Valija Zinck
Drachenleuchten
Mit Vignetten von Annabelle von Sperber
FISCHER E-Books
Valija Zinck, 1976 in Ingolstadt geboren, arbeitete lange Zeit als Tanzpädagogin und freischaffende Choreografin, bevor sie das Schreiben für sich entdeckte. Nach ›Jakob und die Hempels unterm Sofa‹, ›Penelop und der funkenrote Zauber‹, das mehrfach ausgezeichnet wurde, und ›Drachenerwachen‹, ist ›Drachenleuchten‹ ihr vierter Kinderroman. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Annabelle von Sperber arbeitet als freie Illustratorin und Autorin im atelier2gestalten für verschiedene Verlage und Printmedien. Sie studierte Illustration an der HAW Hamburg und lehrt als Dozentin an der Akademie für Illustration und Design in Berlin.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Alle Bücher von Valija Zinck bei Fischer:
Drachenerwachen (Band 1)
Drachenleuchten (Band 2)
Jakob und die Hempels unterm Sofa
Penelop und der funkenrote Zauber
Bei Antolin gelistet
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Norbert Blommel, MT-Vreden,
unter Verwendung einer Illustration von Annabelle von Sperber
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5161-9
Für Marko
Vor nicht allzu langer Zeit war Jankas und Johanns Leben ziemlich normal gewesen. Sie wohnten mit ihren Eltern in einer normalen Wohnung in einem normalen Berliner Hochhaus, gingen in die sechste und achte Klasse und vertrieben sich ihre Freizeit mit Hobbys wie Zirkustraining oder Computerspielen.
Das Leben ihrer Nachbarin Frau Tossilo war früher ebenfalls ziemlich normal gewesen. Sie hatte ein Stockwerk genau unter Janka und Johann gewohnt und ziemlich oft darüber nachgedacht, wie sie die Familie aus dem Hochhaus hinausekeln könnte. Kinder hatte sie nämlich nicht ausstehen können.
Doch dann war ihrer aller Leben ziemlich anders geworden.
Eines Tages war Frau Tossilo von einer Reise mit einem vertauschten Koffer heimgekehrt, in dem sich ein eiförmiger Edelstein befunden hatte. Der Stein war aber gar kein Stein gewesen, sondern ein Ei, aus dem ein echter lebendiger Drache schlüpfte! Ein Drache, den Frau Tossilo vom ersten Augenblick an tief in ihr Herz schloss.
Ein Glück, dass sie Janka und Johann doch noch nicht aus dem Hochhaus geekelt hatte. Denn ohne die beiden hätte das Drachenbaby wohl kaum überlebt. Kurmo, so hatte Janka das kleine Geschöpf genannt, hatte keine Sekunde allein bleiben wollen. Also waren die Geschwister beinahe täglich zu Frau Tossilo hinuntergeeilt, um sich die anstrengenden Drachenhütedienste zu teilen.
Alle, die schon einmal einen Drachen gehütet haben, wissen, dass sich dabei nicht nur Drache und Hüter, sondern auch die Hüter untereinander näher kommen. Und nur deshalb haben Janka, Johann und Frau Tossilo das Schlimme, das später gekommen war, überhaupt durchgestanden.
Nach ein paar Monaten nämlich – Kurmo war inzwischen beträchtlich gewachsen – war der wirkliche Besitzer des Koffers aufgetaucht. Ein mächtiger Konzern, der sich Black West International nannte und der seinen Drachen unter allen Umständen zurückhaben wollte! Notfalls mit Gewalt.
In letzter Sekunde war es Johann gelungen, sie alle zusammen aus der Gefahrenzone zu bringen. Fort. An einen weit entfernten Ort, einen ziemlich ungewöhnlichen Ort.
Im Moment waren Kurmo und Frau Tossilo also in Sicherheit.
Janka und Johann hatten nicht bei ihnen bleiben können. Aber Black West International wusste ja auch nicht, dass die beiden in die Drachensache verwickelt waren.
Außerdem kann man seine Eltern nicht komplett in Angst und Schrecken versetzen und für immer in einem Computerspiel verschwinden …
Es war ein glasblauer Nachmittag, der sich schon langsam dem Abend neigte. Die schneebedeckten Wipfel des Pyramidengebirges glitzerten im Secret Silence-Abendrot nur so um die Wette, und eigentlich könnte hier alles sehr schön sein.
Vor allem wenn es einem nichts ausmachte, mit einem Herz voller Angst auf einem Drachenrücken durch die Gegend gerüttelt zu werden.
»Flieg tiefer!«, brüllte Frau Tossilo. »Schnell, Kurmo, flieg tiefer! Ich sehe etwas! Dort unten im Wasser, da treibt jemand!«
Der Drache und Frau Tossilo waren auf der Suche nach Janka und Johann. Seit Tagen bereits. Oder vielleicht auch schon viel länger.
An dem Treffpunkt, den sie miteinander ausgemacht hatten – zwischen den Stelen in Level acht –, waren die Geschwister nämlich nicht aufgetaucht. Kurmo und Frau Tossilo hatten gewartet und gewartet und es nach einer Weile mit der Angst zu tun bekommen. Wo blieben die beiden nur? War ihnen etwas passiert?
Nach einem Tag Warterei hatten Frau Tossilo und Kurmo die Geschwister dann auf dem Berg mit der violetten Spitze gesucht. Dort, wo Johann den Eingang hineinprogrammiert hatte. Aber alles, was sie hier gefunden hatten, waren ein paar Knochen gewesen. Und die gehörten hoffentlich nicht Janka und Johann.
Jetzt klammerte sich Frau Tossilo noch fester an den Drachenhals, denn Kurmo rauschte im Sturzflug einem Wasserfall hinterher und folgte dann dem Fluss zwischen glatten Bergwänden hindurch.
»Weiter, schneller! Dort vorne, da, siehst du?, da treibt einer in den Wellen, ist das Johann?«, rief sie gegen das laute Flattern ihres pinken Halstuchs an.
»Johaaann!!!«
Der Fluss mündete in einen langgezogenen See. Holprig setzten sie am felsigen Ufer auf. Aber nichts und niemand war mehr zu sehen.
»Das war wieder diese Spiegelung.« Der Drache scharrte einen kleinen Felsen beiseite.
»Verflixt«, fauchte Frau Tossilo. »Ich habe wirklich geglaubt, Johanns Gesicht in den Wellen entdeckt zu haben.«
Kurmo blickte auf das blasse Wasser hinaus, dann schüttelte er den Kopf.
»Es muss eine Spiegelung gewesen sein. Und darüber können wir froh sein. Denn ein Gesicht im Wasser würde doch nichts Gutes bedeuten.«
»Froh sein sollen wir? Froh? Die Ungewissheit raubt uns den letzten Nerv, jedenfalls mir, und jetzt sollen wir uns auch noch freuen?!«, empörte sich Frau Tossilo und schaute erst grimmig auf den weiß schimmernden Drachenhals vor ihr und dann zum Gebirge hinter ihr.
»Wer hat sich das hier eigentlich alles ausgedacht? Die mystischen Farben, die vulkanförmigen Felsen und diesen Sience-Fiction-Dunst um die Berge? Mir reicht es! Ich möchte wieder nach Hause! Jetzt sofort auf der Stelle!«
»Ich weiß«, antwortete Kurmo leise. »Aber das können wir nicht. Nicht ohne Johann. Und ich finde, dass wir für heute genug gesucht haben. Lass uns einen Schlafplatz finden!«
Frau Tossilo schwieg, doch dann nickte sie grummelnd, und Kurmo schlug mit den Flügeln, um wieder nach oben zu steigen.
Sie flogen, bis sie in bewachsenes Gebiet kamen, das hier immer inselartig auftauchte. Kurmo glitt über einen runden Hügel bis zu einer Gruppe Bäume mit fächerförmigen altrosa Riesenblättern und landete zwischen ihnen auf weichem Boden. Die Grasbüschel waren schon grau vom Dämmerlicht, aber Kurmos dünne Drachenhaut hob sich deutlich von ihnen ab. Er hatte immer noch keine neuen Schuppen ausgebildet, aber die brauchte er in diesem Computerland auch gar nicht. Hier gab es schließlich nichts, was gefährlich war. Selbst die Mücken stachen nicht. Sie ließen sich zwar auf Kurmo und Frau Tossilo nieder, doch schienen sie nicht zu wissen, welchen Sinn und Zweck das eigentlich hatte.
»Ist der Platz gut?«, raunte Kurmo.
Frau Tossilo rutschte vom Drachenrücken hinunter, zog ihre spitzen Stiefel aus und rieb die Füße durch die Grasbüschel.
»Nicht so weich wie mein Flauscheteppich. Aber vielleicht können wir trotzdem schlafen. Es war ja wieder ein furchtbar langer Tag.« Sie ließ sich auf ihrem Umhang nieder, dann starrte sie niedergeschlagen auf den grauen Boden.
Wer Computerspiele spielt, hat vielleicht schon einmal bemerkt, dass die Zeit dabei anders vergehen kann. Dass sie manchmal einfach verschwindet.
Aber wer das Computerspiel nicht spielt, sondern plötzlich in ihm wohnen muss, merkt, dass die Zeit noch ganz andere Dinge tun kann. Dass sie sich zum Beispiel in ein pixeliges Knäuel verwandelt, aus dem verdrehte Erinnerungsfäden herausbaumeln, an denen man immerzu und immerzu ziehen möchte.
Frau Tossilo begann, sich die Schläfen zu massieren. Kurmo trat die Büschel neben dem Umhang platt, ließ seine Beine einknicken und sank ins Gras. Dann legte er seinen Drachenschwanz sacht um Frau Tossilo herum, breitete einen Flügel über sie und schnaubte leise:
»Janka und Johann werden wiederkommen. Schon bald. Das spüre ich.«
Doch Frau Tossilo hörte ihn nicht. Sie war zu sehr mit den verdrehten Erinnerungen beschäftigt. Wie lange war es genau her, dass die Geschwister nach Hause gereist waren? Dass Johann sich und Janka aus dem Spiel heraus, zurück nach Berlin ins Hochhaus, geraumt hatte. Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr? Ein ganzes Leben?
Sie streckte sich auf dem Umhang aus, wälzte sich auf die Seite und sah aus dem Spalt unter dem Drachenflügel in die Dunkelheit hinaus. Ein vereinzeltes Glühwürmchen flog vorüber.
Frau Tossilo zog an dem nächsten Erinnerungsfaden und erschrak.
Es war die Erinnerung an Black West International. Sie war zwar etwas verschwommen und verworren, aber bedrohlich war sie dennoch. In einer Endlosschlaufe sah sie den Schmallippigen vor sich auftauchen, hämisch grinsend:
Du entkommst mir nicht, ich kann den Drachen orten! Überall auf der Welt! Nichts kann man gegen das Peilpulver tun. Nichts! Es hat sich in den Drachen eingefressen. Das kann man nicht heilen. Vergiss das nicht!, hörte sie seine kalte Stimme, als stünde er direkt über ihr.
Schnappend holte sie Luft. Kurmo raunte ihr abermals etwas zu, doch vergeblich.
Wie lange lag es zurück, dass Janka, Johann und Kurmo sie vor dem Konzern gerettet hatten? Aus dem unzerstörbaren Glasbunker. Oder würde das erst in der Zukunft geschehen? Das konnte Frau Tossilo auch wieder nicht sagen. Ihr Kopf war ein einziges Durcheinander. Sie rieb sich die Stirn, da tauchte plötzlich ein Gedanke auf, der ihr bisher noch gar nicht gekommen war: Black West hatte die Kinder geschnappt! Ja, die Leute des Konzerns hatten Janka und Johann beim Herauskommen aus dem Spiel abgepasst. Die beiden konnten gar nicht mehr zu ihr und Kurmo zurückkommen. Was, wenn Black West sie …
Als hätte jemand einen Eiszapfen in ihr Herz gestoßen, fuhr Frau Tossilo erst zusammen, dann hoch und stieß mit der Stirn gegen den aufgespannten Drachenflügel.
»Wir müssen nach Hause! Sofort! Wir müssen das irgendwie bewerkstelligen!«
Kurmo zog seinen Flügel zurück und neigte Frau Tossilo seinen schweren Kopf zu.
»Gedanken sind nicht die Wirklichkeit! Und düstere Gedanken sind nicht hilfreich.« Leise begann er zu summen, tief und beruhigend. »Denk nicht mehr daran. Denk an etwas Schönes, sonst wirst du nie einschlafen können. Und Schlaf werden wir brauchen.« Er verstummte.
»Nicht die Wirklichkeit, aber was, wenn doch?«, knurrte Frau Tossilo, dann riss sie sich tatsächlich zusammen, atmete ein paarmal hörbar aus und legte sich wieder hin.
Kurmo hatte ja recht. Es war bestimmt hilfreicher und kräftesparender, jetzt an etwas Schönes zu denken.
Vielleicht daran, dass es hier keinen Tau gab, der sie jetzt durchnässte. Oder sollte sie lieber an ihre Nagellacksammlung und ihr elfenbeinfarbenes Ledersofa denken, die zu Hause auf sie warteten?
Kurmo summte weiter. Eine ganze lange Weile und immer wieder blies er Frau Tossilo seinen Atem in den Nacken, bis sie allmählich ruhiger wurde.
Vielleicht sollte ich an Jankas braune Augen denken, kam es ihr nun in den Sinn. Wie sie leuchten, wenn ich ihr die Tür öffne. Wie Janka kichert, sich das dünne Haar hinters Ohr streicht und fröhlich ruft: Hallihallo, meine Zirkusstunde fällt heute aus, da komme ich doch gleich wieder vorbei.
Frau Tossilo musste gähnen.
Oder, dachte sie, ich denke daran, wie wir alle auf dem Flauscheteppich gesessen haben und den pinken Koffer auspackten und wie Johann gestottert hat, als ich ihm den Laptop schenkte. Meine Güte, wie hat er sich gefreut.
Sie spürte Wärme in der Brust aufsteigen, und sie spürte die Wärme von Kurmos Atem im Nacken. Sie war froh, dass sie es wieder konnte, das Spüren. Die ersten Tage hier hatte sie nämlich fast gar nichts mehr wahrgenommen, weder Kälte noch Wärme, noch die Reibung an den Fingerkuppen, wenn sie damit über eine Baumrinde gestrichen hatte. Mittlerweile aber war diese Fähigkeit zurückgekehrt. Noch nicht wieder ganz, doch immerhin.
Aber hilft uns meine Spürerei, Janka und Johann wiederzufinden? Wohl kaum!, hätte sie fast gegrummelt, doch da war sie plötzlich eingeschlafen.
In das Computerspiel hineinzukommen war leicht gewesen. Das Aus-dem-Spiel-Hinauskommen jedoch eine ganz andere Sache.
Janka und Johann waren in einen schlimmen Strudel geraten. Dabei war ihnen so schwindlig geworden, dass Johann beinahe den Laptop losgelassen hätte. Als der rasende Sog endlich weniger geworden war, hatte ihre Spucke nach Schimmel geschmeckt und ein brennender Schmerz aus der Magengegend jede Faser ihres Körpers in Besitz genommen. Sie hatten sich übergeben. Wieder und wieder und wieder.
Wie sie schließlich zu Hause im Hochhaus gelandet waren, wussten sie nicht mehr. Nur dass ihre Eltern noch nicht daheim gewesen waren, das wussten sie. An die darauffolgenden Tage konnten sie sich vage erinnern. Ihre Mutter oder ihren Vater hatten sie schemenhaft wahrgenommen, wenn sie sie zum Bett und zur Toilette geführt hatten. Ein Arzt war gekommen. Bittere Medizin. Steigendes Fieber.
»Wie ihr nur ausseht«, hatte die Mutter immer wieder besorgt geflüstert. »Dass eine Grippe so schlimm werden kann.«
Über eine ganze Woche hatte es gedauert, bis die Hitze aus ihrem Körper gewichen war, und erst nach einer kompletten weiteren Woche konnten Janka und Johann wieder aufstehen.
Zu spät.
Zu spät.
Zu spät.
Wir sind zu spät gesund geworden. Der Tag, an dem wir uns mit Kurmo und Frau Tossilo zwischen den Secret Silence-Stelen treffen wollten, ist ja längst vorüber.
Es war Sonntag. Mit gesenkten Köpfen hingen Janka und Johann am Frühstückstisch.
»Wisst ihr was, ihr Lieben? Wir machen heute einen Ausflug!«, schlug ihre Mutter mit mütterlich heiterer Miene vor. »Nach so einer langen Krankheit muss man an die frische Luft, um wieder richtig in die Gänge zu kommen.«
»Okay«, nickten die Geschwister zwar etwas lahm, doch sie waren der Mutter dankbar für ihre Bemühung, und so begab sich die Familie samt Fahrrädern an die Spree.
Es war sehr warm, und auf dem Wasser tummelten sich bunte Ausflugsschiffe. Schwäne und Enten schaukelten träge in Ufernähe und warteten auf Brot. Janka, Johann, die Mutter und der Vater radelten schwitzend bis zur Fahrradfähre, und weiter ging es durch eine Heide, bis es schließlich Mittag wurde.
»Pause!« Der Vater machte eine Vollbremsung auf dem sandigen Weg.
»Hier zwischen den Birken?«, freute sich Janka.
»Warum nicht?«, lächelte der Vater. »Der Schatten ist einfach zu einladend, um nur dran vorbeizurauschen.«
»Was gibt’s zu futtern?«, wollte Johann wissen.
Die Mutter warf ihm die Picknickdecke zu, klickte die Verschlüsse der Fahrradtaschen auf und holte eine Box nach der anderen hervor, die sie dem Vater in die Arme stapelte.
Johann konnte sich nicht beschweren. Die Eltern hatten nicht wie sonst nur Kartoffelsalat und Butterbrote mitgenommen. Sondern auch Erdbeeren und eine Wassermelone, einen duftenden Schokoladenkuchen, vier bunt verzierte Minidonuts, Kirsch- und Karamellbonbons, Gummibärchen, Käsecracker, Chips und Eis in einer Kühlbox. Es gab Kaffee aus der Thermoskanne, frisch gepressten Saft und gekühlte Cola. Es gab eingelegte Oliven, gefüllte Weinblätter und kleine Pilze. Es gab Servietten und Zahnstocher und zuallerletzt noch einen Glückskeks für jeden.
»Wir feiern, dass ihr wieder gesund seid! Lasst es euch schmecken!«, rief die Mutter fröhlich, und das taten sie dann auch. Als schließlich keiner mehr auch nur einen Krümel herunterbrachte, brummte der Vater:
»Okay, ihr beiden, und jetzt mal raus mit der Sprache: Was ist eigentlich an eurem Wochenende passiert? Und was ist mit Frau Tossilo los? Sie bringt euch komplett krank nach Hause. Das kann ja mal passieren, aber dass sie sich dann kein einziges Mal rührt, keine Erklärung, nicht einen Ton über euren Zustand verliert, ist wirklich unmöglich! Ich habe sie angerufen, sie ist nicht erreichbar. Ich war viermal bei ihr unten, aber sie macht mir nicht auf.«
Janka sah Johann an, der biss sich auf die Lippe.
»Sie ist, sie ist, sie kann dir auch gar nicht aufmachen, sie wohnt ja gar nicht mehr da«, begann Janka.
»Wie bitte?«, fragte der Vater halb ungläubig, halb belustigt. »Was soll das denn jetzt bedeuten?«
»Na ja, sie wohnt da schon noch«, erklärte Johann hastig. »Frau Tossilo ist ja genauso krank geworden wie wir. Eher gesagt, noch viel kränker. Sie konnte uns gar nicht mehr nach Hause fahren, sondern das hat der, dieser äh, Eugen, der Mann ihrer Schwester, gemacht. Frau Tossilo musste bei der Schwester bleiben, sie hat hier ja niemanden, der sie pflegen könnte. Eugen meinte, dass sie vielleicht sogar ins Krankenhaus muss. Keine Ahnung, ob sie da nun ist.«
»Du liebe Güte, das ist ja schlimm«, meinte die Mutter voller Mitgefühl. Und der Vater, jetzt ganz weich: »Wenn wir das gewusst hätten. Aber wieso lässt euch dieser Eugen ganz allein in der Wohnung? Konnte er nicht mehr auf uns warten? Habt ihr die Nummer von ihm? Keine Sorge, nicht zum Beschweren, ich würde mich einfach gerne bei ihm bedanken und mich gleichzeitig nach Frau Tossilo erkundigen.«
»Die Nummer haben wir leider nicht.« Johann warf Janka abermals einen Blick zu. Beide fühlten sich ziemlich unwohl. So zu lügen war eigentlich nicht ihre Art. Aber dass sie die Nummer von dem ausgedachten Schwager nicht hatten, stimmte ja sogar. Und jetzt waren die Eltern nicht mehr sauer auf Frau Tossilo, und das hatte sie nach allem, was sie mitgemacht hatte, ja auch wirklich nicht verdient.
»Also, dann hoffen wir einfach, dass es Frau Tossilo bald wieder bessergeht und sie nach Hause kommen kann«, meinte der Vater abschließend. »Gibt’s jetzt ’ne Runde Frisbee?«
Es gab sie. Die Familie lief zu einer kleinen Wiese und spielte, bis alle noch nass geschwitzter wurden, als sie es ohnehin schon waren.
Zur Erholung gab es dann – obwohl Johann es erst ziemlich kindisch fand – auch noch Verstecken in allen möglichen Variationen. Alles in allem wurde es ein wunderschöner Tag.
Als es Zeit war, schlafen zu gehen, waren die Geschwister wieder unter sich. Doch erst als Johann im Bett lag und die Leselampe angeknipst hatte und Janka sich ein frisches Nachthemd raussuchte, schlich sich die gedrückte Stimmung wieder in ihr gemeinsames Zimmer.
Johann stieß einen Seufzer aus, und Janka stand vor dem geöffneten Schrank aus weiß lasiertem Kiefernholz und starrte hinein.
»Kannst du dich nicht für das passende Schlafdress entscheiden?«, murmelte Johann. Er hatte gewollt, dass es lustig klang, doch es war ihm nicht gelungen, und Janka bewegte daraufhin nur abwesend den Kopf. Nach einer Weile schloss sie den Schrank, drehte sich um und sah ihrem Bruder lange ins Gesicht.
»Wir müssen es trotzdem versuchen«, flüsterte sie. »Gleich morgen nach der Schule.«
»Was?«
»Na, das Hineinraumen. Du musst uns morgen Nachmittag ins Spiel zurückbringen«, antwortete Janka, setzte sich auf ihre Bettkante und zog die Knie hoch.
»Bist du noch ganz dicht?« Johann fuhr auf. »Wir sind doch gerade erst wieder gesund geworden. So schnell gebe ich mir das Raumen nicht noch mal. Außerdem könnten wir genauso gut nach Kasachstan fliegen. Die Wahrscheinlichkeit, Kurmo und Frau Tossilo dort zu treffen, ist auch nicht geringer.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Janka. »Die beiden sind doch nicht dumm. Wo geht man denn hin, wenn man sich – zum Beispiel in einem Gewühl – verloren hat?«
»Keine Ahnung«, brummte Johann. »Man schickt sich eine Nachricht. Fertig.«
»Wenn man keine Nachricht schicken kann, dann geht man natürlich an die Stelle zurück, wo man sich zuletzt gesehen hat. Das weiß doch jeder.«
»Meinetwegen weiß das jeder. Aber ich weiß auch etwas! Nämlich, dass ich nicht gleich noch mal so eine Rückreisetortur brauche! Du etwa?«
Natürlich brauchte Janka den schrecklichen Strudel nicht noch einmal. Vom Schimmelgeschmack und dem Kranksein ganz zu schweigen.
Aber sie mussten Kurmo und Frau Tossilo doch Bescheid geben. Die beiden würden doch sonst glauben, ihnen sei etwas zugestoßen.
Und sie mussten doch auch beratschlagen, wie es nun weiterging. Für alle Ewigkeit konnten Kurmo und Frau Tossilo ja auch nicht im Spiel wohnen bleiben.
»Und wenn wir es erst mal spielen?«, überlegte Janka laut.
»Was spielen?«
»Na, Secret Silence natürlich.«
»Warum?« Johann runzelte die Stirn.
»Warum?« Janka stand auf, holte den Laptop von Johanns Schreibtisch und legte ihn ihm auf die Bettdecke. »Das ist doch glasklar! Wenn wir selber nicht hineinkönnen, kann diesen Job vielleicht ein Figürchen für uns übernehmen.«
»Das heißt nicht Figürchen«, knurrte Johann. »Das heißt Avatar oder Spielcharakter.« Er öffnete den Laptop. Aber an seinem Gesicht konnte Janka erkennen, dass er noch nicht ganz verstanden hatte, was sie von ihm wollte.
»Schaffen wir es bis auf den achten Level, können wir doch ganz bequem nachsehen, ob Kurmo und Frau Tossilo an unserem Treffpunkt zwischen den Stelen stehen. Oder ob sie auf dem Berg mit der violetten Spitze sitzen.«
»Janka, du bist ja genial!«, rief Johann und startete das Spiel.
Es bis auf den achten Level zu schaffen war für Johann natürlich kein Problem. Er kannte sämtliche Tricks und Abkürzungen.
Wenig später marschierte also sein »Figürchen«, wie Janka es nannte, in einer braunen Kluft und rotem Umhang in Richtung Pyramidengebirge. Es wanderte durch die Hügel, ohne stehen zu bleiben. Im Stamm eines alten Baumes war ein Symbol eingeritzt. Johann hielt sich nicht damit auf. Er brauchte die Punkte, die es für dieses Rätsel gab, nicht. Er eilte weiter.
Plötzlich wurde der Himmel über den Bergen dunkler. Ein Flackern lief über die Bergkette. Johann machte eine Pause. Er ließ die Tastatur los. Das hatte er noch nie gesehen. Im nächsten Moment tauchte am Horizont etwas auf. Etwas Weißes, das über die Bergspitzen flog und einen kleinen pinken Punkt auf dem Rücken hatte.
»Jo!!! Das sind sie, das sind sie! Sieh doch!« Janka umgriff den Laptop und ruckelte daran, als wolle sie die Freunde aus dem Bildschirm herausschütteln.
»Krieg dich wieder ein!«, schimpfte Johann. »Du machst noch was kaputt.« Aber er strahlte ebenfalls und beeilte sich, den Braunklüftigen mit großen Sätzen in Richtung weißes Flugobjekt zu bewegen.
»Ruf mal!«, quietschte Janka.
»Kann man doch gar nicht. Das geht doch nur, wenn du in echt drin bist. Außerdem sind sie viel zu weit weg.«
»Dann wink wenigstens!« Janka verwandelte sich in eine Art Ameisenhaufen. Alles an ihr war gleichzeitig in Bewegung. Beinahe hätte sie Johann vom Bett geschubst. »Mach eine Umdrehung und wink gleichzeitig! Das fällt ihnen bestimmt auf.«
»Magst du vielleicht spielen?«, fragte Johann halb im Scherz. Doch anstatt mit Nein, lieber nicht zu antworten, holte Janka ihrem Bruder den Laptop sogleich vom Schoß und bearbeitete begeistert die Tastatur.
»Nicht so doll!«, rief Johann.
»Tut mir leid.« Janka gab sich Mühe, den Schwung aus ihren Fingern irgendwo anders hinzuleiten.
Sie wollte am liebsten die ganze Zeit winken und hüpfen, aber Johann wies sie an: »Nimm das Tau da mit, später kommt noch ein Fluss ohne Brücke. Dann brauchst du es zum Hinüberschwingen.«
Janka befolgte brav seinen Rat. Dann geschah etwas, was Johann nicht vorausgesagt hatte: Das weiße Geschöpf veränderte seine Flugbahn.
»Sieh doch, Jo.« Jankas Stimme überschlug sich vor Glück. »Kurmo kommt. Er gleitet auf mich zu.«
Ja, Kurmo kam tatsächlich näher. Bald war er nicht mehr nur als ein weißes Etwas, sondern ganz deutlich als Drache zu erkennen. Und ein wenig später konnten Janka und Johann sogar sehen, dass die Gestalt auf seinem Rücken einen Umhang anhatte und ein Halstuch trug. Pink natürlich.
Janka gluckste. Sie ließ den Braunklüftigen winken und immer wieder an Stellen hochspringen, an denen es wirklich nichts zu überspringen gab.
Johann gluckste ebenfalls und drängte sich dicht an seine Schwester. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Kurmo und Frau Tossilo hatten sie entdeckt! Und vielleicht sogar erkannt, dass …
»Pass auf, ein Loch!!!«
Doch Johanns Warnung kam zu spät. Der Braunklüftige stürzte ins dunkle Nichts. Ein von Rauschen begleitetes Heulen ertönte. Alle Punkte waren weg. Der Bildschirm wurde schwarz.
GAME OVER.
»Du bist doch echt bescheuert!« Hastig nahm Johann Janka den Laptop ab und startete das Spiel von neuem.
»Es tut mir leid«, flüsterte Janka. Doch Johann legte schon wieder seinen Speedrun hin und hetzte wenig später durch die Level-acht-Hügel, als hätte es das Loch gar nicht gegeben. Von Kurmo war nichts mehr zu sehen. Kein Weiß mehr am Himmel. Nichts flog mehr herum. Auch als der Braunklüftige in der Nähe des blauen Berges mit der violetten Spitze ankam, ließ der Drache sich nicht mehr blicken.
Nur ein hoher Turm, wie ein mahnender Finger, ragte plötzlich hinten am dunstigen Horizont auf.
»Wo kommt der denn her?«, wunderte sich Johann und fuhr sich durch sein zerzaustes Haar. Er hatte in dem Spiel noch nie solch ein Bauwerk gesehen. So düster und irgendwie unheilvoll. Secret Silence war ein schönes Spiel, spannend schon, aber auf keinen Fall gruslig. Bis auf die Löcher natürlich.
»Ist doch jetzt egal. Mach mal weiter. Vielleicht warten sie ja bei den Stelen auf uns«, drängelte Janka. Also verließ Johann das Gebirge wieder und eilte über die rötliche Lamellenfläche, die sich hinter dem Gebirge erstreckte. Das dauerte eine ganze Weile, denn auf dieser Strecke gab es keine Abkürzungen mehr. Dafür aber jede Menge Löcher. Aber irgendwann war es so weit. Der Braunklüftige marschierte auf die erste riesige Stele eines wuchtigen verfallenen Bauwerks zu.
»Ich glaub es nicht!« Die Mutter stand im Türrahmen. Mit zusammengekniffenen Augen und zerknittertem Schlafanzug. »Ihr beiden, es ist zwölf Uhr vorbei!«
»Äh, wir …«, begann Janka und zwang sich, ihren Blick nicht wieder auf den Bildschirm huschen zu lassen.
»Wir sind gleich fertig. Nur noch kurz, Mama, okay?«, murmelte Johann.
Hinter einer der Stelen lugte tatsächlich Kurmos weiße Schwanzspitze hervor. Er musste nur noch etwas näher ran.
»Jetzt passt mal auf!« Mit wenigen Schritten war die Mutter bei ihnen. »Ich habe mich jetzt ganze zwei Wochen um euch gekümmert. Ganze zwei Wochen! Glaubt ihr, das war lustig? Den ganzen Tag Krankenpflegerin spielen? Und was macht ihr jetzt? Ihr haut euch die Nacht um die Ohren. Morgen ist Schule, schalt das Ding ab, oder ich raste aus!«
Johann konnte sich nicht rühren. Er wollte nicht, dass die Mutter ausrastete, er wollte sie auch gar nicht ärgern oder traurig machen. Er wollte doch nur ganz kurz noch um die Stele herum und Frau Tossilo und Kurmo ein Zeichen geben.