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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «Harbour Street» bei Macmillan/Pan Macmillan, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Harbour Street» Copyright © 2014 by Ann Cleeves

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt, nach einem Entwurf von Pan Macmillan

Abbildung David Taylor Photography/Alamy; neuebildanstalt/Opelka; Jonathan Kantor Studio/Getty Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN 978-3-644-53781-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-53781-1

Joe Ashworth schob sich durchs Gedränge. Es war kurz vor Weihnachten, und die U-Bahnen quollen über vor Leuten, die ihre mit nutzlosen Geschenken vollgestopften Einkaufstüten umklammert hielten. Babys in teuren Kinderwagen schrien, ohne dass sich jemand um sie kümmerte. Ganze Ströme von Menschen, die schon früh am Tag begonnen hatten zu trinken, kamen von ihren Weihnachtsfeiern im Büro, stolperten die Rolltreppen hinunter und in die Waggons. Die Jugendlichen warfen mit Ausdrücken um sich, von denen Joe eigentlich nicht wollte, dass seine Kinder sie hörten. Heute allerdings hatte er keine Alternative zur Metro gehabt. Sal hatte darauf bestanden, dass sie das Auto brauchte.

Er war allein mit seiner Tochter Jessie unterwegs. Sie sang im Schulchor, und in der Kathedrale von Newcastle hatte eine Aufführung stattgefunden. Weihnachtslieder bei Kerzenschein, denn in der Kathedrale war es selbst um vier Uhr nachmittags schon dunkel. Die Kinder hatten so wunderschön gesungen, dass er am liebsten geweint hätte. Vera Stanhope, seine Chefin, meinte ja immer, er sei ein rührseliger Dummkopf. Danach mussten sie durch das Feierabendgetümmel, und dann fing es auch noch an zu schneien, sodass Jessie wieder ganz aufgedreht wurde. Sie hatte ein Solo gesungen, und der Chorleiter hatte sie, weil sie alle Töne getroffen hatte, am Schluss noch einmal namentlich hervorgehoben. Außerdem waren es nur noch wenige Tage bis Heiligabend, auch wenn sie nun schon zu alt war, um an den Weihnachtsmann zu glauben. Aber es schneite. Winzige

In der U-Bahn hielt er sie an der Hand. Sie mussten stehen. Neben der Tür standen zwei junge Mädchen, kaum älter als Jessie, doch ihre Wangen waren ganz orange vor lauter Schminke und die Augen schwarz vom Kajal und von der Wimperntusche. Dicht an sie gedrängt zwei junge Kerle. Joe beobachtete, was sich zwischen den vieren abspielte, und fand abscheulich, was er sah, das ganze Gegrabsche und Gefummel. Vera hielt ihn auch für prüde. Es hätte ihm ja gar nicht so viel ausgemacht, wenn sie zärtlich und respektvoll miteinander umgegangen wären, aber die Art, wie die Jungs mit den Mädchen redeten, war unangenehm. Sie beleidigten und verhöhnten sie, weil sie so brav aussahen. Joe dachte, dass er die Mädchen gern mal mit aufs Revier nehmen würde, damit Vera ihnen eine flammende Rede über Feminismus halten konnte – über das Recht der Frauen auf Respekt. Bei dem Gedanken musste er lächeln. Er betrachtete die Abzeichen auf den Schulblazern der Mädchen. Von einer Privatschule in der Stadt. Er und Sal hatten schon darüber nachgedacht, ob sie Jessie auf eine Privatschule schicken sollten. Ihre Tochter war ein aufgewecktes Kind, und sie setzten große Hoffnungen in sie. Ganz bestimmt würde sie später studieren. Vielleicht ja an einer altehrwürdigen Universität. Aber als er jetzt sah, wie diese Mädchen eingeschüchtert und demütig zu den Jungs emporlächelten, war er sich, was die teure Schule betraf, nicht mehr so sicher.

Der Zug fuhr in die nächste oberirdische Station ein. Im Licht des Bahnsteigs erkannte er, dass es jetzt sogar noch heftiger schneite als vorhin, die Flocken waren größer geworden und blieben auf den Dächern der Häuser liegen.

Die Beleuchtung im Waggon flackerte, dann war es einen Augenblick lang vollkommen dunkel. Irgendwo stieß eine junge Frau einen leisen Schrei aus. Die Lichter gingen wieder an, und der Zug fuhr in den nächsten Bahnhof ein. Partington, kurz vor der Endhaltestelle. Auf dem Bahnsteig lag der Schnee fast drei Zentimeter hoch. Joe hoffte, dass Sal schon zu Hause war, die Heizung angestellt und eine Kanne Tee gekocht hatte. Dieses Jahr wollte sie einen richtigen Weihnachtsbaum besorgen. Ihm hätte ein künstlicher Baum genügt – seine Mutter hatte sich nie die Mühe

Er beschloss, dass sie sich am Bahnhof in Mardle ein Taxi nehmen würden. Sal hatte zwar gesagt, sie werde sie abholen, aber er wollte nicht, dass sie bei diesem Wetter mit dem Auto fuhr. Die lange Strecke bis nach Hause würde mit dem Taxi ein Vermögen kosten, aber das war es ihm wert. Die Türen des Zuges standen noch offen, und er erhaschte einen kurzen Blick auf die Passagiere, die ihm gegenübersaßen, wobei er sah, dass der kalte Wind ein paar Schneeflocken hereingeweht hatte, die im Haar der Reisenden hängen geblieben waren. Für die Aufführung in der Kathedrale hatte er sich schick gemacht, und Jessie trug über ihrer Schuluniform nur einen Mantel. Er legte den Arm um sie und hoffte, sie so warm zu halten.

Da brummte es in der Lautsprecheranlage, und sie hörten die Stimme des Fahrers.

«Tut mir leid, Leute. Auf der Strecke gibt es Schwierigkeiten. Schnee im Winter ist ja auch ungewöhnlich.» Die Passagiere lachten gedämpft, sie hatten zu viel Feiertagslaune und Bier getankt, um sich über die Störung zu ärgern. «Dieser Zug endet hier. Ein Kollege wird Sie zur Hauptstraße begleiten, wo Ihnen in Kürze ein Bus zur Fortsetzung Ihrer Fahrt zur Verfügung gestellt wird.» Gutmütiges Gegrummel. Die Leute stolperten aus dem Waggon, sie klagten über die Kälte,

Die Lichter im Waggon waren noch an, leuchteten aber nur noch schwach. Keine Spur vom Fahrer. Jessie stieß Joe in die Rippen.

«Schau mal. Die Dame bewegt sich gar nicht.»

«Mach dir keine Gedanken.» Joe hielt sich das Handy ans Ohr. Es klingelte. «Sie schläft bestimmt. Vielleicht hat sie zu Mittag ja ein bisschen zu viel getrunken.» Dann sah er, dass Jessie auf die ältere Frau in dem langen Mantel deutete.

Er wollte schon sagen, dass der Fahrer den Zug sicher nicht ins Depot fahren würde, ohne vorher nachzusehen, ob alle Waggons leer waren, als Jessie unter seinem Arm hervorschlüpfte und zurück in den Zug lief. Sanft schüttelte sie die Frau an der Schulter. Sie war schon immer ein hilfsbereites kleines Mädchen gewesen, und Joe war stolz auf sie, doch manchmal wünschte er sich, sie würde sich nicht immer einmischen.

Und gerade in dem Moment, als jemand beim Taxiunternehmen abhob, schrie Jessie los.

In der Harbour Street stand nur ein Wohnhaus; in all den anderen Gebäuden waren Geschäfte oder Büros. Es war hoch und grau, fast schon schwarz von dem Kohlenstaub, der auch den kleinen Strand auf der anderen Seite der Hafenmauer schwarz färbte. Drei Stockwerke, Souterrain und Dachgeschoss. Eindrucksvoll. Über der Eingangstür war ein Jahr eingemeißelt: 1885. In einem der Fenster im Souterrain war Licht. Eine Frau nahm gerade Bettlaken von einer Wäscheleine, die sie vor dem Ofen gespannt hatte. Sie faltete sie mit geübten Handgriffen zusammen, zuerst Ecke an Ecke, dann strich sie die Laken glatt, bevor sie sie auf den Tisch legte. Auch in den oberen Stockwerken war Licht in einigen Fenstern, doch vom Gehsteig aus konnte man nicht sehen, wer sich dort oben aufhielt.

Gleich neben dem Haus lag der Hof von Malcolm Kerr, der von der Straße nur durch einen rostigen, von scharfen Spitzen gekrönten Eisenzaun abgetrennt war; am Tor hing eine gewaltige Kette mit einem riesigen Vorhängeschloss. Ein paar alte Boote, Einzelteile von Motoren, merkwürdig bucklige, mit Segeltuch abgedeckte Gegenstände – der Hof sah aus wie ein Schrottplatz. Malcolm bot Ausflugsfahrten nach Coquet Island zur Vogelbeobachtung an, und im Winter, wenn die Lucy May nur selten gechartert wurde, arbeitete er auf dem Hof, wo er die Boote seiner Nachbarn reparierte. Der Schnee ließ die harten Umrisse auf dem Hof langsam weicher erscheinen, sie wirkten geheimnisvoll und waren nur schwer zu erkennen. In einer Ecke stand ein Schuppen

Neben dem Hof befand sich das Bootshaus, in dem das Rettungsboot des Ortes untergebracht war, und dahinter, auf der dem Meer zugewandten Seite, standen der Auflieger und die Zugmaschine, mit deren Hilfe das Boot bei Notfällen oder für Rettungsübungen zu Wasser gelassen wurde. Dann kamen die Fischhallen von Mardle: Hier ging es lebendig und laut zu, aus dem Fernseher im Hintergrund dröhnte Musik. Tagsüber wurde in einem langen, flachen Lager auf der Rückseite des Gebäudes frischer Fisch für den Groß- und Einzelhandel verkauft, der größtenteils direkt vor Ort gefangen wurde. Abends verwandelten sich die Fischhallen in einen Fish-and-Chips-Shop, mit einem Restaurant daneben, wo man auch sitzen konnte. Hinter den Fritteusen standen zwei weiß gekleidete Frauen, deren Gesichter von der Hitze gerötet waren, obwohl die Schneeflocken durch die offen stehende Tür hereinwehten. Die Schlange der Kunden reichte bis auf die Straße hinaus. Alles Einheimische. Mardle war keine Touristengegend, auch im Sommer nicht. Neben den Fischhallen ging es nicht mehr weiter, da war nur noch eine Mauer und dahinter der Hafen. Die Boote, die dort lagen, waren schwarze, im Schneegestöber halb verborgene Schatten.

Auf der anderen Straßenseite befand sich der Coble Pub, und dort, wo die Leute zwischen dem Pub und dem Fish-andChips-Shop hin- und herliefen, war der Schnee schon flachgetreten und vereist. Vor dem Pub lehnten ein paar hartgesottene Raucher an der Hauswand, um sich vor dem Wetter

Das war die Harbour Street.

 

In dem großen Haus trug Kate Dewar die Betttücher die Treppe hoch zum Wäscheschrank, wobei sie vor den mit Nummern versehenen Türen eine kleine Pause einlegte. Nicht um zu lauschen. Kate würde ihren Gästen niemals nachspionieren. Doch das hier war ihr Hoheitsgebiet, und sie wollte wissen, wer im Haus war. Alles wirkte still. Vielleicht hatte der Schnee ja für Verkehrsprobleme gesorgt. Sie war froh, dass die Kinder schon daheim waren; sie hatte sie vorhin kommen gehört und stellte sich vor, wie sie jetzt auf der Couch in der Souterrainwohnung herumhingen und fernsahen. Eigentlich hatte sie die Regel aufgestellt, dass erst die Hausaufgaben gemacht sein mussten, ehe der Fernseher eingeschaltet wurde, aber die Ferien standen kurz bevor, und heute wollte sie nicht darauf bestehen.

Während sie die Treppe weiter hochstieg, glaubte sie die Haustür zu hören, doch als sie stehen blieb, um darauf

Einen Augenblick lang blieb Kate stehen und lauschte auf die Musik in ihrem Kopf. Dann erweckte sie die Melodie zum Leben und summte sie. Ein Lied für den Winter, klar und ohne Schnörkel. Für die Liebe im Winter. Und wieder musste sie an Stuart denken, an die unerwarteten Schmetterlinge im Bauch, die sie in ihrem Alter noch erwischt hatten; ihr stockte der Atem, und sie war überrascht, als ihr klar wurde, dass sie noch im gleichen Moment alles für diesen neuen Mann in ihrem Leben stehen und liegen gelassen

Auf dem Weg zurück in die Souterrainwohnung entdeckte sie George Enderby vor der Eingangstür und ließ ihn herein. Auf seinem Wollmantel hingen Schneeflocken, und sein großes, gutmütiges Gesicht strahlte auf Kate herab. «Na, Kate, was meinen Sie? Schnee zu Weihnachten. Die Kinder sind bestimmt ganz aus dem Häuschen.» Er hatte eine sonore Stimme und eine so vornehme, südenglische Art zu sprechen, dass sie sich an einen Politiker oder Schauspieler erinnert fühlte.

Kate dachte, dass ihre Kinder in diesem Jahr supercool taten und sicher glaubten, dass es weit unter ihrer Würde lag, noch Schneemänner zu bauen. Aber George besaß einen so unschuldigen Glauben an das Leben in einer perfekten Familie, dass sie es nicht über sich brachte, ihn von diesem Irrtum zu befreien.

«Ja», sagte sie.

George arbeitete als Vertreter für einen Verlag und reiste mit einem großen Rollkoffer voller Bücher umher. Oft schenkte er den Kindern ein paar Exemplare. Manche gefielen Chloe sogar, die dicken, in denen es um fremde Kulturen ging, aber Ryan las nicht gern, auch wenn er so tat, als würde er sich dafür interessieren. Er nahm ihm die Bücher ab, um George eine Freude zu machen. In Kates Hinterkopf spukte eine beständige Sorge um Ryan herum. Er machte nicht

George war verheiratet, hatte aber keine Kinder. Das hatte er ihr einmal erzählt. Er hatte ihr an den Abenden, wenn es spät wurde und er seinen üblichen Schlummertrunk im Salon für die Gäste zu sich nahm, schon eine ganze Menge erzählt. Er trank seinen Whisky dann immer in kleinen Schlucken, und sie sah auf ihre Armbanduhr und fragte sich, wann er wohl schlafen gehen würde. Sie führte die Pension im Großen und Ganzen allein. Außer ihr gab es nur Margaret, die ihr in der Küche half, und die war in den letzten Tagen nur zu wenig zu gebrauchen gewesen.

«Hatten Sie einen erfolgreichen Tag, George?»

Sie wusste, dass sein Beruf ihn forderte. Auch das hatte er ihr gestanden. «Ich wüsste nicht, was ich ohne meine Arbeit anstellen sollte, Kate. Ich brauche Bücher wie die Luft zum Atmen.» Dabei hatte sie gespürt, dass er nicht darauf angewiesen war, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Er besaß dieses entspannte Selbstvertrauen und diese sorglose Einstellung zu Geld, die man nur hat, wenn man reich geboren ist. Aber sie glaubte nicht, dass seine Ehe glücklich war, obwohl er, selbst wenn er sehr betrunken war, nie etwas Unfreundliches über seine Frau sagte. «Meine Diana ist ein Wunder», pflegte er zu sagen, «eine famose Frau.»

«Aber natürlich.» George wohnte gern in dem großen Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses mit Blick aufs Meer, und es machte ihm nichts aus, dass es das teuerste von allen war. Meine Vorgesetzten sind Londoner Preise gewöhnt, Kate, sagte er immer. Sie machen mir nie Ärger wegen meiner Spesen.

«Diesmal bin ich bloß für ein paar Tage hier oben. Dann muss ich wieder gen Süden. Außer der Schneefall wird wirklich so schlimm, wie sie im Wetterbericht sagen. In dem Fall bekommen Sie vielleicht einen unerwarteten Gast zum Weihnachtsessen.» Er lächelte wehmütig, und sie dachte, dass er das genießen würde. Ein richtiges Familien-Weihnachtsessen mit ihr und den Kindern, alle säßen um den Tisch im Souterrain, und er würde den Truthahn tranchieren. Aber dieses Jahr würde auch Stuart dabei sein, und sie war sich nicht sicher, was George davon halten würde. Sie argwöhnte im Stillen, dass George Enderby bis über beide Ohren in sie verliebt war.

«Ich stelle Ihnen eine Kanne Tee in den Salon.» Auch das war zu einer Gewohnheit geworden. Er setzte sich stets mit seinem Laptop und den Büchern in den Salon, trank Tee und aß die Kekse, die Margaret gebacken hatte. Danach ging er, weil Kate keine warmen Mahlzeiten anbot, zum Abendessen auf die Harbour Street – entweder in den Fish-and-Chips-Shop oder in den Pub – und kam mit ein paar Gläsern Bier intus wieder zurück, um dann bis Mitternacht aufzubleiben und Whisky zu trinken.

Als sie ins Souterrain kam, sahen die Kinder fern. Sie dachte, kann gut sein, dass sie, als sie mich auf der Treppe

Beide hatten immer noch die Schuluniform an, und Kate wollte ihnen schon sagen, sie sollten sich umziehen, doch dann hielt sie lieber den Mund. Überflüssig, deshalb einen Streit vom Zaun zu brechen. Man sollte sich seine Schlachten gut auswählen. Das hatte sie in einer Frauenzeitschrift gelesen.

«Geht’s euch gut?»

Als Antwort erhielt sie ein halblautes Grunzen von Chloe. Dann drehte Ryan sich um und lächelte sie auf diese Weise an, die sie immer an seinen Vater erinnerte und ihr beinahe den Magen umdrehte, weil es sich anfühlte, als würde sie einen Geist sehen.

In der Küche stellte sie das Tablett für George zusammen. Eine Stoffserviette, loser Tee in einer Kanne, eine Tasse und ein Teesieb. Milch in einem Kännchen. Manchmal machte Ryan sich über ihre Sorgfalt lustig. «Wir sind hier in Mardle, Mum! Du führst nicht das Ritz.» Und Kate wusste, dass ihr Bemühen, ein gewisses Niveau aufrechtzuerhalten – die Stoffservietten auf dem Abendbrottisch, selbst wenn sie nur Pizza aßen, ihr Beharren auf guten Manieren –, den

Der Salon war leer. George war bestimmt noch auf seinem Zimmer. Kate stellte das Tablett ab, machte den Gaskamin an und zog die Vorhänge zu. Der Schnee wehte in sanftem Gestöber gegen das Fenster.

Gerade überlegte sie, dass sie zum Abendessen einen Schmortopf aufwärmen könnte, als die Türglocke läutete. Wenn das neue Gäste waren, die das Wetter in Mardle festhielt, konnte sie ihnen Zimmer sechs geben. Sie öffnete die Tür.

Draußen stand eine Frau von ungeheuerlicher Gestalt. Sie trug einen ausgebeulten Anorak über einem Tweedrock und hatte ein breites Gesicht mit kleinen braunen Augen. Die Kapuze verdeckte ihr Haar. An den Füßen trug sie Gummistiefel. Der ganze Körper war schneebedeckt. Hinter ihr stand noch eine zweite Gestalt, die jedoch größtenteils von der massigen Frau verdeckt wurde, sodass man unmöglich Einzelheiten erkennen konnte.

Die Frau des Yeti, dachte Kate.

Dann sagte die Frau etwas. «Würden Sie uns bitte hereinlassen, Herzchen? Hier draußen ist es eiskalt. Ich bin Vera Stanhope. Inspector Vera Stanhope.»

Der Anruf erreichte Vera, als sie gerade einkaufen war, und als ihr Handy in der Tasche brummte, durchzuckte sie eine freudige Erleichterung. Sie wagte sich nur selten nach Newcastle, wenn es nicht um die Arbeit ging, und das hier war der reinste Albtraum. Weihnachtseinkäufe: Horden von gestressten Menschen mit einem panischen Flackern in den Augen. Wie die Kaninchen, die Hector auf der Jagd nach einem Braten mit der Taschenlampe geblendet hatte. Ihr Vater Hector war schon vor Jahren gestorben, und sonst hatte Vera keine Familie, für die sie Geschenke besorgen müsste. An Heiligabend ging sie zum Abendessen immer rüber zu ihren Hippie-Nachbarn, und sie betranken sich zusammen, bis sie sternhagelvoll waren, aber Jack und Joanna erwarteten keine Geschenke von ihr – höchstens mal eine anständige Flasche Whisky –, und sie selbst wollte auch keine.

Und dann hatte Holly, eine ihrer Mitarbeiterinnen, sich dieses Spiel ausgedacht. Wichteln: Alle Namen wurden in einen Hut geworfen, und jeder zog den Namen desjenigen, den er beschenken sollte. Vera hatte gehofft, dass sie Charlie ziehen würde. Über eine Flasche Whisky hätte der sich auch gefreut. Doch stattdessen hatte sie Hollys Namen aus dem Hut gezogen. Holly benutzte Parfüm und schminkte sich und trug schicke Klamotten, selbst bei der Arbeit. Was sollte Vera für sie bloß finden? Und deshalb stand sie jetzt hier bei Fenwick’s und schwitzte, weil sie ihre Wintersachen anhatte, umgeben von eleganten Verkäuferinnen, die sie anstrahlten, und wollte gerade die Flucht antreten, als

«Joe, was gibt’s?», trällerte sie. Eine Kosmetikverkäuferin in weißem Kittel, die gerade die Grundierung auf das Gesicht einer Frau Mitte vierzig klatschte, die auf einem Stuhl hockte, der aussah wie die Stühle beim Zahnarzt, starrte zu Vera hinüber.

«Einen Mord», sagte er, und das Herz schlug ihr noch höher, bevor das Schuldgefühl einsetzte und sie sich schalt, dass das Opfer sicher Verwandte und Freunde gehabt hatte. Niemand starb, um ihr, Vera, ein Vergnügen zu bereiten. «Jemand wurde in der U-Bahn erstochen.»

«Eine Schlägerei, die aus dem Ruder gelaufen ist?» Das kam ihr seltsam vor. So etwas geschah spätnachts, aber doch nicht am Nachmittag.

«Nein.» Sie kannte ihn gut genug, um zu spüren, dass die Dinge nicht so einfach lagen, und auch das gefiel ihr. Sie mochte es, wenn die Umstände ein bisschen komplizierter waren. Wenn sie herausgefordert wurde. «Es handelt sich um eine ältere Dame. Ich war als Erster am Tatort. Die Spurensicherung ist schon unterwegs.»

«Geben Sie auch Holly Bescheid.» Zurzeit war Vera darauf bedacht, Holly öfter mit einzubinden, denn wenn die junge Polizistin den Eindruck bekam, sie würde hier etwas verpassen, dann könnte es passieren, dass sie runter in den Süden abdampfte. Vera holte tief Luft, während sie sich durchs Gedränge in Richtung Ausgang schob und in der Jackentasche nach dem Autoschlüssel fischte. «Und stöbern Sie Charlie in seinem Bau auf. Wer hat die Leiche gefunden?»

«Jessie», antwortete Joe. «Meine Tochter Jessie.»

 

Dann zog sie sich die Gummistiefel an, die immer im Landrover lagen. Das kostete sie einige Mühe – ihre Waden passten gerade so hinein. Aber sie wog weniger als früher. Die Stiefel waren neu, und noch vor einem Jahr hätte sie überhaupt nicht hineingepasst. Auf dem Bahnsteig war es glatt, und sie machte vorsichtige Schritte. Sollte sie hinfallen, bräuchten sie einen Kran, um sie wieder auf die Beine zu stellen. In dem hell erleuchteten Waggon sah sie Gestalten in weißen Spurenschutzanzügen bei der Arbeit. Sie hoffte, dass Billy Wainwright das Team der Spurensicherung leitete, denn von dort, wo sie stand, konnte sie die Leiche nicht

«Joe!» Er drehte sich zu ihr um und ging auf sie zu, wobei er sein Telefongespräch beendete und dann die Hände in die Taschen schob.

Als er näher kam, sah Vera, dass er die Stirn runzelte. Vermutlich hatte er sich den Tag etwas anders vorgestellt. Ein Abend daheim mit Sal und den Kindern. Vielleicht wollten sie die Geschenke einpacken, wenn die Kinder im Bett waren. Sal war bestimmt gut organisiert; sie würde niemals ihre Weihnachtseinkäufe bis zur letzten Minute aufschieben. Doch Vera wusste, dass dieses perfekte häusliche Dasein Joe langweilte, auch wenn er das nie zugeben würde, nicht mal sich selbst gegenüber. Gut möglich, dass dieser Mord ja auch für ihn wie ein Geschenk des Himmels war.

«Was können Sie mir jetzt schon sagen, Joe?» Sie gingen in die schützende Bahnhofshalle. Joe lehnte sich gegen einen Fahrkartenautomaten. Draußen fiel der Schnee nun so dicht, dass sie wie durch einen wallenden weißen Vorhang auf den Zug blickten. Gar nicht mal so übel, dachte Vera. Die Leute werden dem Wetter die Schuld dafür geben, dass die Metro lahmgelegt ist, nicht der Polizei.

Während Joe die Fahrt aus der Stadt heraus beschrieb – den vollgepferchten Waggon, die Jugendlichen mit ihrem frechen Mundwerk, die betrunkenen Geschäftsleute –, hörte sie zu. Zu diesem Zeitpunkt machte sie sich noch keine Notizen. Das hätte nur ihre Konzentration behindert. Sie musste sich vorstellen können, selbst in diesem Waggon zu sitzen und den Wortgeplänkeln zu lauschen.

Sie wartete, bis er fertig erzählt hatte. «Dann waren also alle guter Laune? Es gab nichts, was einen kleinen

«Nicht dass ich es gesehen oder gehört hätte. Es war zwar rappelvoll in dem Waggon, aber wenn es irgendwo einen Tumult gegeben hätte, hätte ich das sicher mitbekommen. Selbst als der Zug anhielt und wir alle aussteigen mussten, ist niemand ausgetickt.»

«Was wissen wir über das Opfer?» Diesen Moment genoss Vera bei jeder Ermittlung am meisten. Sie war nun einmal neugierig, schnüffelte mit Leidenschaft im Privatleben anderer Menschen herum. Vielleicht ja, wie sie zugeben musste, weil sie selbst kein Privatleben hatte.

«Nur das, was ihrem Seniorenticket zu entnehmen war. Sie hatte zwar eine Handtasche bei sich, aber darin waren bloß eine Geldbörse, ein Schlüsselbund und ein Taschentuch.»

«War Geld in der Börse?» Es gibt Drogensüchtige, dachte Vera, die würden ihre Großmutter erstechen, nur um an das Geld für einen Schuss zu kommen. Aber wahrscheinlich nicht mitten am Tag in der Metro.

«Fünfzig Mäuse und ein bisschen Kleingeld.»

Also kein Raubüberfall. «Was wissen wir denn über sie?»

«Sie heißt Margaret Krukowski und ist siebzig Jahre alt. Eine Adresse in Mardle. Harbour Street Nummer eins.» Beim Nachnamen hatte Joe sich verhaspelt.

«Was für ein Name ist das? Russisch? Polnisch?»

Joe schüttelte den Kopf. Woher sollte er das wissen? «Sie war schon fast zu Hause», sagte er. «Nur noch eine Haltestelle, und sie wäre in Sicherheit gewesen.» Vera dachte, dass

«Haben Sie mitgekriegt, wo sie zugestiegen ist?»

«Aye, in Gosforth.»

Einer der vornehmeren Stadtteile von Newcastle. Das war weit von Mardle entfernt, was soziale Zugehörigkeit und Anspruchshaltung betraf.

Joe erriet, was sie dachte. «Ihrer Erscheinung nach gehörte sie eher nach Gosforth als nach Mardle», sagte er.

Darüber dachte Vera einen Augenblick lang nach und fragte sich, wo die Leute sie selbst wohl einordneten, wenn sie sie sahen. Obdachlose? Bäuerin?

«Dann wollen wir mal los, oder?», sagte sie. «Mal sehen, ob zu Hause jemand auf Margaret Krukowski wartet.»

 

Vor dem Haus blieben sie einen Moment lang im Landrover sitzen. Die Harbour-Street-Pension. Eine Holztafel neben der Eingangstür, schon fast völlig zugeschneit.

«Manchmal kommen wir mit den Kindern hierher, zu den Mardle-Fischhallen», erzählte Joe. «Ein kleiner Ausflug. Hier soll es die besten Fish and Chips im ganzen Nordosten geben.»

Vera hatte ihre eigenen Erinnerungen an Mardle. Hector, der einen Fischer bestach, damit der sie mitten in der Nacht nach Coquet Island hinausfuhr. Die Lichter, die im Wächterhäuschen am anderen Ende der Insel noch brannten. Gelächter und Musik von irgendeiner Party, die da stattfand. Ihr Horror, sie könnten erwischt werden, während Hector nur Augen und Ohren für seine Jagd nach den Eiern der Rosenseeschwalbe hatte. Er hatte das Risiko geliebt. Heute glaubte sie, dass es die Gefahr gewesen war und nicht so

«Na dann», sagte Joe. «Gehen wir rein? Ich habe eine Familie, die ich heute auch noch gern sehen würde.»

Sie nickte und kletterte aus dem Wagen, wobei sie versuchte, sich daran zu erinnern, ob es die Pension auch schon gegeben hatte, als sie noch ein Kind war. In ihrer Erinnerung war die Straße heruntergekommen, fast schon armselig, aber das war über vierzig Jahre her. Sie läutete.

Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, war gerade im richtigen Alter, um die Tochter des Opfers zu sein. Ende dreißig, Anfang vierzig. Lockiges, schwarzes Haar und kastanienbraune Augen, ein freundliches, beinahe geschäftsmäßiges Lächeln. Vera musste an eine Krankenschwester denken. Als Vera sich vorgestellt hatte, trat die Frau beiseite, um die beiden ins Haus zu lassen. «Ist etwas passiert?»

Wenn die Polizei vor der Haustür auftauchte, bekamen die Menschen entweder Schuldgefühle oder einen Schreck. Vera konnte nicht erkennen, was hier der Fall war. Sie folgte der Frau in den rückwärtigen Teil des Hauses, in einen geheizten, salonartigen Raum, der mit wuchtigen Möbeln ausgestattet war, die in einem kleineren Zimmer fehl am Platz gewirkt hätten, und wo sie sich auf ausladende, mit Samt bezogene Sofas setzten. An einer Wand stand ein Klavier, daneben ein Notenständer und an einer anderen eine Anrichte mit Karaffen und Spirituosen. Vera fand, ein Gläschen Malt Whisky wäre jetzt genau, was sie bräuchte, nachdem sie sich an der kalten Metrostation herumgetrieben hatte, aber sie war professionell genug, nicht darum zu bitten. Die Vorhänge waren zugezogen, und der Raum war weihnachtlich geschmückt, mit Stechpalmenzweigen und

In dem Raum war sonst niemand, doch auf einem der kleinen Tische stand ein Teetablett. Dass es dort war, schien ihre Gastgeberin zu stören. Sie warf entschuldigende Blicke in die Richtung. Joe kam ihnen nun auch nach und setzte sich vor den Gaskamin.

«Ein hübsches Zimmer», sagte er. «Gemütlich.»

Die Frau lächelte und entspannte sich anscheinend etwas.

«Würden Sie uns bitte sagen, wie Sie heißen?» Das war wieder Joe.

«Dewar.» Die Frau wandte Vera jetzt den Rücken zu. «Kate Dewar.»

Die Tür ging auf, und ein großer, glatzköpfiger Mann mit gewinnendem Lächeln und ungezwungenem Auftreten unterbrach sie.

«Hallo», sagte er. «Noch mehr Gäste, Kate? Noch mehr im Schneesturm Gestrandete?» Er drehte sich um, sodass er nun auch Vera und Joe in sein Lächeln mit einschloss. «Herzlich willkommen.» Als wäre das hier sein Haus. «Hätten Sie gern einen Tee? Ich bin sicher, dass genug in der Kanne ist, und Kate bringt uns bestimmt noch ein paar Tassen.»

«Die Herrschaften sind keine Gäste, George. Es sind Polizeibeamte.» Schwang da eine Warnung in den Worten mit? Pass auf, was du sagst?

«Ach so», meinte er. Er blieb kurz stehen und schaute sich unbehaglich um. «Dann störe ich bestimmt. Ich will mich nicht aufdrängen. Ich nehme den Tee mit auf mein

«Ein Gast?» Sie deutete mit dem Kinn zur Tür.

«George Enderby, einer meiner Stammgäste.»

«Und Margaret Krukowski? Zählt sie auch zu Ihren Stammgästen? Ich frage nur, weil sie hier gemeldet ist.»

«Margaret? Fehlt ihr etwas? Sind Sie deswegen hier?»

Vera hörte Erleichterung aus der Stimme heraus und fragte sich, was die Frau wohl sonst von der Polizei zu befürchten hatte. «Dann wohnt Margaret also tatsächlich hier? Sind Sie verwandt?»

«Nein. Sie ist eine Freundin. Und auch eine Angestellte, gewissermaßen. Sie hilft mir im Haus. Wir führen die Pension gemeinsam.» Kate lächelte. «Ohne sie würde ich das alles nicht schaffen.»

Vera beugte sich vor und sprach mit freundlicher Stimme. «Margaret Krukowski ist tot», sagte sie. «Sie wurde heute Nachmittag auf dem Heimweg aus der Stadt in der U-Bahn erstochen. Sie müssen mir alles über sie erzählen.»

Während sie in dem überhitzten Salon saßen, überlegte Vera, ob es draußen wohl noch schneite. Falls ja, würde sie den steilen Hang zu dem Haus, in dem sie seit ihrer Kindheit wohnte, höchstwahrscheinlich nicht mehr hinaufkommen, nicht mal mit dem Landrover. Aber das hier würde vermutlich ohnehin die ganze Nacht dauern, es war also sinnlos, sich wegen der Heimfahrt Sorgen zu machen.

Kate Dewar kauerte auf dem Rand eines der ausladenden Sofas und weinte. Sie machte kein Aufhebens, gab keinen Laut von sich, sondern weinte nur still vor sich hin. Joe Ashworth hatte ihr ein Päckchen Taschentücher gereicht. Er war wie ein Pfadfinder. Allzeit bereit.

«Wie lange kannten Sie Margaret denn?» Manchmal glaubte Vera, dass es am besten war, mit ganz einfachen Dingen anzufangen. Mit Einzelheiten, an die die Hinterbliebenen sich klammern konnten, die ihre Gedanken von dem Schock und der Trauer ablenkten.

Kate betupfte sich die Augen. «Seit zehn Jahren», sagte sie. «Die Kinder waren noch klein. Da starb meine Tante – sie war nur angeheiratet. Ich habe sie nie kennengelernt, und wir wohnten zu der Zeit weiter oben an der Küste. Aber in ihrem Testament hat sie mir dieses Haus hier hinterlassen. Damals war es noch keine Pension, doch es war schon in lauter möblierte Zimmer und kleine Wohnungen aufgeteilt. Alles ziemlich schmuddelig. Das meiste stand leer. Margaret war die Einzige, die überhaupt so etwas wie einen Mietvertrag hatte.» Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. «Mir war

Desillusioniert zuckte sie mit den Schultern.

«Zuerst dachte ich, dass es Schwierigkeiten geben könnte, wenn Margaret hierbliebe – dass sie irgendwie, na ja, im Weg wäre.» Wieder hielt Kate inne, und ein bezauberndes, breites Lächeln glitt über ihr Gesicht. «Aber weiter daneben hätte ich gar nicht liegen können. Sie war einfach wunderbar, und ohne sie wäre das alles ein einziger Albtraum geworden. Sie war wie eine Mutter und eine beste Freundin in einer Person. Wir schlossen eine Vereinbarung. Sie konnte weiterhin in ihrer kleinen Wohnung da oben unterm Dach wohnen, brauchte keine Miete zu zahlen und würde dafür in der Pension aushelfen. Und ich würde sie bezahlen, sobald ich konnte. Als dann die ersten Gäste eintrudelten, bekam sie ein richtiges Gehalt.»

Aus den Augenwinkeln heraus sah Vera, dass Joe Ashworth sich Notizen machte, während sie selbst versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste, dieses riesige Haus zu renovieren, überall Handwerker und dazwischen zwei Frauen voller Ideen und Zukunftspläne, denen zwei kleine Kinder an den Rockzipfeln hingen. So etwas schweißte bestimmt zusammen, und plötzlich durchzuckte sie eine schmerzliche Sehnsucht – sie selbst hatte nie eine beste Freundin gehabt, jemanden, mit dem sie ihre Träume hätte teilen können. Der Mensch, der ihr am nächsten stand, war Joe Ashworth.

«Ja, aber Margaret kam nicht aus Polen. Sie ist hier oben im Nordosten geboren und aufgewachsen und stammt aus einer angesehenen Familie aus Newcastle. Als sie noch sehr jung war, hat sie einen polnischen Seemann geheiratet. Ihre Eltern waren außer sich, aber es waren ja die Sechziger, und sie sagte, dass er sehr gut ausgesehen habe, und außerdem war er ein Flüchtling, was das Ganze nur noch romantischer erscheinen ließ.»

«Was ist aus ihm geworden?» Vera mochte das Opfer bereits, ihr gefiel Margarets Vielschichtigkeit. Joe hatte gesagt, ihrem Aussehen nach gehöre Margaret eher nach Gosforth als nach Mardle, aber immerhin hatte sie sich mit einem polnischen Asylsuchenden eingelassen und war schließlich allein in einer schäbigen kleinen Wohnung gelandet. Doch sie hatte weiterhin auf ihr Äußeres geachtet. Sie hatte sich immer noch eine gewisse Eleganz bewahrt, mit ihren Stiefeln und dem roten Lippenstift; mit dem langen Mantel, der neu ein Vermögen gekostet haben musste.

«Nur ein paar Jahre nachdem sie geheiratet hatten, ließ er sie sitzen. Ist mit einer anderen Frau auf und davon, die mehr Geld hatte als Margaret. Sie sagte, das habe ihr das Herz gebrochen, aber sie war zu stolz, um zu ihren Eltern zurückzukehren. Sie ließ sich zur Buchhalterin ausbilden und hat für ein paar Betriebe im Ort gearbeitet. Als ich sie kennenlernte, war sie schon im Ruhestand. Oder in den Ruhestand versetzt worden.» Wieder lächelte Kate. «Sie konnte phantastisch mit Zahlen umgehen und hat mich nicht nur einmal vor dem Steuerprüfer gerettet.»

«Aber den Namen ihres Mannes hat sie behalten?» Das

«Sie hat mir erzählt, dass sie nie aufgehört hat, ihn zu lieben», erwiderte Kate. «Wie ich schon sagte, sie war sehr romantisch veranlagt.»

«Und Ihr Mann?», fragte Vera. «Arbeitet er noch immer so viel außer Haus?»

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

«Nein», sagte Kate. «Er ist gestorben. Ein Arbeitsunfall draußen in der Nordsee. Bei den Ölplattformen. Er ist ertrunken. Seine Leiche wurde nie gefunden.» Und sie fing erneut an zu weinen.

 

Kate führte sie die Treppe hinauf zu Margarets kleiner Wohnung. «Als sie älter wurde, habe ich sie gefragt, ob sie vielleicht in eins der Zimmer weiter unten ziehen wolle, aber sie sagte, hier oben fühle sie sich inzwischen zu Hause und die Treppen hielten sie fit.»

«Dann war sie also völlig gesund? Gut in Form für ihr Alter?» Trotz ihrer neuen Diät und der gelegentlichen Ausflüge ins Schwimmbad keuchte Vera schon.

«O ja. Die Pension läuft mittlerweile recht gut. Wir haben unsere Stammgäste und machen auch manchmal das Catering für Partys, aber Margaret sagte immer, dass sie nicht daran denken würde, sich zur Ruhe zu setzen.» Vor der Türe blieb Kate stehen. Joe holte den Schlüsselbund hervor, den die Spurensicherung bei der Leiche gefunden hatte.

«Haben Sie keinen Generalschlüssel?» Vera lehnte sich gegen die Wand, um wieder zu Atem zu kommen.

«Hat sie denn manchmal Besuch bekommen?»

«Mich hat sie ab und zu zum Nachmittagstee eingeladen», erzählte Kate. «Das war wundervoll. Immer gab es eine besondere Kleinigkeit. Manchmal geräucherten Lachs aus den Fischhallen, auf kleinen Pfannkuchen. Manchmal eine Torte, die sie selbst gebacken hatte. Einmal gab es eine Flasche Rosé-Champagner, weil sie sagte, sie hätte etwas zu feiern. Aber ich habe nie mitbekommen, dass jemand anders sie hier besucht hätte.»

Sie blieb unschlüssig auf dem Treppenabsatz stehen und fragte sich anscheinend, ob von ihr erwartet wurde, dass sie die beiden in die Wohnung begleitete.

Vera streckte die Hand aus und legte sie ihr auf die Schulter. «Ist schon gut, Herzchen. Wir kommen jetzt allein zurecht.»

Kate nickte und kehrte um. Joe Ashworth wartete, bis sie die Treppe halb hinuntergegangen war, bevor er den ersten Schlüssel ausprobierte. An dem Bund hingen drei Schlüssel. Vera überlegte, wozu die anderen beiden gut waren – einer war sicher für die Haustür. Aber der andere? Joe stieß die Tür auf.

Wie Kate gesagt hatte, war die Wohnung sehr klein. Auf der einen Seite war die Decke nicht mal einen Meter hoch und ging in eine Dachschräge mit drei Gauben über,