FLUGANGST 7A

Sebastian Fitzek

FLUGANGST 7A

Psychothriller

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Sebastian Fitzek

Sebastian Fitzek, geboren 1971, ist Deutschlands erfolgreichster Autor von Psychothrillern. Seit seinem Debüt »Die Therapie«(2006) ist er mit allen Romanen ganz oben auf den Bestsellerlisten zu finden. Mittlerweile werden seine Bücher in vierundzwanzig Sprachen übersetzt und sind Vorlage für internationale Kinoverfilmungen und Theateradaptionen. Als erster deutscher Autor wurde Sebastian Fitzek mit dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Für Manuela

17 Jahre Langstrecke und kein Ende in Sicht.

Was für ein Glück!

EU empfiehlt psychologische Tests für Piloten

Drogentests und psychologische Begleitung:

Eine EU-Arbeitsgruppe fordert nach dem Absturz

der Germanwings-Maschine stärkere Kontrollen für Piloten.

DIE ZEIT vom 17.07.2015

Prolog

Wann können wir den Täter befragen?«

Dr. Martin Roth, gerade auf seinem Weg in die neurologische Intensivstation des Park-Klinikums, drehte sich zum Kommissar der Mordkommission, der sich allen Ernstes entblödet hatte, ihm diese lächerliche Frage zu stellen.

»Befragen?«

»Ja. Wann wacht er wieder auf?« Der untersetzte Polizist leerte den letzten Schluck Kaffee, den er sich aus dem Automaten gezogen hatte, unterdrückte ein Rülpsen und streckte herausfordernd das Kinn vor. »Wir haben zwei Leichen und einen Schwerverletzten, der sein Leben lang aus den Augen bluten wird. Ich muss mir den Dreckskerl so schnell wie möglich vorknöpfen.«

»Vorknöpfen, hm.«

Der Chefarzt mit dem glatten, für sein Alter viel zu jungenhaften Gesicht kratzte sich eine kahle Stelle seiner von Jahr zu Jahr immer größer werdenden Geheimratsecken. Er wusste nicht, was er für schlimmer halten sollte. Die billige Bruce-Willis-Imitation dieses Polizisten. Oder dessen schreiende Dummheit.

»Sie waren doch dabei, als der Mann eingeliefert wurde?«

»Ja, klar.«

»Und ist Ihnen dabei etwas aufgefallen?«

»Er ist halb tot, ich weiß, ich weiß.« Der Beamte zeigte auf die Milchglastür hinter Roth, die den Krankenhausflur vom Intensivtrakt trennte. »Aber ihr Medizinmänner habt dadrinnen doch sicher alles Mögliche in der Zauberkiste, um das Schwein wieder zusammenzuflicken. Und sobald er wach ist, hätte ich gerne ein paar Antworten.«

Roth holte tief Luft, zählte innerlich von drei abwärts und sagte, als er bei null angekommen war: »Nun, ich werde Ihnen ein paar Antworten geben, Herr …?«

»Hirsch. Polizeihauptkommissar Hirsch.«

»Es ist noch sehr früh für eine gesicherte Diagnose, aber wir haben den dringenden Verdacht, dass der Patient an einem Locked-in-Syndrom leidet. Umgangssprachlich ausgedrückt: Sein Gehirn steht nicht mehr in Verbindung zum Rest seines Körpers. Das bedeutet, er ist in sich selbst eingeschlossen. Er kann nicht sprechen, nichts sehen, nicht mit uns kommunizieren.«

»Und wie lange dauert dieser Zustand an?«

»Höchstens sechsunddreißig Stunden, schätze ich.«

Der Polizist rollte mit den Augen. »Dann erst kann ich ihn vernehmen?«

»Dann ist er tot.«

Hinter Roth knackte es, und die elektrische Flügeltür mit den Milchglasscheiben schwang auf.

»Herr Dr. Roth. Kommen Sie schnell. Der Patient.«

Der Chefarzt drehte sich zu seiner Assistenzärztin herum, die mit hochrotem Kopf aus der Intensivstation herausgeeilt kam. »Was ist mit ihm?«

»Er blinzelt.«

Gott sei Dank!

»Wirklich? Das ist wunderbar!«, freute er sich und nickte dem Polizisten zum Abschied zu.

»Er blinzelt?« Hirsch sah den Chefarzt an, als würde sich Dr. Roth über einen Kaugummi unter seiner Schuhsohle freuen. »Das nennen Sie eine gute Nachricht?«

»Die beste, die wir kriegen können«, antwortete Roth und fügte hinzu, als er bereits auf dem Weg zurück zu dem Sterbenden war: »Und vielleicht die einzige Chance, die wir haben, um die Vermissten noch lebend zu finden.«

Auch wenn er diesbezüglich kaum Hoffnungen hegte.

1.

Nele
Berlin. Anderthalb Tage zuvor.
05.02 Uhr

Es gibt zwei Sorten von Fehlern. Solche, die dein Leben verschlechtern. Und solche, die es beenden.«

Nele hörte die Sätze des Geistesgestörten.

Vernuschelt, dumpf. Keuchend.

Sie konnte seine Lippen nicht sehen. Der Mann hatte sich eine Trainings-Atemmaske über das Gesicht gezogen. Eine schwarze, elastische Neoprenhaut mit einem weißen Drehventil vor der Mundöffnung. Sportlern diente es dazu, ihre Leistung zu steigern. Psychopathen den Lustgewinn.

»Auf so was hab ich jetzt echt keinen Bock«, sagte Nele laut, als ob sie damit irgendetwas würde ändern können. Und als der Maskenmann seinen Bolzenschneider spreizte, schaltete sie um.

Der heiße Herbst der Volksmusik.

Vom Regen in die Traufe. Nur Schrott in der Glotze. Allerdings war das kein Wunder. Wer setzte sich kurz vor Sonnenaufgang schon freiwillig vor den Fernseher?

Ungeduldig schnalzte sie mit der Zunge gegen die Vorderzähne und zappte weiter, bis sie bei einem Teleshopping-Kanal hängen blieb.

Ronnys Haushaltshelfer.

Neue Küchengeräte, präsentiert von einem Mann, der sich mit dem Tuschkasten zu schminken schien: zinnoberrote Haut, cyanblaue Lippen und Deckweiß-Zähne. Im Moment schrie er seine Kunden an, dass es von dem megawahnsinnstollen Wasseraufsprudler nur noch 223 Stück gäbe. So einen hätte Nele in den letzten Monaten sehr gut gebrauchen können. Dann hätte sie die Pfandflaschen nicht ganz alleine nach oben wuchten müssen. Vierter Stock, Hinterhof, Hansastraße Weißensee. Achtundvierzig blank gewetzte Stufen. Sie zählte sie täglich.

Noch besser als ein Wasseraufsprudler wäre natürlich ein starker Mann gewesen. Gerade jetzt, in ihrem »Zustand« – ganze neunzehn Kilo schwerer als noch vor neun Monaten.

Aber den Verursacher hatte sie ja zum Teufel gejagt.

»Von wem ist es?«, hatte David sie gefragt, kaum dass sie ihm das Testergebnis mitgeteilt hatte.

Nicht gerade das, was man hören wollte, wenn man vom Frauenarzt kam und nach einem Fels in der Hormonbrandung suchte.

»Ich hab dich nie ohne Gummi angefasst. Bin doch nicht lebensmüde. Scheiße, jetzt muss ich mich auch testen lassen.«

Eine schallende Ohrfeige zog den Schlussstrich unter die Beziehung. Nur, dass nicht sie es war, die wütend um sich geschlagen hatte. Sondern er. Ihr Kopf war zur Seite geflogen, und Nele hatte das Gleichgewicht verloren. War mit ihrem CD-Regal zu Boden gestürzt, wo sie für ihren Freund zum leichten Ziel geworden war.

»Bist du bescheuert?«, hatte er sie gefragt und zugetreten. Wieder und wieder, in den Rücken, gegen den Kopf und natürlich auch in den Unterleib, den sie verzweifelt mit Ellbogen, Armen und Händen zu schützen versucht hatte.

Erfolgreich. David hatte sein Ziel nicht erreicht. Die Leibesfrucht war nicht beschädigt worden, der Embryo wurde nicht abgestoßen.

»Du schiebst mir kein krankes Balg unter, für das ich ein Leben lang blechen darf«, hatte er sie angebrüllt, dabei aber doch von ihr abgelassen. »Dafür werde ich schon sorgen.«

Nele tastete nach der Stelle auf dem Jochbein, wo Davids Schuhspitze knapp das Auge verfehlt hatte und die noch immer pulsierte, wenn sie an den Tag der Trennung dachte.

Es war nicht das erste Mal, dass ihr Freund jähzornig geworden war. Aber das erste Mal, dass er die Fäuste gegen sie erhoben hatte.

David war der sprichwörtliche Wolf im Schafspelz, der in der Öffentlichkeit seinen unwiderstehlichen Charme versprühte. Selbst ihre beste Freundin konnte sich nicht vorstellen, dass der humorvolle Mann mit der perfekten Schwiegersohn-Attitüde ein zweites, brutales Gesicht hatte, das er wohlweislich nur dann zeigte, wenn er sich unbeobachtet, privat und seiner Sache sicher fühlte.

Nele haderte mit sich, dass sie immer wieder an solche Typen geriet. Schon in früheren Beziehungen war es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Vielleicht dachten die Kerle, angesichts ihrer gleichzeitig kindlichen, aber dennoch frechen Erscheinung wäre sie keine Frau, sondern ein Mädchen, das man nicht begehrte, sondern besaß. Und bestimmt trug ihre Krankheit auch einen Teil dazu bei, dass sie von vielen als Opfer betrachtet wurde.

Nun denn, David Kupfer ist Geschichte, dachte Nele mit innerer Befriedigung. In mir wächst die Zukunft.

Zum Glück hatte sie dem Mistkerl nie einen Schlüssel gegeben.

Nach seinem Rausschmiss hatte er sie eine Zeit lang regelrecht gestalkt. Hatte sie mit Anrufen und Briefen bombardiert, in denen er es mal mit Argumenten versuchte, sie zu einer Abtreibung zu drängen (»Du verdienst als Sängerin doch kaum genug Geld für dich selbst!«), mal mit Drohungen (»Wär doch schade, wenn du auf der Rolltreppe stolperst, oder?«).

Erst nach drei Monaten, als die legalen Abbruchfristen verstrichen waren, hatte er aufgegeben und den Kontakt endlich abgebrochen. Abgesehen von dem Weidenkörbchen, das am Ostermontag vor ihrer Haustür gestanden hatte. Geschmückt wie eine Babywiege. Mit einem rosafarbenen Kissen und einer flauschigen Schlafdecke über der toten Ratte.

Nele schauderte, als sie jetzt wieder daran dachte, und sie steckte beide Hände zwischen die Polster ihres Sofas, um sich aufzuwärmen, dabei war es alles andere als kühl in der Wohnung.

Ihre beste Freundin hatte ihr geraten, die Polizei zu rufen, aber was sollte die tun? Die war ja schon machtlos bei dem Bekloppten, der seit Wochen jedem dritten Auto in der Straße die Reifen aufschlitzte. Wegen einer toten Ratte würde die erst recht keine Wache vorm Haus postieren.

Zumindest hatte Nele doch noch die Kosten auf sich genommen und bei der Hausverwaltung den Einbau neuer Schlösser beantragt für den Fall, dass David sich damals einen Nachschlüssel hatte machen lassen.

Im Grunde war sie ihm sogar dankbar. Nicht für die Schläge und den Tierkadaver, aber für die abscheulichen Beleidigungen.

Wäre er ruhig geblieben, hätte sie vielleicht auf die Stimme der Vernunft gehört. Darauf, dass es viel zu gefährlich war, das Baby auszutragen. Andererseits war das HI-Virus dank der frühen Behandlung mit Virustatika in ihrem Blut nicht einmal mehr nachweisbar, das Ansteckungsrisiko also kaum messbar. Aber es lag nicht bei null.

Durfte sie es eingehen? Konnte sie im Alter von zweiundzwanzig Jahren mit ihrer Krankheit diese Verantwortung überhaupt stemmen? Ein Baby. Ohne finanzielle Sicherheit? Mit einer Mutter, die viel zu früh verstorben war, und einem Vater, der sich ins Ausland abgesetzt hatte?

Alles gute Gründe, sich gegen das Kind und für ihre Gesangskarriere zu entscheiden. Gegen geschwollene Füße, dicke Beine und Ballonbauch und für die Fortsetzung einer zum Scheitern verurteilten Beziehung mit einem ebenso gut aussehenden wie cholerischen Kleinkünstler, der sich seinen Lebensunterhalt mit Zaubertricks auf Kindergeburtstagen und Firmenfeiern verdiente. (David Kupfer war natürlich nicht sein richtiger Name, sondern eine armselige Anspielung auf sein großes Vorbild Copperfield.)

Sie sah auf die Uhr.

Noch fünfundzwanzig Minuten, bis das Taxi kam.

Um diese frühe Uhrzeit dauerte es nicht einmal eine halbe Stunde, und sie war im Krankenhaus. Eine Stunde zu früh. Die Aufnahme war für sieben Uhr angesetzt. Die OP drei Stunden später.

Es ist unvernünftig, dachte Nele lächelnd und streichelte ihre Kugel jetzt mit beiden Händen. Aber es war die richtige Entscheidung.

Das fühlte sie nicht erst, seitdem ihr Hausarzt Dr. Klopstock ihr gut zugeredet hatte, das Kind zu behalten. Selbst ohne Behandlung steckte sich nicht einmal jedes fünfte Ungeborene mit HIV an. Bei ihren guten Blutwerten und allen Vorsichtsmaßnahmen, die sie innerhalb der engmaschigen Betreuung getroffen hatten, war es wahrscheinlicher, dass während des Kaiserschnitts der Blitz im Kreißsaal einschlug.

Aber auch das ist vermutlich schon passiert.

Nele hatte noch keinen Namen für das Wunder, das in ihr heranwuchs. Wusste noch nicht einmal, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Ihr war es schlichtweg egal. Sie freute sich auf einen neuen Menschen in ihrem Leben, unabhängig vom Geschlecht.

Sie wechselte noch einmal das Fernsehprogramm, und plötzlich war ihr wieder heiß. Das war auch etwas, wonach sie sich sehnte, wenn sie nach der Entbindung ihren Körper wieder für sich allein hatte: dass die Hitzewallungen endlich aufhörten. Nele wollte gerade ihre Hände zwischen den Polstern wieder hervorziehen, als die Finger ihrer rechten Hand auf etwas Hartes stießen.

Nanu?

Waren das vielleicht die Ohrringe, die sie schon so lange vermisste?

Sie beugte sich zur Seite und tastete nun mit ihrer Rechten nach dem eingeklemmten Gegenstand, als sie ein kurzer, heftiger Schmerz durchfuhr.

»Autsch.«

Sie zog den Zeigefinger wieder hervor und wunderte sich über das Blut auf der Kuppe. Ihr Finger pochte, als hätte ein Insekt hineingestochen. Erschrocken steckte sie ihn in den Mund und leckte ihn ab. Dann besah sie sich die Wunde. Ein kleiner Schnitt, wie mit einem feinen Messer gezogen.

Was zum Teufel …?

Sie stand auf, um zum Schreibtisch zu watscheln, wo sie in der obersten Schublade eine Packung Pflaster aufbewahrte. Beim Aufziehen rutschte ihr ein Prospekt für Ferienwohnungen auf Rügen entgegen. David hatte mit ihr den Valentinstag dort verbringen wollen. Damals, in einer anderen Zeit.

Das Einzige, was Nele ihrem Ex heute noch zugutehielt, war, dass David sie damals beim ersten Date nicht gleich hatte sitzen lassen, so wie die meisten Männer, denen sie gestand, dass sie dreimal täglich einen Medikamentencocktail einwarf, um nicht an Aids zu erkranken. Nele hatte wirklich gedacht, er würde ihr glauben, dass sie keine Schlampe war oder drogensüchtig. Dass sie sich nicht an einer Nadel oder beim wahllosen Sex mit Fremden angesteckt hatte. Sondern an einem Schmetterling.

Er sah wunderschön aus, und sie trug ihn immer bei sich. Auf der Innenseite ihres rechten Oberarms.

Eigentlich hatte der regenbogenfarbene Falter Nele ein Leben lang an den wunderschönen Thailand-Urlaub erinnern sollen. Nun musste sie beim Duschen immer an die verdreckte, nicht desinfizierte Nadel denken, mit der das Tattoo gestochen worden war, und wie hart Gott doch manchmal jugendlichen Leichtsinn bestrafte. Anscheinend missfiel es ihm mehr, wenn beschwipste Teenager eine zwielichtige Tattoo-Bar im Kneipenviertel von Phuket aufsuchten, als wenn IS-Schergen Homosexuelle von Häuserdächern warfen.

Nele wickelte sich das Pflaster um den Finger und ging zurück zum Sofa, wo sie das Polster anhob.

Als ihr Blick auf den silbern funkelnden Gegenstand fiel, stöhnte sie auf und hätte sich beinahe die Hand vor den Mund geschlagen.

»Wie um Himmels willen kommt das dahin?«, flüsterte sie. Vorsichtig löste sie die Rasierklinge, die wie mit Kaugummi festgeklebt am Kissen pappte. Tatsächlich war sie zwischen den Polstern mit Doppelklebeband befestigt worden, also absichtlich!

Zutiefst erschrocken ließ Nele sich zurück auf das Sofa sinken. Die Rasierklinge in ihrer Hand fühlte sich an, als hätte sie sie gerade weiß glühend aus einem Kaminfeuer gezogen. Nele schüttelte sich, und dabei glitt sie ihr aus der Hand und fiel neben ihr auf das Sofakissen.

Sie sah auf die Uhr, jetzt mit wild schlagendem Herzen, und rechnete erneut die Minuten zurück, bis das Taxi käme.

Noch fünfzehn Minuten!

Mittlerweile wollte sie keine fünfzehn Sekunden mehr in ihrer Wohnung allein bleiben.

Nele starrte die Rasierklinge an, die ihre Farbe wechselte, je nachdem, welches Bild im Fernsehen gezeigt wurde.

Wie zum Geier ist sie zwischen meine Polster geraten? Akkurat befestigt, so als wollte jemand, dass sie sich die Finger daran aufschnitt?

Und was zum Teufel stand auf ihr geschrieben?

Die Klinge war mit ihrem Blut verschmiert, aber jetzt, als sie sich beim Fallen um hundertachtzig Grad gedreht hatte, war ein filigraner Schriftzug auf ihr zu lesen. Handschriftlich, wie mit einem feinen Edding gezogen.

Widerwillig nahm Nele die Rasierklinge wieder in die Hand und strich mit dem pochenden Zeigefinger über die Buchstaben.

Dein Blut tötet!

Unbewusst und mechanisch bewegte Nele die Lippen, wie ein Schulkind bei den ersten Leseübungen.

Mein Blut tötet?

Sie schrie.

Nicht weil ihr klar geworden war, dass David es irgendwie in ihre Wohnung geschafft haben musste.

Sondern weil etwas in ihr zerriss.

Sie spürte einen heftigen Stich, als hätte sie der Stachel eines Skorpions punktiert. An ihrer empfindlichsten Stelle. Ein Gefühl, als würde jemand die Fasern einer ebenso dünnen wie empfindlichen Haut mit bloßen Händen aufreißen.

Der kurze, intensive Schmerz hörte auf, und es wurde nass.

Dann kam die Angst.

Sie breitete sich aus wie der Fleck zwischen ihren Beinen. Die dunkle Tagesdecke wurde noch dunkler und … es hört nicht auf.

Das war ihr erster Gedanke, und sie wiederholte ihn immer und immer wieder.

Es hört nicht auf.

Die Fruchtblase ist geplatzt, und ich laufe aus.

Der zweite Gedanke war noch schlimmer, denn er war berechtigt.

Zu früh.

Das Kind kam viel zu früh!

2.

Wird es überleben? Kann es so etwas überleben?

Die Klinge war vergessen und spielte keine Rolle mehr. Nele konnte in ihrer Panik nur noch eine einzige Gedankenfrage formulieren: Aber mein Arzt hat doch schon vor Wochen gesagt, ab jetzt wäre das Baby lebensfähig, oder nicht?

Der errechnete Geburtstermin lag vierzehn Tage in der Zukunft.

Bei einem Kaiserschnitt war das Ansteckungsrisiko für das Baby noch einmal geringer, deswegen hatte man den Termin für die Operation zur Vorsicht nach vorne gezogen. Um genau das zu verhindern, was jetzt geschah: dass der natürliche Geburtsvorgang einsetzte.

Kann man nach einem Blasensprung überhaupt noch operieren?

Nele wusste es nicht. Sie hoffte nur inständig, dass ihr Murkel (so nannte sie das Wesen in ihr) gesund zur Welt kam.

Verdammt, wann kommt das Taxi?

Noch acht Minuten.

Und die würde sie brauchen.

Nele stand auf und hatte das Gefühl, komplett auszulaufen.

Schadet das dem Kind? Ein grauenhaftes Bild schoss ihr durch den Kopf: von ihrem Baby, das in ihrer Bauchhöhle vergeblich nach Luft schnappt wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Sie stakste zur Haustür und griff die Kliniktasche, die dort schon gepackt auf ihren Einsatz wartete.

Wechselwäsche, weite Hosen, Nachthemden, Strümpfe, Zahnbürste und Kosmetika. Dann natürlich den Beutel mit den antiviralen Medikamenten. Selbst Windeln hatte sie eingepackt, Größe 1, auch wenn es die ganz sicher im Krankenhaus gab. Aber Juliana, ihre Vorsorge-Hebamme, hatte gesagt, man könne nie zu gut vorbereitet sein, auch wenn es immer anders käme, als man denkt. Und das tat es jetzt.

Mein Gott.

Angst.

Sie schloss die Tür auf.

Nele hatte noch nie eine solche Angst um jemand anderen als um sich selbst gehabt. Und sich noch nie so allein gefühlt.

Ohne den Erzeuger. Ohne die beste Freundin, die gerade auf Tournee mit einer Musical-Gruppe in Finnland war.

Im Treppenhaus hielt sie kurz inne.

Sollte sie sich umziehen? Die nasse Jogginghose fühlte sich an wie ein kalter Waschlappen zwischen ihren Beinen. Sie hätte nachschauen sollen, welche Farbe das Fruchtwasser hatte. Bei Grün dürfte sie sich gar nicht bewegen, oder war es gelb?

Aber wenn es die falsche Farbe war und sie sich jetzt schon bewegt hatte, sollte sie es doch lieber nicht noch schlimmer machen, indem sie jetzt zurückging, um sich etwas Trockenes anzuziehen. Oder doch?

Nele zog die Haustür zu. Beim Runtergehen hielt sie sich am Treppengeländer fest, froh, dass ihr so früh noch niemand entgegenkam.

Sie schämte sich, auch wenn sie nicht wusste, wofür, denn eigentlich war eine Geburt doch etwas Natürliches. Doch ihrer Erfahrung nach wollten die wenigsten unmittelbar in diesen Vorgang mit einbezogen werden. Und sie hatte keine Lust auf scheinheilige oder verlegene Hilfsangebote von Nachbarn, mit denen sie sonst kaum ein Wort wechselte.

Unten angekommen, schloss sie die Eingangstür auf und trat in die nach Laub und Erde riechende Herbstluft. Es musste gerade aufgehört haben zu regnen.

Der Asphalt der breiten Hansastraße glänzte im hellen Licht der Straßenlampen. Eine Pfütze hatte sich vor dem Bordstein gebildet, und in der wartete – Gott sei Dank – schon das Taxi. Vier Minuten vor der Zeit. Aber keine Sekunde zu früh.

Der Fahrer, der an seinen Mercedes gelehnt in einem Buch gelesen hatte, legte den dicken Band durch die geöffnete Scheibe auf den Beifahrersitz und fuhr sich durch die schulterlangen dunklen Haare. Dann eilte er ihr entgegen, als er bemerkte, dass mit ihrem schlurfenden Gang etwas nicht zu stimmen schien. Vermutlich dachte er, sie wäre verletzt oder ihre Tasche so schwer, dass sie sich leicht nach vorne gekrümmt halten musste. Vielleicht war er aber auch einfach nur höflich.

»Morgen«, begrüßte er sie knapp und nahm ihr die Tasche ab.

»Zum Flughafen?«

Er berlinerte leicht, und sein Atem roch nach Kaffee. Sein Pullover mit V-Ausschnitt war ihm eine Nummer zu groß, genauso wie seine Cordhose, die ihm bei jedem Schritt über die schmalen Hüften zu rutschen drohte. Die halb offenen Birkenstock-Sandalen und seine Steve-Jobs-Brille vervollständigten das Klischee des Taxi fahrenden Soziologiestudenten.

»Nein. Ins Virchow. Wedding.«

Er lächelte wissend, als sein Blick über ihren Bauch streifte.

»Alles klar. Kein Problem.«

Er hielt ihr die Tür auf. Wenn er ihre durchnässte Hose bemerkt hatte, war er zu höflich, um es zu erwähnen. Vermutlich hatte er schon sehr viel Ekligeres auf seinen nächtlichen Touren gesehen und deshalb seine Rücksitze mit einem Plastiküberzug ausgestattet.

»Dann wollen wir mal.«

Nele stieg ins Auto mit der Sorge, etwas Wichtiges vergessen zu haben, obwohl sie die Kliniktasche umklammert hielt, in der auch ihr Handy, das Aufladekabel und das Portemonnaie steckten.

Mein Vater!

Während das Auto losfuhr, rechnete sie die Zeitverschiebung um und entschied sich für eine SMS. Nicht, dass sie Scheu hatte, ihren Vater um diese Uhrzeit in Buenos Aires anzurufen. Aber sie wollte nicht, dass er die Sorge in ihrer Stimme hörte.

Nele überlegte, ob sie ihm von dem Blasensprung schreiben sollte, aber wozu ihn unnötig beunruhigen? Und außerdem ging ihn das nichts an. Er war ihr Vater, nicht ihr Vertrauter. Dass sie ihn bei sich haben wollte, hatte keine emotionalen, sondern rein praktische Gründe.

Er hatte Mama im Stich gelassen. Jetzt sollte er es wiedergutmachen, indem er Nele mit dem Murkel unterstützte – und wenn sich seine väterlichen Hilfeleistungen nur auf Botengänge, Einkaufen und finanzielle Hilfeleistungen beschränkten. Das Kind würde sie ihm sicher nicht anvertrauen. Sie hatte ihn ja noch nicht einmal vor der Entbindung sehen wollen und ihm quasi befohlen, frühestens am Tag der Operation anzureisen.

»Es geht los!«, tippte sie in ihr Handy und schickte die Nachricht ab. Kurz und knapp. Sie wusste, die fehlende Anrede würde ihn verletzen. Und ein wenig schämte sie sich für ihre gefühlskalte Art. Aber dann musste sie an die Augen ihrer Mutter denken. Offen, leer, die Todesangst wie eingraviert, die sie vor ihrem Ende so ganz alleine durchlitten haben musste, und dann wusste Nele, dass sie noch viel zu nett zu ihm war. Er durfte sich glücklich schätzen, dass sie auf ihren Therapeuten gehört und den Kontakt zu ihm nach Jahren wieder aufgenommen hatte.

Nele blickte nach vorne und entdeckte einen grünen Wälzer, in dem der Fahrer vorhin geblättert hatte und der jetzt zwischen Handbremse und Fahrersitz klemmte.

Pschyrembel.

Also kein Soziologie-, sondern ein Medizinstudent.

Dann wunderte sie sich.

»Hey«, sagte sie. »Sie haben vergessen, die Uhr anzustellen.«

»Wie, was? Ach … verdammt.«

Der Student nutzte eine rote Ampel, um auf sein Taxameter zu klopfen. Anscheinend war es kaputt.

»Das ist jetzt schon das dritte Mal …«, schimpfte er.

Von hinten näherte sich ein Motorrad.

Nele drehte sich zur Seite, als es direkt neben ihrem Fenster hielt. Der Fahrer trug einen verspiegelten Helm, weswegen sie nur sich selbst sah, als er sich zu ihr herunterbeugte. Seine Maschine blubberte wie ein brodelnder Lavasee.

Verwirrt und ängstlich sah Nele wieder nach vorne.

»Es ist grün!«, sagte sie mit kieksender Stimme.

Der Student blickte von dem Taxameter hoch und entschuldigte sich.

Neles Augen wanderten wieder zur Seite.

Der Motorradfahrer wollte nicht anfahren. Stattdessen tippte er sich wie zum Gruß an den Helm, und Nele meinte das diabolische Lächeln zu spüren, das der Kerl ganz sicher unter dem Helm aufgelegt hatte.

David, schoss es Nele durch den Sinn.

»Die Fahrt geht auf mich.«

»Wie bitte?«

Der Student zwinkerte ihr im Rückspiegel zu und legte den Gang ein. »Ihr Glückstag. Das Taxameter ist im Eimer, Sie müssen nichts zahlen, Nele.«

Das letzte Wort des Fahrers schnitt durch die Luft direkt in ihren Verstand.

»Woher …?«

Woher kennt er meinen Vornamen?

»Wer sind Sie?«

Nele registrierte, dass sie langsam voranrollten, direkt hinter der Ampel nach rechts in eine Einfahrt.

»Wo sind wir hier?«

Sie sah einen aufgerissenen Metalldrahtzaun, im Hintergrund ragten zwei gemauerte Industrieschornsteine wie leichenstarre Finger in den dunklen Himmel.

Das Taxi schaukelte über Bodenwellen in der Einfahrt eines längst aufgegebenen Fabrikgeländes.

Nele griff zur Tür. Rüttelte am Griff.

»Halten Sie an. Ich will aussteigen.«

Der Fahrer drehte sich um und starrte auf ihre geschwollenen Brüste.

»Keine Sorge«, beschwor er sie mit dem Lächeln, das so unpassend schüchtern und harmlos wirkte.

Die fünf Worte, die folgten, erschütterten Nele mehr als alles, was sie bislang in ihrem Leben gehört hatte: »Ich will nur Ihre Milch.«

Eine innere Faust krampfte sich mit aller Macht in die empfindlichste Stelle ihres Unterleibs.

»Haah!«, schrie sie dem Studenten entgegen, der sie im Rückspiegel ansah, während die Scheinwerfer einen verrosteten Wegweiser streiften.

Zu den Ställen, las Nele ab.

Dann erreichte die Wehe ihren ersten Höhepunkt.

3.

Mats
Buenos Aires
23.31 Uhr Ortszeit

Es geht los!

Mats Krüger stellte seinen Aktenkoffer in den Gang und griff nach dem Handy, um sich noch einmal die SMS seiner Tochter anzuschauen, als wäre in der Drei-Wort-Nachricht eine geheime Botschaft versteckt, die er beim ersten Lesen nicht entschlüsselt hatte.

Er tupfte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und wunderte sich, weshalb es ab Reihe vierzehn nicht weiterging. Sie hatten schon eine halbe Stunde Verspätung. Weißes Deckenlicht flutete den Innenraum des nagelneuen, mit fliederblau gepolsterten Sitzen ausgestatteten Flugzeugs, in dem es nach Dufterfrischer und Teppichreiniger roch. Mit dem hellen Summton der Hilfsturbine im Ohr stand Mats mit dem Rücken zum Cockpit auf der rechten Gangseite der gewaltigen Maschine. Vierundzwanzig Meter hoch, höher als ein achtstöckiges Bürogebäude – oder als »fünf Giraffen«, wie eine Tageszeitung über das Fluggerät einmal schrieb.

Der Journalist mit einer Vorliebe für Tiervergleiche hatte ausgerechnet, dass das Flugzeug sich über eine Länge von zwei hintereinandergelegten Blauwalen erstreckte.

Es geht los!

Die SMS, die Mats vor vier Minuten beim Einstieg erreichte, hatte ihn gleichzeitig beflügelt und gebremst.

Er freute sich darauf, bald sein erstes Enkelkind sehen und vielleicht sogar in den Armen halten zu dürfen. Gleichzeitig hatte er Angst davor, in Neles Augen die gleiche Kälte zu lesen, mit der sie ihre knappen Nachrichten formulierte.

Nur ein alter Narr konnte sich der Hoffnung hingeben, sie würde ihm verzeihen. Und Mats fühlte sich zwar alt, aber er war gewiss kein Narr. Er wusste, was er zerstört hatte, damals, als er ihre Mutter im Stich ließ, und er war sich immer noch nicht sicher, weshalb Nele ihn gebeten hatte, zu der Geburt ihres ersten Kindes nach Deutschland zurückzukommen. Streckte sie ihm die Hand zu einem vorsichtigen Neuanfang hin? Oder um ihn zu ohrfeigen?

»Na endlich«, raunte sein rucksacktragender Vordermann, und tatsächlich setzte sich die Schlange wieder in Bewegung.

Na endlich?

Mats hätte es vorgezogen, noch eine Weile im Gang stehen bleiben zu dürfen, solange der 560-Tonnen-Koloss nur am Boden blieb. Vor vier Jahren war er mit einem Frachter nach Argentinien ausgewandert, um sich in Buenos Aires als Psychiater niederzulassen. Er litt unter Flugangst, hatte sogar ein Aviophobie-Seminar besucht, aber das hatte nicht viel genutzt. Sätze wie »Akzeptieren Sie Ihre Angst und versuchen Sie nicht, dagegen anzukämpfen« oder »Versuchen Sie länger aus- als einzuatmen« hatte er selbst schon oft an seinen Phobie-Patienten ausprobiert; und er wusste auch, dass es vielen half, diesen Ratschlägen zu folgen. Das änderte aber nichts daran, dass der Mensch seiner Meinung nach nicht dafür geschaffen war, in zehntausend Metern Höhe mit einer beflügelten Überdruck-Blechröhre durch die Troposphäre geschossen zu werden. Der Homo sapiens gehörte einfach nicht in diese feindliche Umgebung; bei Außentemperaturen von minus fünfundfünfzig Grad konnte der kleinste Fehler zu einer Katastrophe führen.

Wobei sich Mats um die technischen Aspekte weniger Sorgen machte als um die Hauptfehlerquelle, die nicht nur in der Luft, sondern auch zu Lande und auf dem Wasser für die meisten Todesopfer sorgte: der Mensch. Und der hatte bei kaum einer anderen Flugstrecke so viele Gelegenheiten, seine Unvollkommenheit unter Beweis zu stellen wie bei der vor ihm liegenden.

Mats hatte sich für seinen ersten Flug seit über zwanzig Jahren nicht nur das aktuell größte Passagierflugzeug der Welt ausgesucht, sondern auch eine der längsten Nonstop-Strecken der zivilen Luftfahrt. Für die elftausendneunhundert Kilometer von Buenos Aires nach Berlin benötigte der fliegende Koloss etwas über dreizehn Stunden. Die Stunde, die die sechshundertacht Passagiere brauchten, um in dem Doppeldecker ihren Platz zu finden, nicht mitgerechnet. Viel lieber wäre Mats wieder mit dem Schiff gefahren, immerhin wusste er seit Wochen von Neles Schwangerschaft, aber um diese Jahreszeit gab es keine passenden Transatlantik-Verbindungen.

Es geht los!

Mats schob sich mit seinem Aktenkoffer an einer nach Kaffee riechenden Kombüse vorbei, die sich in Höhe der mittleren Notausgänge direkt über den Tragflächen befand, als ihn der Satz einer aufgelöst klingenden Frau wieder zum Stehen brachte.

»Sie verstehen mich nicht!«

Schlüsselwörter für einen Psychiater.

Mats sah nach links in die Küche zu einem hochgewachsenen Flugbegleiter, dessen dunkelblaue Uniform wie maßgeschneidert wirkte. Der Mann stand neben der Kaffeemaschine und unterhielt sich mit einer jungen, rothaarigen Frau, die ein Baby im Arm hielt.

Draußen herrschten trockene achtundzwanzig Grad, aber die frisch gegelten blonden Haare des Stewards sahen aus, als wäre er gerade einem stürmischen Nieselregen entkommen. Erst auf den zweiten Blick sah man, dass es ihn einige Zeit vor dem Spiegel gekostet haben musste, um seine Frisur so gekonnt unfrisiert erscheinen zu lassen.

»Es tut mir wirklich leid.«

Der Flugbegleiter brachte das Kunststück fertig, verständnisvoll zu nicken, dabei aber verstohlen auf seine klobige Armbanduhr zu schielen, während die Mutter geschickt ihr leise vor sich hin brabbelndes Baby auf der Hüfte balancierte.

»Bei der Online-Buchung wurde mir ein Familiensitz bestätigt«, sagte die Frau erschöpft. Sie kehrte Mats den Rücken zu, aber er ahnte angesichts ihrer flatternden Stimme, dass sie kurz vor dem Tränenausbruch stand.

»Ich glaub, der Alte vor mir ist eingeschlafen«, hörte Mats einen Teenager hinter sich maulen. Nun war er derjenige, der den Gang blockierte, aber sein Interesse an dem emotionalen Konflikt in der Bordküche war zu groß, also trat er einen Schritt zur Seite, um die anderen Mitreisenden vorbeizulassen.

»Doch, ich verstehe Sie sehr gut«, versuchte der Steward die Mutter zu beruhigen. Seine standfeste Körperhaltung strahlte Erfahrung und Kompetenz aus, seine Stimme Ungeduld.

»Aber ich kann da nichts machen. Wir wurden in Chile leider mit den falschen Babykörbchen beladen. Die passen nicht in die Vorrichtungen für die Trennwand vor Ihrem Sitz.«

»Und jetzt soll ich mein Kind dreizehn Stunden auf dem Schoß balancieren?«

Sie wackelte mit den Hüften, um das glucksende Baby weiter ruhig zu halten. »Suza leidet unter Koliken«, erklärte sie. »Ich habe große Angst, dass sie die ganze Nacht durchschreien wird, wenn sie nicht liegen kann.«

Ein weiteres verständnisvolles Nicken, ein weiterer Blick auf die Uhr. »Ich wünschte, es wäre anders, doch ich kann Ihnen leider nicht helfen.«

»Aber ich vielleicht«, hörte Mats sich sagen, und im gleichen Atemzug ärgerte er sich, dass er das getan hatte.

Zwei erstaunte Augenpaare blickten ihn an.

»Entschuldigung, was haben Sie da gerade gesagt?«, fragte die Mutter, die sich zu Mats umgedreht hatte.

Das Licht in der Bordküche, die, soweit Mats wusste, offiziell »Galley« genannt wurde, war hell und unfreundlich. Es betonte jede Hautunreinheit und Falte im Gesicht der jungen Frau. Ihre Augen waren so rot wie ihre Haare, und sie sah so müde aus, wie er sich fühlte. Sie hatte dezenten, zu ihren Sommersprossen passenden Lippenstift aufgetragen, und sowohl ihr Schmuck als auch ihre Kleidung deuteten darauf hin, dass sie trotz des hilfebedürftigen Würmchens auf ihrem Arm nicht nur als Mutter, sondern immer noch als Frau wahrgenommen werden wollte.

»Sie können meinen Platz haben.«

Die ersten deutschen Worte seit langer, langer Zeit stolperten ungelenk aus seinem Mund, und kaum dass er sich selbst hörte, wünschte Mats, sie wären ihm in der Kehle stecken geblieben.

»Ihren Platz?«, fragte die Mutter.

Sein geschultes Auge nahm eine minimale Kontraktion des Musculus orbicularis oculi wahr. So erschöpft die junge Frau auch war, die Muskulatur des äußeren Augenrings funktionierte unwillkürlich und signalisierte Mats ein untrügliches Anzeichen echt empfundener Freude.

»Ich könnte Ihnen Platz 7A anbieten«, bestätigte Mats.

»Das ist die Businessclass«, sagte der Flugbegleiter verblüfft. Auf dem silbernen Schild am Revers glänzte der Schriftzug »Valentino«, und Mats wusste nicht, ob das der Nach- oder Vorname des blonden Schönlings sein sollte.

Vermutlich fragte er sich gleich zwei Dinge auf einmal: Weshalb überließ ein Mann einer wildfremden Frau auf einem so langen Flug freiwillig seinen bequemen Schlafsessel? Und was hatte er beim Boarding dann hier unten in der Holzklasse zu suchen?

»Ich fürchte, auch in der Businessclass gibt es kein Körbchen für Ihr Baby«, warf er ein.

»Aber die Sitze sind so breit, dass Suza bequem neben Ihnen liegen könnte«, unterbrach ihn Mats und zeigte auf das Baby. »Laut Werbung kann man den Sessel in ein flaches Bett verwandeln.«

»Und diesen Sitz wollen Sie wirklich mit mir tauschen?«, fragte die Mutter ungläubig.

Nein, dachte Mats und fragte sich noch einmal, welcher Teufel ihn geritten hatte. Aufregung verstärkt die Angst. Es war eine ganz einfache Formel. Er hatte sich so fest vorgenommen, zu seinem Platz zu gehen, die laminierte Pappe mit den Sicherheitshinweisen auswendig zu lernen, die Sitzabstände zu den Notausgängen zu überprüfen und, nachdem er der Demonstration des Bordpersonals gefolgt war, mit seinen autogenen Trainingsübungen zu beginnen. Und nun wich er von seinem Beruhigungsplan schon in den ersten Minuten des Boardings ab.

Was für ein kontraproduktiver Blödsinn!

Noch dazu, wo er es doch gar nicht verantworten konnte, ausgerechnet einer Mutter mit Baby Platz 7A zu überlassen.

Doch so war das häufig bei ihm. Bei der Arbeit mit seinen Patienten war er die Ruhe und Besonnenheit in Person. In seinem Privatleben hatte er oft mit den Irritationen zu kämpfen, die seine emotionalen Schwankungen auslösten.

Da er sein impulsives Angebot nun aber schlecht zurückziehen konnte, fragte Mats nur: »Wollen Sie den Platz haben?«

Ein Schatten wanderte über das Gesicht der Mutter, und diesmal musste man nicht auf die Deutung von mimischen Mikroexpressionen geschult sein, um die Enttäuschung in ihren Augen zu lesen.

»Schauen Sie, Herr …?«

»Krüger.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Krüger. Mein Name ist Salina Piehl. Schauen Sie, das Problem ist nicht nur das fehlende Babybett.« Sie deutete auf die Wand, die die Bordküche von der Passagierkabine trennte und hinter der sich irgendwo weiter hinten im Flugzeug ihr Platz befinden musste. »Ich sitze eingekesselt von einer leicht alkoholisierten, lauten Männergruppe. Wollen Sie sich das wirklich antun?«

Verdammt.

Hätte Salina einfach nur höflich abgelehnt, hätte er vielleicht freundlich nicken, sich verabschieden und weitergehen können. Nun aber, da er wusste, dass sie gleich doppelt hilfebedürftig war, konnte er sie unmöglich stehen lassen.

»So großzügig ist mein Angebot gar nicht. Sehen Sie, ich will nicht mit Ihnen tauschen. Ich habe noch einen anderen Platz an Bord.«

»Aber … wieso?« Sie sah ihn mit großen Augen an.

»Ich leide unter starker Flugangst. Als Vorbereitung auf diesen Flug habe ich alle mir zur Verfügung stehenden Absturzstatistiken ausgewertet. Danach gibt es Sitzplätze, auf denen Passagiere im Falle einer Katastrophe eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit als auf anderen Plätzen haben.«

Der Flugbegleiter zog eine Augenbraue hoch. »Und?«

»Und die habe ich alle gebucht.«

»Im Ernst?«, fragte die Mutter.

»Zumindest, soweit es mir möglich war.«

»Ach, Sie sind das«, sagte Valentino.

Mats wunderte sich nicht, dass er dem Bordpersonal bereits bekannt war. Sein merkwürdiges Buchungsverhalten musste sich unter der Crew herumgesprochen haben.

»Wie viele Plätze haben Sie denn reserviert?«, wollte die Mutter wissen.

»Vier. Neben dem in der Businessclass, also 7A, sind es 19F, 23D und 47F

Die Augen der Mutter weiteten sich. »Vier?«, fragte sie ungläubig.

Eigentlich hatte er sieben Sitze reservieren wollen, aber die anderen waren schon belegt gewesen. Und auch die Reservierung der freien Plätze hatte Mats vor erhebliche Probleme gestellt. Zwar hatte die Fluggesellschaft eine Online-Buchungsfunktion für Übergewichtige, die zwei Sitze benötigten. Aber die lagen naturgemäß nebeneinander und nicht quer über das Flugzeug verteilt. Es hatte ihn zahlreiche Anrufe und E-Mails gekostet, bis er der Airline seine Wünsche erklären und den Verantwortlichen glaubhaft versichern konnte, dass er weder ein Verrückter noch ein Terrorist war. Am Ende hatte es dann noch Probleme mit seinem Kreditkartenlimit gegeben, denn natürlich kostete ihn seine Flugangst ein kleines Vermögen. Zum Glück aber verdiente er nicht schlecht und lebte als Single seit Jahren relativ genügsam.

»Aber wieso? Ich meine, konnten Sie sich nicht für einen Sitz entscheiden?«, wollte die Mutter von ihm wissen.

»Ich habe vor, während des Flugs zu wechseln«, erklärte Mats, um die Verwirrung perfekt zu machen. »Die Sicherheit der Plätze hängt nämlich davon ab, ob wir uns beim Start oder im Landeanflug befinden und ob wir über Land oder Wasser fliegen.«

Die junge Mama griff sich nervös ins Haar. »Und in welcher Phase des Fluges wollen Sie Ihren Businessclass-Sitz zurück?«

»Gar nicht.«

Hätte er sich vor ihr ausgezogen und nackt angefangen zu tanzen, hätte sie ihn kaum irritierter angestarrt.

Mats seufzte. Den Merkwürdigkeitsstempel hatte er ja ohnehin schon weg, also blieb er bei der Wahrheit. »Im Jahr 2013 ließen Wissenschaftler absichtlich ein voll verkabeltes Passagierflugzeug an der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko in der Wüste abstürzen. Eine Art Crashtest für die zivile Luftfahrt.«

»Und dabei kam raus, dass Platz 7A der sicherste ist?«, fragte die Mutter.

Valentino hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Seine Kinnlade sackte noch einmal tiefer, als Mats ihnen erklärte:

»Die Deformation der Crashtest-Dummys zeigte, dass die ersten sieben Reihen im Falle eines Absturzes in der sicheren Todeszone liegen. Platz 7A war der einzige, der sogar aus der Boeing geschleudert wurde.«

Das Baby hustete trocken, dann fing es leise an zu quengeln, kaum dass Mats mit den Worten schloss: »7A ist der gefährlichste Platz in einem Flugzeug. Ich habe ihn nur aus Aberglauben gebucht. Weil ich unbedingt wollte, dass er auf diesem Flug frei bleibt.«