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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2019

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Umschlaggestaltung Juergen Seuss

Umschlagabbildung George Grosz: Schönheit, dich will ich preisen © Estate of George Grosz, Princeton, N.J./VG Bild-Kunst, Bonn 2018

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ISBN Printausgabe 978-3-499-22377-8 (12. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-00350-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00350-7

Anmerkungen

Klaus Mann: Tagebücher 1936 bis 1937. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. Reinbek 1995, S. 43.

Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Reinbek 1984, S. 265.

Der in Fez erlittene, durch eine Überdosis Haschisch ausgelöste Horrortrip wird nicht nur in «Treffpunkt im Unendlichen», sondern, mit fast gleichem Wortlaut, im «Wendepunkt» (Klaus Mann: Der Wendepunkt, a.a. O., S. 242–246) und in der Erzählung «Afrikanische Romanze» (Klaus Mann: Speed. Die Erzählungen aus dem Exil. Hg. von Uwe Naumann. Reinbek 1990, S. 208–216) geschildert; er verkörpert womöglich die größte seelische Annäherung des Geschwisterpaars Erika und Klaus Mann.

Vgl. Klaus Mann: Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924–1933. Hg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek 1992, S. 338–348.

Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949. Hg. von Martin Gregor-Dellin. Reinbek 1991, S. 72.

Unveröffentlichter Brief von Klaus Mann an Erika Mann, 13. April 1931, in der Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Klaus Mann zum Gedächtnis. [Hg. von Erika Mann.] Amsterdam 1950, S. 113–114.

Erika und Klaus Mann: Das Buch von der Riviera. Was nicht im «Baedeker» steht. Berlin 1931, S. 14.

Unveröffentlicht. Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Ansichtskarte von Klaus Mann an Erika Mann, 24. April 1931. Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Thomas Mann: Gesammelte Werke, Bd. 10. Frankfurt 1974, S. 22.

Vgl. Klaus Mann: Der Alte. In: Maskenscherz. Die frühen Erzählungen. Hg. von Uwe Naumann. Reinbek 1990, S. 97–99.

Klaus Mann: Briefe und Antworten, a.a. O., S. 20.

Klaus Mann: Tagebücher 1931 bis 1933. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. Reinbek 1995, S. 111–112.

Carl Sternheim: Das Gesamtwerk, Bd. 6. Zeitkritik. Hg. von Wilhelm Emrich. Neuwied 1966, S. 455–456.

Klaus Mann: Lena Amsel. In: Auf der Suche nach einem Weg. Aufsätze. Berlin 1931, S. 284–287.

Werner Rieck: Hendrik Höfgen. Zur Genesis einer Romanfigur Klaus Manns. In: Klaus Mann: Treffpunkt im Unendlichen. Roman. Reinbek 1981, S. 14 und 16.

Klaus Mann: Tagebücher 1936 bis 1937, a.a. O., S. 44.

Klaus Mann: Tagebücher 1931 bis 1933, a.a. O., S. 20–22.

Klaus Mann: Der Wendepunkt, a.a. O., S. 264–265.

Siegfried Kracauer: Zur Produktion der Jungen. In: Frankfurter Zeitung, 1. Mai 1932.

Wilhelm Emanuel Süskind: Klaus Mann. Treffpunkt im Unendlichen. In: Die Literatur, Jg. 34, H. 12 (Sept. 1932), S. 700.

Eberhard Thieme: Klaus Mann zum 70. Geburtstag. In: Buchhändler heute, Jg. 30, H. 11/12 (Nov./Dez. 1976), S. 1299.

Hermann Hesse: Beim Lesen eines Romans. In: Die Neue Rundschau, Jg. 64, H. 5 (Mai 1933), S. 698–700.

Klaus Mann: Briefe und Antworten, a.a. O., S. 89–90.

Gemeint ist Klaus Mann: Kind dieser Zeit. Berlin 1932.

Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Klaus Mann: Tagebücher 1931 bis 1933, a.a. O., S. 51.

Klaus Mann: Briefe und Antworten, a.a. O., S. 77.

P. Lestschinsky: Klaus Mann. Profil einer jungen Generation. In: Die Kritik. Theater und Film, Nr. 2 (Sept. 1933), Prag, S. 5.

Klaus Mann zum Gedächtnis, a.a. O., S. 164.

Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste, Bd. 1. Leipzig 1851, S. VIII.

Klaus Mann: Der Ideenroman. In: Die neuen Eltern, a.a. O., S. 201–206.

Klaus Mann: Zwei europäische Romane. In: Die neuen Eltern, a.a. O., S. 207.

Klaus Mann: Der siebente Engel. Die Theaterstücke. Hg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek 1989, S. 124. «Das singende Zurückbleiben und das In-Sehnsucht-Ergrauen» ist vermutlich eine Anspielung auf die Figur der Anja in Klaus Manns erstem Theaterstück «Anja und Esther» (vgl. ebenda, S. 71–72).

Eberhard Spangenberg: Karriere eines Romans. Mephisto, Klaus Mann und Gustaf Gründgens. Ein dokumentarischer Bericht aus Deutschland und dem Exil 1925–1981. München 1982, S. 44.

Klaus Mann: Tagebücher 1934 bis 1935. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. Reinbek 1995, S. 133.

Klaus Mann: The Turning Point. Thirty-Five Years in This Century. Skizzen zum 9. Kapitel, S. 17. Unveröffentlichtes Manuskript in der Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

So der Titel von Klaus Manns Nachruf auf Ricki Hallgarten. Vgl. Klaus Mann: Die neuen Eltern, a.a. O., S. 390–411.

Erstes Kapitel

Viele Taxis fahren vor; dazwischen, seltener, ein eleganter Privatwagen. Aus einem Auto steigt ein Mann, aus einem anderen eine Frau; aus diesem dritten ein Paar mit Kindern, aus dem vierten ein Paar, kinderlos. Auf dem Dach dieses fünften liegt ein großer Koffer. Er wird heruntergehoben. Es steigen aus: eine sehr große Dame mit einem blassen jungen Gesicht; ein kleiner Herr mit hängendem schwarzen Schnurrbart; ein junger brünetter Mann, ohne Hut, mit offenem Trenchcoat.

Sie wollen zum Pariser Morgenzug.

Do bezahlte das Taxi. Sie wußte, daß es Sebastian gerne hatte, wenn man Kleinigkeiten für ihn auslegte. Sebastian sagte nervös zum Träger, der sich den großen Koffer auflud: «Glauben Sie, daß er noch mitkommt? Wäre idiotisch, wenn ich die Sachen heute nacht nicht hätte –» Er sprach so gehetzt, daß der Mann ihn mißtrauisch ansah. Doktor Massis sagte mit zartem Lächeln: «Tiens – unser Freund hat Reisefieber.»

Während Do sich um die Gepäckaufgabe bekümmerte, kaufte Sebastian Zeitungen und Zigaretten. Gegen seine Gewohnheit war er streitsüchtig und ungeduldig mit den Leuten, die ihn bedienten. «Nein, ich wollte doch ohne Mundstück», machte er enerviert. «Ach, ich muß mir ja auch noch französisches Geld einwechseln.» Obwohl er viel reiste, erregte es ihn jedesmal wieder. – Inzwischen kam Do mit dem Schein für den aufgegebenen Koffer.

Sie ging, ohne ihn zu beachten, an Doktor Massis vorbei,

«Wieviel hast du für mich ausgelegt?» fragte Sebastian. Sie lachte: «Das soll meine letzte milde Gabe für dich sein.» – «Sei nur nicht so sicher, daß es die letzte ist.» Er lachte auch, während er das Papier einsteckte.

Inzwischen war das Auto angekommen, in dem Frau Grete mit zwei jungen Leuten zum Bahnhof Zoo gefahren war. Frau Grete nahte sich eilig, ihr Busen wogte, sie kam bunt und stattlich daher, Blumen im Arm, die schönen, dunklen Augen kurzsichtig zusammengezogen und erregt mit den Nüstern schnuppernd. Sie rief laut: «Sebastian – Engel!» und hielt ihm die Blumen hin. Dann sagte sie gleich: «Da ist ja auch mein Herr Chef!» – denn sie arbeitete als Sekretärin bei Doktor Massis. Der suchte nach etwas Ironischem, was er antworten könnte, fand aber nichts und lächelte nur fein. Frau Grete küßte erst Sebastian, dann Do. Währenddessen waren auch die jungen Leute herangeschlendert.

Richard Darmstädter drückte dem Sebastian innig die Hand. Die Art seines Blickens war vertraulich und intensiv. Auf seinem langen, rassigen Gesicht standen Schweißperlen. Er brachte dieses erregte und sentimentale Antlitz, in dem die schwarzen Brauen an der Nasenwurzel temperamentvoll zusammenwuchsen, in bedenkliche Nähe von Sebastian. Dabei schwieg er bedeutungsvoll und ergriffen.

Der andere junge Mensch verhielt sich zurückhaltender und konventioneller. Er war ein eleganter und schöner

Do nahm die Perronkarten für alle. Sie gingen die Treppe hinauf, die zum Bahnsteig führte. «Noch acht Minuten, Sebastian», sagte feierlich Richard Darmstädter. Jemand fragte: «Wo ist Gregor Gregori?» Sebastian, der vorne neben Frau Grete ging, wandte sich um: «Von dem habe ich mich schon verabschiedet.» Der junge Engländer bemerkte mit etwas schwerer Zunge – oder klang sein Deutsch nur behindert durch den englischen Akzent?: «Natürlich – wenn die alten Freunde arrivieren, machen sie sich rar.» Diese Bemerkung ward als taktlos empfunden, es entstand eine kleine Pause. Schließlich bemerkte Frau Grete, die stets auf dem laufenden war: «Er konnte ja gar nicht kommen, denn heute früh trifft seine Freundin aus München ein; diese Sonja. Kennst du sie eigentlich?» wandte sie sich an Sebastian. – «Nein, Gregor hat mir nur dauernd von ihr erzählt.» Sebastian antwortete mit einem merkwürdigen Anflug von Ungeduld in der Stimme, als habe man ihn nach einem Gegenstand gefragt, über den er so viel habe hören müssen, daß er ihn nachgerade unerträglich langweilte.

Der junge Engländer, der übrigens Freddy hieß, hatte wegen seines schüchternen braunen Tieres Streit mit einer älteren Dame bekommen, wobei er sich sehr reizbar und hochfahrend zeigte. Sein helles und breites Gesicht flammte rot; er stampfte. Als die Dame ihn schließlich kurzerhand «Sie Lausejunge!» nannte, schrie er mit funkelnden Augen:

Derart abgelenkt, wandten sie alle dem Zuge, der unerwartet einfuhr, den Rücken. Der Schaffner schrie schon sein: «Einsteigen! Einsteigen!», und Sebastian, wieder von Nervosität gepackt, lief einige Schritte sinnlos umher, um seinen Träger zu finden. Der war aber schon dabei, die Handkoffer im II.-Klasse-Raucherabteil zu verstauen. Sebastian hatte erst vor, allen seinen Freunden auf dem Bahnsteig die Hand zu schütteln, überlegte es aber anders, sprang die Stufen hinauf in den Wagen, lief den Gang hinunter, bezahlte im Coupé erst den Träger und versuchte dann die Scheibe herunterzulassen, um denen draußen adieu zu sagen. Es gelang ihm nicht gleich, er stellte sich ungeschickt an. Hastig zerrte er am Riemen, indessen klopfte Richard Darmstädter von außen mahnend an die Scheibe. Endlich war der Trick gefunden, die Scheibe sank – da setzte sich der Zug auch schon in Bewegung.

Die fünf Personen, denen Sebastian winkte, standen auf dem Pflaster nebeneinander, plötzlich ein dickes und kompaktes Häufchen Menschen, das zusammengehörte. Er, über ihnen, schon ganz isoliert, schon ganz fern, losgelöst und entschwindend. Welcher Schriftsteller – dachte Sebastian – hat gesagt, bei jeder Abreise verwandelt sich der, welcher am Coupéfenster steht, in einen Pfeil, der gefiedert ins Ferne zielt; der aber, der am Bahnsteig zurückbleibt, in ein Ei, aus dem die Bewegung noch nicht geboren ist. Stolz des Scheidens, des Bald-nicht-mehr-Daseins; Stolz des Sterbens.

Sebastians Gesicht, das sich langsam davonbewegte, sehr allmählich weggezogen wurde, stand hochmütig über den Gesichtern seiner Freunde. Wie aus Mitleid beugte er sich noch einmal zu ihnen. Er berührte einen Augenblick Frau

Er mußte Dos Hand loslassen und empfing ihren letzten Blick, der tränenvoll war über dem lachenden Mund. Freddy und Richard waren zurückgeblieben; endlich gaben auch die beiden Frauen den Wettlauf mit der Lokomotive auf. Freddy rief plötzlich – es war viel zu spät – mit einer tiefen, brummenden Stimme: «Wiederkommen! Wiederkommen!» – während Massis seinen schwarzen Schlapphut im weiten Halbkreis schwang und sich ironisch tief verneigte. Ehe der Zug in die Kurve bog, erkannte Sebastian noch einmal Dos Gesicht. Nun glaubte er auch in ihren Augen Angst zu finden. Wovor fürchtet sie sich? dachte Sebastian, während er sich vom Fenster zurückzog. Er dachte es so gründlich und besorgt, daß er mehrere Sekunden vergaß, sich hinzusetzen oder überhaupt seine Stellung zu ändern.

*

Sonja und Gregor lachten; Sonja tief, herzlich und laut, Gregor etwas angespannt und verzerrt. In seinem fahlen Gesicht ist sein Mund entzündet, fleischig weich und dunkelrot. Er nimmt den hellgrauen leichten Hut ab, sein blondes, schütteres Haar weicht weit von den Schläfen zurück und ist auf der Scheitelhöhe künstlich über eine runde Glatze frisiert. Immer noch lächelnd – nun etwas schmerzlich, fast klagend – küßt er beiden Damen die Hand – Sonja und ihrer Gesellschafterin. Er läßt das schöne, fahle Gesicht über Sonjas Hand einige Sekunden lang, er streift sogar ihren Wildlederhandschuh zurück, um mit den Lippen ihr Fleisch zu finden. Sie, über ihm, fragt mit ihrer tiefen, aufgeräumten Stimme: «Und wie stehen die Geschäfte?» Er erwidert, auf eine larmoyant kokette Art die Silben ziehend und miauend: «Eigentlich glänzend.» Froschele bemerkt boshaft: «Unsere Gepäcke ist futsch.» Sie lachen wieder und gehen dem Ausgang zu. Froschele trägte einen mausgrauen Paletot und ein mausgraues Käppchen, ein Zwergenhütchen, das ihr den Kopf merkwürdig vermummt; Gregor Gregori: einen offenen, braunen, etwas abgeschabten Ledermantel und den hellen Hut, dazu offene gelbe Spangenschuhe, eine Art Sandalen, die seinem federnden schlenkernden und wiegenden Gang etwas exzentrisch Beschwingtes geben; etwas Schwereloses, als wollte er gleich auf und davon fliegen. Er lacht immer noch, während er singend und gezogen sagt: «Wunderbar, daß du da bist.» Wie er aber mit dem Träger verhandelt, hat er plötzlich eine

Gregor Gregori ist erster Tänzer und Ballettmeister an einem der Berliner Opernhäuser; Sonja, die in München engagiert gewesen ist, soll in Berlin in einem Gesellschaftsstück und in einer klassischen Rolle gastieren. Froschele lebt seit einigen Jahren bei Sonja, als ihre Freundin eher denn als ihre Angestellte. Sie ist in Landshut geboren und das erstemal in Berlin.

*

Sebastian, in seinem Coupé Berlin–Paris, legte den Kopf an das Polster, das ihn gleichmäßig bebend und rüttelnd empfing. Er dachte: Nach tausend Leuten, die ihren Kopf hier angelehnt haben, nun also auch ich. Ekelt mich das? Nein, eher tut es mir wohl. Man gehört immer in einen Zusammenhang; bleibt immer Glied einer Reihe und ist niemals allein. Kahle Köpfe der Geschäftsreisenden, rote Frisuren der Damen, die nach Paris zu den Abenteuern und zu den Moden fahren. Nun also Sebastian, fünfundzwanzig Jahre alt; Journalist; Schriftsteller, könnte man wohl sagen. Befreundet mit einigen Menschen. Der Freund eines Mädchens namens Do. Sonst allein.

Das war doch ganz deutlich Angst gewesen, vorhin in Frau Gretes und Dos Gesicht. Merkwürdig –: Wovor fürchten sie sich? Weil ich abreise? Abreise – – –

Sein übermüdeter Kopf wiederholte diese Vokabel; die Räder des Zuges wiederholten sie mit. Abreisen, abreisen, abreisen. Ich reise ab, es reist mich ab, es reißt ab. – Wenn man so ein Wort sehr lange denkt, verliert es seinen Sinn, oder es bekommt einen anderen. – Die Angst in ihren Gesichtern. Der Pfeil und das Ei. Abreisen. Gestern nachmittag in der Rankestraße ist mir ein Geschäft aufgefallen –

Sebastian, die Augen zu, Kopf am speckig samtenen Polster, an dem Tausende vor ihm geruht haben, denkt: Sehr, sehr spaßig und bemerkenswert. – Wir werden abgeholt. Abreise. Ich reise soeben ab. Ich werde abreisen. – Bitte exakt und prompt zu antworten, prompteste Erledigung der Frage: aus welcher Kraft erträgt man diesen spukhaft provisorischen Aufenthalt – Leben? Wir werden abgeholt. – Angst.

Er war schläfrig. Aus einer merkwürdigen Angst, wirklich einzuschlafen, tastete er nach dem Polster, auf dem er saß. Es war gerippt, in den Vertiefungen des Stoffes nisteten Ruß und Staub. Grüner Samt, Ruß und Staub – das sind schließlich Dinge, die zum Leben gehören. Sebastian tastete und schnupperte gierig.

Das ist also zweifelsohne noch Leben: Staub, Samt, Ruß. Rhythmus der Räder. Draußen, der graue Vormittag. Telegraphendrähte, steigend und sinkend, Wiesen, Zäune und Häuser. – Das ist zweifelsohne noch Gegenwart.

Wenn man mit allen Kräften an den Tod gedacht hat, lernt man schließlich eine neue Art, das Leben zu fassen. (Das ist also noch Leben, das habe ich noch.) Was man erfährt, ist eine merkwürdige Übersteigerung des Besitz- und Sammelinstinktes; dieses Licht spüre ich noch, diesen Ton

Sebastian kannte diese Lebenshabgier. Sie kam zuweilen, ebensooft wie das andere, das ihr vorangehen mußte. Jeden Blick, jeden Schritt, jeden Atemzug, den man auf diese Weise dem Besitz des Gelebten zuführte, um den Tod noch darum zu betrügen, sammelte man recht eigentlich für ihn – für den Tod –, der eines Tages seine dunkle Hand auf diesen hastig zusammengerafften Besitz der winzigen Erinnerungen legen würde.

Fiebrig, um nur nichts zu versäumen, sah Sebastian sich im Abteil um: Lampe, Aschenbecher, Notbremse. Zuletzt bemerkte er das junge Mädchen, das ihm gegenübersaß.

*

Doktor Massis, Do, Frau Grete und Richard Darmstädter hatten beschlossen, daß sie unbedingt erstes Frühstück zusammen haben müßten. Sie behaupteten alle, noch nüchtern zu sein, und bestellten in der Mampe-Stube am Kurfürstendamm sehr viel Kaffee, Brötchen, Käsestangen, Honig und Orangenmarmelade. Trotz einer gewissen Wehmut, die über ihnen lag, schienen sie doch bei gutem Appetit. Nur Do rührte nichts an.

«Kleine Do sieht wie eine Witwe aus», sagte Doktor Massis und beschaute sie mit zärtlich schiefgehaltenem Kopf.

«Ich bin auch eine!» Do lächelte zu tränenfeuchten Augen.

Doktor Massis lächelte mit ihr, er stützte sein schlaues und nervöses Gesicht in die kleinen, zarten, schwarzbehaarten Hände. Es war das Antlitz eines feinen und sarkastischen Franzosen, pikant und überraschend gemacht durch einen slawischen, ja hunnischen Einschlag, der nicht

«Wie lange will Sebastian eigentlich in Paris bleiben?» fragte der junge Engländer mit der schweren Zunge – er gehörte nicht ganz intim in diesen Freundeskreis, sondern trieb sich in verschiedenen Milieus herum und war nur zufällig auch in dieses geraten.

«Er sagt – vielleicht immer», erklärte Do mit ihrer kummervollen kleinen Stimme.

«Dabei hat er nicht einmal einen festen Auftrag von einer Gazette –», bemerkte Doktor Massis auf eine sanft lispelnde und doch scharfe Art. Er hatte einen deutlich gallischen Akzent, obwohl seine Vorfahren seit verschiedenen Generationen Deutsche waren.

«Ja, nun wird unser netter kleiner Kreis ganz auseinanderfallen», bemerkte Frau Grete betrübt – worüber Massis spöttisch lächelte. Do aber mußte aufschluchzen.

«Er war doch das Zentrum», sagte sie und schnupfte die Tränen; Frau Grete und Richard nickten. Beide überlegten einen Augenblick, was oder wieviel sie eigentlich von Sebastian gehabt hatten, genau berechnet. Es war nicht sehr viel, sie hielten ihn, bei all seiner Liebenswürdigkeit und Weichheit, eher für eine kühle Natur. Trotzdem hatte er, so passiv und nachlässig er war, die geheime Kraft, Menschen zusammenzuhalten. Sie fühlten alle, daß nun, da er fort war, Dinge geschehen könnten, die seine Gegenwart nicht geduldet hätte. Er würde ihnen vielleicht nicht so sehr fehlen – ersetzlich ist jeder, um jede Lücke schließt sich das

«Mon pauvre enfant», sagte Doktor Massis zu Do. «Sie schluchzt wirklich.» Er tupfte mit einem rotseidenen Taschentuch nach ihrem Gesicht, das sie aber zurückzog. «Tiens, tiens» – machte er gütig.

Auf ihren betrübten Wangen hatten die Tränen Spuren in den Puder gegraben, kleine Rinnen, Betten für weitere Tränen, die nun melancholisch-drollig in den vorgeschriebenen Bahnen dahinkullerten. Die Farbe ihres Gesichtes war nicht gut, auch die Beschaffenheit des Fleisches besorgniserregend. Ihr Fleisch schien grau und zu locker von Masse; nicht schwammig gerade, aber zu leicht, zu porös. – Der Blick, mit dem sie auf Doktor Massis’ scherzhafte Tröstungen reagierte, war nicht vertrauensvoll, sondern ziemlich böse und traurig. «Lassen Sie doch!» sagte sie. «Sie können sich immer nur über Gefühle lustig machen, zu denen Sie selber zu verdorben sind.» Doktor Massis versuchte die Miene eines gescholtenen Schuljungen aufzusetzen, was nicht sehr angenehm wirkte.

Plötzlich erhob Frau Grete die Stimme, um ihren Brotgeber anzufahren: «Do hat vollkommen recht, und jetzt machen Sie uns gefälligst kein so saublödes Gesicht, verstanden?! Sie sind und bleiben ein gefühlloses, altes Schwein!» Ihre kernigen Worte unterstrich sie, indem sie mit der Faust auf den Tisch schlug. Massis duckte den Kopf, aber unter der gesenkten Stirne konnte man erkennen, wie er pfiffig und genüßlich lächelte. Er hatte es zuweilen gerne, wenn Frau Grete ihn auf diese Art behandelte.

Alle lachten, am lautesten Richard Darmstädter, der sich zur Zeit um Frau Grete bemühte. Wenn Darmstädter lachte, bildete sein Mund eine beinahe viereckige Form – schwarzes Loch, schmerzlich aufgerissen. Seine Augen wurden dann wie aus schwarzem Glas, funkelnd und hart –

Frau Grete dankte ihm für sein ehrenvolles Gelächter mit einem verlockenden Blick aus den dunklen, kurzsichtigen Augen. Sie spitzte die Lippen und legte ihre Hand eine Sekunde auf seine, die glühte. Er lachte weiter, von ihrer Berührung wie von elektrischer Strömung erregt. Nun schüttelte er sich sogar ein wenig beim Lachen. «Du bist ja wieder ganz groß –!» brachte er hervor. Der Engländer, der sein braunes Tier mit Käsestangen fütterte, fügte mit Baßstimme hinzu: «She’s always grand –», und warf Frau Grete einen lustigen und siegesgewissen Blick aus den eisgrauen Augen zu. Er war reizend, wenn man ihn bei guter Laune hielt. Leider war er von Natur aus mißtrauisch und reizbar, ständig auf der Hut, gesellschaftlich nicht voll genommen zu werden.

Das allgemeine Gelächter hatte eine Situation entspannt, die gedrückt und befangen gewesen war. Plötzlich redete alles durcheinander, man fand, daß dieses Lokal eigentlich urgemütlich war – goldbraun getäfelt –, man sprach von anderen Lokalen, mittendrin sah Do auf die Uhr und erklärte, daß sie eine Verabredung habe. Sie verlangte die Rechnung, der Oberkellner präsentierte sie, da kein anderer Miene machte, sich zu beteiligen, zahlte Do sie allein. Es machte acht Mark und fünfzig.

Draußen kam es noch zu einem kleinen Krach zwischen Massis und Frau Grete, die sich weigerte, sofort mit zum Diktat zu kommen. «Ich habe auch mal was Dringliches vor», sagte sie, kampfbereit. Darauf er: «Das ist Nonsens. Wofür zahl’ ich dich?» – was sie wiederum sehr zänkisch und giftig machte. Er schrie sie mit einer plötzlich ganz

Do, die wieder ihr schmollendes Kindergesicht machte, ließ sich von Freddy mit braunem Hund nach Hause fahren. Sie wohnte nicht weit – in der Meineckestraße –; aber sie behauptete zu müde zu sein, um nur einen Schritt zu Fuß zu gehen.

*

Sebastian versuchte in einer der Zeitschriften zu lesen, die er vor sich auf dem Klapptischchen sortiert hatte, aber die Augen taten ihm weh. Als er sich eine Zigarette anzündete, schmeckte sie ihm nicht. Sein Mund war ausgetrocknet, der Rauch biß ihn am Gaumen und in der Kehle. Er überlegte, ob er eine von den Orangen essen sollte, die er oben im Netz in einer Tüte wußte. Aber er stellte sich das Schälen mühsam vor. Man holt sich klebrige Finger, dachte er und aß etwas Schokolade, was ihn noch durstiger machte.

Gleichsam zur Rache, weil er keinen Genuß von ihr gehabt hatte, bot er auch dem jungen Mädchen an, das ihm gegenübersaß. Das junge Mädchen war von einer gewissen dürftigen Lieblichkeit, mit einem kleinen, blonden, aufgestülpten Gesicht. Über der Stupsnase hatte sie runde und helle Augen, die Sebastian fast ununterbrochen leer und zärtlich musterten. Als er nun zu ihr hinsah und ihr sogar die Schokoladenschachtel reichte, wurde sie rot und lächelte verzagt. Sebastian beschloß, daß sie Kunstgewerblerin sein müsse. Sie trug auf einer braunseidenen Bluse eine

Warum bin ich eigentlich so verstimmt? dachte er. Ist es wirklich, weil Gregori nicht am Zug gewesen ist? Ja, es ist wohl hauptsächlich deswegen. Er hätte es schon einrichten können, trotzdem seine Freundin ankam – gerade weil wir in den letzten Monaten nicht ungespannt standen. Nein, gar nicht ungespannt, keineswegs. Jetzt haben wir uns überhaupt nicht verabschiedet – konstatierte er mit einer bitteren Genugtuung.

Es ist sehr gut, daß ich nun viele Stunden Zeit habe, das alles einmal gründlich mit mir durchzusprechen. Ich muß das wirklich mit mir in Ordnung bringen. Hoffentlich stört mich die junge Weibsperson dort drinnen nicht. –

Er ging ins Coupé zurück, mit einer gewissen Pedanterie dazu entschlossen, endlich einmal mit seinem alten Freund Gregor Gregori innerlich reinen Tisch zu machen. Das

Das junge Mädchen hieß Annemarie und sollte in Paris als Modezeichnerin ausgebildet werden. Die Tante, bei der sie erzogen war, hatte sie loswerden wollen – ihre Eltern waren in Südamerika verschollen – und hatte ihr deshalb einen Wechsel von hundertfünfzig Mark monatlich genehmigt. Es war das erstemal, daß sie reiste – und nun gar allein! – Mehr als den Berliner Westen und Heringsdorf kannte sie noch nicht von der Welt. Lüstern und unerfahren, wie sie war, verliebte sie sich in den jungen Mann, der ihr gegenübersaß, sofort dermaßen, daß ihr das Herz auf eine süße Art wehe tat und sie die Knie öffnete, um ihn zu empfangen.

Sie dachte: Dieser reizende junge Mann hat dunkles Haar, ganz offen gesagt, ist es ein bißchen zu fett und neigt deshalb dazu, in glatten, breiten Strähnen auseinanderzufallen. Er hat bräunliche Haut und trotzdem einen lichten Sattel von Sommersprossen über der Nase, was doch sonst häufiger bei Blonden ist. Er hat einen sehr, sehr angenehmen Mund, und von seiner breiten, hellen Stirn kommen meine Augen gar nicht mehr los. Zwischen den Augenbrauen hat er so einen empfindlichen Zug, immer wie etwas überanstrengt. Er hält sich zwar schlecht, aber ist doch elastisch. Ich möchte in Paris ein kleines Appartement mit ihm nehmen, ja, wie die Künstler es dort wohl haben. Sicher macht er Gedichte und interessante Romane. Jede Nacht bei ihm liegen. Seine Zähne sind auch recht schön. Sieht er

Sebastian, ihr gegenüber, dachte: Wer von uns beiden hat angefangen, ich oder Gregor? Habe ich damit begonnen, ihn nicht mehr völlig ernst zu nehmen, oder habe ich das erst getan, als ich merkte, daß er mich ein wenig verachtete? Darüber muß ich mir unbedingt klarwerden, das ist natürlich sehr wichtig. Zur Zeit verachtet er mich etwas, das steht einmal fest. Er findet mich kompromißbereit, frivol und träge. Er fängt auch schon damit an, mich geringzuschätzen, weil ich weniger Geld mache als er. Das würde er nicht zugeben, es ist aber so. Gregor wird ohne Frage bald enorm viel Geld verdienen, er verdient jetzt schon mehr, als ich für einen Tänzer schicklich finde. Ich hingegen verdiene entschieden weniger, als für irgend jemand schicklich ist …

In letzter Zeit ist er auf eine schrecklich ungesunde Art aktiv geworden. Ja, ja, diese hysterischen Willensmenschen. Er bekommt auch schon so einen lächerlich markanten Zug ums Kinn. Dabei ist gerade sein Kinn von Natur weich. Alles Schwindel. – Es könnte doch sein, daß ich damit anfing, ihn zu verachten, als ich den markanten Zug das erstemal an ihm bemerkte. – – Wenn er diesen Unfug mit der Politik wenigstens lassen wollte, interessiert ihn im Grunde doch gar nicht, er hat keine Ahnung. Aber das braucht er; das braucht er, zum Beispiel, um behaupten zu können, ich lebte in Kompromissen. Als wenn ich mir nicht auch so blendende Scheinlösungen ausdenken könnte – – zu dämlich, zu dämlich. Kompromißlerisch ist man also gleich, wenn man nicht so schnoddrig und gewalttätig ist, sondern ein bißchen gewissenhaft – –? Aber, Gregor! – Und du warst doch so nett. Du warst doch wirklich von einer ganz begnadeten Nettigkeit, damals – damals – –

Die List, die er dem Mädchen Annemarie gegenüber

Sebastian, an der Grenze des Traumes, besann sich: ein Gebiet in Gregors Leben, von dem ich so gut wie nichts weiß, ist diese Sonja. Ich hätte eigentlich noch einen Tag in Berlin bleiben können, um sie endlich kennenzulernen. Ich stelle sie mir ziemlich streng vor, und dann doch wieder – – Nein, ich stelle sie mir ganz anders vor – – ziemlich lustig – – –

Während er einschlief, dachte er nicht mehr an Gregor Gregori, sondern nur noch an die unbekannte Sonja.

*

In ihrem Hotelzimmer fand Sonja einen großen Strauß weißer Rosen, dazu eine Karte, auf der stand: «Guten Tag, in Berlin, vom alten W.B.» – «Die sind vom alten Geheimrat Bayer!» sagte Sonja zu Froschele, die mit verkniffenem und mißtrauischem Mienenspiel die Einrichtung des Zimmers musterte. «Er hätte statt dessen lieber Geld schicken sollen!» meinte Sonja fröhlich und trat vor den Spiegelschrank. Sie gefiel sich nicht und murrte. «Ich sehe wieder scheußlich verreist aus. Lauter schwärzliches Zeug im Gesicht. Fürchterlich, diese Eisenbahnen. Wär’ ich doch in meiner kleinen Kutsche gekommen!»

Froschele, die von einer Entdeckungsfahrt ins Badezimmer und in ihre eigene Stube zurückkam, behauptete, während sie sich neben Sonja vor den Spiegel stellte: «Ich bin entschieden noch mieser.»

Ihr Gesicht war nicht reizlos, trotz des eingekniffenen Mundes. Dieser Mund hatte ganz die Form, als ob er

Gregor hatte sich vor dem Hotel von ihnen verabschiedet. «Ich muß auf die Probe ins Opernhaus, sei mir nicht böse, Sonja», hatte er mit angespanntester Höflichkeit gesagt und war beflügelten Schrittes auf ein Taxi zugesprungen. Noch einmal winkend, hatte er sich mit flatterndem Ledermantel hineingeschwungen und dem Chauffeur herrschsüchtig über die Schulter zugerufen, wohin’s gehen sollte. Sonja erinnerte sich an jede seiner Gesten und Laute, wobei sie die Brauen zusammenzog, als müsse sie scharf kombinieren und aus alldem wichtige Schlüsse ziehen.

Unvermittelt spürte sie das Bedürfnis, etwas zu tun, Tätigkeit zu entwickeln. «Wir sind in Berlin, wir müssen

Froschele sah ihr zu. Sie machte den Mund auf, so schön fand sie Sonja.

Sonjas dunkles Haar hatte einen rötlichen Schimmer. Sie trug es kurz geschnitten und locker, auf der linken Seite gescheitelt. Auch in ihren weiten dunklen Augen konnte man rötliche Lichter erkennen, die zuweilen ins Goldene spielten.

Froschele setzte sich hin, um ihr besser zusehen zu können, wie sie telephonierte.

*

Frau Grete fuhr mit der Untergrundbahn bis zum Nollendorfplatz. Sie rührte sich nicht während der Fahrt, vielmehr saß sie, zugleich gestrafft und ein wenig frierend in sich zusammengezogen, das Kinn in den Kragen ihres schwarzen Pelzmantels gesteckt, die Hände im Schoße gefaltet, die Füße akkurat nebeneinander vor sich hingestellt, so wie man Schuhe vor die Zimmertüre zum Geputztwerden postiert. Sie starrte auf den schmutzigen Boden, wo Zigarettenstummel und zerrissene gelbe Fahrscheine lagen. Mit den oberen Zähnen nagte sie an der geschminkten Unterlippe, so daß die Zähne einen roten Rand bekamen, als habe sie in etwas Blutiges gebissen.

Haltestelle Nollendorfplatz stand sie schnell auf, durchschritt in einer Haltung, die plötzlich wieder auf ihre Umgebung konzentriert schien, wiegend und energisch den

Nach einer Pause fragte sie ihn, ob er Fieber habe. Er sagte: «’n bißchen» und reckte sich im Bett. «Uff, ich mag nicht mehr liegenbleiben.» – «Untersteh dich!» Sie erhob sich aus ihrem Plüschsessel, um zu ihm ans Bett zu treten. «Du siehst noch grün aus, wie Ausgekotztes», stellte sie angewidert fest und prüfte ihn aus zusammengekniffenen Augen. – «Na, bist ooch nicht gerade rosig, mein Schatz», sagte er, wozu er kurz lachte. «Außerdem hast du wieder mal rote Zähne.» Sie lief zum Spiegel, um sich zu begutachten. «Na hör mal, Drecksjunge, ich finde mich toll in Form.» – «Kein Mensch würde glauben, daß ich dein Sohn

Im fleckigen Spiegelglas prüfte sie aus nächster Nähe ihr ramponiertes Gesicht. Sie fand es glänzend erhalten – «für das, was ich hinter mir habe», sagte sie. Nur das nervöse Schnüffeln der Nase war eklig – «das kommt vom Koks», dachte sie zornig und beschloß, sich wirklich mehr zu beherrschen, wenn sie unter Leuten war. Solange nur Walter es hörte, schadete es nichts. – «Ich seh’ immer noch nach mehr aus als zwanzig dumme Jöhren zusammen», schloß sie grimmig ihre Selbstbetrachtung, wobei sie das Hütchen wieder aufsetzte.

Sie rückte den Plüschsessel, der im Zimmer die einzige Sitzgelegenheit war, neben das Bett und konstatierte: «Also der Herr hat Grippe.» Der Junge gähnte. «Kommt dein Mädel nicht mehr?» fragte die Mutter und schnüffelte mißtrauisch. – «Nee; seit vorgestern ist das Stück nicht mehr hiergewesen.» Darauf die Mutter: «Also auch mit Pinkepinke Schluß?» Er nickte so gleichgültig, daß sie ihn anfuhr: «Du scheinst dir wohl nicht viel ernste Gedanken zu machen – wie?!» Er sah sie träge und verständnislos an. «So wie du möchte ich sein!» sagte neidisch Frau Grete. Wie konnte man lächeln, wenn man nicht wußte, wovon den nächsten Tag leben? Von ihrem unruhvollen Ehrgeiz hatte der da nichts geerbt. War sein Vater denn wie er gewesen?

Um nicht an seinen Vater denken zu müssen, sagte sie unvermittelt: «Was zu fressen hab’ ich dir mitgebracht, oller Zuhälter», und langte das Paketchen aus der Manteltasche. «Das is ’n ganzes halbes Hühnchen, bei Borchardt gekauft.» Er nahm das Huhn in beide Hände, ohne sich zu bedanken. «Geld brauch’ ich auch», sagte er nur.

Da fuhr sie denn doch in die Höhe. «Du bist wohl irre!» schrie sie, ehrlich erschrocken. «Schließlich finde ich’s ja

Schon aufgestanden, ermahnte sie ihn noch, jetzt wieder mit scharfer Stimme: «Übrigens – daß du dich nicht noch mal unterstehst, bei Massis anzurufen. Hat schon ganz wißbegierig gefragt, wer denn das wieder war. Der Mann is dir so enorm neugierig, is dir ja der Mann. Und die denken doch alle, ich bin dreißig Jahre. Is wirklich nich nötig, daß du mir die Tour vermasselst.» – «Ich weeß ja, ick weeß ja», beruhigte er sie mit der tiefen, versoffenen Stimme eines Berliner Kutschers. – «Mit ’nem Jungen wie du als Sohn vor die Öffentlichkeit treten», schimpfte sie, «könnte mir gerade passen –» – «Na, aufs nächstemal, Mutter !» sagte der Junge. Sie brummte, noch erregt atmend: «Na, is doch wahr!» Und dann, während sie ihm schnell noch mal übers Haar fuhr: «Adieu, Walter!»

*

Gregor Gregori zahlte das Taxi vorm Opernhaus, gab dem Chauffeur ein zu hohes Trinkgeld, wobei er, nervös summend, an ihm vorbeisah, und dachte, während er, das Kinn hochgestemmt, an der Portiersloge vorbeieilte: Ich muß hier bald mit meinem eigenen Wagen vorfahren, das geht so nicht weiter. Aber unter einem starken Amerikaner tu’ ich’s nicht. Mit Opel wird nicht erst angefangen – –

Er traf auf dem Korridor einen hohen Verwaltungsdirektor, mit dem er sich fünf Minuten lang unterhielt. Er

Gregor eilte hochgemut in seine Garderobe, um sich für die Probe umzuziehen. Er spürte auf der ganzen Haut ein Prickeln – Schauer der Genugtuung über den eben errungenen Sieg. Aus solchen Siegen baut sich eine Karriere, dachte er, während er das schwarze Trikot überstreifte. Er probierte seine Positionen vorm Spiegel: neuer Triumph, jeder Muskel straffte sich, wie er’s wollte! – Der Wille schafft’s, der Wille schafft’s – trällerte er, während er über den Korridor zur Bühne flog, trunken von Energien.

Das Orchester übte, die Tänzer lungerten, faul wartend, herum. Gregor Gregori klatschte von der Türe her in die Hände: «Herrschaften! Wir fangen an!» In die unfrische Luft der morgendlichen Szene fuhr seine Stimme, spannungsvibrierend. Er sprang vors Orchester. Wie er die Arme reckte und mit einem Blick die mißgestimmten Mädchen und jungen Leute, die gerade noch in amorphen Knäueln herumgestanden hatten, zur Gruppe ordnete, war es, als ob sein ganzer gestraffter Leib zitterte, eine angespannte Bogensehne. Sein Gesicht schien vor Konzentration beinahe traurig zu werden, ein vor Spannung leidender Zug trat um die Augenbrauen und ums Kinn hervor. Sein fahles Antlitz, herrschsüchtig und melancholisch dieser Menschengruppe entgegengehalten, die der Befehle harrte, die er aussprechen würde, glänzte in einer so

Nur der kleine häßliche Tänzer, der die dämonische Charakterrolle innehatte, flüsterte seiner Partnerin zu: «Sieh da – der tänzerische Herrenmensch – –»

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Sonja sagte am Telephon: «Sind Sie es wirklich, alter W.B.?» Sie hörte seine fette, tiefe und starke Stimme: «Sonja, wie schön, daß Sie da sind.»

Sie sah sein Gesicht, mit dem mächtig breiten Kinn, dem schwarzen, gestutzten Schnurrbart, den zugleich weichen und majestätischen Augen, das Gesicht eines jüdischen Cäsars. «Ich habe Sie als ersten angerufen – nach dem Theater und dem Trainer natürlich», sagte Sonja und lachte. – «Wollen wir umgehend zusammen Mittag essen?» fragte auf der anderen Seite Geheimrat Bayer. Und Sonja: «Wenn es sein muß, sofort.»

Doktor Massis war Privatgelehrter. Das gestattete ihm seine finanzielle Lage. Sein Vermögen, das ein tüchtiger Vetter ihm über die Inflation gerettet hatte, war nicht groß, aber doch eben groß genug, daß er von den Zinsen behaglich leben konnte.