Thich Nhat Hanh
Von der heilenden Kraft der Achtsamkeit
Knaur eBooks
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011
unter dem Titel »Reconciliation« bei Parallax Press.
eBook-Ausgabe 2011
Knaur eBook
2011 The Plum Village Community of Engaged Buddhism Inc.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2011 O. W. Barth Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Gedicht »Das notleidende Kind« © Thich Nhat Hanh, Entdecke den Schatz in deinem Herzen. Übersetzung: Ursula Richard, Kösel-Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2011
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Image by © amanaimagesRF/amanaimages/Corbis
ISBN 978-3-426-41096-7
1
Ausführlicher beschrieben in Thich Nhat Hanh: Alles was du brauchst für dein Glück, Herder Verlag, Freiburg i.Br. 2010
2
Siehe Friedensnotiz am Ende des Buches
3
Dieser Ausspruch wird dem chinesischen Zen-Patriarchen Linji zugesprochen und bedeutet, dass wir unsere Vorstellung über jemanden oder etwas töten müssen, um der Wirklichkeit dieses Menschen oder dieser Sache direkt begegnen zu können.
4
Fügen Sie hier die Namen der Vorfahren ein, die für das Land, in dem Sie praktizieren, maßgebend und wichtig waren.
Überall im Kosmos gibt es kostbare Edelsteine.
Und sie sind auch in jedem von uns.
Ich möchte dir eine Handvoll davon schenken, lieber Freund.
Ja, heute Morgen möchte ich dir eine Handvoll schenken,
eine Handvoll Diamanten, funkelnd von morgens bis abends.
Jede Minute unseres täglichen Lebens ist ein Diamant,
der den Himmel und die Erde enthält, den Sonnenschein und den Fluss.
Wir müssen einfach nur sanft atmen, dann wird sich uns das Wunder zeigen:
Vögel singen, Blumen blühen.
Hier ist der blaue Himmel, hier treiben die weißen Wolken,
dein allerliebster Blick, dein schönes Lächeln.
All dies ist in einem Juwel enthalten.
Du bist der reichste Mensch auf Erden
und benimmst dich doch wie ein notleidender Sohn,
bitte tritt dein Erbe an.
Lass uns einander Glück schenken
und lernen, im gegenwärtigen Moment zu weilen.
Lass uns das Leben liebevoll in unseren Armen halten
und unsere Unachtsamkeit und Verzweiflung loslassen.
Thich Nhat Hanh
In jedem und jeder von uns ist ein kleines, leidendes Kind. Als Kinder haben wir fast alle schwierige Zeiten erlebt, und viele von uns haben Traumata erfahren. Wir versuchen oft, diese schmerzvollen Zeiten zu vergessen, weil wir uns vor künftigem Leid bewahren oder schützen wollen. Jedes Mal, wenn wir mit der Erfahrung dieses Leides in Berührung kommen, glauben wir, es nicht ertragen zu können, und wir verfrachten unsere Gefühle und Erinnerungen tief in unser Unbewusstes. Vielleicht haben wir es jahrzehntelang nicht gewagt, diesem Kind gegenüberzutreten.
Doch nur, weil wir dieses Kind ignoriert haben, bedeutet das nicht, dass es nicht da wäre. Das verwundete Kind ist immer da und sucht unsere Aufmerksamkeit. Das Kind sagt: »Ich bin hier. Ich bin hier. Du kannst mir nicht aus dem Weg gehen. Du kannst nicht vor mir davonlaufen.«
Wir wollen unserm Leiden dadurch ein Ende machen, dass wir das Kind ganz weit weg in unser Inneres schicken und uns selbst so weit entfernt wie möglich halten. Doch unser Leiden hört nicht dadurch auf, dass wir vor ihm davonlaufen, es verlängert sich nur.
Das verwundete Kind bittet um Fürsorge und Liebe, doch wir tun das Gegenteil. Wir laufen weg, weil wir Angst vor dem Leiden haben. Unser Schmerz und Kummer erscheinen uns schier überwältigend. Selbst wenn wir die Zeit dazu haben, kehren wir nicht zu uns nach Hause zurück. Wir sorgen dafür, dass wir ständig unterhalten werden – schauen Fernsehen oder Kinofilme, treffen uns mit anderen oder greifen zu Alkohol und anderen Drogen –, weil wir nicht wieder und wieder dieses Leiden erfahren wollen.
Das verwundete Kind ist da, und wir wissen es noch nicht einmal. Das verwundete Kind in uns ist Wirklichkeit, doch wir sehen es nicht. Diese Unfähigkeit zu sehen ist eine Art Ignoranz. Dieses Kind ist ernstlich verwundet worden. Es braucht unsere Zuwendung. Stattdessen wenden wir uns ab.
Ignoranz oder Unwissenheit ist in jeder Zelle unseres Körpers und unseres Bewusstseins – wie ein Tropfen Tinte, der sich in einem Glas Wasser verteilt hat. Die Ignoranz verhindert, dass wir die Wirklichkeit sehen, sie treibt uns dazu, törichte Dinge zu tun, die unser Leiden verstärken, und dies fügt dem verwundeten Kind in uns weitere Wunden zu.
Auch das verwundete Kind ist in jeder Zelle unseres Körpers. Es gibt keine Zelle unseres Körpers, in dem es das verwundete Kind nicht gäbe. Wir müssen gar nicht weit in die Vergangenheit zurückschauen, um dieses Kind zu finden. Wir müssen einzig tief genug schauen, und wir können mit ihm in Berührung sein. Das Leiden dieses verwundeten Kindes ist in uns genau jetzt im gegenwärtigen Moment.
Doch so, wie das Leiden in jeder Zelle unseres Körpers präsent ist, so sind es auch die Samen erwachten Verstehens und die Samen des Glücks, die uns von unseren Vorfahren weitergegeben wurden. Wir müssen sie nur nutzen. In uns ist eine Lampe, eine Lampe der Achtsamkeit, die wir jederzeit entzünden können. Das Öl der Lampe sind unser Atem, unsere Schritte und unser friedvolles Lächeln. Wir müssen die Lampe der Achtsamkeit entzünden, damit das Licht die Dunkelheit erhellen kann. Unsere Praxis besteht genau darin.
Wird uns bewusst, dass wir das verwundete Kind in uns vergessen haben, erwächst in uns großes Mitgefühl, und wir beginnen, die Energie der Achtsamkeit zu erzeugen. Die Übungen des achtsamen Gehens, achtsamen Sitzens und achtsamen Atmens sind Grundlage dafür. Mit unserem achtsamen Atem und den achtsamen Schritten können wir die Energie der Achtsamkeit schaffen und zu der erwachten Weisheit in jeder Zelle unseres Körpers zurückkehren. Diese Energie wird uns umfangen und heilen, und sie ist es, die das verwundete Kind ins uns heilt.
Wenn wir davon sprechen, mitfühlend zuzuhören, denken wir üblicherweise daran, dass wir jemand anderem zuhören. Doch wir müssen auch dem verwundeten Kind in uns zuhören. Manchmal braucht es all unsere Aufmerksamkeit. Dieses kleine Kind taucht vielleicht aus der Tiefe Ihres Bewusstseins auf und bittet um Ihre Aufmerksamkeit. Sind Sie achtsam, werden Sie seine Hilferufe hören können. In solchen Momenten sollten Sie das verwundete Kind zärtlich umarmen, statt weiter dem, was sie gerade beschäftigt, Aufmerksamkeit zu schenken. In einer Sprache der Liebe können Sie ganz direkt mit dem Kind sprechen und ihm sagen: »In der Vergangenheit habe ich dich allein gelassen, habe mich von dir abgewendet. Das tut mir sehr leid. Ich möchte dich umarmen.«
Sie können auch sagen: »Liebes, ich bin für dich da. Ich werde mich gut um dich kümmern. Ich weiß, wie sehr du leidest. Stets war ich so beschäftigt. Ich habe dich vernachlässigt, doch nun habe ich einen Weg gefunden, zu dir zurückzukehren.«
Vielleicht müssen Sie gemeinsam mit diesem Kind weinen. Sie können auch, wann immer Sie es brauchen, mit ihm zusammensitzen und atmen:
Einatmend wende ich mich meinem verwundeten Kind zu.
Ausatmend kümmere ich mich gut um mein verwundetes Kind.
Mehrmals am Tag sollten Sie zu Ihrem Kind sprechen. Nur dann ist Heilung möglich. Indem Sie es zärtlich im Arm halten, versichern Sie ihm, dass Sie es niemals mehr allein lassen werden. Das kleine Kind ist so lange Zeit allein gelassen worden. Darum müssen Sie mit der Übung sofort beginnen. Wenn Sie es jetzt nicht tun, wann dann?
Wenn Sie wissen, wie Sie wieder mit Ihrem Kind in Kontakt kommen und ihm jeden Tag für fünf oder zehn Minuten zuhören können, dann wird Heilung geschehen. Wenn Sie auf einen prächtigen Berg steigen, dann laden Sie Ihr Kind ein, mit Ihnen zu kommen. Betrachten Sie einen Sonnenuntergang, laden Sie es ein, ihn mit Ihnen zu genießen. Wenn Sie das für einige Wochen oder Monate tun, wird das verwundete Kind in Ihnen Heilung erfahren.
Mit etwas Übung können wir erkennen, dass nicht nur wir das verwundete Kind sind. Es repräsentiert möglicherweise viele Generationen. Unsere Mutter hat vielleicht ihr ganzes Leben lang Kummer gehabt. Unser Vater mag gelitten haben. Unter Umständen waren unsere Eltern nicht in der Lage, sich um das verwundete Kind in ihnen selbst zu kümmern. Wenn wir also das verwundete Kind in uns umarmen, umarmen wir gleichzeitig all die verwundeten Kinder vergangener Generationen. Diese Praxis ist nicht nur für uns, sondern für zahllose vorangegangene und zukünftige Generationen.
Unsere Vorfahren haben vielleicht gar nicht gewusst, wie sie sich um ihr inneres verwundetes Kind kümmern könnten, so dass sie es an uns weitergegeben haben. Unsere Übung besteht darin, diesen Kreislauf zu durchbrechen und zu beenden. Können wir unser verwundetes Kind heilen, befreien wir nicht nur uns selbst, sondern wir helfen damit, auch den zu befreien, der uns verletzt oder missbraucht hat. Dieser Mensch war vielleicht selbst ein Missbrauchsopfer. Es gibt Menschen, die lange Zeit mit ihrem inneren Kind praktiziert haben und die ihr Leiden haben lindern und Transformation erfahren können. Ihre Beziehungen zu Familie und zu Freundinnen und Freunden sind sehr viel müheloser geworden.
Wir leiden, weil wir noch nicht mit Verstehen und Mitgefühl in Berührung gekommen sind. Wenn wir die Energie der Achtsamkeit, des Verstehens und Mitgefühls für unser verwundetes Kind erzeugen können, werden wir weniger leiden. Durch Achtsamkeit werden Mitgefühl und Verstehen möglich, und wir sind in der Lage, anderen Menschen zu erlauben, uns zu lieben. Vorher haben wir möglicherweise allen und allem misstraut. Mitgefühl hilft uns, die Beziehungen und die Kommunikation zu anderen wiederherzustellen.
Die Menschen in unserem Umfeld, unsere Familie, Freundinnen und Freunde, haben vielleicht auch ein schwerverwundetes Kind in sich. Wenn wir es geschafft haben, uns selbst zu helfen, können wir auch ihnen helfen. Haben wir uns selbst heilen können, werden unsere Beziehungen zu anderen sehr viel angenehmer. In uns sind mehr Frieden und Liebe. Kümmern Sie sich gut um sich selbst! Ihr Körper braucht Sie; Ihre Gefühle brauchen Sie; Ihre Wahrnehmungen brauchen Sie. Das verwundete Kind in Ihnen braucht Sie. Ihr Leiden will von Ihnen anerkannt werden. Seien Sie da für all diese Aspekte. Üben Sie sich in achtsamem Gehen und achtsamem Atmen. Seien Sie achtsam in allem, was Sie tun, dann können Sie wirklich da sein, können wirklich lieben.