Cover-Bild von The Beautiful (Der Hof der Löwen 1)

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Das Zitat am Buchanfang stammt aus William Blake, , Oesterheld & Co. Verlag, Berlin 1907.

Das Gedicht am Buchanfang stammt aus Stefan Zweig, , Insel Verlag, Leipzig 1927. Die Übersetzung des Gedichts stammt von Gisela Etzel-Kühn.

 

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Anna Wichmann

 

© Renée Ahdieh 2019

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Beautiful«, G. P. Putnam’s Sons Books for Young Readers, New York 2019

Published in agreement with the author,

c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Karte: Jessica Khoury

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einem Entwurf von Theresa Evangelista

Coverabbildung: Jane Morley / Trevillion Images und Shutterstock.com

 

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O, sieh in einem Sandkorn eine Welt

und in einer wilden Blume einen Himmel,

halte das Unendliche in der Palme deiner Hand

und Ewigkeit in einer Stunde.

 

Aus »Weissagungen der Unschuld« von William Blake

J’ai voulu ce matin te rapporter des roses;

Mais j’en avais tant pris dans mes ceintures closes

Que les noeuds trop serrés n’ont pu les contenir.

Les noeuds ont éclaté. Les roses envolées.

Dans le vent, à la mer s’en sont toutes allées.

Elles ont suivi l’eau pour ne plus revenir.

La vague en a paru rouge et comme enflammée.

Ce soir, ma robe encore en est toute embaumée …

Respires-en sur moi l’odorant souvenir.

 

Heut morgen wollt ich dir Rosen bringen,

Ich füllte mit ihnen den Gürtel zum Springen –

Der allzu bedrängte, er konnt sie nicht fassen.

Er brach auseinander; die Rosen verflogen

Im Wind und sind alle zum Meere gezogen.

Die Wogen, um die sie mich wirbelnd verlassen,

Erschäumen von rötlicher Glut übergossen,

Mein Kleid aber hält noch die Düfte verschlossen …

Komm abends – ich will sie dich atmen lassen!

 

Aus »Les Roses de Saadi« von Marceline Desbordes-Valmore

New Orleans ist eine Stadt, die von den Toten regiert wird.

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, an dem ich jemanden das sagen hörte. Der alte Mann hatte mir damit Angst einjagen wollen. Er sagte, es habe eine Zeit gegeben, in der die Särge nach starkem Regen aus dem Boden gekommen und die Toten durch die Straßen der Stadt getrieben seien. Angeblich kannte er eine Kreolin an der Rue Dauphine, die im Jenseits mit Geistern sprechen konnte.

Ich glaube an Magie. In einer Stadt voller Illusionisten ist es schlichtweg unmöglich, an ihrer Existenz zu zweifeln. Aber diesem Mann habe ich nicht geglaubt. hat er mich gewarnt.

Bei seinen Worten tat ich schockiert, fand ihn aber eigentlich amüsant. Er gehörte zu der seltenen Sorte fehlgeleiteter junger Seelen mit Geschichten über schaurige Kreaturen, die in dunklen Ecken lauern. Doch ich war auch fasziniert, besaß ich doch ebenfalls eine fehlgeleitete junge Seele. Von Kindheit an versteckte ich mich hinter gebügelten Stoffen und feinen Worten, aber sie bestand darauf, mich zu peinigen. Sie rief mich wie eine Sirene, trieb mich dazu, die Maske abzulegen und meine wahre Natur zu enthüllen.

Sie hat mich dorthin getrieben, wo ich nun bin. Doch ich bin nicht undankbar, denn sie hat mir zwei tief in mir verankerte Wahrheiten bewusst gemacht: Ich werde auf ewig eine fehlgeleitete junge Seele besitzen, ungeachtet meines Alters.

Und ich werde stets die schattenhafte Kreatur sein, die in einer finsteren Nische lauert.

Deinetwegen, o du meine Liebe. Deinetwegen.

Aramis

Die sollte beim ersten Tageslicht eintreffen, wie in Celines Träumen.

Sie würde unter einem sonnenbeschienenen Himmel aufwachen, den Duft des Meeres in der Nase haben und die Stadt am fernen Horizont ausmachen können.

Voller Versprechen. Und Absolution.

Stattdessen läutete die Messingglocke am Bug der zur Dämmerstunde, was ihre Freundin Pippa als »das Zwielicht« bezeichnete. Celine hielt das für eine sehr britische Aussage.

Sie hatte, nicht lange nachdem sie Pippa vor vier Wochen während eines zweitägigen Andockens der in Liverpool kennengelernt hatte, damit angefangen, diese Ausdrücke zu sammeln. Bisher war ihr »verdammt unwahrscheinlich« am liebsten. Celine konnte selbst nicht sagen, warum sie das derart bedeutsam fand. Vielleicht, weil sie der Ansicht war, sehr britische Formulierungen könnten ihr in Amerika bessere Dienste leisten als die sehr französischen, die sie von sich gab.

In dem Augenblick, in dem Celine die Glocke vernahm, eilte sie auf die Backbordseite und hörte, wie Pippa ihr mit leisen Schritten folgte. Tintenschwarze Ranken aus Dunkelheit fächerten sich über den Himmel, und ein geisterhafter Nebel hüllte die »Crescent City« genannte Stadt ein. Die Luft um die beiden jungen Frauen wurde dichter, die lauschten, wie die sich langsam einen Weg durch das Wasser des Mississippi bahnte und New Orleans immer näher kam, während sie sich weiter von dem Leben entfernten, das sie hinter sich zurückgelassen hatten.

Pippa schniefte und rieb sich die Nase. Sofort wirkte sie jünger als sechzehn. »Nach all den Geschichten sieht sie nicht so hübsch aus, wie ich erwartet hatte.«

»Sie sieht genauso aus, wie ich dachte«, versicherte Celine ihr.

»Lüg mich nicht an.« Pippa warf ihr einen Seitenblick zu. »Dadurch fühle ich mich auch nicht besser.«

Ein Lächeln umspielte Celines Lippen. »Vielleicht belüge ich mich ja ebenso wie dich.«

»Lügen ist in jedem Fall eine Sünde.«

»Unausstehlichkeit auch.«

»Das steht nicht in der Bibel.«

»Sollte es aber.«

Pippa hüstelte, um ihre Belustigung zu verbergen. »Du bist schrecklich. Die Schwestern im Ursulinenkonvent werden gar nicht wissen, was sie mit dir anfangen sollen.«

»Sie werden dasselbe tun, was sie mit jedem unverheirateten Mädchen machen, das mit all seinen weltlichen Besitztümern nach New Orleans reist: Sie werden einen Gatten für mich finden.« Celine riss sich zusammen, um nicht die Stirn zu runzeln. Es war ihre freie Entscheidung gewesen. Die beste aller schlimmen Optionen.

»Wenn sie dich für gottlos halten, bringen sie dich mit dem hässlichsten Narren der Christenheit zusammen. Einem mit Knollennase und Plauze.«

»Mir ist ein hässlicher Mann lieber als ein langweiliger. Und eine Plauze bedeutet, dass er immer gut essen kann, also …« Celine legte den Kopf auf die Seite.

»Also wirklich, Celine.« Pippa lachte auf, und ihr Yorkshire-Akzent wob sich wie feine Chantillyspitze durch die Worte. »Du bist die unverbesserlichste Französin, die ich je kennengelernt habe.«

Celine grinste ihre Freundin an. »Du bist gewiss noch nicht vielen Französinnen begegnet.«

»Jedenfalls keinen, die so gut Englisch sprechen wie du. Als wärst du damit aufgewachsen.«

»Mein Vater hielt es für wichtig, dass ich die Sprache beherrsche.« Celine hob eine Schulter, als wäre das alles und nicht knapp die Hälfte. Bei der Erwähnung ihres Vaters – eines biederen Franzosen, der in Oxford Linguistik studiert hatte – drohte ein Schatten über sie zu kommen. Eine Traurigkeit, die Celine noch nicht zu ertragen vermochte. Sie zwang sich zu einem schiefen Grinsen.

Pippa schlang die Arme um den Leib, als würde sie frieren. Sorge zeichnete sich unter dem blonden Pony auf ihrer Stirn ab, während die beiden Freundinnen zu der Stadt in der Ferne hinüberblickten. Jede der jungen Frauen an Bord hatte die geflüsterten Berichte gehört. Auf See bekamen die Mythen, die sie über einer Tasse des grobkörnigen, bitteren Kaffees austauschten, ein eigenes Leben. Sie vermischten sich mit den Geschichten aus der Alten Welt zu unheilvolleren Geschichten. New Orleans wurde heimgesucht. Piraten hatten die Stadt verflucht. Taugenichtse strichen dort herum. Sie sei die letzte Zuflucht für all jene, die an Magie und Mysterien glaubten. Es gab sogar Gerüchte über Frauen, die ebenso viel Macht und Einfluss besaßen wie manch ein Mann.

Celine hatte darüber gelacht. Und sie wagte es, weiter zu hoffen. Möglicherweise war New Orleans nicht so, wie der erste Blick vermuten ließ. Passenderweise konnte man dasselbe auch über sie sagen.

Und wenn eines auf die jungen Reisenden an Bord der zutraf, dann, dass die Wahrscheinlichkeit einer solchen Magie – einer solchen Welt – zu etwas Maßgeblichem geworden war. Insbesondere für jene, die den Geist der Vergangenheit abschütteln und etwas Besseres und Strahlenderes werden wollten.

Und erst recht für jene, die zu entkommen versuchten.

Pippa und Celine sahen zu, wie das Unbekannte näher kam. Ihre Zukunft.

»Ich habe Angst«, gestand Pippa leise.

Celine erwiderte nichts. Die Nacht war durch das Wasser gesickert wie ein dunkler Fleck, der sich auf Organza ausbreitete. Ein rauer Seemann balancierte so anmutig wie ein Luftakrobat auf einem Holzbalken, während er eine Lampe an den Schiffsbug hängte. Wie als Antwort darauf züngelte Feuer über das Wasser und tauchte die Stadt in noch schaurigere Grüntöne.

Die Glocke der ertönte erneut und verriet allen am Hafen, wie weit das Schiff noch zu reisen hatte. Weitere Passagiere kamen unter Deck hervor, stellten sich neben Celine und Pippa und unterhielten sich leise auf Portugiesisch und Spanisch, Englisch und Französisch, Deutsch und Holländisch miteinander. Junge Frauen, die den mutigen Schritt gewagt und ihr Heimatland verlassen hatten, um ein neues Leben anzufangen. Ihre Worte verschmolzen miteinander zu einer sanften Kakofonie aus Geräuschen, die Celine unter normalen Umständen als beruhigend empfunden hätte.

Doch damit war es vorbei.

Seit jener verhängnisvollen Nacht inmitten der Seide im Atelier sehnte sich Celine nach beruhigendem Schweigen. Es war Wochen her, dass sie sich in der Gegenwart anderer sicher gefühlt hatte. Sicher mit ihren aufgewühlten Gedanken. Nur in Pippas Nähe gelang es ihr überhaupt, durch ruhigeres Wasser zu waten.

Als das Schiff nahe genug zum Andocken war, nahm Pippa unverhofft Celines Hand, als müsste sie sich wappnen. Celine keuchte auf. Zuckte bei der unerwarteten Berührung zusammen. Als wäre ihr Blut ins Gesicht gespritzt, dessen Salz sie auf den Lippen schmeckte.

»Celine?« Pippa riss die blauen Augen weit auf. »Stimmt etwas nicht?«

Celine musste durch die Nase atmen, um ihren Herzschlag zu beruhigen, und schlang beide Hände um Pippas Finger. »Ich fürchte mich auch.«

Eine Kontraststudie

Dreiundzwanzig Passagiere entstiegen der und alle hatten einen einfachen Koffer dabei, der ihre weltlichen Besitztümer enthielt. Nach einem Blick in die Frachtliste des Schiffes gestattete ihnen der Beamte im Zollamt, amerikanischen Boden zu betreten. Eine Stunde später setzten sich sieben Mädchen in eine bescheidene Equipage und fuhren durch die dunklen Straßen zum Ursulinenkonvent. Die Zukunft der anderen erwartete sie an den Docks.

Der offene Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster. Um sie herum waren die Zweige der Bäume schwer von strahlend bunten Blüten. Zikaden und Schnellkäfer summten im Schatten und flüsterten von einer verfluchten Geschichte. Die tropische Brise strich durch die Äste einer Lebens-Eiche auf einem kleinen Platz. Die Wärme ihrer Umarmung fühlte sich auf Celines Haut seltsam an, insbesondere im Kontrast zum leicht kühlen Spätjanuarabend.

Aber sie wusste, dass sie sich nicht beschweren durfte. Vor ihrem Haus in Paris lag wahrscheinlich Schnee auf den Gehwegen, und es hätte noch Wochen gedauert, bevor sie das bequeme Musselinkleid, das sie nun trug, in Erwägung gezogen hätte. Celine erinnerte sich noch gut daran, wie sie es letzten Juni aus Stoffresten angefertigt hatte, die sie von einem eleganten Nachmittagskleid für eine reiche Dame, deren Salons berüchtigt waren, übrig behalten hatte. Damals hatte sich Celine ausgemalt, eines Tages selbst eine dieser Zusammenkünfte zu besuchen und sich unter die schicksten Mitglieder der Pariser Gesellschaft zu mischen. Sie würde sie mit ihrer Liebe zu Shakespeare und Voltaire beeindrucken. Sie würde genau dieses Kleid tragen, dessen dunkler Aubergineton einen wunderschönen Kontrast zu ihrer hellen Haut bildete und dessen Überrock mit reichlich Rüschen und Bändern verziert war. Und sie würde ihre schwarzen Locken auf dem Kopf auftürmen, so wie es der neuesten Mode entsprach.

Schmunzelnd erinnerte sich Celine an das siebzehnjährige Mädchen, das sie gewesen war. An die Dinge, von denen dieses Mädchen geträumt hatte. All das, was sie sich ersehnte: die Aufnahme in die Gemeinschaft der eleganten jungen Frauen, denen sie Kleider anpasste, die nur wenige Tage später weggeworfen wurden. Die Gelegenheit, sich in einen attraktiven jungen Mann zu verlieben, der ihr mit Gedichten und Versprechungen das Herz raubte.

Nun rümpfte sie bei diesem Gedanken die Nase.

Nach mehreren Wochen auf See, die es tief vergraben in einem Holzkoffer verbracht hatte, spiegelte das zerknitterte Kleid, das Celine nun trug, die deutliche Wende wider, die ihr Leben erfahren hatte. Es eignete sich nicht für eine Sonntagsmesse und erst recht nicht für einen Salon. Bei diesem Gedanken setzte sich Celine auf dem Holzsitz etwas anders hin, wobei sich das Korsett gegen ihre Rippen presste. Das Fischbein bohrte sich in ihre Brüste, als sie tief Luft holte.

Wobei sie einen derart köstlichen Duft einatmete, dass sie kurz abgelenkt war.

Sie schaute sich auf dem Platz nach der Ursache dafür um. An der Ecke der Lebens-Eiche gegenüber befand sich eine offene Bäckerei, die Celine an ihre Lieblingsboulangerie am Boulevard de Montparnasse erinnerte. Der Geruch von frischem Teig und langsam schmelzendem Zucker waberte zwischen den wächsernen Magnolienblättern hindurch zu ihr herüber. In der Nähe wurden die Fensterläden vor einem Balkon lautstark zugeknallt, und ein Spalier mit einer üppig wuchernden rosafarbenen Bougainvillea bebte, und die Blüten zitterten, als würden sie sich fürchten. Möglicherweise taten sie es aber auch aus Vorfreude.

Das hätte ein wunderschöner Anblick sein sollen, aber die entzückende Szene schien von etwas Unheilvollem unterlegt zu sein. Als hätte sich ein bleicher Finger zwischen einem Vorhang gezeigt und würde sie in einen dunklen Abgrund locken wollen.

Sie wusste, dass es weise wäre, die Warnung zu beherzigen. Dennoch war Celine wie verzaubert. Als sie die sechs anderen Mädchen im Wagen musterte – vier auf der einen und drei auf der anderen Seite –, sah Celine sich weit aufgerissenen Augen und beklommenen Mienen gegenüber. Oder war es Aufregung? Wie bei der Bougainvillea ließ es sich auch hier schwer sagen.

Der Wagen hielt an einer geschäftigen Straßenecke, und das kräftige Zugpferd warf die Mähne in den Nacken. Menschen in allen nur denkbaren Kleidungsstilen – von den Reichen mit ihren goldenen Uhrenketten bis hin zu den Bescheidenen mit ihren verschlissenen Leinengewändern – überquerten die Decatur Street mit entschlossenen, eiligen Schritten, als wären sie auf einer Mission. Es kam ihr ungewöhnlich vor für eine Tageszeit, die eher von Abschlüssen denn Anfängen geprägt war.

Da Pippa am nächsten zum Fahrer saß, beugte sie sich vor und sprach ihn an. »Geschieht heute Abend etwas Bemerkenswertes, das die versammelte Menschenmenge erklären würde?«

»Die Parade«, antwortete der barsche Mann, ohne sich umzudrehen.

»Wie bitte?«

Er räusperte sich. »In der Nähe der Canal Street fängt die Parade an. Aufgrund des Karnevals.«

»Eine Karnevalsparade!«, rief Pippa aus und drehte sich zu Celine um.

Antonia – die junge Frau, die links neben Celine saß – schaute sich aufgeregt mit großen, strahlenden braunen Augen um, die an die Augen einer Eule erinnerten. fragte sie auf Portugiesisch und deutete in die Richtung, aus der ferne Feiergeräusche zu hören waren.

Celine nickte lächelnd.

»Jammerschade, dass wir sie nicht sehen können«, sagte Pippa.

»Keine Sorge, Mädel«, erwiderte der Fahrer, dem die Worte mit leicht irischem Akzent über die Zunge kamen. »Es gibt den ganzen Monat lang noch mehr als genug Karnevalsparaden und -feiern. Sie werden bestimmt noch eine zu sehen bekommen. Und warten Sie erst mal den Maskenball zu Mardi Gras ab. Das ist der große Höhepunkt.«

»Eine Freundin in Edinburgh hat mir schon von der Karnevalszeit hier erzählt«, warf Anabel – eine flinke Rothaarige mit attraktiven Sommersprossen auf der Nase – ein. »Die ganze Stadt New Orleans feiert vor Beginn der Fastenzeit wochenlang mit unzähligen Soireen, Bällen und Kostümfesten.«

»Feste!«, wiederholten die Zwillinge aus Deutschland, sobald sie das Wort erkannten, und eine klatschte vor Freude in die Hände.

Ihre strahlenden Gesichter fesselten Celine. Etwas hinter ihrem Herzen bewegte sich bei diesem Anblick; eine Emotion, die sie sich seit den Ereignissen dieser schicksalhaften Nacht versagt hatte: Hoffnung.

Sie trafen in einer feiernden Stadt ein. Einer Stadt, in der über Wochen ein buntes Treiben herrschen würde. Die Menschen auf den Straßen waren von derselben Vorfreude erfüllt, die sie auch in ihren Schicksalsgenossinnen sah. Vielleicht hatten ihre Mienen ja nichts mit Verzagtheit zu tun. Möglicherweise wurde die Bougainvillea nur wachgerüttelt, statt vor Furcht zu zittern.

Eventuell musste Celine keine Angst vor dem haben, was morgen geschehen würde.

Während sie darauf warteten, dass die vorbeiziehenden Fußgänger die Straße verließen, begann sich ein Hochgefühl in ihr breit zu machen. Celine beugte sich vor und versuchte, einen Efeustrang zu erwischen, der von einem verzierten gusseisernen Geländer herabhing. Das Geräusch von Schritten zu ihrer Linken lenkte sie jedoch ab, und die Menge teilte sich, um den Wagen hindurchzulassen.

Nein.

Man machte nicht ihnen den Weg frei.

Sondern etwas ganz anderem.

Dort im bernsteinfarbenen Licht einer Gaslaterne stand eine einsame Gestalt und machte sich daran, die Decatur Street zu überqueren, wobei sie den Panamahut so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass ihre Gesichtszüge nicht zu erkennen waren.

Ohne zu zögern, zollte ihr Fahrer dem Mann sofort Hochachtung und neigte den Kopf in seine Richtung, als wollte er sich verbeugen … oder aber den Blick abwenden.

Der Mann überquerte die Straße und bewegte sich vom Licht in den Schatten und zurück ins Licht, glitt förmlich von einer Straßenecke zur anderen. Er bewegte sich … seltsam. Als wäre um ihn herum nicht etwa Luft, sondern Wasser. Oder vielleicht Rauch. Seine polierten Schuhe klapperten in einem schnellen Tempo über die Pflastersteine. Er war groß. Breite Schultern. Trotz des Abendlichts konnte Celine erkennen, dass sein Anzug aus dem besten Material bestand und von geübter Hand geschneidert worden war. Vermutlich aus der Savile Row. Ihre Ausbildung im Atelier von Madame de Beauharnais’ – der besten Modeschöpferin von Paris – hatte ihr ein gutes Auge für derartige Dinge beschert.

Doch seine Kleidung faszinierte Celine bei Weitem nicht so sehr wie das, was er vollbrachte. Er hatte die Straße überquert, ohne ein einziges Wort zu sagen, und Damen mit Sonnenschirmen und Kindern mit zuckerbestäubten Beignets ebenso wie Männer mit eleganten Hüten allein durch einen Blick in ihre Richtung dazu bewogen, ihm aus dem Weg zu gehen.

Diese Art von Magie hätte sie auch gern beherrscht.

Celine sehnte sich allein deswegen danach, derart mächtig zu sein, weil damit eine große Freiheit einherging. Sie beobachtete den Mann, der auf den Gehweg trat, und Neid umwölkte ihren Blick und erfüllte ihr Herz, um die Hoffnung zu verdrängen, die sie sich gerade erst eine Minute zuvor zaghaft gestattet hatte.

Dann hob er den Kopf. Er sah ihr in die Augen, als hätte sie nach ihm gerufen, allerdings lautlos.

Celine blinzelte.

Er war jünger, als sie erwartet hatte. Nicht viel älter als sie. Vielleicht neunzehn oder zwanzig, höchstens. Später würde Celine versuchen, sich an Details zu erinnern. Aber es war, als wäre ihre Erinnerung an diesen Augenblick verschwommen, als würde Öl über die Oberfläche eines Spiegels fließen. Das Einzige, das sie noch glasklar vor sich sah, waren seine Augen. Sie glänzten im Schein der Gaslampe, als würden sie von innen heraus leuchten.

Dunkelgrau. Wie der Lauf einer Waffe.

Er senkte den Blick. Grüßte sie mit einem Antippen des Hutes. Und ging weg.

»Grundgütiger«, hauchte Pippa.

Zustimmendes Gemurmel in mehreren Sprachen erhob sich unter den sitzenden jungen Frauen. Sie beugten sich zueinander, und mit einem Mal waren sie alle aufgeregt. Eines der Zwillingsmädchen aus Deutschland sagte etwas auf Deutsch, bei dem sich ihre Schwester kichernd die Hand vor den Mund hielt.

Allein Celine starrte der schnell kleiner werdenden Gestalt hinterher und kniff die Augen zusammen, so wie er es ebenfalls getan hatte. Als könnte sie es nicht glauben.

Was, wusste sie selbst nicht.

Ihr Wagen setzte seinen Weg zum Konvent fort. Celine sah zu, wie der junge Mann mit der Dunkelheit verschmolz und wie ihn seine langen, schlanken Beine mit einer nahezu außerweltlichen Selbstsicherheit durch die Nacht trugen.

Sie fragte sich, was jeden Menschen an der Kreuzung dazu bewogen haben mochte, ihm einfach Platz zu machen. Sehnte sich danach, es auch nur ansatzweise zu begreifen. Wäre Celine ebenfalls eine Person gewesen, der man derart großen Respekt entgegenbrachte, hätte sie sich nicht gezwungen gesehen, Paris zu verlassen. Ihren Vater anzulügen.

Oder einen Mann zu ermorden.

Zu den Sternen

Dieser Gedanke ging Noémie immer wieder durch den Kopf.

Es war dunkel. Spät. Das Wasser schwappte an den Pier am Rand des Vieux Carré und erzeugte ein einlullendes, hypnotisches Geräusch.

Sie hätte nie zustimmen dürfen, sich mit jemandem an diesem Ort zu treffen, selbst wenn es noch so aufregend war. Noémie wusste es besser. Ihre Eltern hatten sie besser erzogen. Ebenso die Kirche. Sie zog ihren leichten Frühlingsschal fester um die Schultern und richtete die rosafarbene Seidenschleife um ihren Hals. Als sie sich umdrehte, stießen ihre Granatohrhänger gegen die empfindliche Haut hinter ihrem Kiefer.

Ohrhänger und Seidenschleifen an einem Pier mitten in der Nacht?

Was dachte sie sich nur dabei?

Wen wollte sie mit derartigem Flitter denn beeindrucken?

Doch gewiss nicht diesen Mann.

Jeder junge Mann, der sie bat, sich mitten in der Nacht mit ihm zu treffen, war kein Gentleman. Aber Noémie vermutete, die Art von Frau, die dem zustimmte, konnte auch keine Lady sein. Sie seufzte leise. Martin, ihr ehemaliger Beau, hätte sie nie zu einem geheimen Treffen lange nach Sonnenuntergang eingeladen.

Doch bei Martin hatte ihre Haut auch nicht derart gekribbelt, und ihr hatte nie der Atem gestockt.

Nicht so wie bei ihrem geheimnisvollen Bewunderer.

Wenn er allerdings nicht bald auftauchte, würde Noémie wieder nach Hause gehen, sich zurück durch die Glyzinie ihrer Mutter schleichen und durch ihr Schlafzimmerfenster huschen, bevor irgendjemand ihr Verschwinden bemerkt hätte.

Noémie ging unruhig am Pier auf und ab und schwor den Sternen, dass dies die letzte Chance war, die sie ihm geben würde. Unter ihren Röcken klapperten die Absätze ihrer Stiefel über die verbogenen Holzdielen, und ihre Tournüre bebte im Takt ihrer Schritte. Eine Brise wehte von der Flussbiegung herüber und brachte den Gestank von verdorbenem Fisch mit sich – einem Überbleibsel des heutigen Fangs.

In dem Versuch, den Geruch zu vertreiben, presste sie sich einen nackten Finger unter die Nase.

Der Pier lag zu nah am Gebiet des Hofes. Diese Straßen und alles in der näheren Umgebung wurden von seinen geheimnisvollen Bewohnern kontrolliert. Auch wenn sie regelmäßig der Kirche spendeten. Auch wenn Le Comte de Saint German eine Loge in der Oper hatte und mit den Schönsten und Klügsten aus New Orleans verkehrte. Zum Hof gehörten auch die schlimmsten Leute, jene, die keine Skrupel kannten.

Und hier war nun Noémie und wartete allein in der Dunkelheit mitten in ihrem Reich.

Sie fuhr sich über die Kehle und betastete die weiche Seide, die sie darum geschlungen hatte. Die Farbe der Schleife – ein blasses Rosa, wie die Blütenblätter einer Pfingstrose – entsprach der neuesten Mode. Kaiserin Eugénie hatte sie vor gar nicht langer Zeit zum ersten Mal getragen. Inzwischen eiferten zahllose junge Damen in New Orleans ihr nach und schmückten damit ihre langen, schwanengleichen Hälse. Angeblich fanden die Gentlemen Gefallen daran.

Mit verbittertem Lächeln blickte Noémie aufs Wasser hinaus und machte sich daran, das letzte Mal über den Pier zu laufen.

Verflucht seien ihr beeindruckender Bewunderer und all seine Lügen. Es sollte nicht genug süße Worte und verlockende Versprechungen geben, um Noémie aus der Sicherheit ihres Hauses zu locken.

Sie hatte soeben das Ende des Piers erreicht, als sie laute Schritte hinter sich hörte. Je näher sie kamen, desto langsamer wurden sie, als würde sich derjenige mit Muße bewegen.

Noémie drehte sich nicht sofort um, denn sie wollte ihn wissen lassen, wie wütend sie war.

»Ihr habt mich lange warten lassen«, säuselte sie honigsüß.

»Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung, hauchte er in ihrem Rücken. »Ich wurde beim Abendessen aufgehalten … bin jedoch vor dem Dessert gegangen.«

Ein Lächeln breitete sich auf Noémies Lippen aus, und ihr Herz schlug schneller. Langsam drehte sie sich um.

Doch da war niemand. Der Pier schien verlassen zu sein.

Sie blinzelte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Hatte sie sich das etwa nur eingebildet? Hatte ihr der Wind einen Streich gespielt. »Wo seid Ihr …?«

»Ich bin hier, meine Liebste«, raunte er ihr ins Ohr und stand abermals hinter ihr. Sie keuchte auf. Er nahm ihre Hand, und seine Berührung war kühl und gelassen. Beruhigend. Ein Prickeln fuhr ihre Wirbelsäule entlang, als er an ihrem Ohrläppchen knabberte. Schockierend. Verlockend.

Martin hätte so etwas niemals gewagt.

Sie streckte eine Hand nach hinten aus, um seine Wange zu streicheln. Die Stoppeln an seinem Kinn schabten über ihre Haut, und das Blut toste durch ihre Adern. Er küsste ihre Fingerspitzen. Als sie die Hand zurückzog, fühlte sie sich warm an. Klebrig. Feucht.

Sie war mit roten Flecken bedeckt.

entschuldigte er sich leise.

Ein entsetzter Schrei stieg in Noémies Kehle empor.

Ihr schwanengleicher Hals wurde aufgerissen, bevor sie auch nur einen Ton herausbrachte.

Das Letzte, was Noémie sah, waren die Sterne, die munter am Himmel funkelten.