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Elizabeth George: Auf Ehre und Gewissen

Inhaltsverzeichnis

Buch
Autorin
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Copyright

Autorin

Akribische Recherche, präziser Spannungsaufbau und höchste psychologische Raffinesse zeichnen die Bücher der Amerikanerin Elizabeth George aus. Ihre Fälle sind stets detailgenaue Porträts unserer Zeit und ihrer Gesellschaft. Elizabeth George, die lange an der Universität »Creative Writing« lehrte, lebt heute auf Whidbey Island im Bundesstaat Washington, USA. Ihre Bücher sind allesamt internationale Bestseller, die sofort nach Erscheinen nicht nur die Spitzenplätze der deutschen Verkaufscharts erklimmen. Ihre Lynley-Havers-Romane wurden von der BBC verfilmt und auch im deutschen Fernsehen mit großem Erfolg ausgestrahlt. Weitere Informationen unter www.elizabeth-george.de

1

Der Garten hinter dem kleinen Haus in der Lower Mall von Hammersmith war ein Ort künstlerischen Bemühens. Drei Bretter astiges Fichtenholz, über sechs verwitterte Sägeböcke gelegt, dienten als Arbeitsplatte, auf der mindestens ein Dutzend Skulpturen in unterschiedlichen Stadien der Bearbeitung standen. Ein verbeulter Metallschrank an der Gartenmauer enthielt das Werkzeug des Künstlers: Bohrer, Meißel, Zahneisen, Hohlbeitel, Schmirgel und ein Sortiment Sandpapiere. Ein farbverschmierter Malerlappen, der durchdringend nach Terpentin roch, lag als armseliges Häufchen unter einem zerbrochenen Gartenstuhl.

Es war ein schmuckloser Garten. Die Mauern, die ihn vor der Neugier der Nachbarn schützten, schirmten ihn auch gegen die immerwährenden, großenteils von Maschinen verursachten Geräusche des Bootsverkehrs auf dem Fluß, der Great West Road und der Hammersmith Bridge ab. So fachmännisch waren die hohen Mauern rund um den Garten gebaut, so glücklich der Standort des Häuschens an der Lower Mall gewählt, daß höchstens gelegentlich ein über das Anwesen hinwegfliegender Wasservogel die kostbare Stille störte.

Diese Abschirmung hatte allerdings auch einen Nachteil. Reinigende Flußwinde fanden keinen Zugang. Die Folge war, daß der ganze Garten mit einer feinen Schicht weißen Steinstaubs überzogen war: das kleine Oval welkenden Rasens, die Rabatten rostfarbenen Goldlacks, die es umgrenzten, die quadratisch angelegte Terrasse. Selbst auf den Fenstersimsen des Häuschens und auf seinem Giebeldach hatte der Staub sich festgesetzt. Und der Künstler trug ihn wie eine zweite Haut. Aber Kevin Whateley machte das nichts aus. Er hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, und selbst wenn er es nicht gewöhnt gewesen wäre, in einer Staubwolke zu arbeiten, hätte er sich nicht davon stören lassen. Der kleine Garten war seine Zuflucht, ein Ort kreativer Versunkenheit, wo Annehmlichkeit und Sauberkeit nicht erforderlich waren. Bloße Unbequemlichkeit war ohne Bedeutung für Kevin, wenn er sich seiner Kunst widmete.

Zu seinem jüngsten Werk, einem weiblichen Marmorakt, hatte er eine ganz besondere Liebe entwickelt. Er strich mit der Hand über den Arm, über die Wölbung des Gesäßes und die Schenkel hinunter, um nach rauhen Stellen zu suchen und ihnen den letzten Schliff zu geben. Er nickte befriedigt; der Stein fühlte sich unter seinen Fingern wie kühle Seide an.

»Bißchen albern siehst du schon aus, Kev. Mich hast du noch nie so angelächelt.«

Kevin richtete sich mit einem leisen Lachen auf und sah zu seiner Frau hinüber, die an der offenen Haustür stand. Sie trocknete sich die Hände an einem verwaschenen Geschirrtuch und lachte dabei, so daß um ihre Augen tiefe Fältchen entstanden.

»Dann komm doch her und stell mich auf die Probe, Schatz. Du hast nur das letzte Mal nicht richtig aufgepaßt.«

Patsy Whateley wehrte mit einer Handbewegung ab. »Ach, du bist doch ein verrückter Kerl, Kev!«

Aber er sah ihr freudiges Erröten.

»So, so, verrückt bin ich?« fragte er. »Heute morgen hast du aber was anderes gesagt. Oder warst das vielleicht nicht du, die sich da morgens um sechs an mich rangemacht hat?«

»Kev!« Sie lachte laut heraus.

Kevin betrachtete sie liebevoll. Er wußte, daß sie sich seit einiger Zeit heimlich die Haare färbte, um den Anschein der Jugend zu bewahren, und er sah, daß sie deutlich gealtert war, das Gesicht von feinen Linien durchzogen, um Kinn und Wangen nicht länger glatt und straff, der Körper aufgegangen, wo früher die lockendsten Rundungen gewesen waren. Aber diese Veränderungen konnten an seiner Liebe nichts ändern.

»Jetzt denkst du nach, Kev. Ich seh’s dir am Gesicht an. Sag schon, was denkst du?«

»Schmutzige Gedanken, Schatz. Bei denen du rot werden würdest.«

»Das kommt nur von deinen Kunstwerken, stimmt’s? Am heiligen Sonntagmorgen nackte Frauen streicheln! Das ist einfach unanständig.«

»Das, was ich jetzt am liebsten mit dir tun würde, ist unanständig, mein Schatz. Komm her! Spiel mir kein Theater vor, ich weiß doch, wie du wirklich bist.«

»Also, jetzt ist er wirklich verrückt geworden«, verkündete Patsy dem Himmel über ihr.

»Ja, aber so wie du’s magst.« Er lief durch den Garten zur Tür, nahm seine Frau in die Arme und küßte sie herzhaft.

»Puh! Kevin, du schmeckst ja nur nach Sand!« protestierte Patsy, als er sie losließ. Ein Streifen grauen Puders zog sich seitlich über ihr Haar und Gesicht, ein zweiter lag auf ihrer linken Brust. Leise vor sich hinschimpfend, klopfte sie ihre Bluse ab, aber als sie aufblickte und das Lächeln ihres Mannes sah, wurde ihr Gesicht weich. »Total verrückt«, sagte sie. »Aber das warst du ja immer.«

Er zwinkerte ihr zu und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Sie blieb an der Tür stehen und sah ihm zu.

Aus dem Metallschrank holte Kevin das Bimssteinpulver, mit dem er den Marmor zu glätten pflegte, ehe er ein Werk als vollendet betrachtete. Nachdem er das Pulver mit Wasser gemischt hatte, verschmierte er es üppig über seine liegende Nackte und rieb es mit kräftiger Hand in den Stein. Er bearbeitete Beine und Bauch, Brüste und Füße und ging bei der Feinarbeit am Gesicht mit besonderer Sorgfalt zu Werke.

Er merkte, daß seine Frau unruhig zu werden begann, und sah, daß sie hinter sich in die Küche schaute, wo über dem Herd die rote Blechuhr hing.

»Halb elf«, sagte sie nachdenklich.

Es sollte wohl so klingen, als spräche sie mit sich selbst, aber Kevin ließ sich nicht täuschen.

»Komm, Patsy«, beruhigte er sie. »Du machst dir unnötige Gedanken. Reg dich nicht auf. Der Junge ruft bestimmt an, sobald er kann.«

»Halb elf«, wiederholte sie, ohne auf seine Worte zu achten. »Matt hat gesagt, sie würden spätestens zur Eucharistiefeier zurück sein, Kev. Und die war sicher um zehn vorbei. Jetzt ist es halb elf. Wieso hat er noch nicht angerufen?«

»Wahrscheinlich hat er ’ne Menge zu tun. Auspacken. Den anderen von seinem tollen Wochenende erzählen. Lernen muß er sicher auch noch. Dann gibt’s Mittagessen. Na und da hat er eben ganz vergessen, seine Mama anzurufen. Aber nach dem Mittagessen hören wir bestimmt von ihm. Mach dir doch jetzt keine Sorgen, Schatz.«

Kevin wußte, daß dieser gute Rat etwa die gleiche Wirkung hatte, wie wenn er der Themse, die dicht vor ihrer Haustür vorbeiströmte, befohlen hätte, ihr regelmäßiges An- und Abschwellen im Wechsel der Gezeiten zu unterlassen. Seit zwölfeinhalb Jahren gab er ihr diesen Rat in allen möglichen Variationen; aber selten half er auch nur das Geringste. Patsy ließ es sich nicht nehmen, sich um jede Kleinigkeit, die Matts Leben anging, zu sorgen. Sie las jeden seiner Briefe aus dem Internat so gründlich und so oft, bis sie ihn auswendig konnte, und wenn sie nicht wenigstens einmal die Woche von ihm hörte, steigerte sie sich in Ängste hinein, die niemand außer Matthew selbst beruhigen konnte. Im allgemeinen meldete er sich zuverlässig, und gerade darum war sein Schweigen nach seinem Wochenendausflug in die Cotswolds um so unverständlicher. Das jedoch gab Kevin seiner Frau gegenüber nicht zu.

Die Pubertät, dachte er. Jetzt kommt’s auf uns zu, Patsy. ’Der Junge wird erwachsen.

Patsys Bemerkung verblüffte ihn; er hatte nicht geglaubt, daß er so leicht zu durchschauen war.

»Ich weiß, was du denkst, Kev«, sagte sie. »Er wird älter. Er will nicht mehr, daß seine Mutter sich dauernd um ihn kümmert. Und das ist ja auch richtig. Ich weiß es.«

»Und?«

»Und drum warte ich noch ein bißchen, ehe ich in der Schule anrufe.«

Es war, das wußte Kevin, der beste Kompromiß, den sie zu bieten bereit war.

»Na also. Das find ich gut, Schatz.« Er wandte sich wieder seiner Skulptur zu.

Seine Frau müßte ihn später zweimal beim Namen rufen, um ihn aus der fremden Welt zurückzuholen, in die seine Muse ihn entführt hatte. Sie stand wieder an der Tür, doch diesmal hielt sie statt des Geschirrtuchs eine schwarze Kunstlederhandtasche, und sie trug ihre neuen schwarzen Schuhe und den guten marineblauen Wollmantel. An den Kragen hatte sie eine funkelnde Straßbrosche gesteckt – eine anmutige Löwin mit zum Schlag erhobener Pranke. Die Augen waren kleine grüne Punkte.

»Er ist auf der Krankenstation.« Das letzte Wort sprach sie im schrillen Ton beginnender Panik.

Kevin blinzelte verwirrt, und sein Blick fiel, vom Spiel des Lichts angezogen, auf die angreifende Löwin. »Krankenstation?« wiederholte er.

»Matt ist auf der Krankenstation, Kev. Er war das ganze Wochenende dort. Ich hab eben in der Schule angerufen. Er ist überhaupt nicht zu den Morants gefahren. Er liegt krank auf der Station. Und der kleine Morant wußte nicht einmal, was er hat. Er hat ihn seit Freitag beim Mittagessen nicht mehr gesehen.«

»Und was willst du jetzt tun, Pats?« fragte Kevin, obwohl er genau wußte, wie die Antwort lauten würde. Aber er wollte einen Moment Zeit gewinnen, um zu überlegen, wie er sie am besten zurückhalten konnte.

»Mattie ist krank, Kev. Wer weiß, was ihm fehlt. Fährst du jetzt mit mir zur Schule oder willst du vielleicht den ganzen Tag hier rumstehen und diesem blöden Weibsbild die Hände auf den Schoß halten?«

Hastig zog Kevin seine Hände von dem anstößigen Körperteil seiner Skulptur und wischte sie an seiner Arbeitshose ab, wo sich der schmierige weiße Brei mit dem Schmutz und dem Staub mischte, die sich bereits an den Nähten festgesetzt hatten.

»Warte, Pats!« sagte er. »Überleg doch erst mal.«

»Was gibt’s da zu überlegen? Mattie ist krank. Er hat bestimmt Sehnsucht nach seiner Mutter.«

»Meinst du wirklich, Schatz?«

»Überleg, Pats«, sagte er wieder, in dem Bemühen, sie zu beschwichtigen. »Welcher Junge will schon, daß gleich die Mama angerannt kommt, wenn er eine Erkältung hat? Er geniert sich doch höchstens zu Tode, meinst du nicht, wenn du da angetanzt kommst, als wär er noch ein kleines Kind, dem du die Windeln wechseln mußt.«

»Soll das heißen, daß ich nichts tun soll?« Patsy drohte ihm mit der Handtasche, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Als ob mich das Wohlergehen unseres Jungen nicht interessierte?«

»Nein, das meinte ich nicht.«

»Was dann?«

Kevin faltete seinen Polierlappen zu einem sauberen, kleinen Quadrat. »Laß uns doch erst mal überlegen. Was hat die Schwester auf der Krankenstation gesagt? Was fehlt dem Jungen?«

Patsy senkte die Lider. Kevin wußte, was die Reaktion zu bedeuten hatte. Er lachte leise.

»Auf der Krankenstation ist immer eine Schwester, Patsy, und du hast nicht mit ihr gesprochen? Mattie hat sich die große Zehe angeschlagen, und Mama saust nach West Sussex, ohne vorher nachzufragen, was dem Jungen fehlt? Also hör mal, was ist denn in dich gefahren?«

Heiße Röte der Verlegenheit breitete sich von Patsys Hals zu ihrem Gesicht aus. »Ich ruf jetzt an«, sagte sie, so würdevoll ihr das möglich war, und ging in die Küche, um von dort aus zu telefonieren.

Kevin hörte, wie sie wählte. Einen Augenblick später vernahm er ihre Stimme. Dann hörte er, wie sie den Hörer fallenließ. Sie schrie einmal laut auf. Es war ein schrecklicher Schrei der Klage, ein flehentlicher Ruf nach ihm. Er warf seinen Lappen weg und rannte ins Haus.

Im ersten Moment glaubte er, Patsy hätte einen Anfall. Ihr Gesicht war grau, und die zusammengekniffenen Lippen schienen darauf hinzuweisen, daß sie mit äußerster Willenskraft Schmerzensschreie unterdrückte. Als sie beim Klang seiner Schritte den Blick hob, sah er wilde Verzweiflung in ihren Augen.

»Er ist nicht dort. Mattie ist verschwunden, Kevin. Er war nicht auf der Krankenstation. Er ist überhaupt nicht in der Schule.«

Kevin hatte Mühe, das Entsetzliche zu begreifen, das diese wenigen Worte beinhalteten. Er konnte nur Patsys Worte wiederholen. »Mattie – verschwunden?«

Sie schien wie erstarrt. »Seit Freitag mittag.«

Die ungeheure Zeitspanne von Freitag bis Sonntag füllte sich auf einen Schlag mit jenen unbeschreiblichen Bildern, denen sich alle Eltern ausgesetzt sehen, wenn sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß ihr Kind vermißt ist. Entführung, Vergewaltigung, religiöse Sekten, Kinderhandel, Sadismus, Mord. Patsy zitterte und würgte. Ihre Haut überzog sich mit einem Schweißfilm.

Kevin, der Angst hatte, sie würde ohnmächtig werden oder auf der Stelle tot umfallen, faßte sie bei den Schultern, um ihr den einzigen Trost zu spenden, der ihm zur Verfügung stand.

»Wir fahren sofort zur Schule, Patsy«, sagte er eindringlich. »Wir kümmern uns um unseren Jungen. Darauf kannst du dich verlassen. Wir fahren sofort los.«

»Mattie!« Es klang wie ein Stoßgebet.

Kevin versuchte sich einzureden, daß Gebete überflüssig seien, daß Matthew nur schwänze, daß es für seine Abwesenheit von der Schule eine simple Erklärung gebe, über die sie später einmal gemeinsam lachen würden. Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, begann Patsy heftig zu zittern und stieß noch einmal flehend den Namen ihres Sohnes aus. Kevin ertappte sich dabei, daß er wider alle Vernunft hoffte, es gebe irgendwo einen Gott, der seine Frau hörte.

 

Sergeant Barbara Havers von der Kriminalpolizei ging ihren Beitrag zu dem gemeinsamen Bericht ein letztes Mal durch und war zufrieden mit den Ergebnissen ihrer Wochenendarbeit. Sie klammerte die fünfzehn mühselig erarbeiteten Seiten zusammen, stand von ihrem Schreibtisch auf und machte sich auf die Suche nach ihrem unmittelbaren Vorgesetzten, Inspector Thomas Lynley.

Er war dort, wo sie ihn kurz vor Mittag an diesem Tag zurückgelassen hatte, allein in seinem Büro, den Kopf in die Hand gestützt, seine Aufmerksamkeit scheinbar auf seinen Teil des Berichts konzentriert, der vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet lag. Die Sonne des späten Sonntagnachmittags warf lange Schatten auf Wände und Boden, so daß es fast unmöglich war, ohne künstliches Licht zu lesen. Und da Lynley die Lesebrille bis zur Nasenspitze hinuntergerutscht war, trat Barbara leise ins Zimmer, gewiß, daß er eingeschlafen war.

Gewundert hätte es sie nicht. In den letzten zwei Monaten hatte Lynley mit seiner Gesundheit groben Raubbau getrieben. Seine beinahe ständige Anwesenheit im Yard – die zu ihrem Leidwesen im allgemeinen auch die ihre erforderlich machte – hatte ihm bei seinen Kollegen in der Abteilung den Spitznamen Mr. Immerda eingetragen.

»Marsch, nach Hause mit Ihnen, Freundchen«, pflegte Inspector MacPherson mit seiner dröhnenden Stimme zu sagen, wenn er ihm im Korridor, bei einer Besprechung oder in der Kantine begegnete. »Sie stellen uns andere ja als Faulpelze hin! Haben Sie’s so eilig, Superintendent zu werden? Gut werden Sie auf Ihren Lorbeeren schlafen, wenn Sie an Überarbeitung gestorben sind.«

Lynley pflegte auf seine ihm eigene herzliche Art zu lachen und der Frage nach dem Grund seines unermüdlichen Fleißes auszuweichen. Aber Barbara wußte, warum er bis spät in die Nacht hinein arbeitete, sich freiwillig für den Notdienst zur Verfügung stellte und auf die erste Bitte hin den Dienst für andere übernahm. Sie nahm die Ansichtskarte zur Hand, die fast am Rand seines Schreibtischs lag.

Sie war fünf Tage alt, reichlich mitgenommen von beschwerlicher Reise quer durch Europa vom Ionischen Meer nach England. Das Bild zeigte einen merkwürdigen Zug von Weihrauchschwenkern, Zepterträgern und goldgewandeten griechisch-orthodoxen Priestern mit wallenden Bärten, die eine von Edelsteinen funkelnde Sänfte trugen, deren Seitenwände aus Glas waren. Drinnen ruhte, den verhüllten Kopf an das Glas gelehnt, als schliefe er nur und wäre nicht schon seit über tausend Jahren tot, der heilige Spyridon, oder besser, seine sterbliche Hülle. Barbara drehte die Karte um und las unverfroren den Text, obwohl sie sich den Tenor des Geschriebenen auch so denken konnte.

»Tommy, mein Schatz – stell Dir vor, man würde Deine armen Gebeine viermal im Jahr so durch die Straßen von Korfu schleppen! Bei diesem Anblick fragt man sich wirklich, ob es sich lohnt, ein heiliges Leben zu führen, nicht? Es wird Dich freuen zu hören, daß ich der Förderung meiner Allgemeinbildung mit einem Besuch des Zeus-Tempels in Kassiope Rechnung getragen habe. Ich bin sicher, Du findest ein so ehrgeiziges Unterfangen lobenswert. H.«

Barbara wußte, daß dies die zehnte Karte dieser Art war, die Lynley in den letzten zwei Monaten von Lady Helen Clyde erhalten hatte. Eine war wie die andere, freundlicher und witziger Kommentar zu diesem oder jenem Aspekt griechischen Lebens, der Helen Clyde erheiterte, während sie das Land auf einer anscheinend endlosen Reise durchstreifte, die sie im Januar angetreten hatte, nur wenige Tage, nachdem Lynley sie gebeten hatte, seine Frau zu werden. Ihre Antwort war ein entschiedenes Nein gewesen, und die Ansichtskarten, die sie alle nach New Scotland Yard sandte und nicht an Lynleys Privatadresse, unterstrichen ihre Entschlossenheit, ungebunden zu bleiben.

Daß Lynley täglich, wenn nicht gar stündlich, an Helen Clyde dachte, daß er sie begehrte und liebte, das waren, wie Barbara wußte, die unausgesprochenen Gefühle hinter seiner nicht erlahmenden Bereitschaft, ohne Protest einen Fall nach dem anderen zu übernehmen. Alles war ihm recht, um den heulenden Wölfen der Einsamkeit zu entfliehen, um zu verhindern, daß der Schmerz eines Lebens ohne Helen sich in ihm festfraß wie ein giftiges Geschwür.

Barbara legte die Karte wieder hin, trat ein paar Schritte zurück und ließ ihren Berichtteil mit gekonntem Schwung in seinen Eingangskorb segeln. Der nachfolgende Luftzug, der sein Gesicht streifte, und das Rascheln seiner Papiere, die zu Boden flatterten, weckten ihn. Er fuhr hoch, quittierte die Tatsache, daß er im Schlaf ertappt worden war, mit einem entwaffnenden Lächeln, rieb sich das Genick und nahm seine Brille ab.

Barbara ließ sich seufzend in den Sessel neben seinem Schreibtisch fallen und fuhr sich so kräftig durch die kurzen Haare, daß sie hinterher wie die Borsten einer Bürste von ihrem Kopf abstanden. »Ach ja«, sagte sie, »die Schotten haben’s gut.«

Er unterdrückte ein Gähnen. »Die Schotten, Havers? Was um alles in der Welt –«

»Na, die sitzen doch direkt an der Quelle. Wenn ich an das köstliche Aroma denke...«

Lynley streckte seine langen Glieder und bückte sich, um seine Papiere aufzusammeln. »Ach, so ist das gemeint«, sagte er. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie heute Ihr gewohntes Quantum Alkohol noch nicht genossen haben, Sergeant?«

Sie lachte. »Gehen wir doch rüber ins King’s Arms, Inspector. Sie dürfen mich einladen. Zwei vom MacAllan, und wir singen beide ein Loblied auf Malz und Gerste. Das werden Sie sich doch nicht entgehen lassen wollen. Ich hab eine verdammt gute Altstimme, mit soviel Seele, daß es Ihnen die Tränen in die schönen braunen Augen treibt.«

Lynley polierte seine Brille, setzte sie auf und nahm sich ihre Arbeit vor. »Ich fühle mich hochgeehrt von Ihrer Einladung. Glauben Sie mir. Ihr Anerbieten, mir etwas vorzuträllern, rührt mich bis ins Herz, Havers. Aber es muß doch heute noch jemand hier sein, den Sie nicht so regelmäßig geschröpft haben wie mich. Wo ist Constable Nkata? Den habe ich heute nachmittag gar nicht im Haus gesehen.«

»Er mußte weg. Zu einem Fall.«

»Wie schade. Da haben Sie aber wirklich Pech. Ich habe Webberly nämlich diesen Bericht für morgen früh versprochen.«

Barbara spürte einen Anflug von Erbitterung. Er war ihrer Einladung äußerst geschickt ausgewichen. Aber sie hatte andere Waffen.

»Sie haben ihn Webberly zwar für morgen versprochen, Sir, aber wir wissen doch beide, daß er ihn frühestens nächste Woche braucht. Machen Sie endlich einen Punkt, Inspector. Finden Sie nicht, es wird langsam Zeit, daß Sie unter die Lebenden zurückkehren?«

»Havers.« Lynley machte keine Bewegung. Er hob nicht einmal den Kopf von den Schriftstücken in seiner Hand. Sein Ton war Warnung genug. Er zog die Grenze, und er stellte klar, wer der Vorgesetzte war. Barbara hatte lange genug mit ihm zusammengearbeitet, um zu wissen, was es bedeutete, wenn er ihren Namen mit so ausgesuchter Distanz aussprach: Zutritt verboten. Ihre Einmischung war nicht erwünscht und würde nicht ohne Kampf zugelassen werden.

Aber einen letzten Ausfall in die sorgsam gehüteten Regionen seines Privatlebens konnte sie sich nicht verkneifen.

Mit dem Kopf wies sie auf die Ansichtskarte. »Viel Hoffnung macht Ihnen die gute Helen ja nicht, wie?«

Mit einem Ruck hob er den Kopf. Er legte den Bericht weg. Aber das durchdringende Läuten des Telefons schnitt ihm die Antwort ab.

 

Eines der Mädchen, die im unfreundlichen, mit schwarzgrauem Marmor ausgelegten Foyer von New Scotland Yard am Empfang arbeiteten, war am Telefon, als Lynley abhob. Unten warte ein Besucher, erklärte sie mit ihrer nasalen Stimme ohne Umschweife. Ein gewisser John Corntel, der nach Inspector Asherton gefragt habe. Das sind doch Sie, oder? Fürchterlich, diese Leute, die sich keinen Namen richtig merken können. Sie mit Ihren vielen Namen und Titeln, schlimmer als die Königin persönlich. Eine Zumutung ist das, und von uns hier unten am Empfang wird erwartet, daß wir sie alle kennen und gleich wissen, wer gemeint ist, wenn ein alter Schulkamerad aufkreuzt und –

Lynley unterbrach den Klagegesang. »Corntel? Sergeant Havers kommt gleich hinunter.«

Er legte auf, als das Mädchen mit Märtyrerstimme fragte, wie er nächste Woche gern genannt werden würde. Vielleicht hätte er ja außer Lynley und Asherton noch einen verstaubten Familiennamen auf Lager, den er gern mal ein, zwei Monate ausprobieren würde?

Havers, die nach dem, was sie von dem Gespräch mitbekommen hatte, ihren nächsten Auftrag voraussah, war schon auf dem Weg zur Tür. Lynley sah ihr nach, eine rundliche Gestalt mit kurzen Beinen, und überlegte, was dieser unerwartete Besuch von Corntel zu bedeuten haben konnte.

Ein Geist aus der Vergangenheit. Sie waren zusammen in Eton gewesen. Corntel, einer der Besten, wie Lynley sich erinnerte, war unter den Schülern der Oberstufe eine beeindruckende Erscheinung gewesen; ein hochgewachsener, grüblerischer junger Mann, der immer etwas schwermütig wirkte, mit rabenschwarzem Haar und aristokratisch geschnittenen Gesichtszügen. Wie um den Erwartungen gerecht zu werden, die seine äußere Erscheinung hervorrief, hatte Corntel sich darauf vorbereitet, sein A-level in Literatur, Musik und Kunst abzulegen. Was nach Eton aus ihm geworden war, wußte Lynley nicht.

Dieses Bild John Corntels vor Augen, das Teil seiner eigenen Geschichte war, sah Lynley den Mann, der Sergeant Havers keine fünf Minuten später in sein Büro folgte, mit einiger Überraschung. Nur die Körpergröße war geblieben – gut über einen Meter achtzig groß, stand er Auge in Auge mit Lynley. Aber die gerade, selbstsichere Haltung des exzellenten Etonschülers, der sich seiner Qualitäten bewußt war, hatte sich völlig verloren. Die Schultern waren gekrümmt und nach vorn gezogen, als wolle er sich vor jeder Möglichkeit körperlichen Kontakts schützen. Und das war nicht die einzige Veränderung, die mit dem Mann vorgegangen war.

Statt der jugendlichen Locken trug er sein Haar jetzt sehr kurz geschnitten, und das glänzende Schwarz war von vorzeitigem Grau gesprenkelt. Das gutgeschnittene Gesicht, dessen Züge Sinnlichkeit und Intelligenz ausgedrückt hatten, war von einer fahlen Blässe, die an Krankenzimmer denken ließ, und die Haut spannte sich gummiartig über den Knochen. Die dunklen Augen waren blutunterlaufen.

Gewiß gab es eine Erklärung für die Veränderung, die John Corntel in den siebzehn Jahren, seit Lynley ihn zum letztenmal gesehen hatte, durchgemacht hatte. Kein Mensch veränderte sich ohne schwerwiegende Ursache auf so drastische Weise.

»Lynley. Asherton. Ich wußte nicht, welchen Namen ich angeben sollte«, sagte Corntel zaghaft. Aber die Zaghaftigkeit wirkte künstlich, vorherbedacht. Er bot Lynley die Hand. Sie war heiß und fühlte sich fiebrig an.

»Ich benutze den Titel selten. Einfach Lynley.«

»Ganz nützlich, so ein Titel. In der Schule nannten wir dich den wankelmütigen Vicomte. Woher kam das eigentlich? Ich erinnere mich nicht mehr.«

Lynley wollte keine Erinnerungen. Sie drohten verschlossene Türen zu sprengen. »Vicomte Vacennes.«

»Richtig. Der Zweittitel. Eine der Freuden, die man als ältester Sohn eines Earl genießt.«

»Allenfalls eine zweifelhafte Freude.«

»Vielleicht.«

Lynley beobachtete, wie Corntels Blick durch das Zimmer schweifte, von den Schränken und Regalen voller Bücher zum unordentlichen Schreibtisch und den beiden Bildern an der Wand, die Szenen aus dem amerikanischen Südwesten darstellten. Er blieb schließlich an dem einzigen Foto hängen, das im Zimmer stand, und Lynley wartete auf einen Kommentar. Corntel und Lynley waren beide mit Simon Allcourt-St. James zusammen in Eton gewesen, und da diese Fotografie von ihm mehr als dreizehn Jahre alt war, würde Corntel zweifellos das triumphierende Gesicht des wild zerzausten jungen Cricketspielers erkennen, der hier in zerrissener Hose, die Ärmel seines Pullovers über die Ellbogen hochgeschoben, einen Schmutzfleck auf dem Arm, in der ungetrübten, strahlenden Lebensfreude der Jugend eingefangen war. Auf seinen Cricketschläger gestützt, stand er da und lachte in reinem Entzücken. Drei Jahre danach hatte Lynley ihn zum Krüppel gefahren.

»St. James.« Corntel nickte. »Ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Lieber Gott, wie die Zeit vergeht.«

»Ja.« Lynley betrachtete den alten Schulkameraden aufmerksam, sah, wie sein Lächeln aufblitzte und wieder verschwand, wie seine Hände zu den Jackentaschen glitten und sie flachklopften, als wolle er sich des Vorhandenseins irgendeines Gegenstands vergewissern, den er vorzulegen beabsichtigte.

Sergeant Havers machte Licht, um die Schatten des späten Nachmittags zu vertreiben. Sie sah Lynley an. Bleiben oder gehen? fragte ihr Blick. Er wies mit dem Kopf auf einen der Sessel. Sie setzte sich, griff in ihre Hosentasche, zog eine Packung Zigaretten heraus.

»Rauchen Sie?« Sie bot Corntel die Packung an. »Der Inspector hat sich entschlossen, auch diesem Laster zu entsagen, und ich rauche nicht gern allein.«

Corntel schien überrascht, daß sie noch im Zimmer war; doch er nahm ihr Angebot dankend an und zog ein Feuerzeug heraus.

»Ja. Ich nehme gern eine. Danke.« Sein Blick schweifte zu Lynley und wieder weg. Er drehte die Zigarette in der Hand. Flüchtig biß er sich auf die Unterlippe. »Ich bin hergekommen, weil ich dich um deine Hilfe bitten möchte, Tommy«, sagte er hastig. »Ich hoffe, du kannst etwas tun. Ich bin in ernsten Schwierigkeiten.«