Comisaria Fiol und der Tod im Netz

Lucia de la Vega

Comisaria Fiol
und der Tod im Netz

Ein Mallorca-Krimi

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Lucia de la Vega

Lucía de la Vega (*1982) ist in Sóller (Mallorca) aufgewachsen und studierte Jura an der Universität der Balearen. Nach einigen Jahren Tätigkeit als Rechtsanwältin machte sie ihr neben der Literatur größtes Hobby - das Sporttauchen - zu ihrem Hauptberuf und managte fünf Jahre lang ein Tauchsafari-Schiff in Indonesien. Heute lebt sie mit ihrem mallorquinischen Lebensgefährten in Palma und arbeitet als freiberufliche Autorin und Übersetzerin.

 

 

 

 

Für Tomeu

Prolog

Das Klingeln der Weckfunktion riss sie aus einem unruhigen Schlaf. Benommen griff sie nach dem Handy, das auf dem Nachttisch lag, und stoppte den Alarm. Dann schaltete sie das Telefon ein. Als Erstes checkte sie ihren Instagram-Account. Voller Freude stellte sie fest, dass sie über Nacht zwei neue Follower hinzugewonnen hatte. Sogleich verwandelte sich die Heiterkeit jedoch in Ärger, als sie einen bösen Kommentar unter einem Foto las, das sie am Vorabend gepostet hatte.

Um 1:43 Uhr hatte IAmTheRealQueen geschrieben: »Du hässliche Kuh wirst es nie schaffen!«, gefolgt von Tränen lachenden Emojis.

Sie drückte die App weg und warf die Bettdecke zurück. Als sie sich aufsetzte, wurde ihr kurz schwarz vor Augen. Sie atmete einige Male tief durch und versuchte, das Grummeln in ihrem Magen zu ignorieren. Dann stand sie mit leicht wackeligen Beinen auf und verließ das Schlafzimmer. Draußen war es noch stockdunkel, aber in der Küche brannte bereits Licht. Wahrscheinlich saß ihre Mutter wieder einmal am gedeckten Frühstückstisch.

Sie ging ins Bad und setzte sich auf die Toilettenschüssel. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, denn nun stand der wichtigste Moment des Tages an. Sie tätigte die Spülung und holte die Digitalwaage unter dem Badezimmerschrank hervor. Hastig zog sie ihren Schlafanzug aus, dann stieg sie mit angehaltenem Atem auf die Waage. Ein paar Sekunden lang starrte sie ungläubig auf die Gewichtsanzeige. Sie zeigte 200 Gramm mehr an als am Vortag. Augenblicklich machte sich das schlechte Gewissen in ihr breit, und sie hatte Mühe, die aufsteigende Verzweiflung zu unterdrücken. Es musste der Apfel sein, den sie gestern Abend noch gegessen hatte. Sie hätte der Versuchung nicht nachgeben dürfen, dabei hatte sie doch den ganzen Tag so gut durchgehalten! Nun jedoch war es zu spät, sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Zur Strafe würde sie eine Extraeinheit im Fitnessstudio einlegen müssen. Resigniert schob sie die Waage zurück an ihren Platz. Dann putzte sie sich die Zähne und begann mit ihrer morgendlichen Schminkroutine.

Fünfzehn Minuten später betrachtete sie das Ergebnis im Spiegel. Sie war zufrieden. In den vergangenen Monaten hatte sie sich dank etlicher YouTube-Videos in einen wahren Schminkprofi verwandelt. Ihre eben noch fahle Gesichtshaut strahlte nun rosig, und ihre langweiligen braunen Augen hatten durch den perfekt gezogenen Lidstrich einen verführerischen Ausdruck bekommen. Der im Nude-Ton gehaltene Lippenstift passte farblich exakt zu ihren manikürten Fingernägeln, und die sündhaft teure Mascara hatte ihren Wimpern einen wunderbar geschwungenen Touch verliehen. Nun musste sie nur noch ihre Haare mithilfe des Glätteisens ein wenig in Form bringen.

Nachdem auch das erledigt war, schoss sie mit dem Handy ein Dutzend Selfies vor dem Spiegel. Dann postete sie das Foto, auf dem ihr Gesicht am schmalsten wirkte, auf ihrem Instagram-Account.

Sie verließ das Bad und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Dort schlüpfte sie in schwarze Sportleggings und ein kurzes rotes Top mit eingenähtem Push-up-BH. Ein prüfender Blick in den großen Wandspiegel ließ sie innehalten. Tatsächlich schien es, als hätte sie an den Hüften zugelegt. Aber wie konnte das sein? Waren es vielleicht immer noch die Auswirkungen von Patricias Geburtstag vor zwei Wochen, als sie ein Stück Kuchen gegessen hatte? Angewidert wandte sie den Blick vom Spiegel ab und griff nach ihren neuen pinken Sportschuhen. Sie musste los, sonst blieb ihr im Fitnessstudio nicht genügend Zeit.

Im Flur hörte sie ihre Mutter aus der Küche rufen. »Schatz, ich habe Orangensaft und Toast gemacht.«

»Danke, Mama«, erwiderte sie. »Aber ich muss los, ich bin in Eile.«

Ihre Mutter kam in den Flur. Jetzt würde sie ihr gewiss wieder eine Standpauke halten.

»Schatz, du bist so dünn. Bitte iss etwas, bevor du wieder Stunden im Fitnessstudio verbringst.«

»Keine Sorge, Mama, auf dem Weg hole ich mir noch schnell ein Croissant beim Bäcker!« Dem Gesichtsausdruck ihrer Mutter war anzusehen, dass sie ihr kein Wort glaubte. »Wir sehen uns heute Abend, Mama. Hab einen schönen Arbeitstag!«

Sie ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und trat in den noch dunklen Morgen.

Montag, 9. September 2019

Kapitel eins

Saskia Schneider ging in moderatem Tempo den Hügel hinauf und verfluchte gedanklich ihren Mann, der gute zwanzig Meter vor ihr lief. Es war ihr dritter Urlaubstag auf Mallorca, und schon wieder hatte Gerd darauf bestanden, so früh wie möglich zu den Wanderwegen aufzubrechen. Gestern hatten sie bereits um 11 Uhr vormittags den Gipfel des l’Ofre erreicht, einer der höchsten Berge, die das Tal von Sóller umgaben. Und auch heute hatte der Wecker sie um Punkt 6:30 Uhr wachgeklingelt.

»Schatz, es ist unser erster Urlaub in diesem Jahr, und ich würde gerne endlich mal ausschlafen«, hatte sie ihn vor über einer Stunde angeraunzt.

»Es ist noch Hochsommer!«, hatte Gerd erwidert. »Wenn wir uns nicht früh auf den Weg machen, müssen wir in den schrecklich heißen Mittagsstunden laufen.«

Saskia war resigniert aufgestanden und hatte sich in ihre Wanderkleidung geworfen. Selbstverständlich hätte sie auch einfach im Bett liegen bleiben und ihren Mann alleine losziehen lassen können. Aber unter normalen Umständen bekam sie Gerd durch seinen stressigen Beruf als Investmentmanager schon kaum zu Gesicht. Da wollte sie nicht auch noch im Urlaub auf seine Gesellschaft verzichten. Also hatte sie sich zusammengerissen und war ihm schweigend zum Frühstück gefolgt.

Um die frühe Uhrzeit waren sie vollkommen allein auf der Hotelterrasse gewesen. Nicht einmal Andreas Lindner, dem Eigentümer ihres Landhotels, der stets schon in aller Früh seine Gäste begrüßte, waren sie über den Weg gelaufen. Nur Catalina, die mallorquinische Rezeptionistin, hatte ihnen mit verschlafenem Gesicht ein kleines Frühstück serviert.

Während der kurzen Autofahrt bis an den Ausgangspunkt der Wanderroute hatten sie sich dann erneut gestritten. Saskia hatte Gerd vorgeschlagen, im Wechsel einen Tag früh aufzustehen, um Wanderungen zu unternehmen, und einen Tag auszuschlafen und sich dann gemütlich an den Strand zu legen. Ihr Mann jedoch war gar nicht auf den Kompromiss eingegangen. Stattdessen hatte er damit begonnen, Saskia einen Vortrag über die Historie des alten Wachturms zu halten, der an diesem Morgen als Erstes auf seiner Liste stand, bevor sie die längere Wanderung in Richtung Sa Costera beginnen wollten.

»Siehst du, genau das meine ich«, hatte sie ihn angefahren. »Ich schlage dir eine gerechte Freizeitgestaltung vor, bei der wir unseren Urlaub gemeinsam verbringen können. Ich gebe ein wenig nach und du gibst ein wenig nach. Aber du hörst mir nicht mal zu, sondern schwafelst mich schon wieder ständig mit deinen mittelalterlichen Piratengeschichten voll.«

»Aber es geht hier gar nicht ums Mittelalter«, hatte er gereizt erwidert. »Wenn du mir doch nur einmal zuhören würdest! Ich habe ja gerade eben gesagt, dass die Torre Picada 1614 gebaut wurde. Da war, soweit ich weiß, das Mittelalter schon längst vorbei!«

»Gerd! Du verstehst wirklich gar nichts. Mir geht es in diesem Moment nicht um das Baujahr von irgendeinem dämlichen Wachturm, sondern um unseren gemeinsamen Urlaub, verdammt noch mal!«

Sie war ziemlich laut geworden, und Gerd hatte daraufhin wie gewohnt nur noch geschwiegen. Das war typisch für ihren Mann. Wenn er keine Antwort parat hatte, aber trotzdem keinen Kompromiss eingehen wollte, schwieg er einfach.

Als sie nach nicht einmal zehn Minuten Autofahrt bei der Stelle ankamen, ab der sie zu Fuß weitermussten, parkte Gerd den Wagen, knallte die Fahrertür zu und begann, den schmalen Weg hochzulaufen.

Saskia war so wütend gewesen, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Doch sie beschloss, sich den Tag von Gerd nicht verderben zu lassen. Nun, da sie sowieso schon hier war, konnte sie sich den alten Wachturm auch anschauen. Aber danach würde sie zurück ins Hotel fahren. Sollte ihr von Mallorcas Geschichte besessener Mann doch alleine durch die Berge streifen und sich später ein Taxi nehmen, um zurückzukehren.

Saskia beschleunigte ein wenig ihr Tempo, denn sie hatte Gerd schon fast aus den Augen verloren. Sie hatten den schmalen Asphaltweg verlassen und befanden sich nun auf einem breiten Pfad inmitten eines Pinienwalds. Zwar war es unwahrscheinlich, dass sie sich verlief, aber sie hatte es wie immer Gerd überlassen, die Route im Reiseführer nachzuschlagen. Daher war es besser, ihn nicht komplett aus ihrem Blickfeld zu verlieren.

Keine Menschenseele kreuzte ihren Weg, was für die frühe Uhrzeit jedoch nichts Ungewöhnliches war. Die Mehrzahl der Wandertouristen begann ihre Ausflüge erst ein wenig später, und auf Einheimische traf man meist nur am Wochenende.

Saskia spürte, dass sie dringend musste. Der Kaffee und der Orangensaft drückten auf ihre Blase. Obwohl sie außer dem Rauschen des Meeres und dem Zwitschern der Vögel keinen Laut vernahm, überprüfte sie, dass niemand in der Nähe war, bevor sie sich hinter einen Busch hockte.

Als sie zwei Minuten später erneut auf den Pfad trat, sah sie Gerd nicht mehr. Sie unterdrückte den Impuls, nach ihm zu rufen. Diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben. Stattdessen lief sie mit schnellen Schritten den breiten Weg weiter hinauf. Nach ein paar Kurven lichtete sich der Pfad, und der Weg wurde ebener, aber noch immer konnte sie Gerd nicht sehen.

Urplötzlich durchbrach ein Schrei die friedliche Stille. Es war Gerd. Saskia hielt wie angewurzelt in ihrer Bewegung inne. Was war passiert? Ihr Herz begann wie wild zu pochen und ihr ohnehin schon beschleunigter Atem ließ sie fast keine Luft bekommen. Hektisch drehte sie sich in alle Richtungen, konnte aber niemanden sehen.

Dann hörte sie Gerd erneut schreien. »Hilfe! Saskia! O mein Gott!«

Saskia rannte den Pfad weiter hinauf.

»Gerd, was ist los? Bist du verletzt?«, rief sie.

Noch bevor sie eine Antwort hätte erhalten können, erblickte sie ihren Mann. Er stand vor dem imposanten Wachturm und schaute zu etwas hinauf. Sie folgte seinem Blick. Eine Sekunde später schrie auch sie.

Kapitel zwei

Andreas Lindner saß auf der Terrasse seines Häuschens und kraulte Bobs Kopf. Der Labradormischling sah ihn aus traurigen Augen an.

»Ja, ich weiß, du vermisst Marie auch. Aber morgen kommt sie uns ja wieder besuchen.«

Andreas griff sich die Tasse, die vor ihm auf dem Steintisch stand, und nahm einen Schluck Kaffee. Er hatte eine unruhige Nacht verbracht und war in den frühen Morgenstunden immer wieder hochgeschreckt, weil er ein ums andere Mal von Marie geträumt hatte. In seinen Träumen gingen sie Hand in Hand am Meer spazieren, sahen eng umschlungen der untergehenden Sonne zu oder fielen leidenschaftlich übereinander her. Doch Ernüchterung machte sich jedes Mal in ihm breit, wenn er aufwachte und realisierte, dass er noch immer alleine in ihrem gemeinsamen Bett lag.

Trotzdem war er guten Mutes, dass Marie bald wieder in ihr gemeinsames Heim zurückkehren würde. Seit nunmehr drei Monaten wohnte sie in Palma, in der Wohnung ihrer Freundin Lilly, die vorübergehend aufs Festland gezogen war. Nach den schrecklichen Ereignissen im Frühjahr hatte Marie Distanz zwischen sich und ihn bringen wollen. Er hatte Jahre zuvor einen One-Night-Stand mit einer Arbeitskollegin gehabt. Sandra Russo hatte sich als gefährliche Stalkerin entpuppt und Marie sowohl körperlich als auch seelisch schwer verletzt. Darüber hinaus hatte Marie die Erkenntnis, dass er sie betrogen hatte, so sehr erschüttert, dass sie seine Nähe nicht mehr aushielt. Zwar hatte sie nie das Wort Scheidung in den Mund genommen, aber sie hatte ihn gebeten, ihr Zeit zu geben, um über alles, was vorgefallen war, nachzudenken.

Andreas war die räumliche Trennung sehr schwergefallen, aber er hatte gewusst, dass er Maries Wünsche respektieren musste, wenn er wollte, dass sie zu ihm zurückkehrte. Seine Frau hatte so viel Schlimmes in den vergangenen Jahren durchgemacht, da war es nur natürlich, dass sie ein wenig Abstand brauchte. Sechs Wochen lang hatten sie sich nur flüchtig gesehen, wenn Marie vorbeikam, um Bob abzuholen.

Doch dann hatte Marie an einem Nachmittag Ende Juli sein Angebot angenommen, noch auf einen Kaffee zu bleiben, nachdem sie Bob zurückgebracht hatte. Sie hatten bis in die Abendstunden hier auf der Terrasse gesessen, viel geredet und auch geweint. Schließlich hatte Marie sich verabschiedet und war zurück nach Palma gefahren. Aber an jenem Abend hatte Andreas begonnen, Hoffnung zu schöpfen, dass es eine reelle Chance auf eine Rettung ihrer Ehe gab.

Und tatsächlich hatten sie sich eine Woche später zum Abendessen in einem Restaurant in Palma getroffen und waren danach zu Marie in ihre Wohnung gegangen. Sie hatten miteinander geschlafen, und für Andreas war es gewesen, als würde er die Beziehung zu seiner Frau noch einmal ganz von vorne beginnen. Zwar war Marie nach dieser wunderschönen Nacht erneut ein paar Tage auf Distanz gegangen, doch in den vergangenen Wochen hatten sie sich wieder einige Male gesehen, und Andreas war zuversichtlich, dass sich bald alles zum Guten wenden würde.

Er atmete tief durch. Es war Zeit, ins Hotel zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Gerade als er aufstehen wollte, begann das Handy in seiner Hosentasche zu klingeln. Er holte es hervor und schaute auf das Display. Einen Moment lang zögerte er. Es war eine deutsche Handynummer. Noch immer versetzte es ihm einen Schrecken, wenn er von einer unbekannten Telefonnummer aus angerufen wurde. Zu frisch waren all die schrecklichen Erinnerungen an Sandras Anrufe, Nachrichten und Drohungen des vergangenen Jahres. Obwohl er seit ihrer Einweisung in die geschlossene Station einer psychiatrischen Klinik in Hamburg nichts mehr von ihr gehört hatte, saß ihm das Grauen über all das, was seine ehemalige Arbeitskollegin angerichtet hatte, noch tief in den Knochen.

Er versuchte, die düsteren Erinnerungen zu verscheuchen, und nahm ab. »Ja, hallo, Lindner.«

»Herr Lindner!« Die Stimme am anderen Ende der Leitung war weiblich und klang gehetzt. »Sie müssen sofort die Polizei verständigen. Es ist so furchtbar!«

Andreas erkannte die Stimme der Frau nicht. »Entschuldigen Sie, wer sind Sie?«

»Ach so, ja, ich bin Saskia Schneider, wir sind Gäste in Ihrem Hotel. Sie haben uns doch Ihre Handynummer für Notfälle gegeben.«

Andreas erinnerte sich sofort an das norddeutsche Paar, das vor ein paar Tagen angekommen war und jeden Morgen schon früh zu Wandertouren aufbrach. »Frau Schneider, ja, natürlich. Was ist denn passiert?«

Er hörte, dass sie schluchzte. »Ein Mann …« Sie stockte. »Hier ist ein Mann, der sich das Leben genommen hat. Es ist schrecklich. Er hat sich aufgehängt.«

Andreas versuchte, die Worte einzuordnen. »Wo sind Sie, Frau Schneider? Ist Ihr Mann bei Ihnen?«

»Ja, ja, Gerd ist auch hier. Er hat den Mann ja zuerst gesehen. Wir sind bei diesem Wachturm hier in Port de Sóller.«

»Beim Torre Picada?«, fragte Andreas. Er wusste aus Erzählungen von Einheimischen, dass die Zone rund um den bekannten Wachturm ein beliebter Ort für Selbstmorde war. Jedoch handelte es sich meist um verzweifelte Menschen, die von dort oben in die Tiefe sprangen und durch den Aufprall auf die Klippen ihr Leben verloren. Saskia Schneider jedoch hatte gesagt, dass der Mann sich erhängt hatte.

»Ja, ich glaube, so heißt er. Sie müssen die Polizei rufen!«

»Sofort, Frau Schneider. Aber sind Sie sich sicher, dass der Mann tot ist? Oder muss ich einen Krankenwagen verständigen?«

»Ja, natürlich ist er tot.« Sie schluchzte erneut. »Es ist ein grauenvoller Anblick. Er hängt hier vollkommen nackt von einer Art Balkon des Turms.«

Andreas atmete tief durch. »Okay, Frau Schneider. Ich rufe jetzt die Polizei an. Geht es Ihnen und Ihrem Mann gut?«

»Ja, ja, wir sind nur vollkommen geschockt. Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen, wissen Sie?«

»Ja, ich verstehe. Die Polizei wird sofort kommen. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind, und fassen Sie nichts an.«

»Natürlich, was sollen wir denn auch hier schon anfassen?«

Andreas ging nicht auf die Frage ein. »Ich melde mich gleich wieder bei Ihnen«, sagte er und beendete das Gespräch.

Er dachte einen Moment lang nach. Das Beste wäre wohl, wenn er Marie verständigte. Sie hatte direkten Kontakt zur Polizei und kannte auch bei der örtlichen Policía Local ein paar Beamte. Wenn sie die Polizisten benachrichtigte, würde gewiss alles schneller laufen, als wenn er erst seine Personalien angeben musste.

Er drückte Maries Handynummer. Trotz des schrecklichen Umstands, dass seine Gäste gerade einen Toten gefunden hatten, begann sein Herz zu klopfen, wenn er daran dachte, gleich Maries Stimme zu hören. Doch so weit kam es nicht. Das Handy seiner Frau war ausgeschaltet, und es erklang nur die spanische Ansage in der Leitung, dass er eine Nachricht hinterlassen könne.

»Verdammt!«

Bob horchte auf, als er sein Herrchen fluchen hörte, und begann Andreas’ Hand zu lecken.

»Nein, jetzt nicht, Bob«, sagte Andreas und dachte nach, ob er Comisaria Fiol anrufen oder doch besser direkt die Gemeindepolizei verständigen sollte.

Er entschied, es bei der Kommissarin zu versuchen. Marie hatte ihm damals, als sie das erste Mal zusammen mit Silvia Fiol an einem Mordfall arbeitete, die Telefonnummer der Comisaria gegeben.

Er drückte auf ihren Namen in seiner Kontaktliste und wartete auf das Freizeichen in der Leitung.

Kapitel drei

Silvia Fiol nahm die Auffahrt zur Vía de Cintura und blieb auf der rechten Spur der Autobahn. Sie hatte es nicht eilig. An diesem Montagmorgen musste sie weder arbeiten, noch hatte sie irgendeine andere Verpflichtung. Zeit genug also, um die wunderbaren Tage, die hinter ihr lagen, Revue passieren zu lassen. Sie spürte, wie sich bei dem Gedanken an David schon wieder eine wohltuende Wärme in ihr ausbreitete. Seit Jahren hatte sie keine ganze Woche am Stück mit einem Mann verbracht. Daher war sie sehr nervös gewesen, als sie vergangenen Montag eben diese Strecke in die andere Richtung gefahren war, um David am Flughafen abzuholen. Aber all ihre Sorgen, so viele Tage mit einem Mann in ihrem kleinen Stadtapartment zu verbringen, waren vollkommen unbegründet gewesen. Eine der schönsten Wochen ihres Lebens lag hinter ihr, und obwohl sie David gerade erst zum Flughafen gebracht hatte, konnte sie es schon jetzt kaum erwarten, ihn wiederzusehen.

Dieser Gedanke versetzte ihr einen kleinen Stich. Denn genau das war das große Problem ihrer noch so frischen Liebesbeziehung. David lebte in Madrid und arbeitete dort als Violinist beim spanischen Nationalorchester. Es war ein Beruf, für den er sein Leben lang hart gekämpft hatte, und vor allem einer, der es ihm unmöglich machte, aus der spanischen Hauptstadt wegzuziehen. Das Schicksal war einfach gemein. Da lernte sie endlich einmal einen Mann kennen, bei dem alles zu passen schien, und er musste ausgerechnet 600 Kilometer von ihr entfernt leben.

Silvia versuchte, die negativen Gedanken beiseitezuschieben. Über ihre Lebensumstände konnte sie später auch noch grübeln. Nun wollte sie das wunderschöne Gefühl des Verliebtseins so lange wie möglich auskosten. Sie schaltete das Radio ein und musste über sich selbst schmunzeln. Sie hatte wirklich das Verlangen, ein kitschiges Liebeslied zu hören. Doch ehe sie einen passenden Song fand, blieb sie bei IB3 Radio hängen, die gerade die Lokalnachrichten sendeten. Silvia drehte die Lautstärke hoch.

Noch immer gibt es keine Spur von der vermissten deutschen Influencerin und Public Relations Managerin, Caroline Stern, die vergangenen Mittwoch zum letzten Mal in dem Coffeeshop »Baristas Café« in ihrem Wohnort Cala Rajada gesehen wurde. Angehörige und Freunde der 24-Jährigen, die eine Berühmtheit der Partyszene in Mallorcas Nordosten ist, starteten am Samstag eine große Social-Media-Kampagne mit Aufrufen an die Bevölkerung, nach Caroline zu suchen.

Ebenfalls weiter unbekannt ist der Aufenthaltsort des mallorquinischen Sport-Influencers und Personal Trainers Xavier Colomer, der seit dem 22.  August spurlos verschwunden ist. Der 28-Jährige wurde zuletzt von einem Rentner in Santa Ponça gesehen, als er frühmorgens seine Joggingrunde im Wald von Sa Morisca absolvierte.

Obwohl in den sozialen Netzwerken schon darüber spekuliert wird, ob ein Zusammenhang zwischen den beiden Vermissten besteht, gibt es nach Angaben der ermittelnden Beamten bisher keinen Hinweis hierauf. Der Pressesprecher der Policía Nacional, Agustín Sastre, teilte am Samstag in einer Medienkonferenz mit, dass es bis jetzt keine Anhaltspunkte gebe, die auf ein Gewaltverbrechen hindeuten.

Wenn Sie eine der genannten Personen gesehen haben oder Hinweise auf einen möglichen Aufenthaltsort von Xavier Colomer oder Caroline Stern haben, dann setzen Sie sich bitte umgehend mit der Zentrale der Policía Nacional unter der Nummer 971 22 52 00 in Verbindung.

Und jetzt zum Sport: Real Mallorca konnte sich gestern mit einem 2 : 1 gegen Atlético de Bilbao einen erneuten Heimsieg sichern. Kapitän Xisco Campos schoss das erste …

 

Silvia wechselte den Sender. Aber irgendwie war ihr nun die Lust auf ein romantisches Liebeslied vergangen.

Während der vergangenen Woche hatte sie Urlaub gehabt, daher hatte sie von dem Verschwinden der deutschen Influencerin nur flüchtig durch die Medien erfahren. Außerdem hatte sie ihre gemeinsamen Tage mit David nicht mit Gedanken an ihre Arbeit belasten wollen und versucht, der Angelegenheit keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Morgen, wenn sie aufs Präsidium zurückkehrte, würde sie von ihren Kollegen der Personenfahndung schon alle Einzelheiten erfahren.

Sie grübelte einen Moment, denn sie meinte, den Namen Caroline Stern schon irgendwo einmal gelesen oder gehört zu haben. Auf Instagram oder anderen sozialen Medien war dies jedoch unwahrscheinlich. Silvia hatte zwar Accounts bei einigen Plattformen, nutzte diese aber nur sehr selten. Auch in ihrem Bekanntenkreis gab es, soweit sie wusste, nicht viele die sich intensiv mit Social Media beschäftigten, und wenn sie sich mit Freunden traf, sprachen sie nicht über irgendwelche Internetstars. Vielleicht hatte sie den Namen einfach einmal in irgendeinem Zeitungsartikel gelesen.

Xavier Colomer hingegen war Silvia bekannt gewesen. Ein älterer Kollege des Drogendezernats hatte ihr schon vor einem Jahr Trainingsvideos des mallorquinischen YouTubers geschickt, nachdem Silvia ihn gefragt hatte, wie er es schaffte, sich so in Form zu halten. Silvia hatte sich die intensiven Sportvideos nur flüchtig angeschaut, aber das Gesicht und der Name waren ihr im Gedächtnis geblieben.

Das Klingeln ihres Handys ließ sie zusammenzucken. Silvia griff nach dem Telefon, das auf dem Beifahrersitz lag, und schaute aufs Display. Die Nummer war ihr unbekannt. Sie schaltete die Sprechanlage ein und nahm ab.

»Sí, diga?«

»Comisaria Fiol? Ich bin Andreas Lindner.«

Silvia stutzte. Augenblicklich kam ihr der Gedanke, dass Marie etwas zugestoßen war. Warum sonst sollte ihr Ehemann sie auf ihrem privaten Handy anrufen?

»Andreas, was ist los? Ist etwas mit Marie?«

»Äh, nein, nein. Ich rufe dich an, weil zwei meiner Hotelgäste einen toten Mann beim Torre Picada in Port de Sóller gefunden haben. Ich habe versucht, Marie zu benachrichtigen, aber ihr Handy ist ausgeschaltet. Daher dachte ich, dass ich dich direkt anrufe, bevor ich die Policía Local verständige.«

»Ein Toter? Selbstmord?«, fragte Silvia.

»Anscheinend, ja. Meine Gäste meinten, dass er sich an einem Geländer der Burg erhängt hat.«

Silvia seufzte. »Verstehe. Hast du ihnen trotzdem gesagt, dass sie nichts anfassen und dortbleiben sollen, bis die Polizei eintrifft?«

»Ja, hab ich. Saskia und Gerd Schneider, so heißen meine Gäste, sind wegen des Anblicks total durch den Wind. Die werden bestimmt nicht einfach verschwinden.«

»Alles klar, Andreas! Danke, dass du mich sofort benachrichtigt hast. Ich verständige umgehend die Gemeindepolizei. Kannst du mir noch bitte die Telefonnummer der Schneiders als Textnachricht schicken? Ich sitze gerade im Auto.«

»Ja, natürlich.«

Silvia dankte ihm nochmals und beendete das Gespräch. Dann rief sie bei der Gemeindepolizei von Sóller an und unterrichtete den Beamten am Apparat über die Geschehnisse.

»Erhängt, sagen Sie, Frau Fiol? Das haben wir ja noch nie erlebt. Wenn sich da oben einer das Leben nimmt, dann doch eher, indem er über die Klippen springt. Aber warum soll sich einer die Mühe machen, bis zur Burg zu laufen, um sich aufzuhängen? Das kann er doch auch zu Hause machen.«

Silvia verdrehte die Augen. »Das weiß ich auch nicht, Herr Frontera, ich habe Ihnen nur mitgeteilt, was mir berichtet wurde.«

»Ja ja, schon gut, wir fahren sofort mit dem Geländewagen hoch und schauen uns vor Ort um.«

Nachdem sie auch dieses Gespräch beendet hatte, nahm Silvia die Ausfahrt zur Innenstadt von Palma und verließ die Autobahn. Sie würde ihren letzten Urlaubstag zum Schlafen nutzen. Denn Schlaf hatte sie in den vergangenen Nächten mit David viel zu wenig bekommen. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln, und erneut flammte ein kleines Feuer in ihrem Inneren auf.

Gerade als sie den Kreisverkehr am Carrefour hinter sich gelassen hatte, kam ihr abrupt ein Gedanke. Wieso hatte sie sich nicht sofort daran erinnert? Die Presse hatte schon vor zwei Wochen darüber berichtet. Das letzte Foto, das Xavier Colomer auf seinem Instagram-Account gepostet hatte, zeigte den muskelbepackten Mallorquiner strahlend und mit nacktem Oberkörper vor der Torre Picada. Selbstverständlich konnte es nur ein Zufall sein. Dennoch wendete sie einer inneren Eingebung folgend ihren Wagen und fuhr erneut aus Palma hinaus. Keine fünf Minuten später bog sie auf die Landstraße ab, die nach Sóller führte.