ich habe doch den Anspruch, deutlich zu machen, dass es keine Vorgaben dafür gibt, wie man zu sein hat und wer man zu sein hat, wenn man in der Politik ist. Zum Glück. Denn die Politik und damit die Gesellschaft können nur davon profitieren, dass die Aufgabe Politiker*in immer wieder neu ausgefüllt wird.
Es sollte in der Politik mehr Menschen geben, die etwas verändern wollen und die dafür auf verschiedene Hintergründe und Erfahrungen zurückgreifen können, migrantische, arme Personen oder Angehörige anderer marginalisierten Gruppen. Dass diese Menschen dort unterrepräsentiert sind, ist weder ein Zufall, noch ist es die Folge von fehlender Motivation. Es liegt auch nicht daran, dass sie sich zu fein dafür sind, dass ihnen ihre Zeit zu schade ist oder sie Besseres zu tun haben. Es liegt an den Zugangsbarrieren. Wer die politischen Räume nur aus der Ferne kennt, wer ohne das selbstverständliche Wissen darüber aufgewachsen ist, wie Politik funktioniert, wie man sich als Politiker*in verhält, darstellt, positioniert oder absichert, wird genau dadurch davon abgehalten, selbstbewusst in diese Räume zu gehen. Wenn ich von meinem Weg in die Politik erzähle, von den Herausforderungen und Rückschlägen, dann um genau dagegen anzukämpfen. Denn Selbstverständlichkeiten brechen auf, wenn man um sie weiß. Wenn man die Verhaltensmuster zu verstehen beginnt, wenn man die Rituale als solche erkennt.
Doch fehlendes Wissen um die Vorgänge ist nur einer von zahlreichen Mechanismen, die dafür sorgen, dass Menschen über sehr unterschiedliche Möglichkeiten verfügen, um »in die Politik zu gehen«. Denn es gibt viele Menschen, denen es an anderen Dingen fehlt, in deren Alltag die Prioritäten anders liegen. Die keine Zeit haben, weil sie mit ihren verschiedenen schlecht bezahlten Jobs gerade so hinkommen. Weil sie Kinder haben oder Menschen in ihrem Umfeld pflegen. Oder keine Kraft mehr haben, weil sie täglich Diskriminierung ausgesetzt sind. Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen nicht nur unterschiedliche Startbedingungen haben, sondern auch unterwegs noch sehr unterschiedlichen Problemen begegnen. Und klar, man könnte diese Probleme als persönliche Herausforderungen abtun – aber wenn so vielen Menschen jeden Tag die gleichen Probleme begegnen, sind es eben politische Herausforderungen. Das müssen wir verstehen und angehen, wenn wir als Gesellschaft und als Politik mehr sein wollen.
Heute, knapp zwei Jahre nach diesem Tag und fast vier Jahre, nachdem ich Landtagsabgeordnete wurde, schreibe ich darüber. Was in dieser Zeit passiert ist, fühlt sich für meine Familie und mich manchmal immer noch surreal an. Niemals hätten wir uns vorstellen können, dass eine von uns eines Tages in einem Parlament sitzen würde, dass eine von uns diese Gesellschaft vertreten und Entscheidungen für sie treffen würde. Es sind die Momente, in denen ich mir vornehme, das Privileg, Politik machen zu dürfen und Abgeordnete sein zu können, für diejenigen zu nutzen, die dieselben Erfahrungen gemacht haben wie meine Familie und ich. Für Menschen, die in den meisten Strukturen unterrepräsentiert sind aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität, ihrer Herkunft oder ihrer Religion.
Dieses Buch soll ein Beitrag sein, diesem Anspruch näherzukommen. Ich wollte es jetzt schreiben und nicht irgendwann als Rückschau auf mein Leben in der Politik. Als ich mir vor einigen Jahren überlegte, ob ich in eine Partei gehen soll, und später, ob ich mich für ein Amt oder ein Mandat bewerben soll – und ich treffe heute oft junge Menschen, die genau in dieser Situation sind –, habe ich immer wieder Autobiografien von großen Politiker*innen gelesen. Es waren bessere und schlechtere Bücher dabei, aber manchmal hätte ich es doch gerne näher dran gehabt: Ich hätte gerne von jemandem gelesen, der*die ganz unmittelbar vor meiner Haustür gerade Politik macht. Vielleicht ist das hier der Versuch, ein solches Buch zu schreiben. Ich hoffe, dass es einige von euch motiviert. Manchmal scheinen die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, unfassbar groß und nicht lösbar. Man fragt sich, was für einen Unterschied macht es schon, wenn ich da nun auch mitmische? Aber ich glaube, dass es eben einen Unterschied macht. Dass jede Generation die Aufgabe hat, diese Gesellschaft mitzugestalten und zu verändern. Zum Guten.
Weil wir mehr sein können.
Wir sind die nächsten Generationen
voller Träume, die wahr werden können.
Fühlen uns schuldig
für die Träume unserer Eltern,
die nicht wahr werden konnten.
Ich blicke hoch,
sehe meine Mutter
auf der Tribüne.
Es ist unser Moment –
und doch bin ich es, die ihn lebt.
Wir gewöhnen uns daran.
In dem Moment, in dem sie dieses Land betreten,
beerdigen unsere Eltern ihre Träume.
Ihre Träume sind fortan unsere
und unsere ihre.