MITTE

Inhaltsverzeichnis

Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche

Berlin

Prinz-Albrecht-Straße 8

 

An das

Jugendamt Mitte

Berlin C

Klosterstraße 68   Berlin, den 14. August 1936

 

Betr. THORMANN, FRIEDRICH, geb. 13. März 1921

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

der oben genannte Minderjährige Thormann, Friedrich, ist am 11. August 1936 seiner Pflegefamilie entlaufen, allem Anschein nach, um sich einer Vernehmung durch die Geheime Staatspolizei zu entziehen, zu der er aufgrund mutmaßlicher Beleidigung des Führers und Verunglimpfung der nationalsozialistischen Bewegung vorgeladen war. Ein Fahndungsbefehl an alle Staatspolizeileitstellen ist ergangen, jedoch ist auch die Unterstützung der Jugendfürsorge in diesem Vorgang von größter Wichtigkeit.

 

Es ist davon auszugehen, daß vorgenannter Minderjähriger zu dem unsteten Leben auf der Straße zurückgekehrt ist, das er schon vor seiner Aufnahme durch Pflegeeltern im Juni 1933 führte, nachdem er sich, beginnend September 1930, wiederholt der Obhut der staatlichen Jugendfürsorge entzogen hatte.

 

Insbesondere die ersten Pflegekindjahre im Hause des Ehepaares Gereon Rath dürften für die Entwicklung des Jungen nicht förderlich gewesen sein, da es sich bei den Pflegeeltern um politisch unzuverlässige Volksgenossen handelt, wie sich nach nochmaliger Prüfung herausgestellt hat. Nach Intervention des Jugendamtes Charlottenburg wurde

 

Die Organe der Jugendfürsorge sind angehalten, den Thormann, sollte er aufgegriffen werden, unverzüglich an das Geheime Staatspolizeiamt zu übergeben. Das Jugendamt Mitte hat dahingehend die Federführung zu übernehmen und alle Jugendämter in Berlin und Umgebung entsprechend ins Benehmen zu setzen.

 

Bezüglich des flüchtigen Minderjährigen gilt noch anzumerken, daß Thormann, sollte er seinen früheren Gepflogenheiten treu geblieben sein, höchstwahrscheinlich vor den Bahnhöfen der Stadt bettelnd anzutreffen sein wird. Diesen Orten ist seitens der Beamten der Jugendwohlfahrt erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Entsprechende Kontrollen sollten regelmäßig durchgeführt werden. Berichte bitte direkt an den Unterzeichner. Andere Dienststellen sind nicht zu beteiligen.

 

Heil Hitler!

 

gezeichnet

Steinke, Oberkommissar

Berlin, den 11. Oktober 1936

postlagernd

Postamt C1

Berlin

Spandauer Straße 13–14

 

An Fräulein

Hannelore Schneider

Breslau

Junkernstraße 12

Liebe Hannah,

 

ich darf Dich doch noch so nennen, oder? Auf den Umschlag habe ich natürlich Hannelore geschrieben, schließlich heißt Du jetzt so, aber in den Brief kann niemand hineingucken, gepriesen sei das Briefgeheimnis, und für mich bist Du eben immer noch Hannah. Wenn Du nicht willst, daß ich Dich so nenne, mußt Du mir das sagen. Ich habe die Hannah von damals jedenfalls sehr gut in Erinnerung.

Wie Du am Absender siehst, habe auch ich meinen Namen geändert, aber nur den Nachnamen. Den alten Fritze Thormann gibt’s nicht mehr, der heißt jetzt Hutzke. Warum? Das ist eine komplizierte Geschichte, die paßt nicht in einen Brief, die muß ich Dir mal erzählen, wenn wir uns sehen. Vielleicht ergibt sich dazu ja bald eine Gelegenheit. Es ist so viel Zeit vergangen, da sollte es doch langsam wieder möglich sein, daß wir uns treffen, ohne daß das gleich Gefahr heraufbeschwört.

Abgesehen von meinem neuen Nachnamen bin ich ganz der Alte geblieben, obwohl schon eine Menge passiert ist in den letzten Jahren. Bei Dir wahrscheinlich nicht weniger, kann ich mir vorstellen. Wie ist es Dir so ergangen, wie lebt es sich in Breslau? Hast Du in dem Krämerladen angefangen, von dem Du in Deinem letzten Brief berichtet hast? Dein letzter Brief. Mein Gott, wie lange das schon her ist!

Ich hätte Dir schon viel früher mal geschrieben, aber Charly hatte mir das verboten. Erst einmal muß Gras über die Sache wachsen, hat sie immer gesagt, aber das ist es nun nach so langer Zeit doch auch, denke ich. Hier in Berlin hat sich in der letzten Zeit so viel verändert, da interessieren sich die Leute nicht mehr für ein Waisenmädchen, das vor fast vier Jahren aus der Irrenanstalt ausgerissen ist. Ich glaube nicht, daß es über Hannah Singer überhaupt noch eine Akte gibt, und wenn, dann verstaubt die in irgendeiner Amtsstube und ist längst hinters Regal gefallen.

Auch für mich hat sich einiges geändert, das kann ich Dir sagen. Gereon und Charly leben jetzt in Prag, kannst Du Dir das vorstellen? Charly hat mich gefragt, ob ich

Die Stelle habe ich bei einem Kohlen- und Brennstoffhandel hier in Mitte. Nach Ostern kann ich anfangen, zum Beginn des neuen Lehrjahres, und bis es soweit ist, verdiene ich erst einmal Geld und helfe bei der Auslieferung. Kann nicht schaden, diese Seite des Geschäfts kennenzulernen, wenn man später dann nur noch mit Zahlen zu tun hat, sagt mein Chef. Und da hat er ja recht.

Obwohl ich kolossal gerne lese und schreibe, war ich auch immer gut im Rechnen, da ist Kaufmann genau das Richtige. Fremdsprachen habe ich auch gelernt, Französisch und Englisch, dank Gereon und Charly, die kann man im Leben gut gebrauchen, nicht nur als Kaufmann. Wie Du immer gesagt hast: Was der Mensch einmal lernt, kann ihm keiner mehr nehmen.

In der Schule war ich zuletzt sogar Klassenprimus. Aber ich bin kein Streber, nicht daß Du was Falsches von mir denkst! Ich habe jeden abschreiben lassen, der wollte, und wenn die anderen etwas ausgeheckt haben, war ich immer dabei. Ich habe nie gekniffen, wenn wir dem ollen Lehrer Höltzel mit seinem Wilhelmschnauz, der im Unterricht öfter mal einschlief, einen Streich gespielt haben. Einmal haben wir es sogar geschafft, ihm die Schnurrbartspitzen abzuschneiden, während er an seinem Katheder schlief. Das heißt: nur eine, und das war sogar noch lustiger. Wie das aussah! Er hat es ewig nicht gemerkt. Und dann hat er sich die andere Hälfte selbst

Na, diese Zeiten sind vorbei, auf der Kaufmännischen Berufsschule wird es ernster zugehen. Außer mir sind da fast nur Realschüler; mal sehen, wie die einen Volksschüler behandeln. Na, die sollen sich vorsehen, die sollen sich bloß nicht einbilden, sie seien etwas Besseres! Denen werde ich’s schon zeigen; auch einer wie ich kann schließlich etwas aus seinem Leben machen, wenn er nur helle genug ist. Das sagt sogar der Führer. Ich lasse mich jedenfalls nicht unterkriegen, da kannst Du Gift drauf nehmen!

Schade, Hannah, daß Du nicht mehr in Berlin lebst. Im Sommer war hier eine Menge los, wegen der Olympiade. Das hätte Dir gefallen; Mensch, war das ein Rummel! Besucher aus aller Welt waren in der Stadt, Gereon hat sogar eine amerikanische Familie zu Hause aufgenommen, die Millers. Deren Sohn Frank ist so alt wie ich, der war eigentlich ganz knorke.

Während der Spiele habe ich im Olympischen Dorf gelebt, ich war nämlich beim Jugendehrendienst, davon hast Du vielleicht gehört. Wir haben uns um die Sportler gekümmert, und so habe ich mich mit David Albritton angefreundet, der hat Silber im Hochsprung gewonnen, und Dave hat sich das Zimmer mit seinem Freund Jesse geteilt. Richtig: mit Jesse Owens!

Im Ernst, auch den habe ich kennengelernt, höchstpersönlich sogar! Wie Dave ist Jesse ein ganz patenter Kerl, der sich überhaupt nichts auf seine Leistungen einbildet. Dabei hat er

Mit Dave war ich nicht nur in Berlin unterwegs, sondern auch einen ganzen Tag lang im Stadion, als die Hochspringer ihren Wettkampf austrugen. Ich war sein »Maskottchen«, hat Dave immer gesagt. Und für Silber hat es dann ja auch gereicht. Das Olympiastadion ist ganz schön beeindruckend, sage ich Dir. Ich habe sogar den Führer gesehen, wie er in seiner Loge saß. Und Leni Riefenstahl, wie sie fleißig gefilmt hat. Ich bin gespannt, wann der Film endlich rauskommt. Den vom Reichsparteitag habe ich bestimmt dreimal gesehen, einmal auch mit Gereon. Und letztes Jahr bin ich sogar mit der HJ nach Nürnberg gewandert, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich weiß ja, daß Du Dich in der Hauptstadt nicht blicken lassen darfst, aber trotzdem ist es schade, daß Du nicht hier warst. Olympia in Berlin, das war wirklich etwas Besonderes.

Meinst Du, es ist für Dich wirklich immer noch gefährlich herzukommen? Die schlimme Geschichte mit Huckebein und so liegt doch nun schon ewig und drei Tage zurück. Außerdem ist er ja tot.

Ich würde Dich wirklich gerne wiedersehen nach all den Jahren, was meinst Du? Du kannst ja mal darüber nachdenken. Jedenfalls bist Du hier in Berlin jederzeit willkommen, Du mußt es nur sagen. Ich kann Dich auch bei mir verstecken, ich wohne nämlich inzwischen allein.

Du erreichst mich postlagernd über das Hauptpostamt C1,

 

Beste Grüße aus Berlin

Dein Fritz