Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2016
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Der Text erschien zuerst in der «Gesamtausgabe Texte und Briefe. Band 15: Texte 1932/1933» als Filmexposé unter dem Pseudonym Peter Panter mit dem Titel «Seifenblasen. Ein Spiel nach einer Idee von G.W. Pabst» Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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ISBN 978-3-644-05391-5
www.rowohlt.de
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Kurt Tucholsky
Eine Filmerzählung
Barbara, ein junges Mädchen, das sich «Paulus» nennt
Paul, ihr Bruder
Grace Green, eine Sängerin
Gregor, ein Pianist
Herr Pritty
Margot, eine aufgetakelte junge Dame
Direktor Wellner vom LIDO
Der Direktor der REGINA
Frau Engel
Eine lange Dame
Eine kleine dicke Dame
Heinerich Bing, Pförtner
Zwei wilde Männer
Ein Wirt
Ein Gendarm
Ein netter Mann im Auto
Trabanten, Knechte, Volk und Telephone
– «Was spielen wir jetzt?» sagt eine Kinderstimme.
– «Jetzt spielen wir mit den Puppen!» sagt eine andre Kinderstimme.
Und dann erst blendet es auf, und wir sehen, wie Kinderhände mit einigen Puppen spielen, die eine vage Ähnlichkeit mit den Figuren des Stückes haben, doch ist nicht nötig, daß alle diese Puppen exakt nachgebildet sind und vorkommen. Die Kinderhände vergnügen sich damit, die Puppen dauernd umzukleiden, und zwar so, daß die weiblichen Puppen Männerhüte aufgesetzt bekommen und die weiblichen Puppen als Männer erscheinen; dies auf recht kindliche, einfache, drollige Weise. Dazu singt eine Kinderstimme:
Hänschen klein
ging allein
wollte gerne Gretchen sein …!
– und dann setzen die Hände zwei richtig angezogene Puppen auf je einen Stuhl: einen Jungen und ein Mädchen. Das verschwimmt, man hört nur noch die leise summende Kinderstimme, und dann
sitzen Barbara und Paul, Bruder und Schwester, am Tisch, in einem recht mäßig eingerichteten Zimmer. Sie sind sich ähnlich, beide von durchaus gleicher Statur, beide tragen denselben Scheitel, beide haben etwa die gleiche Kopfform, und beide haben die kleine Angewohnheit, sich beim Nachdenken leicht an die Nase zu klopfen. Da sitzen sie.
Sie ist traurig, und er hält einen Brief in der Hand, und er deutet auf ihn und macht so eine Bewegung wie: Ja, da kann man nun nichts mehr machen. Keiner spricht – von der Straße hört man verworren den Lärm der Wagen, Hupen … man hört die alte Pendeluhr mit dem Kuckuck ticken: tick-tack-tick-tack …
Dann sagt sie:
– «Also, du fährst, Paul?»
– «Ja, sagt er, «ich fahre ab. Und zwar morgen, Barbara – denn sonst nehmen sie mir die Stelle fort – und eine Stelle in Chicago – das bietet sich nicht alle Tage, nicht wahr?»
Sie nickt und starrt vor sich hin – und er sieht auch vor sich hin.
– «Du kannst mich wirklich nicht mitnehmen? Du läßt mich allein?» sagt sie. Er macht eine kleine Bewegung mit den Schultern und klopft sich leicht an die Nase. Und sieht vor sich hin.
Und sieht – ganz winzig – vor sich auf dem Tisch, rund um die Kaffeetassen, die da stehn, eine Straßenscene aus einer amerikanischen Stadt, Autos flitzen daher, Hupen tönen (sich mit dem realen Klang von der Straße verschmelzend), Klingeln rasseln, Menschen eilen vorüber, dazwischen immer das Ticktack der Kuckucksuhr; Paul selbst sitzt in einem großen Auto, das er steuert, ein Schutzmann hebt den weißen Stock, er streckt die Hand aus, weil er abstoppen muß, und er sieht den Schutzmann an, und der streckt plötzlich den Hals so merkwürdig vor und ruft:
– «Kuckuck! Kuckuck!» –
das ist die Kuckucksuhr, die schlägt und ihn aus seinen Träumen reißt. Er sieht sie an und lächelt. Barbara blickt vor sich hin, denn sie hat – ganz winzig – sich selber gesehn, in einer Dachkammer: da sitzt sie vor einer leeren Konservenbüchse, und es sieht noch weitaus trostloser aus als in diesem kleinen Zimmerchen, und sie ist ganz traurig, und da kommt ein riesiger Vogel ins Zimmer, der schwingt seine Federn und sagt ganz laut und höhnisch:
– «Kuckuck! Kuckuck!»
und nun fährt auch sie auf, und die beiden sehn sich lächelnd an.
– «Was hast du?» sagt er.
– «Ich habe geträumt», sagt sie.
Und dann steht der Bruder auf, und packt seine Siebensachen, und spricht dabei und pfeift. Viel ist es ja nicht, was er zu packen hat. Bei manchen Stücken fragt er sie um Rat:
– «Soll ich das mitnehmen? Und das?»
und sie sagt dann, was er mitnehmen soll.
– «Es lohnt nicht», sagt sie zu manchen Dingen: zu einigen Sokken und zu einem Anzug –
– «Der ist aber noch ganz gut!» sagt er – aber sie erwidert:
– «Drüben sind sie billig … belaste dich nicht unnötig!»
und ein Hut bleibt da und Stiefel, und nun ist er in vollem Packen. Dabei pfeift er. Er nimmt aus seinem Schrank auch ein Buch, dabei fällt ein Bild zu Boden, ein Mann ist da zu sehen, ein Portier im Sonntagsanzug. Paul lacht.
– «Das ist Heinerich!» sagt er. «Heinerich und immer mit die Ruhe!»
– «Der, von dem du mir so viel erzählt hast? Der, mit dem du Soldat warst?» –
– «Ja», sagt er. «Das ist der» und legt das Bild fort. Und sagt so ganz beiläufig dabei:
– «Wenn du mal gar nicht weiter weißt: an den kannst du dich immer wenden – seine Adresse, warte mal … seine Adresse steht hinten drauf!»
und dann packt er weiter, dazu pfeift er, und manchmal huscht er in den Ecken selber vorbei, ein kleiner Traum, immer in dem Auto, und dann sieht er unters Bett, ob er da nichts vergessen hat, und da steht eine amerikanische Untergrundbahn-Station, und oben auf dem Schrank sieht er nach, ob er nichts vergessen hat, und da stehen einige kleine Wolkenkratzer, und er pfeift immer und pfeift und ist sehr vergnügt, und die kleinen Visionen machen ihn guter Laune. Und sie weint mit den Augen, aber keine Träne fließt – man sieht nur an ihren Augen, wie traurig sie ist. Aber sie sieht es ja alles ein und kann den Bruder nicht halten.
Und dann stehen sie auf dem Bahnhof der Mittelstadt (nicht Berlin) in der Halle, wo man die Billets kauft, und sie sagen sich Adieu, sie hält ihn immerzu am Arm, wie wenn sie ihn nicht mehr loslassen wollte, und dann erscheint oben an der Blinktafel die Ankündigung:
4.15 Uhr Schnellzug Bremen–Bremerhaven
und sie sehen hinauf, und er geht mit ihr auf den Bahnsteig, durch alle die vielen Menschen hindurch.
Dann steht sie am Waggon: die große Bahnhofsuhr zeigt 4.12 Uhr, und sie haben sich alles gesagt, und nun wissen sie gar nichts mehr und sehen sich nur an. Und andre Köpfe erscheinen im Zug an den Coupéefenstern, und neben Barbara steht eine aufgeregte Mama, die zu ihrer Tochter da im Zug sagt:
– «Und sag Emil, die weichen Unterhosen liegen oben auf dem Boden, und schreib auch mal, und Emma soll vorsichtig sein und sich warm anziehn, sie erkältet sich immer so leicht, und Fritz soll sich die Ohren waschen, hörst du –?»
Und da müssen die beiden Geschwister lachen, und ihre Augen werden ein bißchen fröhlicher, und dann hebt der Mann mit der roten Mütze den Stab. Und da rollt der Zug langsam an, und Paul hebt winkend die Hand. Sie geht zögernd neben dem Zug einher, der rollt rascher, und nun bleibt sie stehn und sieht dem Verschwindenden nach. Die Räder rollen, und aus ihrem Geräusch heraus hört man deutlich, rythmisch, wie das Rollen, eine Stimme, die sagt klappernd:
«Was jetzt! wasjetzt!wasjetzt» und immer schneller: «Wasjetztwasjetztwasjetzt – –»
Und dann geht Barbara langsam vom Bahnhof fort, wieder nach Hause.
Da sitzt sie nun auf einer Bank im Frühling, eine Zeitung in der Hand, und mit der andern Hand wirft sie in Gedanken den Vögeln Futter hin, die kleinen Spatzen umhüpfen sie. Sie liest, und wir lesen die Anzeigen mit, die sie zu sehen bekommt:
Privatsekretärin
mit griechischen, französischen und lateinischen Sprachkenntnissen gesucht. Nur Damen, die gewillt sind, ohne Blick auf die Uhr zu arbeiten, wollen sich melden. Anfangsgehalt 75 RM, spätere Erhöhung bei sehr guten Leistungen nicht ganz ausgeschlossen.
Die Spatzen balgen sich wie wild um die Brocken, und sie liest weiter, und wir sehen wieder neben ihrem Kopf diese Anzeige:
Suche
für meinen Freund eine Gattin, die ihm Lebensgefährtin, Sonnenschein und Mutter seiner acht Kinder sein kann. Goldner Lebenshumor Vorbedingung. Aktaufnahmen erwünscht, Diskretion zugesichert …
Die Spatzen wirtschaften umher … und sie liest und liest und schüttelt nur manchmal den Kopf und findet gar nichts. Wir sehen noch, wie sie die Rubrik
Stellenangebote
aufsucht, da ist nichts – dann schweift ihr Blick in
Theater und Vergnügungen
und da nimmt sie ihr kleines Täschchen zur Hand, zählt ihr Geld, findet daß es nicht viel ist – aber
nun rauscht der Wind in den Bäumen, die Spatzen piepen, und daraus ergibt sich plötzlich eine kleine Musik, tanzende, hüpfende Takte – und da sieht sie in der Zeitung eine Anzeige des
LIDO-Variétés
mit allen möglichen Artisten, darunter auch
BABETT, der große Damen-Imitator
Neu!
Zum ersten Mal!
Bestellen Sie Ihre Karten telephonisch!
und weil die Musik in ihr und um sie immer stärker wird, so steht sie auf, wirft mit einer leichtsinnigen Handbewegung die Zeitung fort und geht weg.
Und da kommt ein kleiner Hund, der schnuppert an der Zeitung und hebt ein Bein.
Da steht nun Barbara vor einem Telephonautomaten, auf einem Postamt, um sich das Billet zu bestellen. Aber sie muß warten und warten, denn man hört zunächst von innen undeutlich eine Stimme, und dann sieht man durch die Glasscheibe, daß da ein Mädchen steht und telephoniert. Barbara ist sehr ungeduldig, sie sieht auf die Uhr und tritt von einem Bein auf das andere, und sieht zur Decke auf und wartet, wartet … Man hört, daß da drinnen das Mädchen noch immer spricht.
Nun aber dauert es Barbara zu lange, und da macht sie die Tür auf. Und man hört:
– «Wenn ich dir doch sage, daß Eduard überhaupt nichts davon weiß, daß ich Paul nicht gesagt habe, wie Franz mich mit Emil getroffen hat. Sag es aber nicht Willy’n!»
Und Barbara macht die Tür wieder zu und wartet, wartet … Schließlich ist die junge Dame da drinnen fertig, sie hat abgehängt und tritt sehr aufgeregt aus der Zelle und stürzt eilig davon. Und Barbara geht hinein und verlangt eine Nummer, das kann man von draußen undeutlich hören.
Nun aber sehen wir sie in der Zelle, sie steckt ihre Münze in den Apparat – Päng! macht das – und dann wartet sie, den Hörer am Ohr. Nun hören wir, was sie hört, und auch ihre Stimme, denn man hat sie versehentlich in ein fremdes Gespräch eingeschaltet, anfangs fragt sie immer dazwischen:
– «Ist dort das Lido-Variété! Ist dort das Lido-Variété! Geben Sie mir doch die Kasse!»
aber die da hören sie gar nicht, und da gibt sie die Fragerei auf und hört zu, was sich die beiden fremden Leute da erzählen. Sie hört, und wir hören:
– «… in schönster Verlegenheit! Wenn ich Ihnen sage!»
Es sind zwei Männerstimmen. Die andere:
– «Wieso? Lieber Direktor, das ist doch dummes Zeug. Sie werden doch noch unter Ihrem Personal ein Mädel finden können, die die Nummer über die Bühne trägt!»
– «Natürlich treibe ich sie auf. Sie sind gut! Natürlich treibe ich irgendwen auf. Aber ich brauche eine Frau, die wirklich gute Beine hat, und die nett aussieht, und die hübsch gehen kann – wie stellen sich denn diese Mädels alle an! Na, Sie kennen doch das!»
– «Wem sagen Sie das –! Bei mir ist heute der eine Seelöwe krank geworden, und da …»
– «Also nehmen Sie mir das nicht übel, das mit Ihrem Seelöwen ist im Augenblick nicht so wichtig. Wo kriege ich aber ein neues Fräulein Nummer her!»
– «Ja, lieber Freund, wenn das Variété Lido nicht mal mehr weiß, wo Sie …»
Knack – da ist unterbrochen, und Barbara sagt noch halb-mechanisch:
«Ein Fräulein Nummer – ein Fräulein Nummer …»
und dann blitzt etwas in ihren Augen auf, sie hat einen Einfall, sie hängt ab und geht schnell aus der Zelle.
Da ist der Künstlereingang zum LIDO, wie wir aus einem Schild sehen, und Barbara geht hinein. Sehr schnell.