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© Piper Verlag GmbH, München 2022

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»Es gibt nur zwei Tage im Jahr, an denen man nichts tun kann. Der eine ist Gestern, der andere Morgen. Dies bedeutet, dass heute der richtige Tag zum Lieben, Glauben und in erster Linie zum Leben ist.«

Dalai Lama

Prolog:
Ich möchte leben!

Warum dieses Buch? Warum jetzt?

»Schlaf gut, Mama. Hoffentlich siehst du sie alle wieder.«

»Das wäre schön …«

Das waren die letzten Worte meiner Mutter, bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel, aus dem sie nicht mehr erwachte.

Es war der 22. Januar 2019, ein Dienstag, an dem ich mit ihr die letzte Verbindung zu meiner Kindheit verlor. Der Tod meiner Mutter war keine Überraschung für mich. Sie war weit über 90 Jahre alt und stand am Ende eines erfüllten Lebens. Die Schwester hatte mich darauf vorbereitet, dass das Letzte bevorstand: »Wenn die Gefäße auf den Händen so hervortreten, dauert es nicht mehr lange.« Also verbrachte ich so viel Zeit wie möglich am Sterbebett meiner Mutter.

Gestorben ist meine Mutter schließlich, als ich nach langem Wachen nach Hause fuhr, um mich selbst etwas hinzulegen. Wie so viele Menschen hatte sie erst sterben können, als die Menschen, die sie liebten, die sie in diesem Leben festhielten, nicht bei ihr waren.

Und wie habe ich meine Mutter geliebt! Den Schmerz, den ich bei ihrem Verlust empfand, kann ich auch heute noch nicht in Worte fassen. Denn meine Mutter war für mich weit mehr als das. Sie war meine Freundin, mein Halt, mein größtes Vorbild. Sie fehlt mir jeden Tag. Doch gleichzeitig spürte ich neben der Trauer noch ein anderes Gefühl. Eine große Befreiung. Eine Verantwortung fiel von mir ab. Die Verantwortung, über bestimmte Dinge nicht zu sprechen. Sie wich der Freiheit, endlich die Vergangenheit meiner Familie – meine Vergangenheit – Revue passieren zu lassen.

Die Menschen sagen häufig zu mir: »Frau May, Sie sind so fröhlich, so positiv, so nett.« Ich bekomme Komplimente für eine Ausstrahlung, die ich selbst gar nicht messen kann. Und immer wieder heißt es: »Mit Ihrem Lächeln geht die Sonne auf.« Ich glaube jedoch, ein ganz wesentlicher Grund, weshalb ich so eine unglaubliche Lebensfreude ausstrahle, die so viele Menschen in meiner Umgebung berührt, ist, dass ich am eigenen Leib erfahren habe, wie schnell das Leben zu Ende sein kann. Und dass es nie wiederkommt, wenn es einmal gegangen ist.

Meine Mutter hat drei Kinder begraben. Ich habe drei Geschwister verloren.

Meinen Bruder Karl, 1974, im Alter von 28 Jahren.

Meinen Bruder Hans, 1977, im Alter von 34 Jahren.

Und meine Schwester Gundi, 1980, im Alter von 22 Jahren.

Sie haben alle drei freiwillig dieses Leben verlassen.

Meine Mutter wollte nie darüber sprechen. Wir sprachen über meine Kindheit, die schönen Erlebnisse, die wundervollen Dinge, die wir miteinander erlebt haben – aber nicht über die Menschen, die wir verloren haben. Meine Mutter wollte sich freimachen. Freimachen von den Schuldgefühlen, die einen Menschen unweigerlich begleiten, wenn drei der Kinder freiwillig in den Tod gehen und man es einfach nicht begreifen kann. Sie wollte sich freimachen von dieser Last. Sie wollte nicht ständig darauf angesprochen werden. Sie wollte nicht, dass ständig darauf angesprochen werde. Für unsere Mitmenschen war diese Nachricht ein Schock. Sie wollten Erklärungen, die wir nicht geben konnten. Sie wollten Antworten, die wir selbst nicht kannten.

Also schwiegen wir.

Doch mit dem Tod meiner Mutter ist die Nabelschnur gerissen, die Fesselung hat sich gelöst, und ich kann zurückblicken. Vierzig Jahre lang habe ich die Aufzeichnungen meines großen Bruders Hans, die ich nach seinem Tod an mich genommen habe, von einer Wohnung in die nächste mit umgezogen, ohne einen Blick darauf zu wagen. Jetzt habe ich diese schweren Metallkisten geöffnet, lese und blättere mit einer unglaublichen Vorsicht in seinen Tagebüchern. Ich blicke zurück, denke nach, forsche und erkenne bewusster, wie mich diese Ereignisse zu dem Menschen gemacht haben, der ich bin.

Kann ich möglicherweise wegen meiner schrecklichen Verluste das Hier und Heute so genießen und so zufrieden sein? Haben mich diese Erlebnisse sensibler, feinfühliger, wachsamer gemacht für ehrliche Töne, für Gerechtigkeit, für Hilfesuchende? Ist es deshalb seit schon fast dreißig Jahren eines meiner wichtigsten Anliegen, Menschen zu helfen, Kindern zu helfen?

Ich blicke hinter die Spiegel, in denen all die anderen nur die lachende, vor Lebensfreude sprühende Michaela sehen. Ich halte Rückschau auf ein Leben, in dem ich in Abgründe geschaut habe, die mich nicht haben zerbrechen lassen. Ein Leben, in dem ich es geschafft habe, die Wolken beiseitezuschieben und trotz allem die Sonne zu sehen – in der festen Überzeugung, die jene schrecklichen Erlebnisse tief in mir eingepflanzt haben: Ich möchte leben, ich möchte möglichst viel daraus machen.

 

Träumend unter einem Rosenstrauch

Meine Urmünchner Kindheit

Ich wurde am Dienstag, den 18. März 1952, im Krankenhaus in der Münchner Lindwurmstraße geboren, unweit der Straße, in der ich heute wieder lebe. Mein vollständiger Name lautete Gertraud Elisabeth Berta Franziska Mittermayr. Weil ich das erste Mädchen in der Familie war, fand die halbe Verwandtschaft in meinem Namen Niederschlag. Elisabeth hieß ich nach meiner Mutter Anna Elisabeth, von allen Anneliese genannt, Berta nach der Oma väterlicherseits und Franziska nach der Oma mütterlicherseits. Gertraud haben sich meine Eltern ausgedacht. Ich selbst fand diesen Namen altbacken und verzopft und seltsam germanisch. Vor allem als ich erfuhr, was der Name bedeutet: »Die Starke mit dem Speer.« Da mochte ich »Traudi«, wie mich bald alle riefen, schon lieber.

Ich war das dritte von vier Kindern. Mein großer Bruder Hans war 1943 mitten im Krieg geboren worden, mein jüngerer Bruder Karl, kam 1946, ein Jahr nach Kriegsende dazu. Meine Mutter hatte die Zeit des Krieges evakuiert in Truchtlaching am Chiemsee verbracht. Zwei Tanten, Verwandte ihrer Eltern, hatten sie aufgenommen und ihr ein Dach über dem Kopf gegeben. Doch das half nichts gegen die Ängste, die meine Mutter erfassten, als gegen Ende des Krieges die Alliierten ins Land kamen. Wie die meisten Frauen, deren Männer in Gefangenschaft oder im Krieg gefallen waren, fürchtete auch sie sich vor Vergewaltigungen. Kreativ wie meine Mutter war, ließ sie sich von ihrer Angst jedoch nicht lähmen, sondern heftete sich fortan ein rotes Kreuz an ihre Schürze und malte ein Schild mit der Aufschrift »Kinderklinik« an die Gartentür, um den Soldaten klarzumachen, dass bei ihr außer Masern und Diphtherie nichts zu holen war.

Mein Vater, 1916 geboren, hatte die Kriegsjahre als Gebirgsjäger an der Front verbracht – eine Zeit, die ihn bis in sein Innerstes geprägt hat. Noch Jahre später nahm er uns Kinder zur Seite, um uns Geschichten vom Krieg zu erzählen, die wir gar nicht hören wollten. Mit Inbrunst beschrieb er, wie er in Südfrankreich im Graben gelegen, wie er seine Kameraden auf eigene Faust angesichts der drohenden Einkesselung bei Stalingrad über Gebirgskämme zurück in die Heimat geführt hatte. Mein Vater war Offizier gewesen und noch immer erfüllt von der Erinnerung an den Zusammenhalt, die Kameradschaft, die damals in seinem Bataillon geherrscht hat. Und aus all seinen Erzählungen schwang immer mit: »Damals war doch nicht alles schlecht.«

Wenn ich mich heute, im Zuge meiner Arbeit mit dem Münchner Verein Retla, der sich um die Verbesserung der Lebenssituation von Senioren kümmert, mit Kriegsveteranen unterhalte, dann höre ich oft die Worte: »Ich würde so gerne einmal wieder vom Krieg erzählen, aber niemand will mir zuhören«, und sie geben mir zu denken – hat doch diese Generation einen Großteil ihres jungen Lebens auf dem Feld verbracht, was bis ins hohe Alter tiefe Spuren hinterlassen hat. Doch für mich als Kind war diese Zeit weit weg. Ich war in das erste Aufatmen nach dem Krieg, in die Zeit des Aufschwungs, des Wirtschaftswunders hineingeboren worden. Ich wollte die alten Geschichten von Heldenmut und Kameradschaft nicht mehr hören. Wir wollten die alte Zeit hinter uns lassen. Für uns sollte es immer weiter aufwärtsgehen.

Wir kauften die erste Waschmaschine, eine elektrische Nähmaschine, und endlich gab es auch warmes Wasser aus dem Boiler, und wir mussten nicht mehr alle nacheinander im selben Zuber baden – ich als lange Zeit jüngstes Kind als letzte in der schmutzigen Seifenbrühe meiner Brüder. Was nicht heißt, dass es nicht bisweilen auch ziemlich hart für uns war, aber in uns allen war da die feste, beschwingende, fröhlich machende Überzeugung: Alles wird gut. Alles wird besser.

Ich wuchs in einem Reihenhaus in der Stöberlstraße auf. Der Stadtteil Laim war damals ein eher kleinbürgerliches Viertel, in dem viele Familien mit noch mehr Kindern zusammenlebten. Der Kindergarten war gleich um die Ecke und der Agricolaplatz mit seinen Grünanlagen direkt gegenüber – ein idealer Treffpunkt für alle Kinder aus der Straße zum Klettern, Rollerfahren und Fußball spielen.

Gekauft hatten das Haus meine Eltern gemeinsam mit meinen Großeltern. Es hatte drei Stockwerke: das Erdgeschoss, in dem meine Eltern schliefen und sich unsere Wohnräume befanden, die Belle Etage, in der meine Großeltern lebten, und einen zweiten Stock, in dem sich meine Brüder Hans und Karl ein Zimmer teilten, während ich in den Genuss eines kleinen, aber eigenen Zimmers kam. Meine Schwester Gundula sollte ja erst acht Jahre nach mir zur Welt kommen.

Mein Großvater war ein sehr verschlossener, eigenbrötlerischer Mann. Vor dem Krieg war er Branddirektor der Münchner Feuerwehr gewesen. Meine Mutter war in einer Wohnung über der Feuerwehrwache in der Blumenstraße aufgewachsen, unweit des Viktualienmarkts. Jeden Feuerwehreinsatz hatte sie dort aus nächster Nähe miterlebt und war manchmal sogar mit dem Einsatzwagen zur Schule gefahren worden. Wenn ich mir meinen Großvater so ansah, dann konnte ich mir so eine gut gelaunte Aktion von ihm gar nicht mehr vorstellen.

Im Krieg war er von seinem Posten als Branddirektor abgesetzt worden – angeblich weil er sich irgendein Bild aus der Wache unter den Nagel gerissen hatte. Der wahre Grund war jedoch, dass mein Großvater sich geweigert hatte, in die NSDAP einzutreten. An der Degradierung ist er schließlich zerbrochen. Einst ein stolzer Mann in Führungsposition, nahm er dreißig Kilo ab und war für den Rest seines Lebens ein Schatten seiner selbst – zusammengeschrumpft vom stattlichen Feuerwehrhauptmann zum kleinen gedemütigten Menschen. Zwar wurde er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs rehabilitiert – in der Feuerwehrwache wurde sogar eine Büste von ihm aufgestellt –, geändert hat das für ihn jedoch nichts. Als Pensionist lebte er in sich zurückgezogen, bekam zwar noch regelmäßig Besuch von ehemaligen Kollegen und besuchte auch ab und zu seinen Stammtisch im Bratwurst Glöckl, dem Wirtshaus am Frauendom, doch er war und blieb ein Eigenbrötler, saß meist stumm in seinem Sessel, löste Kreuzworträtsel und rauchte Rössli Sumatra. War die Schachtel leer, drückte er einem von uns Kindern zwei Mark in die Hand, mit denen wir schnurstracks zum nächsten Kiosk marschierten. Dort gab es fünf Stumpen in einer Schachtel für eine Mark fünfzig, für den Rest durften wir uns Süßigkeiten oder Eis kaufen. So hielt er uns Kinder ständig beschäftigt, ihn selbst brachte nur noch wenig vor die Tür.

Ganz anders dagegen seine Frau, meine Großmutter Franziska, die »Fanny von der Feuerwehr«. Oma Fanny strömte nur so über vor Lebensfreude, sie war eine wundervolle Köchin und Stammgast im Café Alte Börse am Marienplatz. Außerdem war sie bei den »Damischen Rittern«, einem Faschingsverein, dessen Mitglieder sich in der sogenannten fünften Jahreszeit als Ritter und Burgfräulein verkleideten, sich herrliche Fantasienamen wie »die Ritterin von Schneizelreut« gaben und es so richtig krachen ließen. Wenn ich meine Lust am Leben irgendwo herhabe, dann von meiner Oma Fanny, der die Lebensfreude aus allen Poren perlte.

Gefeiert wurde der Faschingsball der »Damischen Ritter« im Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz – noch heute eine Faschingshochburg –, und je größer das Gefolge desto ehrenvoller war das für den jeweiligen Ritter. Deshalb hüllte sich bei uns die ganze Familie in die wundervollsten Verkleidungen. Auf ihrer alten »Singer«-Nähmaschine nähte die Oma für uns alle die prachtvollsten Kostüme aus alten Vorhängen, Bordüren und Brokatstoffen. Glücklicherweise besaß sie noch immer die allerbesten Verbindungen, schließlich hatte sie jahrelang den Kurzwarenladen Schürzen-Ecke für »Wäsche, Trikotage und moderne Cravatten« in der Reichenbachstraße geleitet, wo ihre Verehrer sich mit schränkeweise Unterwäsche eingedeckt hatten, nur um bei der schönen Fanny einkaufen zu dürfen. Und so gereichte ich als eleganter Page mit weißen Strumpfhosen und gelb samtenem Wams meiner Oma in ihrem großen Hofstaat zur Ehre und spielte so lange mit, bis wir Kinder nach Hause mussten, während die Eltern bis zum Morgengrauen weiterfeierten. Der Opa saß derweil daheim, rauchte Rössli Sumatra und hielt die Stellung.

Ja, die Oma liebte das Leben und hatte einen unerschütterlichen Humor. Besonders im Fasching machte sie sich einen Spaß daraus, alle ein wenig an der Nase herumzuführen. Mit einer Melone, an die sie einen Vorhang genäht hatte, damit niemand sie erkannte, oder im Anzug, mit Gumminase und Brille, spazierte sie als Lebensmittelkontrolleurin über den Viktualienmarkt und mäkelte schlecht gelaunt an den Waren herum. »Warum sind die Bananen so krumm? Der Käse ist ja ganz verschimmelt! Und diese winzigen Eier … Gebt ihr euren Hühnern nichts Anständiges zu fressen?« Das ging so lange, bis sie schließlich mit herzlichem Geschrei enttarnt wurde.

Immer im Schlepptau mit dabei: meine Wenigkeit. Ich liebte es, der Oma dabei zuzusehen, wie sie sich verstellte, und ich erkannte, was für einen Spaß es machte, andere Leute zum Lachen zu bringen.

Auch bei meiner Mutter setzte sie so den Keim zum Verkleiden und für ihre spätere Spielfreude, die in unzähligen Auftritten meiner Eltern die wildesten Blüten trieb. Es gab keinen Geburtstag in der Familie oder im Freundeskreis, an dem sie nicht irgendeinen Sketch zum Besten gaben. Mal trällerte meine Mutter als stolze Operndiva völlig überzogen schiefe Arien, während mein Vater am »Klavier« – einem umfunktionierten Bügelbrett – saß und auf die Tasten einhämmerte, bis ihm die Perücke vom Kopf flog, das Brett zusammenfiel und die Situation komplett eskalierte. Ein andermal zwängte sich mein Vater in ein enges Ballettröckchen und beeindruckte das Publikum mit völlig überzogener Attitüde als sterbender Schwan. Wir Kinder liebten diese clownesken Auftritte, die mich ihr ganzes Leben lang begleiteten.

Ich erinnere mich noch an meine erste Hochzeit, 1980 in Venedig auf der Insel Torcello in der Locanda Cipriani. Als Überraschung wollten meine Eltern als singende Vagabunden auftreten und eine Moritat über unser Kennenlernen zum Besten geben, begleitet von satirischen Bildern, die meine Mutter eigens dafür gemalt hatte. Sie waren jedoch so überzeugend verunstaltet, dass die Kellner ihnen den Zutritt zur Hochzeitsgesellschaft verwehren wollten. So war es auch kein Wunder, dass sie, als sie Jahre später ins Augustinum, eine Seniorenresidenz am Ammersee, umsiedelten, als Erstes eine Theatergruppe gründeten.

Jedoch muss ich zugeben, dass mein Vater auf den ersten Blick gar nicht der geborene Spaßmacher war. Er stammte aus der Familie Mittermayr, einer alteingesessenen Münchner Hafnersfamilie, in der das Handwerk des Ofen- und Kaminbauers seit dem 18. Jahrhundert von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Mein Ururgroßvater hatte schon für König Ludwig in seinem Märchenschloss Neuschwanstein Kachelöfen gebaut, die noch heute dort zu besichtigen sind.

Die Hafnerei der Familie lag in der Hackenstraße, Hausnummer 4. Hier wurden die Kacheln hergestellt, getrocknet und gebrannt, aus denen dann die Kamine und Öfen zusammengesetzt wurden. Nach dem Krieg hatte mein Vater – inzwischen selbst Hafnermeister – den elterlichen Betrieb übernommen. Allerdings stand es zu dieser Zeit bereits ziemlich schlecht ums Geschäft. Sein Vater, der durch die schrecklichen Kriegserlebnisse immer mehr zum Alkoholiker geworden war, hatte sich wenig um den Betrieb gekümmert. Hinzu kam, dass in den Sechzigerjahren Kachelöfen nicht mehr en vogue waren. Einen der letzten Öfen baute mein Vater noch mit Stolz für Altbundespräsident Theodor Heuss in Bonn.

Schließlich wurden die Hafnerei und später auch das ganze Haus verkauft. Mein Vater wurde Lehrer an der Berufsschule für Ofensetzer und Kaminbauer und wegen seines großen Organisationstalents schon bald ins Rathaus berufen, wo er für die Bereiche Schulplanung und Schulbau verantwortlich war. Schließlich sollte er Stadtschulrat werden, doch er konnte sich nicht dazu durchringen, in eine Partei einzutreten, und so wechselte er an die Münchner Berufsschule, deren Direktor er schließlich wurde. In dieser Position fand er seine Erfüllung: Handwerker anleiten, nüchtern und sachlich entscheiden, mitreden, mitgestalten, den Ton angeben. Das zog sich durch bis ins hohe Alter.

Doch so sehr er es auch liebte, selbst die Fäden in der Hand zu halten – von der Leidenschaft meiner Mutter ließ er sich gern mitreißen. Uns allen ging das so. In ihr brannte das Feuer für alles Künstlerische, sie war so voller Fantasie, dass eine Person fast nicht ausreichte, um all ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Ursprünglich hatte meine Mutter die Münchner Kunsthochschule besuchen wollen, doch erst kam der Krieg, dann die Kinder, und so blieb die Kunst auf der Strecke. Nicht jedoch ihre Begeisterung.

Alle Zimmer und vor allem die Küche waren ihr Atelier. Unseren Küchentisch bedeckte ein Wachstuch, auf dem sich Berge von Ton, Bastel- und Künstlermaterialien stapelten. Dieses Tuch wurde um die Mittagszeit eilig zurückgeschlagen, wenn es darum ging, die hungrigen Mäuler zu stopfen. Schnell und einfach sollte es gehen, denn mit Kochen und Haushalt hatte meine Mutter nicht viel am Hut. Also gab es Pfannkuchen, Spinat und Ei, Fischstäbchen oder Suppen – natürlich, denn mein Vater liebte Suppen über alles. Fleisch landete eher selten auf unseren Tellern. Unter der Woche waren wir Vegetarier aus Not, wie so viele Menschen in dieser Zeit.

Sonntags ging es dann hinauf in den ersten Stock zur Oma Fanny, die uns mit allerhand kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnte. Oder aber die gesamte Familie pilgerte in den Hubertushof ans Ende der Straße, wo es zur Feier des Tages Hendl oder Schweinsbraten gab.

Nein, groß zu kochen, dafür hatte meine Mutter keine Zeit. Schließlich wartete unter dem Wachstuch der feuchte Ton, allzeit bereit zur Weiterverarbeitung – hatten wir doch jede Menge davon aus der alten Hafnerei meines Vaters.

Aber nicht nur am Küchentisch verwandelte meine Mutter alles in Kunst. Im Winter formte sie mit uns im Garten überlebensgroße Hunde, Katzen oder Hasen aus Schnee, so echt, als könnten sie gleich davonspringen. Gab es irgendwo ein Fest, wurde die obligatorische Flasche Wein mit Krepppapier als Puppe verkleidet, mit Köpfen aus Tennisbällen, Zwiebeln oder anderem Gemüse. Sie ähnelten den Beschenkten auf geradezu groteske Art und Weise, denn meine Mutter hatte eine erschreckend genaue Beobachtungsgabe. Niemals trug sie Schminkzeug bei sich, aber immer ein kleines Heftchen und einen Stift, mit dem sie alles einfing, was ihr in ihrem Alltag begegnete: Porträts von wartenden Menschen, Musiker in einem Konzert, Straßenszenen im Urlaub. Die Zeichnungen waren mal ausgefeilt bis ins kleinste Detail, dann wieder skizzenhaft, auf ein paar wenige Striche reduziert, und fingen dabei die Realität doch nicht minder treffend ein. Von dieser Fähigkeit meiner Mutter, die tiefer liegenden Charakterzüge zu erkennen, das Innere nach außen zu tragen, habe ich für mich und meine Schauspielerei vieles mitnehmen können. Wenn ich mich heute auf eine Rolle vorbereite, beobachte ich genau wie sie die Menschen um mich herum und versuche so zu entdecken, was unter der Oberfläche verborgen liegt.

Auch mit dem Pinsel verstand es meine Mutter, kleine Meisterwerke zu zaubern. Fast alle Wände in unserem Haus waren mit ihren Bildern in Öl oder Aquarell dekoriert. In meinem Zimmer bemalte sie die enge Nische, in der ich schlief, mit rosa Blütenzweigen, auf denen kleine, bunte Vögel saßen und mir ein Gutenachtlied zwitscherten. So glitt ich jeden Abend in den Schlaf und träumte unter einem Rosenstrauch.

Mit dem Malen und Zeichnen hatte ich es allerdings nicht so – ganz im Gegensatz zu meinem Bruder Karl. Er war von klein auf ein leidenschaftlicher und begabter Maler, der mit Begeisterung und Aquarellfarben wahre Kunstwerke schuf. Eines seiner Landschaftsbilder hängt noch immer in meiner Wohnung. Mein großer Bruder Hans dagegen saß nicht oft mit uns am Basteltisch. Er liebte die Technik und baute stattdessen mit unserem Onkel, einem Physiker, eigenhändig ein Morsegerät und sein Zimmer wurde mehr und mehr zu einer Funkstation.

Und doch gab es trotz des großen Altersunterschieds auch Dinge, die wir gemeinsam machten. Zum Beispiel anlässlich der 800-Jahr-Feier Münchens 1958. Ich war gerade sechs Jahre alt. In einem Wettbewerb sollten Sehenswürdigkeiten der Stadt künstlerisch dargestellt werden. Während Karl, inzwischen elf Jahre alt, aus Pappmaschee das Gelände des Nymphenburger Parks modellierte, baute der fünfzehnjährige Hans die Pagodenburg mit all ihrem Detailreichtum aus Karton nach. Ich formte für den gläsernen See kleine Schlittschuhläufer aus Plastilin. Die Balkone bogen wir aus Draht, Bäume waren kleine Zweige, und am Ende wurde alles mit Mehl bestäubt und in eine Winterlandschaft verwandelt. Der Lohn für unsere Arbeit war der Erste Platz. Unser Modell wurde im Stadtmuseum ausgestellt, wir bekamen ein Buch über München, eine Stadtrundfahrt und waren mächtig stolz.

Von da an nahm ich mit großer Begeisterung an allen möglichen Wettbewerben teil. Besonders die Kostümwettbewerbe im Fasching hatten es mir angetan, die jedes Jahr vom Kaufhaus Hertie ausgerichtet wurden. Ob als Sonnenblume, mit dem gelb leuchtenden Blütenhut, oder als Schmetterling mit den bunt bemalten Flügeln eines Pfauenauges schwebte ich mit den anderen Kindern über den Laufsteg. Als Belohnung durften wir uns in der riesigen Spielwarenabteilung des Kaufhauses etwas aussuchen. Ein Eldorado für uns alle und besonders für mich!

Denn mit Spielsachen wurden wir zu Hause nicht gerade überschüttet. Mit dem Gehalt eines Lehrers und damals drei Kindern musste sparsam umgegangen werden. Meist bekamen wir abgelegtes Spielzeug von Freunden oder Verwandten, wie auch die Märklin-Eisenbahn, auf die sich vor allen Dingen meine Brüder stürzten. Jahr für Jahr kamen neue Weichen, Gleise und Züge dazu, Brücken, Tunnel, Bahnhöfe und »Faller«-Häuschen wurden in eine selbst gebaute Landschaft aus Pappmaschee gestellt, und bald war unser ganzer Speicher ein Labyrinth aus Schienen.

Mit den Zügen spielen durfte ich als kleine Schwester natürlich nicht. Ich hatte allenfalls die Erlaubnis, Signale zu stellen, den Stationsvorsteher zu bewegen, zu rufen und zu pfeifen, wenn der Zug abfuhr. Da konnte ich wenigstens nichts kaputt machen. Ähnlich erging es mir beim Fußball. Während meine Brüder um den Ball kämpften, durfte ich nur im Tor stehen. Zwischen zwei ins Gras gelegten Jacken wartete ich auf meinen Einsatz. Und wenn mir der Ball einmal durch die Finger flutschte, dann hieß es: »Die Traudi ist doch noch zu klein«, und ich wurde ausgewechselt und musste zuschauen.

Das einzige Spielzeug, das ich ganz für mich allein hatte, war eine Puppe, die ich mit vier Jahren zu Weihnachten bekam. Sie hatte echtes Haar, das sich kämmen und zu Zöpfen flechten ließ, und konnte ihre Augen auf- und zumachen. Abends legte ich die Puppe in ihr kleines Himmelbett, und sie war fortan mein Ein und Alles. Ich nannte sie Michaela, den schönsten Namen, den es für mich damals gab.

Überhaupt war die Weihnachtszeit für mich eine magische Zeit. Unser Wohnzimmer war ein Durchgangszimmer, also wurde es schon Anfang Advent mit einem Vorhang abgetrennt, hinter dem meine Mutter gemeinsam mit dem Christkind und den Englein heimlich ihre Vorbereitungen traf. Wir Kinder durften auf keinen Fall dahinterschauen, denn sonst flog das Christkind weg. Also schlich ich immer wieder auf Zehenspitzen am Vorhang vorbei, um es auch nur ja nicht zu verschrecken. Ich lauschte auf die leisesten Geräusche, ein Rascheln oder Klingen, und stellte mir vor, wie das Christkind hinter dem Vorhang gerade am Werkeln war. Mal erhaschte ich einen Blick auf ein Stück Goldpapier, ein andermal fiel mir ein Fädchen Lametta in die Hände – Engelshaar –, das ich hütete wie einen Schatz.

Doch die Weihnachtszeit war für uns nicht nur die Zeit von Vorfreude, Lichterglanz und Geschenken, sondern auch die des Musizierens. Mein Vater hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, dass wir Kinder alle ein Musikinstrument spielen sollten. Also lernte ich Altblockflöte, Hans Klavier und Karl Geige. Mit meinem Vater am Cello bildeten wir schon bald ein kleines Kammerspiel-Quartett. Für meine Mutter und ihr Akkordeon war in dieser Formation kein Platz. Sie zog es vor, zu selbst gedichteten Liedern zu spielen und als Solomusikerin der Mittelpunkt eines jeden Festes zu sein. In unserer Kammermusikrunde agierte sie mehr im Hintergrund, indem sie jedem von uns Kindern weiterhalf, wenn wir den Anschluss verloren hatten.

Jeden Sonntag nach der Kirche versammelte sich also unser kleines Orchester im Schlafzimmer meiner Eltern, wo das Klavier stand, um mit mehr oder weniger Begeisterung zu musizieren. Ich liebte das gemeinsame Spielen, während Hans – inzwischen wollte er auch nicht mehr der kleine Hansi sein – sich schon bald dem von meinem Vater aufoktroyierten Sonntagsprogramm verweigerte. Es war die erste von vielen Rebellionen meines Bruders gegen den Vater, der in vielerlei Hinsicht der Überzeugung war, genau zu wissen, was für uns richtig war. Wobei so eine patriarchalische Haltung in jener Zeit durchaus nicht unnormal war. Der Vater sagte, was getan werden musste, und so wurde es gemacht. Waren es nun die alltäglichen Pflichten oder die Gestaltung unserer Freizeit.

Auch liebte mein Vater die Natur. Also musste die komplette Familie am Wochenende um fünf Uhr raus, um in die Berge zu fahren. Und auch der Glaube war für meinen Vater von essenzieller Bedeutung. Also marschierten wir jeden Sonntag geschlossen in die Kirche, »um unserer Pflicht als gute Christenmenschen nachzukommen«, und danach weiter zum gemeinsamen Sonntagsspaziergang in den Park.

Vor allem die Natur in Verbindung mit dem Glauben prägte bei uns jeden Tag und das ganze Jahr. Wir beteten zu den Mahlzeiten und vor dem Einschlafen. In der Fastenzeit verzichteten wir auf Fleisch und Süßigkeiten. An Ostern flochten wir aus Haselnusszweigen unsere Osternester, im Mai gingen wir zu den Marienandachten, an Fronleichnam legten wir Blumenteppiche, jeden Sonntag lasen wir aus dem Evangelium, im Herbst sammelten wir Moos für unsere Krippe, lasen die Weihnachtsgeschichte und bereiteten uns auf Weihnachten vor.

Einiges davon prägt noch heute mein Leben, obwohl ich inzwischen aus der Kirche ausgetreten bin. Was meinen Bruder Hans an alldem störte, war das Dogmatische, das Erzwungene.

Dass es auch ohne Zwang geht, dass auch ein ganz anderes Leben möglich war, jenseits der drei Heiligen Säulen, Natur, Familie, Glaube, die unser Zusammenleben trugen, merkte ich, wenn ich meine Schulfreundin Inge besuchte. Ihre Eltern waren sehr liberal, in ihrer Familie gab es keine Regeln und vor allem gab es kein Dogma: »Das ist der richtige Weg, und nur, wenn du den gehst, dann wirst du glücklich werden.«

Wenn ich mit Inges Familie in den Ferien an den Chiemsee fuhr, dann waren unsere Tage frei und unverplant, keiner machte uns Vorschriften oder ein schlechtes Gewissen. Wir stürmten los, mit einem Picknickkorb in der Hand, und machten den ganzen Tag nur das, was wir wollten. Inges Eltern waren evangelisch, doch wenn Inge nicht in die Kirche wollte, dann ging sie eben nicht. Ihre Mutter spielte Harfe, aber wenn Inge keine Lust hatte, mit ihr zu spielen, dann war das auch in Ordnung.

Diese Erkenntnis, die ich aus den Begegnungen mit Inges Familie mitnahm, dass es nicht nur wahre, richtige Form des Lebens gibt, die Überzeugung, dass unsere Art und Weise zu leben gut, aber eben nicht besser als andere Lebenskonzepte war, hatte etwas unglaublich Befreiendes für mich. Es war in Ordnung, wenn ich Dinge machte, die nur ich machen wollte. Es war in Ordnung, wenn ich Wege einschlug, die niemand vor mir gegangen war.

Mein Bruder jedoch arbeitete sich an unserem Vater ab, diskutierte mit ihm über Gott, den Glauben, und stellte all jene Dinge infrage, die zu den Grundfesten des Lebensmodells unseres Vaters gehörten. Als der Älteste von uns zweifelte und rüttelte er als Erster an all diesen verkrusteten Vorstellungen. Auch die Vergangenheit meiner Eltern geriet immer mehr ins Visier meines Bruders. War mein Vater als Offizier nicht auch ein Nazi gewesen? Und wie sah es eigentlich mit meiner Mutter aus, die beim BDM, dem Bund Deutscher Mädel, Jugendgruppen geleitet hatte? Warum hatten sie sich nicht gegen Hitler aufgelehnt?

Meine Eltern trafen diese Vorwürfe in ihrem Innersten. Von den Streitigkeiten zwischen Hans und meinem Vater bekam ich meist nur den Anfang mit, konnte sie damals auch noch nicht richtig verstehen. Sobald die Diskussion lauter, manchmal sogar handgreiflich wurde, verließ meine Mutter mit mir das Zimmer.

Und doch war mein Vater kein Tyrann. So war es eben in unserer Kindheit: Die Strenge meines Vaters glich meine Mutter mit Liebe und Verständnis wieder aus.

Rückblickend habe ich nicht das Gefühl, eine unglückliche Kindheit gehabt zu haben. Vieles, was für meinen Bruder ein Zwang war, erfüllte mich mit selbstverständlicher Freude.

Ich war ein glückliches Kind.

Der Paradiesgarten am Ammersee

Über meine Liebe zur Natur

Wenn ich meine Augen schließe und an die Sommer meiner Kindheit denke, dann sind da vor allem die Gerüche. Der Geruch von frisch mit der Sense geschnittenem Heu, das markante Aroma der Pilze im Wald, der Duft von feuchtem Moos zwischen den Bäumen. Gerüche, die ich in einer derartigen Intensität heute nicht mehr wiederfinde.

Meine Eltern hatten das Glück, schon vor meiner Geburt ein Grundstück am Ammersee zu erwerben. Die große Wiese lag am Ortsrand von Riederau, direkt neben dem Anwesen meines Onkels und grenzte an einen kleinen Bach, hinter dem ein herrlicher Fichtenwald begann.

Auf dem Grundstück selbst befand sich nur ein alter Hühnerstall, der nun von meinen Eltern nach und nach zum Ferienhäuschen ausgebaut wurde. Es gab keinen Strom, sodass wir den Abend bei Kerzenlicht verbrachten. Für das Essen, das gekühlt werden musste, wurde ein Loch in den Boden gegraben, mit Blech ausgeschlagen und mit einem schweren Holzdeckel verschlossen. Wasser gab es aus einem kleinen Brunnen, den mein Vater mit meinen Brüdern selbst gegraben hatte. Die Toilette war ein Plumpsklo mitten im Wald.

Den Winter verbrachten wir komplett in München, denn es gab zwar ein kleines Öfchen, mit dem wir den Hühnerstall beheizen konnten, aber im frostkalten Winter reichte das nicht, um es sich dort gemütlich zu machen. Wenn aber der Frühling nahte, die Osterglocken blühten, dann war es so weit – es ging wieder hinaus nach Riederau.

Jedes Wochenende, sämtliche Ferien, Ostern, Pfingsten, Sommer, Herbst verbrachten wir dort. Mir kam der Sommer wie eine einzig große Ferienzeit vor. Und nicht nur ich fühlte so. Unser Paradiesgarten am Ammersee beschwingte uns alle. Meine Mutter dichtete eigens ein Lied, um unsere Vorfreude in Worte zu fassen und die Fahrt dorthin zu verkürzen:

In Riederau is sche,

da wollen wir gern rausgeh,

da spieln wir Federball

und pflücken Blumen überall.

Und auch der Ammersee,

der is zum Badn sche.

Drum wiss mer ganz genau:

Wir fahrn nach Riederau.

Juche!

Das Lied hatte unzählige Strophen. Und jedes Mal, wenn wir das Lied sangen, kam eine neue hinzu. Also packte ich Hasi, mein Lieblingskuscheltier, in meinen kleinen Rucksack und stieg mit meinen Eltern und Brüdern in Laim in den Zug nach Herrsching. Vom Bahnhof ging es weiter, jeder mit Sack und Pack beladen, zum Dampfersteg, wo wir mit der »Utting« gen Riederau dampften. Und ich dichtete jedes Mal fleißig weiter: »Auf der Utting, da gibt’s ein Pudding …«

Doch wir waren noch lange nicht am Ziel. Denn jetzt ging es noch ein ganzes Stück die Hübschenrieder Straße den Berg hinauf zu unserem Garten.

Es sollte Jahre dauern, bis der Kauf eines VW Käfers dafür sorgte, dass zumindest ein Teil der bald weiter wachsenden Familie mit dem Auto anreisen konnte.

Am Ziel angekommen hielt mich nichts mehr drinnen. Alles in mir drängte nach draußen, in die Natur. Jeden Morgen versammelte sich die ganze Familie im nassen Gras vor dem Haus zum Tau treten – fünf fleißige Morgensportler, in Nachthemd und Schlafanzug, den Schlafsand noch in den Augen, die Wangen rot vor Vorfreude auf den Tag.

Und was gab es in Riederau alles zu entdecken. Gemeinsam mit meinen Brüdern, meinen Cousinen Steffi und Hanne und meinem Cousin Ulli vom Nachbargrundstück eroberten wir Wiesen und Wälder. Wir pritschelten im Bach, bauten Staudämme, und wenn der Bauer gerade wieder frisch die Wiese gemäht hatte, bauten wir daraus ganze Häuser, errichteten Mauern aus Gras, das so intensiv roch, dass sich der Geruch ganz tief in mein Gehirn eingegraben hat. Wir spielten im Heu Vater, Mutter, Kind, und als später meine Schwester Gundi auf die Welt kam, legten wir sie einfach dazu, wickelten und fütterten sie und waren stolz, endlich ein echtes Baby zu haben.

Wenn es besonders heiß war, zog es uns Kinder in den Wald. Dort war für uns nicht nur die Zauberwelt der Feen und Elfen, hier wohnten auch die beiden Zwerge Schwupsi und Trapsi. Meine Mutter hatte sich diese Figuren ausgedacht und mir in den Ferien jeden Abend ein neues Abenteuer von ihnen erzählt. Sie zeigte uns auch ihre geheimnisvolle Wohnung in einem modrigen Baumstumpf. Oft schauten wir in die dunkle Höhle, riefen nach den beiden Zwergen, und auch wenn wir sie nie zu Gesicht bekamen, so waren sie für uns doch immer da.

Für sie sammelten wir Walderdbeeren, Brombeeren und Haselnüsse. Letztere schlugen wir vorsichtig mit Steinen auf – wenn die Eichhörnchen uns nicht zuvorgekommen waren. Wir suchten Tannenzapfen zum Einheizen, kehrten die Nadeln mit Reisig weg und bauten gleich neben den beiden Zwergen unser eigenes verwunschenes Lager in unserem Zauberwald.