I

Sie hätte es wissen müssen, war Inas erster Gedanke, als Caroline heulend vor ihr stand. Sie kniete sich hin und nahm ihre kleine Tochter in die Arme. »Sie haben mich weggeschickt«, schluchzte Caroline, und die Tränen stürzten über ihre Wangen. »Einfach weggeschickt!« Die Enttäuschung schüttelte den kleinen Körper, und Ina spürte ein Gefühl aufsteigen, das ihr den Brustkorb zusammenschnürte und einen dumpfen Ton im Kopf erzeugte.

»Sei nicht traurig«, beherrschte sie sich tröstend zu sagen. »Sie haben vielleicht nicht richtig verstanden, was du wolltest!«

»Sie haben genau richtig verstanden, was ich wollte«, wehrte Caroline ab und stemmte sich leicht aus der Umarmung, um ihrer Mutter ins Gesicht sehen zu können. »Sie sind einfach nur böse. Richtig böse!«

Dabei schien es vor einer Stunde noch ein richtig schöner Tag zu werden. Ganz gegen ihre Gewohnheit, am Sonntag gemütlich auszuschlafen, war Caroline früh aus dem Bett geschlüpft, hatte sich ihr schönstes Sommerkleid angezogen, die langen Haare selbst gebürstet, die Zähne geschrubbt und sich anschließend in bester Festtagslaune ihrer Mutter präsentiert. Ina rekelte sich schläfrig im Bett, warf den ersten Blick auf ihre Tochter und den zweiten auf die Uhr. »Was ist denn jetzt los?«

»Mutti, ich helfe Nancy beim Servieren. Herr Adelmann hat doch heute Geburtstag, das schafft sie nicht alleine mit all den Gästen. Gibst du mir dein größtes und schönstes Tablett mit?«

Gemeinsam hatten sie ein passendes Tablett ausgesucht, dann begleitete Ina ihre sechsjährige Tochter zur Haustür, wünschte ihr viel Spaß und entschied sich, da sie nun schon mal auf war, den strahlenden Morgen mit einem Frühstück im Garten zu begrüßen.

Sie setzte schnell Kaffee auf, legte Croissants zum Aufbacken in den Backofen und fischte die Wochenendzeitung aus der Ablage. Noch immer in dem halblangen T-Shirt, in dem sie auch geschlafen hatte, ging sie barfüßig in ihren Garten, um den kleinen Gartentisch abzuwischen, zu decken und sich schließlich aufatmend hinzusetzen. Ina schloß für einen Moment die Augen, genoß die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und beglückwünschte sich zu der herrlichen Ruhe. Sie konnte es wahrlich gebrauchen, mal an nichts außer an sich selbst zu denken. Dann goß sie sich einen Kaffee ein und liebkoste ihren Garten mit ihren Blicken. Er war nicht übermäßig groß, aber durch die vielen Büsche für die Nachbarn ziemlich uneinsehbar und dazu eher verwildert: Es blühte, was blühen mochte, selbst wenn es Unkraut war.

Ina schaute an dem dichten Nußbaum hoch, der in der Ecke zum Nachbargrundstück stand und aus dem plötzlich ein wildes Gezwitscher anhob, konnte aber durch das grüne Laub keinen einzigen Vogel entdecken. Wahrscheinlich war Chou-Chou, Nachbars getigertes Raubtier, auf Beutezug.

Mit sich und der Welt zufrieden, schlug Ina die Zeitung auf und stieß gleich auf eine halbseitige Anzeige. Schau an, dachte sie, während sie die Glückwünsche zum Geburtstag des ehemaligen Großindustriellen Anno Adelmann las, die Töchter haben sich selbst ein Denkmal gesetzt. Die Dr. Dr. der Ehemänner waren fetter gedruckt als der Name der Hauptperson, des Geburtstagskindes. Nancy wird darüber lachen, dachte Ina, während sie herzhaft in ihr Croissant biß, und der alte Herr vermutlich auch.

In Anno Adelmanns alter Villa am See war zu diesem Zeitpunkt bereits der Streit der Töchter darüber entfacht, wer die aufwendige Glückwunschanzeige zum 85. Geburtstag ihres Vaters in der Regionalzeitung zu bezahlen habe. »Keiner hat etwas von einer halben Seite gesagt«, beschwerte sich Thekla, die älteste der vier Schwestern, am Frühstückstisch. »Ihr seid ja nicht bei Trost. Was wollt ihr erst an seinem 90. schalten?«

Das allgemeine Schweigen zeigte ihr, daß keine an einen 90. Geburtstag dachte.

Renate, selbst mit vier Kindern gesegnet, schenkte sich aus der alten Porzellankanne Kaffee nach. »Vater hat genug Geld! Soll er es bezahlen! Wozu braucht er die ganze Kohle!«

Wieder schwiegen alle, denn so recht war natürlich keine dafür, daß er ausgeben sollte, was ihnen später zustand.

»Trotzdem«, wandte Bernadette, mit ihren 45 Jahren die Jüngste, nach einer Weile ein, »das können wir nicht machen. Wir können ihm nicht zum Geburtstag eine Anzeige in die Zeitung setzen und ihn das selbst bezahlen lassen. Das geht wirklich nicht. Wir könnten uns die Rechnung teilen. Das werden wir doch noch hinkriegen!«

Ein unwilliger Blick ihrer Schwester Lydia ließ sie die Achseln zucken. »Mein Gott«, fügte sie leise hinzu, »das wird er uns doch noch wert sein!«

»Von wert sein spricht ja auch kein Mensch! Nur davon, daß so ein Aufwand nicht nötig gewesen wäre. Hier in der Stadt weiß sowieso jeder, daß er 85 wird! Steht schließlich im Anzeiger – und zwar kostenlos!« Thekla drehte sich unwillig nach der Tür um, die zu seinem Schlafzimmer führte. »Wo bleibt er überhaupt? Sicher kommen bald die ersten Gäste, und er steckt noch im Schlafanzug!«

»Was erwartest du?« Renate zog die Augenbrauen hoch, und alle drei wußten, was sie sagen wollte: Mit dieser Schlampe von Pflegerin, die ihn seit dem Tod der Mutter vor zehn Jahren betreute, konnte ja nichts funktionieren. Und nicht nur das. Diese Frau war schlicht unter ihrem Niveau und verschlang, bei Licht besehen, auch noch ungerechtfertigterweise einen Batzen Geld.

Anno Adelmann ließ sich Zeit. Seit seinem zweiten Schlaganfall wußte er, daß Gott es gut mit ihm meinte. Noch war er hier, noch konnte er jeden Tag genießen, die Lähmungen waren so weit zurückgegangen, daß er sein linkes Bein, dank der täglichen Gymnastik mit Schwester Nancy, nur noch unmerklich nachzog und auch den linken Arm wieder, wenn auch nicht hundertprozentig, so doch ausreichend, einsetzen konnte. Er stand am Fenster, während er sich langsam anzog, und schaute über sein Grundstück zum See, der wie ein Spiegel vor ihm lag. »Es wird ein herrlicher Tag«, sagte er und drehte sich zu Nancy um, die ihm seine Kleidungsstücke reichte und dabei allerlei Grimassen schnitt. Er mußte lachen, denn es war klar, daß sie die Familie nachäffte, die nun sicherlich bereits ungehalten am Frühstückstisch saß.

»Schwester Nancy, die Eier sind kalt«, zischelte Nancy und tanzte dabei mit hoch erhobenem Zeigefinger so temperamentvoll um ihre eigene Achse, daß ihre 130 Kilo in wallenden Aufruhr gerieten.

Caroline hatte sich vor einem Jahr mit Nancy angefreundet. Nancy war so, wie sich Kinder eine Spielgefährtin vorstellen: eine Mischung aus Clown und Südstaaten-Nana, immer etwas nach Marzipan riechend, chaotisch und dabei kreativ, voll komischer Impulse und einem gewaltigen Lachen, das alle ernsten Erwachsenen niederstreckte, sobald sie in ihre Nähe kamen. Sie lebte mit ihren Pfunden ohne Rücksicht auf Kalorien, fand, ganz wie die Kinder, daß Schokoladenkuchen weitaus besser schmecke als Salat, und sammelte Abfall, denn sie fühlte sich zur Abfallkünstlerin berufen und produzierte und bastelte mit Kindern und Anno unzählige absonderliche Kunstwerke. Nebenbei bezeichnete sie sich als Königin Nancy I. der Vereinigten Künstlerrepubliken des Planeten Erde und versuchte unablässig, die Welt zu verbessern, kurz, sie wirkte auf ihre Umgebung entweder entwaffnend oder verrückt. Für Anno Adelmann hatte sie darüber hinaus eine besondere Bedeutung: Sie hatte ihm nach dem Tod seiner geliebten Frau das Lachen zurückgegeben, er entdeckte durch ihre unkonventionelle Art längst verschüttet geglaubte Seiten an sich und begann seinerseits, im Lauf der Jahre die Welt der Ehrgeizigen und vermeintlich Großen weniger ernst zu nehmen.

Als es an der Haustür stürmisch klingelte, warteten die Frauen am Tisch zunächst, daß Nancy die Tür aufmachte. Doch die ließ sich nicht blicken. So erhob sich schließlich Thekla. »Könnte jemand von der Familie sein!«

Sie glaubte es selbst nicht, und auch von ihren Schwestern glaubte es keine. Die Ehemänner hatten es vorgezogen, wenn überhaupt, dann frühestens gegen Mittag anzureisen, denn für sie gab es schließlich anderes zu tun, als bei einem alten Mann herumzusitzen. Die erwachsenen Enkel zeigten auch kein rechtes Interesse mehr, zumal einige von ihnen bereits selbst Kinder hatten, und für alle zusammen wäre das Haus dann doch zu klein gewesen, schließlich zählte die Familie inzwischen 28 Köpfe oder, wie es Anno gern plastisch ausdrückte: 28 Esser.

Thekla ging unwillig zur Haustür, riß sie auf und war versucht, sie ohne weiteren Kommentar auch gleich wieder zuzuschlagen. Da stand doch allen Ernstes dieser kleine Bankert von der zwielichtigen Person, die ihr Vater so toll fand, weil sie ganz ohne Mann auskam. Das hätte mal eine von ihnen vorleben sollen. Als sich Bernadette wegen der unkontrollierbaren Gewaltausbrüche ihres Mannes hatte scheiden lassen, fand er das völlig übertrieben. Meinungsverschiedenheiten gäbe es nun eben mal in einer Ehe, kein Grund für eine ehrenrührige Trennung. Zumal Bernadettes Mann Professor war und somit gesellschaftliches Ansehen genoß und, was noch bedeutend schwerer wog, Anno seinerzeit die katholische Trauung ausgerichtet hatte. Viel Schnickschnack für nichts, schade ums Geld.

Und nun stand dieses Balg hier und erzählte etwas von einer Verabredung mit Nancy, weil es doch beim Bewirten der Gäste helfen sollte.

»Das hier ist kein Kindergarten«, fuhr sie Caroline an. »Kinder brauchen wir hier nicht, das fehlt gerade noch! Geh gefälligst wieder nach Hause!«

Sie schloß die Tür und ging kopfschüttelnd zurück an ihren Platz. »Nicht zu fassen, was uns Nancy hier alles anschleppt! Wir müssen Papa endlich mal klarmachen, daß diese Frau noch mal sein Untergang sein wird!«

Ina hatte Caroline zu sich auf den Stuhl gezogen, drückte sie an sich und versuchte sie aufzuheitern. »Laß uns heute etwas ganz Tolles unternehmen. Irgend etwas, was du schon immer machen wolltest und wozu ich nie Zeit hatte!«

Während Caroline alles mögliche aufzählte, überlegte Ina, wie sie reagieren sollte. Der Klumpen im Magen war noch da. Sie hatte beim Bäcker eine Geburtstagstorte mit einer Widmung bestellt und zudem einen großen Stock Margeriten besorgt, seine Lieblingsblumen. Sollte sie sich das antun, überhaupt noch dort hinzugehen? Oder wäre es gerade falsch, sich nicht sehen zu lassen? Was konnte schließlich Anno Adelmann dafür. Auf der anderen Seite hatte sie nicht die geringste Lust, mit dieser Familie zusammenzustoßen. Vielleicht sollte sie ihnen aber ganz einfach ihre Meinung sagen, denn kein normaler Mensch bringt ein kleines Mädchen, das freudestrahlend zum Helfen kommt, auf diese Art zum Weinen. Leider konnte Caroline nicht sagen, welche der Töchter die Frau gewesen war. Groß und grauhaarig. Das waren sie für eine Sechsjährige wahrscheinlich alle.

Ina wurde sich nicht schlüssig, sicher war aber, daß sie die Torte trotz allem bis spätestens um zwei abholen mußte. Sie konnte die Entscheidung vertagen und mit ihrer Tochter zunächst einmal die Badetaschen packen und zum Strandbad gehen.

Zu dieser Zeit saß Julia schon stundenlang in ihrem alten Peugeot. Sie fuhr auf der A 5 von einem Stau in den nächsten und ärgerte sich, nicht doch den Zug genommen zu haben. Das schöne Wetter lockte einfach zu viele Leute hinaus, weiß der Himmel, wann sie in Lindau ankommen würde. Außerdem ahnte sie, daß ihre Tanten nicht begeistert sein würden, wenn sie bei der Geburtstagsfeier auftauchte, aber es war ihr einfach wichtig, an Opis großem Geburtstag dabeizusein. Früher, als sie noch als Schülerin bei ihren Eltern in Stuttgart lebte, war sie oft bei ihren Großeltern in Lindau. Damals war sie jeden Freitag heilfroh gewesen, von zu Hause abhauen zu können, den Vater mit seinen sprunghaften Launen zu vergessen und auch die Mutter mit dem ewig anklagenden Gesicht. Sie hatte sich entspannt, sobald der Bodensee in Sicht kam, machte ihre Hausaufgaben im Zug und freute sich auf ein harmonisches Wochenende. Am Sonntag fuhr sie dann, seelisch gerüstet, wieder zurück. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte sie, nachdem sie zehn Jahre alt geworden war und allein reisen durfte, kaum ein Wochenende mit ihren Eltern verlebt. Das änderte sich erst, als ihre Mutter sich scheiden ließ. Damals war Omi allerdings schon tot, und das Leben in der alten Villa schien sie mit ins Grab genommen zu haben.

Die früher so fröhliche Atmosphäre war verschwunden, ihr Großvater wirkte verloren in dem großen Haus, er alterte schnell und sichtbar. Julia, mittlerweile fünfzehn geworden, erfand immer häufiger Ausreden, um nicht in den Zug steigen zu müssen. Anno glaubte, sie zöge nun die Großstadt mit den Diskos und vor allem den Jungs vor, und sie bestätigte seine Vermutung, um ihn nicht zu verletzen. In Wahrheit entfloh sie aber nur der Traurigkeit.

Annos erster Schlaganfall schreckte dann alle auf.

Entsetzt über die drohende Veränderung stellte jede der Töchter fest, daß sie ihrer Familie keinen Pflegefall zumuten konnte, jedenfalls nicht im eigenen Haus. Noch während sie umständlich nach Lösungen suchten und das Problem von der einen zur anderen schoben, traf Anno der zweite Schlaganfall. Nach einem langen Krankenhausaufenthalt schlug sein behandelnder Arzt während der sich anschließenden Rehabilitation eine professionelle Hilfe sowohl im Haushalt als auch in der Pflege vor, was alle erleichtert vernahmen, denn somit mußte nichts verlagert werden, Anno konnte bleiben, wo er war. Die Ehemänner prüften gemeinsam alle Möglichkeiten, die finanzielle Belastung möglichst auf den Staat abzuwälzen, und nachdem ihnen das zumindest teilweise gelungen war, nahmen sie gern die Empfehlung des Arztes an.

Doch als Nancy kam, wuchs das Mißtrauen. Heimlich zählten sie das Tafelsilber und bestanden darauf, daß Anno, obwohl er im Keller einen eigenen Tresor besaß, den Schmuck seiner verstorbenen Frau außer Haus in einen Banktresor gab.

Nancy stieß sich nicht daran, sie hatte in ihrer letzten Stellung eine verschrobene alte Gräfin gepflegt und konnte sich schwerlich eine Steigerung vorstellen. Sie bezeichnete die Geisteshaltung seiner Familie schlichtweg als kleinbürgerlich, was Anno zunächst mißfiel, woran er sich im Lauf der Wochen jedoch gewöhnte und worin er ihr später sogar zustimmte. In der Zeit ließ er sich auch von ihren verrückten Launen immer öfter anstecken, konnte lauthals über sie lachen und blühte trotz der Folgen seiner Schlaganfälle sichtbar auf. Nicht, daß die beiden etwas miteinander gehabt hätten. Julia glaubte nicht daran, obwohl das die größte Sorge ihrer Tanten war, schließlich ging es ums Erbe, und da war jede Heiratskandidatin von vornherein abzulehnen. Aber Julia sah, daß Nancy Opis konservative Schale aufbrach. Es gelang ihr tatsächlich, die Maximen seines damals 75jährigen Patriarchenlebens aufzuweichen und in liberale, unkonventionelle Bahnen zu lenken. Julia fand das, im Gegensatz zu ihren gleichaltrigen Verwandten, spannend, und so begann sie wieder an den Bodensee zu fahren. Nicht mehr so häufig wie früher, aber häufiger als die anderen Enkel.

Gerhard hatte die wunderbare Gelegenheit, seine Frau Thekla weit weg in Lindau zu wissen, zu einem nächtlichen Besuch bei Sabine genutzt. Dank der Rufumleitung seines Telefons konnte er sicher sein, daß Thekla nicht den Hauch einer Ahnung haben würde. Das war auch nötig, denn Sabine war beträchtlich jünger als die 28jährige Barbara, seine jüngste Tochter, und nach dem Skandal, den Barbaras spätes Geständnis, er sei ihr im Teenageralter mehrmals an die Wäsche gegangen, in der Familie ausgelöst hatte, konnte er sich auch keinen weiteren Ärger leisten. Sabine war nicht nur blutjung und dazu üppig ausgestattet, sondern auch professionell. Sie nahm Geld, das garantierte Anonymität und war für ihn eine saubere, folgenlose Sache. Als er sich in seinen Wagen setzte, rechnete er sich aus, spätestens gegen eins in Lindau zu sein.

Unterdessen begannen die ersten Gratulanten im Hause Adelmann anzurufen. Anno hatte sich, wie früher, an die Stirnseite des Tisches gesetzt, ließ sich von Nancy Toast und Tee servieren und nahm die Glückwünsche mit dem Handy entgegen. So mußte er nicht jedesmal aufstehen.

»Erstaunlich, daß du dieses kleine Telefon bei dem Durcheinander in diesem Haushalt überhaupt noch findest«, bemerkte Renate, mehr zu Nancy als zu ihrem Vater, dem Nancy eben einige Tabletten abgezählt neben den Tellerrand legte.

»Och«, Nancy zuckte unbekümmert mit den Achseln, »wir haben so unser System. Vom Festapparat aus läßt sich das Handy jederzeit durch ein Klingelzeichen finden. Es könnte nicht einmal im Garten verlorengehen.«

»Dort besteht wahrscheinlich auch weniger die Gefahr«, lächelte Renate süßlich und war sich der Zustimmung ihrer Schwestern gewiß.

»Apropos Klingeln«, Anno richtete seine leicht verschleierten wasserblauen Augen auf Renate. »Hat es vorhin an der Haustür geklingelt, oder habe ich mich da getäuscht?«

»Es war nicht wichtig«, beeilte sich Thekla zu sagen. »Noch keiner der Gäste, wenn du das meinst. Vor Mittag kommt bestimmt niemand, und wer Anstand hat, kommt sowieso erst nach drei!«

»Wir haben aber ab zehn Uhr geladen«, Anno drehte leicht den Kopf und spähte durch den Raum. »Ich kann keine Vorbereitungen sehen. Keine Gläser, keine Knabbereien. Seid ihr nicht deshalb so früh angereist?«

»Wir wollten das Geburtstagsfrühstück mit dir genießen, Vater, deshalb sind wir da!« Lydia nickte ihm bedeutungsvoll zu.

»Das ist sehr nett von euch. Und da ihr ja schon fertig gefrühstückt habt, wie ich sehe, könnt ihr euch jetzt vielleicht an die Vorbereitungen machen. Wo die Gläser stehen, wißt ihr ja noch, und den Rest werdet ihr schon finden. Nancy, setzen Sie sich doch zu mir. Eine meiner Töchter wird Ihnen sicherlich gern einen frischen Kaffee aufbrühen. Dieser hier ist ja schon gänzlich kalt.«

Kurt, Lydias Mann, saß in einem vollen Abteil des Zuges Augsburg–Lindau und versuchte sich mit dem Gedanken abzufinden, daß dieser Tag nur schrecklich werden könne. Er hatte sich einige Fachzeitschriften mitgenommen, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Es war zu stickig im Abteil, der Kerl ihm gegenüber schmatzte rhythmisch und mit offenem Mund auf seinem Kaugummi herum, eine junge Frau hatte den Walkman so laut aufgedreht, daß Kurt wohl oder übel mithören mußte, etwas, wofür er seiner eigenen Tochter längst einen Vortrag über die Beschaffenheit des Ohres im allgemeinen und im besonderen gehalten hätte, und außerdem knallte ein Gestampfe und Gehämmere aus dem Kopfhörer, das mit Musik nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte. Kurz, es war unerträglich. Alles. Der überfüllte Zug, die Leute, die Fahrt, das Ziel, sein Schwiegervater und dieses Brechmittel von Pflegerin. Von seinen Schwägerinnen ganz zu schweigen. Eine Familie zum Abwinken. Der ewig geile Gerhard, hoffentlich blieb ihm wenigstens der erspart, das stetige Gerangel um den besten Platz neben des Erbvaters Seite, die Seitenhiebe und Eifersüchteleien, über Jahrzehnte geschürt, wahrscheinlich schon in die Wiege gelegt. Er seufzte und fing einen Blick seiner Nachbarin auf. Sie nickte verständnisvoll, und ein Lächeln huschte über ihr unscheinbares Gesicht. Ohne Dauerwellen wärst du auch hübscher, dachte Kurt und versuchte an ihr vorbei aus dem Fenster zu schauen. Es gelang ihm nicht, denn unweigerlich blieb sein Blick an dem schmatzenden Jüngling hängen. Schließlich hielt Kurt es nicht mehr aus. Er nahm seine Aktentasche und ging ins Zugrestaurant.

Auch Renates Mann war auf der Anreise. Nicht, weil er wollte, sondern weil er per Renates Dekret mußte. Sie befürchtete, daß er keinen guten Eindruck hinterließ, wenn er schon wieder fehlen würde. Schließlich kamen die anderen Ehemänner auch. Aber es hatte Hans-Jürgen einige Überwindung gekostet. Er scheute nicht die Fahrt an den Bodensee – von Mannheim aus war es noch erträglich, und zudem hoffte er, eines Tages ganz nach Lindau ziehen zu können –, nein, das Pech war, daß seine Freunde just für dieses Wochenende ihren jährlichen Männerausflug angesetzt hatten. Und ausgerechnet nach Paris, der Stadt der Sünde. Er hatte das fiebrige Nachtleben schon vor sich gesehen, aber er konnte sich winden, wie er wollte, Renate ließ ihn aus der Nummer nicht heraus. Hans-Jürgen hatte ihr erklärt, daß er durch so etwas sein Gesicht in der Männerrunde verlöre, aber sie winkte nur ab. Auch ihr wunder Punkt, das Geld, zog nicht. Es koste eine horrende Strafe, ohne tatsächlichen Grund wie etwa Milzbrand oder Tod zu fehlen. Mindestens 500 Mark in die Männerkasse.

»Willst du vielleicht, daß Gerhard eines Tages am See sitzt und dich gönnerhaft zum Tee einlädt?« fragte Renate spitz und nahm ihm damit alle weiteren Argumente.

Er gönnte es weder Gerhard noch Kurt, weitaus stärkere Bedenken hatte er jedoch bei Bernadette, die über Jahre hinweg ihre Tochter so geschickt lanciert hatte. Julia hier und Julia dort. Wenn der Alte im Testament nicht nur auf die Kleine abfuhr. »Das wollen wir doch mal sehen!« entfuhr es ihm grimmig, und er erntete dafür ein verstohlenes Lächeln seiner Frau. Im selben Moment war ihm klar, daß sie sich insgeheim diebisch über diese Terminüberschneidung freute.

Kurz vor 14 Uhr stand Ina mit Caroline an der Hand beim Bäcker. Die Chefin persönlich präsentierte ihr stolz die garnierte Schokoladentorte. »85« stand da in weißer Sahneschrift in der Mitte, darüber, etwas kleiner: »Anno Adelmann« und darunter: »Herzlichen Glückwunsch«. Etwas gedrängt, aber es war alles drauf, was wichtig war.

»Klasse, Mami, sieht klasse aus. Die bringen wir jetzt aber nicht hin, oder? Die essen wir selbst auf!«

Ina erntete ein verständnisvolles Lachen der wartenden Kunden und beschloß, das erst draußen mit ihrer Tochter zu besprechen.

»Ich gehe da nie mehr hin«, erklärte Caroline fest, nachdem Ina die Ladentür hinter sich geschlossen hatte. »Nicht, wenn diese böse Frau da ist!«

Ina überlegte. Wie konnte sie Nancy über die Lage befragen, ohne daß es die Familie mitkriegen würde?

Sie verwarf den Gedanken. Sie mußte es, wenn überhaupt, direkt angehen. Und während sie Caroline in den Wagen steigen ließ und abwartete, bis sie sich angegurtet hatte, wußte sie es plötzlich. Sie würde diese Familie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Sie würde ihnen eine Überraschung mitten auf der Geburtstagstorte servieren, ein Wespennest, das diesen trügerischen Familienfrieden empfindlich stören würde.

Der Anruf kam, als der erste Ansturm von Bürgermeister, Pfarrer und der Abordnung aus Bankdirektor, Steuerberater und den neuen Eignern und einigen Fossilien aus Annos alter Firma vorbei war. Überall standen benutzte Gläser herum, manche davon nur halb ausgetrunken. Die Chips und Erdnüsse waren nicht angetastet worden, jeder hatte bei dem herrlichen Wetter noch etwas anderes vor. Die Schwiegersöhne waren in der Zwischenzeit alle eingetroffen und versuchten, auf möglichst kraftschonende Art, die Zeit totzuschlagen.

Anno war müde, er mußte sich setzen, und nachdem Renate das Telefon abgenommen hatte, fragte er eher abwehrend, wer es denn nun noch sei.

Renate hielt die Muschel des schmalen Handys zu, was ihr mit ihren fleischigen Händen nicht schwerfiel. »Nur dieses Weib da – vom Berg. Du weißt schon, die mit der ungezogenen Tochter!«

»Ich verstehe nicht, wen du meinst.« Es war Anno anzusehen, daß ihm das Mitdenken schwerfiel.

»Ich lege am besten wieder auf«, schlug Renate vor und suchte auf dem kleinen Tastaturfeld über ihre Brille hinweg nach der entsprechenden Taste.

»Sie meint Ina Schwarz«, erklärte Nancy schnell.

»Ina Schwarz«, wiederholte Anno gedankenlos, dann blickte er auf. »Gib her«, sagte er unwirsch zu seiner Tochter. »Adelmann«, meldete er sich mit klarer, energischer Stimme. Und nach einer Weile nickte er. »Ich freue mich, klingeln Sie einfach. Ich komme hinaus!«

Renate warf Thekla einen fragenden Blick zu, diese schaute zu ihrem Mann. »Nun, er bekommt noch Besuch«, gab Gerhard zum besten und zuckte die Achseln. »Ist was dabei?«

Ina hatte gewartet, bis sie sicher sein konnte, daß der männliche Teil der Familie ebenfalls in der Villa versammelt war. Laut Nancys Informationen vom Vortag war das spätestens gegen 16 Uhr der Fall. Nachdem sie von Anno vor allen Ohren telefonisch eingeladen worden war, ging sie an ihren Kleiderschrank, zog das kürzeste schwarze Stretchkleid mit dem tiefsten Ausschnitt heraus und wählte dazu die höchsten Stilettos, derer sie habhaft werden konnte. Jetzt würde sie mal vorführen, was 30 Jahre und 52 Kilo gegen bösartige Trümmerbräute ausrichten konnten. Sie bürstete ihr halblanges schwarzes Haar, bis es knisterte und in weichen Wellen fiel, und stieg anschließend mit Caroline und der Tortenschachtel in ihren Wagen. Wer den Spruch mit dem Weib vom Berg gebracht hatte, wußte sie nicht. Aber allein die Tatsache, daß man nicht nur ihre Tochter, sondern auch sie so höllisch von oben herab behandelte, ließ ihr Blut sieden. Sie war nicht umsonst als Tochter eines Metzgers auf die Welt gekommen, sie kannte sich aus mit Zuckerbrot und Peitsche, mit dem Mut der Verzweiflung und dem Fügen ins Unvermeidliche. Sie kannte den Geruch vom Sterben, und sie kannte das Gesurre der Schmeißfliegen, die nur darauf warteten, und sie war sich ihr Leben lang sicher gewesen, daß ihr diese Erfahrungen eines Tages nützen würden.

Anno Adelmann hatte sich zur Haustür begeben. Das Tor zur Einfahrt war zurückgeglitten und gab den Blick frei auf Ina, die in Begleitung ihrer Tochter heranschritt. Anno Adelmann mußte kurz blinzeln, denn er kannte Ina nur in Jeans oder einfachen Sommerkleidern. Er war sich nicht sicher, ob sie das auch tatsächlich war. Er würde demnächst endlich seine Augen operieren lassen, das war nun immerhin klar. Aber neben ihr lief ganz eindeutig die kleine Caroline, die ganz gegen ihre Gewohnheit in einiger Entfernung einfach stehenblieb, und auch die Stimme gehörte völlig ohne Zweifel zu Ina Schwarz.

»Meinen allerherzlichsten Glückwunsch um 85. Geburtstag«, sagte sie lächelnd, während sie die Freitreppe zu ihm hinaufging. Auf der einen Hand balancierte sie eine große geöffnete Tortenschachtel, die andere reichte sie ihm zum Gruß.

»Das ist aber sehr nett von Ihnen, kommen Sie doch herein!«

Es war fast nicht mehr nötig, denn das halbe Haus hatte sich bereits im Türrahmen versammelt. »Das ist ja eine grandiose Torte«, Gerhard schaute an der Torte vorbei direkt in ihren Ausschnitt. Auch Kurt empfand den Besuch und vor allem das Kleid als ersten erfreulichen Moment an diesem Tag. Hans-Jürgen konnte nicht so genau hinsehen, weil sich Renate rigoros zwischen ihn und die anderen zwängte.

»Geht doch rein, was wollt ihr alle hier?« versuchte Anno seine Schwiegersöhne zurückzuscheuchen, was ihm nicht einmal ansatzweise gelang.

»Vielen Dank für die Einladung«, Ina lächelte Anno freundlich an und ging, die Torte hoch vor sich hertragend, auf den Eingang zu. Stumm wurde ihr Platz gemacht, und alle folgten ihr ins Wohnzimmer. Dort stellte sie die Torte mit Nachdruck und hochrutschendem Rock mitten auf dem Eßtisch ab, begrüßte Nancy überschwenglich, ignorierte Lydia und Thekla, strich sich das Kleid lasziv über die Hüften, wünschte Anno nochmals alles Gute, Gesundheit und vor allem ein langes Leben. »Mögen Sie gesunde Hundert werden«, lächelte sie, drückte ihre Wange an seine und warf dabei der Familie, die regungslos hinter Anno stand, einen eiskalten Blick zu.

Als Julia eine halbe Stunde später eintraf, nahm kaum jemand von ihr Notiz. Alle redeten durcheinander, nur ihr Großvater schien einigermaßen gelassen. »Ist was passiert?« fragte sie ihn, nachdem sie ihm gratuliert hatte.

»Wie man’s nimmt«, sagte er und setzte sein Grandseigneurlächeln auf.

»Was heißt das?« Julia versuchte mehr zu erfahren, aber er grinste verschmitzt und zuckte die Schultern. Ungeduldig schaute sich Julia nach ihrer Mutter um, sie stand mit Gerhard und Thekla am Tisch und diskutierte aufgeregt. »Mutti!«

Doch Bernadette hob nur abwehrend die Hand. »Gleich, Julia, gleich!«

Julia fühlte sich in ihre Kinderzeit zurückversetzt, nahm sich ärgerlich ein Glas Sekt und machte sich auf die Suche nach Nancy. Sie fand sie in der altmodischen Küche, die für das viele Geschirr viel zu klein war.

»Oh, du bist schon da? Ich habe dich gar nicht kommen hören!« Nancy umarmte sie ungeachtet ihrer nassen Gummihandschuhe herzlich.

»Das hat anscheinend niemand. Was ist denn bloß los?«

»Och, Ina Schwarz war da. Sie trug ein etwas zu kurzes, ein etwas zu enges und etwas zu tief ausgeschnittenes Kleid und hat deinem Großvater eine etwas zu teure Geburtstagstorte gebracht. In zu hohen Schuhen übrigens. Das hat deiner Familie nicht gefallen!«

Julia löste sich langsam aus der Umarmung, sorgfältig darauf bedacht, ihr Sektglas nicht zu verschütten. »Nein? Opi wird’s schon gefallen haben. Die kann so etwas doch tragen, die Frau!«

»Genau! Das ist es ja eben!« Nancys Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

Julia schaute sie noch immer verständnislos an. »Also, irgendwie scheine ich ja auf der Leitung zu stehen. Oder ich war zu lange in meinem Brutofen unterwegs!« Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt sag endlich, was los ist!«

Thekla hatte sich fürchterlich über Inas Auftritt aufgeregt. Und nicht nur über den, sondern auch gleich noch über das Verhalten ihres Mannes. »Hättest ihr ja direkt in den Ausschnitt kriechen können«, hatte sie ihn angezischt, kaum daß Ina zur Tür hinaus war.

»Welch netter Gedanke«, rutschte es Gerhard unvorsichtigerweise heraus, was die Situation nicht gerade verbesserte.

Thekla erklärte der versammelten Mannschaft aufgebracht, daß diese Schwarz eine alte Schlampe sei, die sich augenscheinlich an Anno heranmachen wolle. »Da sei aber Lucifer vor«, schloß sie scharf und verschränkte kämpferisch die Arme.

»Thekla reicht«, sagte Kurt zu Hans-Jürgen, was ihm einen Knuff von Lydia und einen bösen Blick von Thekla eintrug. Aber über eines waren sie sich einig, wenn auch aus verschiedenen Motiven: Auf jeden Fall sei ein weiterer Kontakt zwischen Ina Schwarz und dem Vater zu unterbinden.

An Anno Adelmann war die allgemeine Aufregung vorbeigegangen. Er hatte sich, kaum daß Ina gegangen war, in seinen fleckigen alten Lehnstuhl mit den Sesselohren gesetzt, der vor dem großen Fenster stand, und die Fußbank herangezogen. Von dort aus schaute er auf den See und ließ seine Gedanken schweifen. Es war die Zeit seines täglichen Mittagsschläfchens, aber heute war ein besonderer Tag, er hatte ein Alter erreicht, das seine Frau stets als »Eintrittsalter in den Himmel« bezeichnet hatte. Sie war dabei natürlich immer von sich selbst ausgegangen, denn daß sie vor ihm sterben würde, war in all den Jahren mehr als unvorstellbar. Er, der große Fabrikant im ständigen Kampf ums Geld, und sie, die niedliche Ehefrau, die große Haushalte zwar zu leiten, aber nicht selbst zu Putzeimer und Lappen zu greifen hatte. Es war klar, daß sie das Eintrittsalter locker erreichen würde.

Anno schloß die Augen und versuchte, sich in die Zeit ihrer Hochzeit zurückzuversetzen. Es war gar nicht so leicht, denn die späteren Jahre schoben sich darüber und verwischten das Bild. Schließlich merkte er, daß er sich in seiner Erinnerung von Fotografie zu Fotografie hangelte. Er sah seine Frau als Braut vor sich, aber es war exakt das Bild, das auf der Kommode stand. Er versuchte, sich den ersten Tag danach vorzustellen, und wußte zwar noch, wo sie hingefahren, und auch noch in etwa, wie das Hotel ausgesehen hatte, aber das Gesicht seiner Frau war schon wieder mit einer Fotografie identisch. Es beunruhigte Anno, daß sein Gedächtnis so offensichtlich nachgelassen hatte. Eine Weile bemühte er sich, an nichts zu denken, dann konzentrierte er sich auf die Geburt seiner Kinder. Er hatte aber keine Erinnerung daran, wie seine Töchter als Säuglinge und Kleinkinder ausgesehen hatten. Er konnte sich an bestimmte Ereignisse erinnern. Wie Thekla blutüberströmt auf der letzten Stufe der steinernen Treppe lag, weil Renate sie in einem Anfall puren Jähzorns hinuntergestoßen hatte. Er wußte noch, daß sie zunächst geglaubt hatten, Thekla sei tot, und er erinnerte sich exakt, wie lange es gedauert hatte, bis der Arzt kam, und welche Strafe Renate erhalten hatte. Und er sah auch das Weihnachtsfest vor sich, als sich die kleine Bernadette im Tischtuch verhedderte und im Stürzen das gesamte Geschirr herunterfegte, während die Gäste bereits im Foyer die Mäntel abgaben. Er sah jedes Detail dieser Zwischenfälle genau vor sich, nur die Gesichter nicht. Auch nicht das seiner Frau, die die Situation jedesmal geschickt rettete. Diese Erinnerung war völlig ausgelöscht. Anno gab es auf und rief sich die ersten Bilanzen seiner Firma ins Gedächtnis. Damit hatte er kein Problem. Er sah auch noch seinen allerersten Buchhalter genau vor sich, weil der ihn durch seine übertriebene Akkuratesse von Anfang an belustigt hatte. Bevor Anno in seinem Sessel einschlief, hielt er die Zeit für gekommen, sich 60 Jahre nach seiner Hochzeit einzugestehen, daß er eigentlich kein Familienmensch war.

Ina hatte sich umgezogen und war mit ihrer Tochter in das nächste Straßencafé an der Uferpromenade gefahren. Caroline war von diesem Trostpflästerchen hingerissen, saß nun neben ihr und erzählte völlig begeistert von den Meerschweinchen ihrer Freundin Jella, während sie der als Clown dekorierten riesigen Eiskugel die bunten Smarties-Augen ausstach. Ina ertappte sich dabei, wie sie, trotz guter Vorsätze, kaum zuhörte. Sie stellte zwar die eine oder andere Frage, aber alles mehr auf gut Glück. Sie überlegte nämlich gerade, ob ihre Aktion zu heftig oder – im Gegenteil – zu profan gewesen war. Sie sog am Röhrchen ihres Eiskaffees, bis das Vanilleeis den schmalen Plastikkanal verstopfte, und schaute sich dabei um. Nichts in Sicht, wofür sich ein zweites Hinschauen gelohnt hätte. Lindau steckte zu dieser Jahreszeit voller Touristen, und die wenigsten schienen Wert darauf zu legen, nicht auf den ersten Blick als solche erkannt zu werden. Ina sah einigen Männern in kurzen Hosen und langen Socken nach, griff nach dem Löffel und kam, während sie ihr Röhrchen vom Eis befreite, zu dem Schluß, daß sie abwarten mußte, bis die Familie wieder abgereist und sie Nancy in aller Ruhe über alles befragen konnte.

Thekla hatte sich während der ganzen Heimfahrt nach Essen kaum beruhigt. Sie spürte genau, daß etwas vorging, und sie ließ sich darin von Gerhard auch nicht beirren.

»Das ist weibliche Intuition«, belehrte sie ihn, als er wissen wollte, worauf sich ihre Ahnungen gründeten.

»Sie hat ihm eine Geburtstagstorte gebracht, Thekla«, schüttelte er den Kopf. »Das ist legitim!«

»Nicht in diesem Aufzug. Und nicht von diesem Weib! Fahr nicht so dicht auf!«

»Du siehst Gespenster!«

»Diesmal nicht!« Sie warf ihm von der Seite einen scharfen Blick zu, und er wußte, wovon die Rede war. Es stimmte ja, daß er einen Hang zu jungen Dingern hatte. Und daß er die Therapie abgelehnt hatte, zu der ihn nach den Offenbarungen seiner Tochter alle überreden wollten. Er hatte den Spieß damals umgedreht und war selbst zum Angriff übergegangen. Sie seien mißtrauische Hyänen, die ihn nur fertigmachen wollten, hatte er damals seine Familie beschimpft und gleichzeitig erklärt, sie reagierten völlig überdreht, er liebe seine Tochter, wie ein Vater seine Tochter eben liebe, und damit basta. Später ließ er dann seinen Schwager, den Rechtsanwalt, im Vertrauen wissen, daß er sich in dieser Beziehung gut im Griff habe und es für die gesamte Familie besser sei, man ließe es auf sich beruhen.

Thekla brütete vor sich hin. Sie war die älteste der Schwestern, und als Erstgeborene hätten ihr eigentlich gewisse Rechte zustehen müssen. So wie der älteste Sohn automatisch die Nachfolge des Vaters antritt, hätte sie es eigentlich auch für sich selbst erwartet. Sie war sich sicher, daß sie die Aufgabe bei entsprechender Ausbildung gemeistert hätte. Aber nachdem klar war, daß kein echter Kronprinz mehr nachkommen würde, wurde von ihr nur erwartet, daß sie den passenden Mann für die Weiterführung der Firma liefern würde. Mit neunzehn hatte sie versucht, ihren Vater mit Hilfe ihres glänzendes Abschlußzeugnisses zu überreden, sie zu seiner Nachfolgerin zu machen. Sie war die Beste ihres Jahrgangs, besser als alle männlichen Mitschüler, sie würde im Studium gut sein und sich das entsprechende Rüstzeug aneignen können. Besser eine schlaue Tochter als einen blöden Sohn, unterstrich sie ihre Argumentation, doch es nützte nichts. Die Leitung seiner Fabriken in die Hände einer Frau zu legen, noch dazu in die seiner eigenen Tochter, kam Anno Adelmann absurd vor. Mit ein bißchen gutem Willen könne sie ihm den passenden Mann liefern, erklärte er ihr, damit bliebe alles in der Familie und somit auch geregelt. Thekla versuchte ihre Mutter auf ihre Seite zu ziehen, aber es war nutz- und fruchtlos. Ihre Mutter versank in Ehrfurcht vor ihrem Mann und kam keine Sekunde auf die Idee, sich gegen ihn aufzulehnen.

Thekla tat das auf ihre Art. Anstatt das von ihren Eltern für sie vorgesehene Studium der Geisteswissenschaften anzutreten, schrieb sie sich für Chemie und Physik ein, denn sie hatte sich Marie Curie zu ihrem Vorbild gewählt, die den Nobelpreis für Physik und später auch noch für Chemie erhalten hatte. Sie wollte heraustreten aus der Masse, etwas leisten, stolz auf sich sein. Ein Jahr später war sie schwanger; sie hatte sich ins Leben gestürzt und Gerhard getroffen. Das Ergebnis dieses ersten näheren Kennenlernens bezeichnete ihre Familie völlig entgeistert als einen fürchterlichen Unfall, doch Gerhard stellte sich als der größere Unfall in ihrem Leben heraus. Es mußte geheiratet werden, dem konnte sich selbst Thekla nicht entziehen. Doch ihr Vater machte ihr den Vorwurf, daß es zu allem auch noch der falsche Mann war. Was sollte er mit einem angehenden Doktor der Geschichtswissenschaften in einer Fabrik für Maschinenbauteile anfangen?

Sie bogen in ihr Grundstück ein. Das Haus lag etwas zurückversetzt, ein kastenförmig gebautes Einfamilienhaus in der Nachbarschaft anderer schmuckloser Gebäude. Die Hauptkriterien dieser Bauweise waren vor 30 Jahren, genügend Platz zu möglichst günstigen Bedingungen zu bekommen.

»Endlich«, seufzte Thekla und griff nach ihrer Handtasche, um den Haustürschlüssel herauszufischen.

»Du mußt dich beschweren! Wer ist denn gefahren?!« Gerhard warf ihr einen mürrischen Blick zu, und Thekla fiel plötzlich auf, daß seine Stirnglatze größer geworden war. Sie würde es ihm nicht sagen. Oder doch? Je nachdem.

Sie streckte sich, soweit es der Fußraum und ihre Korpulenz zuließen. »Die Hinfahrt mit dem Zug war angenehmer!«

Er parkte und stellte den Motor ab. »Dann wärst du eben auch wieder mit dem Zug zurückgefahren. Hat dich jemand daran gehindert?«

»Habe ich dir schon gesagt, daß Apfelessig gut gegen Haarausfall ist?«

Er schwieg kurz, dann grinste er sie an. »Habe ich dir schon gesagt, daß Apfelessig scharf macht?«

Thekla stieg aus und knallte die Tür hinter sich zu. Irgendwann würde auch er noch an seine Grenzen stoßen, dessen war sie sich sicher.

Renate hatte mit Hans-Jürgen währenddessen ebenfalls die Rückreise angetreten. Sie saßen nebeneinander im Wagen und sprachen kein Wort. Er war sauer, weil er wegen eines Familienaufstands auf seinen Parisausflug hatte verzichten müssen, und Renate ärgerte sich, weil sie mal wieder den Eindruck hatte, von ihren Schwestern an den Rand gedrängt worden zu sein. Thekla war wie angeboren in die Rolle der Wortführerin geschlüpft. Es tat Renate bis heute nicht leid, daß sie sie damals als Kind die Treppe hinuntergestoßen hatte. Sie hätte das viel öfter tun müssen, dann wäre zumindest aufgefallen, daß sie auch noch da war. So war sie irgendwie existent, aber nicht wirklich, eher zufällig, mehr oder weniger bedeutungslos. Thekla war von jeher herrschsüchtig und starrsinnig, Eigenschaften, denen Renate im Laufe der Jahre einen ungezügelten Jähzorn entgegenzusetzen lernte. Ein Ausbruch verlieh ihr nicht nur jähe Aufmerksamkeit, sondern für den Augenblick auch Macht, selbst wenn es meist mit einer empfindlichen Strafe ausging.

Gegen Bernadette dagegen hatte sie keine Chance. Die Sanfte, die es faustdick hinter den Ohren hatte und die, solange Renate zurückdenken konnte, ihre Nesthäkchenrolle ausnutzte, wo immer sie konnte. Meist tat sie es bei Vater, denn da brachte es am meisten. Hübsch war sie, schlank und zierlich, das krasse Gegenteil ihrer älteren Schwester. Dazu noch blond. Sie hatte schon als Kleinkind ihren Charakter ihren äußerlichen Vorzügen angepaßt, und Renate traute ihr weder damals noch heute über den Weg. Hans-Jürgen hatte schon recht, Bernadettes Waffen waren die schärfsten.

Dafür war Lydia die Farbloseste unter ihnen. Klosterschülerin, nicht weil sie es tatsächlich auf einen körperlosen Bräutigam abgesehen hätte, sondern weil es sich, zumal bei einer Familie mit vier Töchtern, gesellschaftlich schickte.

Renate haderte noch eine Weile mit ihrem Schicksal und vor allem damit, daß Hans-Jürgen über die Jahre so unsensibel und zynisch geworden war, und entschloß sich dann, das Schweigen zu brechen.

»Glaubst du, Papa könnte an dieser Schwarz etwas finden?«

Eine Weile antwortete Hans-Jürgen überhaupt nicht, dann gähnte er ausgiebig und sagte schließlich deutlich gelangweilt: »Noch hat er ja wohl Augen im Kopf!«

Renate fühlte sich sofort herausgefordert. »Wie meinst du das?«

»So, wie ich es gesagt habe!«

Renate zog sich wieder in ihr Schweigen zurück. Waren das noch Zeiten, als sie lachend und scherzend nebeneinander im Wagen gesessen und mit dem alten Käfer auch mal unversehens auf einem Waldweg gelandet waren. Kaum zu fassen, daß sie dieselben Menschen wie damals waren.

»Hans-Jürgen«, begann sie zögernd, »liebst du mich überhaupt noch?«

Er warf ihr einen überraschten, schnellen Blick zu. »Blöde Frage. Habe ich jemals das Gegenteil behauptet?«

»Nein, das nicht – aber …«

»Siehst du, was soll das also«, schnitt er ihr das Wort ab und setzte zum Überholen an.

»Du bist ein richtiger Rechtsanwalt geworden«, sagte sie und nickte wie zur Bestätigung vor sich hin.

»Das sollte ich doch wohl immer, oder nicht? Habe ich das von dir verordnete Klassenziel etwa nicht erreicht?«

Bernadette war die einzige, die in Lindau geblieben war. Lydia hatte sich als letzte ihrer Schwestern verabschiedet und mit Kurt in den Zug nach Augsburg gesetzt, aber Bernadette hatte keine Eile. Sie genoß es, im Elternhaus am See zu sein, und dies auch noch mit ihrer eigenen Tochter. Es kamen so viele Erinnerungen in ihr hoch, sie steckten in den Wänden und Mauern, in den Ecken und Nischen, in den geheimnisvollen Laubengängen im Garten und den vom Seewind krumm gefegten alten Bäumen. Sie liebte das Rauschen der Blätter, das Knarren der Äste und den rhythmischen Schlag der Wellen. Sie fühlte sich mit allem eins, und sie wußte, daß ihre Tochter auch so fühlte. Das hier war ihre wahre Heimat, hier lebte ihre Seele, hier konnte sie atmen. Keiner konnte ihr das nehmen. Schon gar nicht so widerwärtige Klötze wie ihr Schwager Gerhard, der geile Sack – sie würde es Thekla nie verzeihen können, daß sie ihn nach dem Eklat nicht vor die Tür gesetzt hatte. Und Hans-Jürgen, der Rechtsverdreher, der außer Gebührenordnungen und Männerparaden nichts im Kopf hatte, und Kurt, der im Weißkittel den seriösen Arzt gab und dabei im stillen Kämmerchen ein überaus erfolgreich unter der Hand gehandeltes Computerprogramm entwickelt hatte, das Tricks und Möglichkeiten aufzeigte, um Kassenklauseln und Gebührenverordnungen gewinnträchtig zu umgehen. Dazu ihre Schwestern, Thekla, zu blöd, um ihr eigenes Leben zu leben, Renate, das ewig unbefriedigte Mauerblümchen, und Lydia, die Kirchenheilige, die bis heute an den Eid des Hippokrates glaubte.

Nancy war froh, daß das Haus wieder leer war oder zumindest fast leer. Mit Bernadette verstand sie sich zwar auch nicht gerade prächtig, aber sie war von den vieren noch am erträglichsten, und sie hatte einen riesigen Bonus: Julia. Julia war ein Goldkind, und Nancy hatte sie in ihr Herz geschlossen, wie sie fast alle Kinder mochte. Wenn sie die finanziellen Möglichkeiten gehabt hätte, hätte sie längst ein Kinderhaus eröffnet, ein Haus für ungeliebte, geprügelte und gedemütigte Kinder, Kinder mit und ohne Eltern. Es war ihr großer Traum, denn sie hatte ihre Kindheit im Heim verbracht und wußte, wovon sie redete, wenn sie Anno von ihrer Idee überzeugen wollte. Aber er hörte natürlich nur heraus, daß es um Geld ging und um Dinge nach seinem Tod, die er nicht hören wollte, weil er auch von seinem Tod nichts hören wollte. Schließlich lebe ich ja noch, gab er bei solchen Gelegenheiten von sich und ließ sie wissen, daß es für solche Überlegungen noch viel zu früh sei.

Es war Montag morgen, und Nancy war zum Markt gefahren. Sie mußte dringend ihre Bestände auffüllen, übers Wochenende waren der Kühlschrank und die Speisekammer ziemlich leer geworden. Es war bereits nach elf, als sie endlich alles zusammen hatte, in ihrem Wagen verstaut und starten konnte. Die Einkäufe hatten mehr Zeit gekostet, als sie dafür veranschlagt hatte, aber sie mußte auch viel länger Schlange stehen als sonst. Nancy fühlte sich ziemlich erschlagen, aber trotzdem entschied sie sich für einen kleinen Umweg, sie mußte Ina unbedingt erzählen, welchen Wirbel ihr Erscheinen ausgelöst hatte.

Ina saß zu der Zeit in ihrem kleinen Büro, das sie sich ebenerdig in ihrem kleinen Haus eingerichtet hatte, und übersetzte einige Briefe ins Englische, die ihr eben über E-Mail geschickt worden waren. Sie arbeitete frei für einige Firmen, bot ihre Schreibdienste gleichzeitig aber auch über eine ständige Anzeige in der Regionalzeitung an. Sie formulierte Bewerbungen, Trauerschreiben, selbst Liebesbriefe, wenn einem Gigolo nichts Passendes einfiel. Sie schrieb alles, was angefragt wurde, darunter auch Doktorarbeiten und Vorträge, ins reine und übersetzte jede Menge Korrespondenz ins Englische, Französische und Italienische. Ihr Lebensziel war es eigentlich gewesen, als Dolmetscherin international für so große Organisationen wie die UNO zu arbeiten, aber mit Carolines Geburt war alles ganz anders gekommen.

Als der Arzt ihr vor rund sieben Jahren die Schwangerschaft bestätigte, lief sie zunächst ratlos in der Stadt herum, denn so richtig glauben konnte sie es nicht. In ihrem Bauch sollte sich ein heranwachsendes Kind befinden? Unvorstellbar. Sie versuchte sich vorzustellen, was sich nun gerade in ihrem Inneren abspielte, es gelang ihr aber nicht. Der Gedanke an einen dicken Bauch, Windeln und Kinderwagen schreckte sie, sie hatte plötzlich lauter schwangere Frauen mit Kuhblick und breitem Gang vor Augen.

Ina rang stundenlang mit sich. Sollte sie in ihrer Situation tatsächlich ein Kind aufziehen? Sie hatte zwar seit kurzem ihr Diplom als Fremdsprachenkorrespondentin in der Tasche, aber noch keine Stellung, sie bewarb sich im Moment überall und jobbte in einem Bistro. Wie sollte das alles mit einem Kind gehen? Sie würde zum Sozialfall werden, bevor ihr Leben richtig angefangen hatte. Stundenlang lief sie wie aufgezogen am Seeufer entlang, ohne etwas wahrzunehmen, sie mußte sich durch Bewegung abreagieren, trotzdem bekam sie keine Klarheit in ihre Gedanken. Alles überstürzte sich, sie schwankte zwischen Fassungslosigkeit, Ablehnung und der Frage, wie das bloß hatte passieren können, und ausgerechnet auch noch mit Jan, dem schiefgelaufenen Tröstversuch, der sie eigentlich nur über die leere Zeit nach der Trennung von Matthias retten sollte.