«Heute hat man den Eindruck, dass der Interviewer nicht hört, was gesagt wird. Es ist ihm gleich, weil er glaubt, das Aufnahmegerät würde alles hören. Er irrt sich. Denn er hört die Schläge des Herzens nicht, das Wertvollste an einem Gespräch.»
Gabriel García Márquez
Es heißt ja, die Menschen würden immer mehr reisen. Das glaube ich nicht. Ich würde sagen, das Gegenteil stimmt. Die Menschen fahren mehr weg, steigen häufiger ins Flugzeug, aber zum Reisen haben sie keine Zeit mehr. Deshalb wurde bekanntlich der Tourismus erfunden, die große Irritationsbeseitigungs-Industrie für den modernen Menschen.
Ich kann nachvollziehen, dass man in den Urlaub fährt und als oberstes Ziel Überraschungsminimierung ausruft. Ich mache solche Urlaube auch. Daran ist nichts verkehrt. Aber Reisen sind etwas anderes. Die Bedingung ist, wie angesprochen, dass man Zeit hat. Zeit schafft Nähe, und Nähe schafft Einblick. Manchmal auch Schrecken, wenn man mehr erfährt, als einem lieb ist. Aber wenn man sich fragt, wie manch tolle Dokumentation es schafft, dass Menschen sich öffnen, obwohl eine Kamera läuft – das Geheimnis ist immer Zeit. Erkenntnis ist eine Funktion der Zeit, erste Regel. Die andere Regel ist, dass der Antrieb für eine Reise stets Interesse sein sollte. Ich möchte wissen, wie ein anderes Leben ist. Damit geht es los, mit dieser Frage, der Rest ergibt sich. Hinfahren, fragen, zuhören, lernen, darum reise ich.
Darüber hinaus habe ich meine Beweggründe nie wirklich hinterfragt. Ich kann nicht sagen, warum ich sonst reise. «All die Reisen, wovor fliehst du?», hat mal eine Ex-Freundin gefragt. Tue ich das? Der große Cees Nooteboom glaubt, dass man reist, «um mit der fremden Bevölkerung» eins zu werden. Reisen sei die «Hebamme neuer Gedanken», sagt Alain de Botton. Ich kann nur sagen, dass mich Reisen glücklich macht. Es erfüllt mich. Von einem Urlaub kann ich enttäuscht sein, von einer Reise nicht. Es ist nicht mal so, dass ich mich zu Beginn immer auf eine Reise freue. Manchmal nervt mich der Gedanke, schon wieder loszufliegen und zu wissen, dass ich mich die nächsten Wochen von grausigem Zeug werde ernähren müssen, aber wenn ich einmal unterwegs bin, werde ich nie, wirklich nie enttäuscht. Selbst wenn es Reisen gibt, einige davon in diesem Buch, die ich nicht wiederholen würde, weil ich mittlerweile alt genug bin, um zu erkennen, dass sie lebensgefährlich sind.
Mit anderen Worten, auf die Frage, was dieses Buch ist, lautet meine Antwort: Es ist eine Sammlung meiner glücklichsten Momente.
Wie sich zeigen wird, ist Carlos, der keinen Nachnamen hat und vermutlich auch nicht Carlos heißt, genau der richtige Mann, wenn man etwas Unmögliches auf Kuba braucht. Genau das ist bei mir der Fall. Etwas Banales, das völlig unmöglich ist. Aber vielleicht der Reihe nach.
Carlos sitzt vor dem besseren der beiden Fischrestaurants Cojímars, einem kleinen Küstendorf, unweit von Havanna. Es ist ein schwüler Karibikmorgen. Der Wind kommt von Norden. Das Meer, auf das wir beide blicken, wirkt unruhig. Carlos nippt an seinem zweiten Cristal, seinem bevorzugten Frühstücksbier. Ihm gegenüber sitzt Rosita, die kräftig gebaute, ausgesprochen sympathische örtliche Puffmutter. Rosita strahlt, als sie mich sieht. Ich, Europäer, mittleres Alter, nicht in Begleitung einer Frau, sehe wie Kundschaft aus. Aber Rosita ist Profi, sie spricht mich nicht sofort an.
Carlos und Rosita, das muss man verstehen, sind Freunde und Konkurrenten. Beide warten auf Kunden, auf Einnahmen, also auf westliche Touristen, die etwas suchen, was nicht in den Hotelprospekten steht: junge Frauen, junge Männer, Marihuana, Koks, solche Dinge. Gerade ist keine gute Zeit. Nebensaison. Vor mir waren nur ein paar Radtouristen hier. Enge Trikots in Leuchtwestenfarben, dazu Helme und Räder, die wie Mondfahrzeuge aussehen. Carlos versteht diese Spinner nicht. Fliegen um die Welt, um den Urlaub schwitzend auf dem Fahrrad zu verbringen. Essen keinen Hummer, trinken keinen Rum, nehmen kein Taxi, machen keine Liebe. Leute, die kein Geld ausgeben. Als gäbe es davon auf Kuba nicht schon genug.
Ich kann anfangs nicht einschätzen, ob Carlos der Richtige ist. Dafür muss man eines wissen: Jedes Dorf auf Kuba, jede Straße in Havanna hat einen Carlos. Auf Kuba ist wie in jedem sozialistischen Land, das etwas auf sich hält, sehr vieles verboten: freie Wahlen, der Besitz zweier Handys, Streiks, der Privatimport von Zündkerzen und Druckerpatronen, die eigene Meinung und noch vieles mehr. Aber unmöglich, wirklich unmöglich ist deutlich weniger. Ganz gleich, was man in diesem Land braucht – wenn man es in Dollar bezahlen kann, findet sich meist jemand, der es besorgt. Ich bin mit der Zeit zu der Überzeugung gekommen, dass der Kapitalismus nirgendwo so gut funktioniert wie in sozialistischen Ländern. Und Leute wie Carlos, die es überall auf Kuba gibt, sind diejenigen, die all diese verbotenen Dinge besorgen können. Makler des Unmöglichen. Ich habe höchsten Respekt vor ihren Fähigkeiten.
Mein Carlos ist ein kleiner, drahtiger Mann mit blauer Schirmmütze und einer etwas zu engen Badehose. Er sieht aus wie ein Stenz, der seine besten Jahre hinter sich hat. Als er bemerkt, dass ich mich der Restaurantterrasse nähere, scheint er Witterung aufzunehmen. Die Jagd beginnt. Es ist einer der Reize Kubas. Du kannst als Europäer noch so plan- und initiativlos durch den Urlaub wanken, irgendwann kommt ein Kubaner und erfüllt Wünsche, von denen du nicht wusstest, dass du sie hast.
Carlos fängt unverfänglich an. Er fragt mich, woher ich komme, und freut sich, dass ich Spanisch spreche. Die zweite wichtige Frage, die er stellen muss: «Und, zum ersten Mal hier?» Ganz gleich, was, das erste Mal ist immer teurer. Noch so ein Gesetz. Bevor ich geantwortet habe, winkt er Rosita heran.
Carlos und Rosita sind routinierter im Smalltalk als jedes diplomatische Korps. Als klar ist, dass ich zwar Tourist, aber nicht völlig ahnungslos bin, kommen sie zum Punkt.
«Ich habe Freundinnen. Wie viele brauchst du?», fragt Carlos. «Zwei, drei, jung, alt, dick, dünn?» Und weil Carlos Dienstleister ist, fügt er hinzu, dass er seine Wohnung für «die Party» anbieten könne, dazu etwas Rum und Koks, und falls man Hilfe brauche «mit so vielen Damen», auch sonst gern zur Hand gehe. Filmen sei übrigens gar kein Problem. Dann habe man etwas für zu Hause.
Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihm zu sagen, dass ich etwas ganz anderes suche. Carlos redet immer weiter.
«Viagra», auch das kein Problem.
Wahnsinnig hilfsbereit, dieser Carlos, denke ich.
Die lächelnde Rosita, hundertdreißig Kilo kubanische Lebensfreude, würde die ihr eigene Dralligkeit anbieten und ebenfalls mitmachen, sagt sie.
«Ich will fischen», sage ich.
Rosita verdreht die Augen, sie sagt nichts, aber es ist klar, was sie denkt: Schon wieder so ein Hemingway-Idiot.
Das wichtigste Buch Kubas ist meiner Meinung nach nicht «Das Kommunistische Manifest». Das wichtigste Buch ist «Der alte Mann und das Meer». Hemingways grandioser Roman über den alten, hageren Fischer Santiago. Vierundachtzig Tage in Folge kehrt Santiago, der alte Mann, ohne Fang zurück. Dann schließlich, am fünfundachtzigsten Tag, fängt er einen riesigen Marlin im Golfstrom. 5,50 Meter lang. Doch auf dem Weg zurück zum Hafen und nach drei Tagen heroischen Kampfes verliert Santiago seinen Schwertfisch an die Haie.
Das Buch ist eines der schönsten Denkmäler, die je einem Verlierer gewidmet wurden. Bei der Veröffentlichung 1952 im «Life»-Magazin wurden in zwei Tagen fünf Millionen Exemplare verkauft. 1953 gewann Hemingway den Pulitzer-Preis für die Geschichte, ein Jahr darauf den Literaturnobelpreis. Sein bestes Werk, würde ich sagen. Es hat ihn unsterblich gemacht. Vor allem auf Kuba.
Hemingway lebte gut zwanzig Jahre auf der Insel, mit Unterbrechungen von 1938 bis 1961. Fidel Castro ließ Münzen mit Motiven aus dem Roman drucken. Hemingways alte Villa ist heute ein Museum. Es gibt nicht einen Touristen, der nach Havanna reist und nicht weiß, dass der Hochseefischer, Großwildjäger und Frauenheld seine Mojitos in der «Bodeguita del Medio» trank und die Daiquiris in der «Floridita». Die berühmteste Sauftour der Literaturgeschichte. Abend für Abend von Touristenarmeen, die sich durch Habana Vieja schieben, wiederholt.
Was nicht ganz so viele wissen, ist, was Hemingway vor dem allabendlichen Besäufnis in der «Bodeguita» und der «Floridita» so machte: fischen. Fast immer mit seinem Freund Gregorio Fuentes, einem Fischer aus Cojímar. Dieser ruhige, bescheidene Mann diente als Vorlage für «den alten Mann» in Hemingways Roman. Gregorio ist erst vor ein paar Jahren gestorben. Er saß in der «Terraza», dem anderen, mittlerweile sehr touristischen Restaurant Cojímars, und erzählte jedem die unglaubliche Geschichte seiner Freundschaft mit dem Nobelpreisträger. Carlos ist mit Gregorios Enkel befreundet. Er wohnt ein paar Häuser weiter. Nicht weit vom Hafen, der am Ende eines zugemüllten Strandes liegt.
Carlos schaut mich mitleidig an. Er hatte mit einer größeren Herausforderung gerechnet. Ein Angelausflug, das ist so leicht zu organisieren, es ist geradezu beleidigend trivial. Aber gut, auch da wird er eine Provision verdienen, wenn er mich an einen der staatlich zugelassenen Anbieter von Bootsausflügen verweist. Carlos bittet den Kellner um mehr Bier.
Er ahnt noch nicht, dass ich alles andere als ein einfacher Kunde bin. «Ich will hier fischen. In Cojímar, mit kubanischen Fischern. Nicht auf einem Touristenboot mit dicken Amerikanern, die fünfhundert Dollar am Tag zahlen. Ich will mit Kubanern fischen.»
Immer wieder kommen Leute ins winzige, verstaubte Cojímar, das praktisch nur aus einer breiten Straße besteht, die zum Meer führt, und wollen fischen. So wie Hemingway. So, wie sie es in «Der alte Mann und das Meer» gelesen haben.
Carlos schaut mich an. Rosita steht auf. Sie hat genug gehört. Wie immer dieses Gespräch endet, gevögelt wird offensichtlich nicht, also ist das alles für sie Zeitverschwendung.
«Das ist schwierig», sagt Carlos und schaut aufs Meer, wo einige Fischerboote zu sehen sind.
«Schwierig oder unmöglich?», frage ich.
Unmöglich, das Wort mag Carlos nicht. Er nimmt sein Handy und ruft einige Leute an. Carlos spricht eine seltsame Mischung aus kubanischem Spanisch, Miami-Englisch und mexikanischem Slang. Er ist erst seit gut einem Jahr wieder zurück. Mit achtzehn hat er Kuba verlassen, eine Weile in Florida gelebt und in der «dortigen kubanischen Logistikbranche» gearbeitet, was nicht bedeutet, dass er Lkw fuhr. Vielmehr erklärt es, warum er problemlos «Partyzubehör in Pulverform» organisieren kann. Die letzten Jahre war er in Mexiko. Acapulco, um genau zu sein. Er hat dort eine Wohnung, kann aber derzeit nicht zurück, aus Gründen, die nichts zur Sache tun, wie er findet. Nur so viel: Er wurde von einem amerikanischen Geländewagen über den Haufen gefahren, als er mit seinem Mofa vor der Ampel stand. Reiner Zufall, schwört Carlos. Er habe nichts gemacht. Nur auf Grün gewartet. Er hat dann überstürzt das Land verlassen. Verrückt, dieses Mexiko.
Carlos legt das Handy weg. «Es geht nicht», sagt er schließlich.
Jeder in Cojímar weiß, warum das nicht geht. Man kann hier als Tourist nicht zum Fischen aufs Meer rausfahren. Es gibt zwei Gründe dafür. Der erste: Es ist verboten. Normalerweise nehmen Kubaner Verbote ungefähr so ernst wie die Fünfjahrespläne der Inselregierung. Also gar nicht. Wenn es aber um Touristen auf kubanischen Booten geht, ist das anders. Als Nicht-Kubaner darf ich nur mit staatlichen Anbietern aufs Meer fahren. Ich könnte in Miramar, dem Nobelviertel Havannas, in der Marina Hemingway, dem weitläufigen wie ziemlich leeren Yachthafen, eine Crew samt Boot mieten. Fünfhundert Dollar pro Tag, Mojitos und Sonnenbrand inklusive. Das ist, was mir Carlos vorschlagen wollte. Diese Möglichkeit hätte ich auch in den Touristenfallen Varadero und Cayo Coco. Organisierte Fischreisen auf Kuba gibt es viele. Es gibt sehr gute Anbieter, phantastische Fischgründe, und wenn man im Dezember kommt, ist nicht mal ausgeschlossen, einen Marlin zu fangen. Wie der alte Mann im Roman.
Der zweite Grund ist entscheidend: Die kubanische Regierung kontrolliert das Verbot. Sehr, sehr genau, sonst nicht wirklich ihre Art. In diesem Fall aber verständlich. Vereinfacht könnte man sagen, dass Kuba und Boote nicht sonderlich gut zusammengehen. Gewissermaßen historisch. Jahr für Jahr haben in der Vergangenheit Zehntausende Kubaner die Insel verlassen. Die meisten Richtung USA. Ziemlich genau 97 Meilen von Cojímar entfernt liegt Florida. Generationen von Kubanern haben mit allem, was auch nur ansatzweiße schwimmt, die Flucht versucht. Flöße, Schwimmreifen, mit Bauschaum isolierte Kühlschränke, 59er Chevys mit Schiffsschrauben. Die Behörden haben über Jahre versucht, die Flucht zu stoppen. Eine offene Wunde für Kubas Regierung. Kubaner waren bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um die Insel zu verlassen. Anders ausgedrückt: Es ist einfach eine verdammt schlechte Idee, auf Kuba nach einem illegalen Bootstransport zu fragen. Regierungsbeamte verstehen in diesem Punkt keinen Spaß.
Rosita, die sich wieder zu uns gesetzt hat, nimmt noch mal Anlauf, sie will noch nicht aufgeben. «Ich habe wunderschöne Freundinnen», säuselt sie und legt mir sanft die Hand auf den Oberschenkel. Carlos, der ins Reden kommt, hat das Gefühl, dass man jemandem, der so einen Unfug verlangt, vielleicht sogar ein Apartment verkaufen könnte.
«Meine Wohnung mit Meerblick für fünfzehntausend Dollar. Heute unterschrieben, morgen gehört sie dir.»
Er vergisst zu erwähnen, dass kubanische Gesetze es Ausländern faktisch unmöglich machen, Immobilien zu kaufen.
«Ich will fischen. In Cojímar. Mit Fischern aus Cojímar.» Dann sage ich den Satz, der die Dinge immer leichter macht. «Geld ist kein Problem.»
Carlos stellt das Bier weg. Der Satz liegt in der Luft. «Morgen, hier um zehn Uhr», sagt er irgendwann.
Er wird am Ende zwei Treffen benötigen. Beim ersten Mal, am nächsten Tag, wird er überrascht sein, dass ich wirklich zum besagten Termin komme. Sein Apartment bietet er mir trotzdem noch mal an. Für zehntausend Euro. Nachdem ich erneut ablehne und wiederhole, dass ich nur am Fischen mit einem Fischer aus Cojímar interessiert bin, schickt er mich weg. Auch das zweite Treffen kurz darauf ist nur Carlos’ Versuch, mich umzustimmen. Ich biete ihm ein paar hundert Euro an. Sehr viel Geld auf Kuba, aber billiger als der Trip mit dem offiziellen Anbieter.
Einen weiteren Tag später ruft mich Carlos an. Er hat das richtige Telefonat geführt. Ich soll wieder nach Cojímar fahren und dort jemanden unweit der Restaurantterrasse treffen.
«Hallo, ich bin Pedro, ich bin Fischer in Cojímar», sagt ein Mann mit graumelierten Haaren und einem freundlichen Lächeln. Pedro ist fünfzig Jahre alt, Carlos hat ihn lange überreden müssen. Für rund zweihundert Dollar und eine Flasche Whiskey hat er zugesagt. Davon bezahlt Pedro den Schiffsdiesel, seinen Partner José, mit dem er jeden Morgen rausfährt, und den Hafenchef, der «offiziell» von dem Ausflug nie gehört hat.
Carlos hat einen Traktor mit einem Anhänger organisiert, der sonst für den Viehtransport genutzt wird. Ich bin nicht alleine gekommen, sondern habe meinen besten Freund mitgebracht, Mirco, ein Fotograf. Wir müssen uns ducken und werden damit in das Hafengelände gefahren. Das Areal ist nicht sehr groß, etwa so wie ein Fußballplatz. Am Eingangsgebäude prangt ein großes Gemälde. Darauf Kubas berühmteste Maskottchen: Fidel Castro und Ernest Hemingway.
Pedro führt uns über das Hafengelände. Die Anlage muss schon zu Hemingways Zeiten so ausgesehen haben. Die ausgebauten Schiffsmotoren sind uralt, von den kleinen Holzhäuschen blättert die Farbe, die Stege am Ufer, offenbar von purem Optimismus zusammengehalten, sind aus verrotteten Planken. Die Boote liegen aufgereiht an einem kleinen Kanal, der zur Hafenbucht führt.
Pedros Boot ist erstaunlich groß. Dreißig, fünfunddreißig Fuß. Er bittet uns an Bord und versteckt uns unter Deck, damit der Hafenmeister, der ja weiß, dass wir da sind, wenigstens schwören kann, nie einen Touristen auf dem Boot gesehen zu haben. Langsam fährt das Boot aus der Bucht. Auf dem Meer kommt Pedro nach unten und sagt: «Bitte sag mir nicht, dass du nach Florida willst.»
Es ist ein Scherz, aber erst gestern sei ein Häftling in Havanna aus dem Gefängnis ausgebrochen. Die Polizei war am Morgen am Hafen, weil sie fürchtete, dass er einen Fischer entführen könnte, um sich nach Florida abzusetzen.
«Früher durchaus passiert», sagt Carlos.
Pedro ist einer dieser Männer, die an Land immer ein bisschen ruhiger sind als auf dem Meer. Er ist gern Fischer. Für nichts auf der Welt würde er die Insel verlassen. Nicht mal für Amerika. «Ich bin glücklich», sagt er und nimmt einen kräftigen Schluck Whiskey.
Mittlerweile hat sich auch bei einigen Kubanern herumgesprochen, dass Amerikas Glücksversprechen Schranken kennt. Was will man mit einem SUV und kiloweise Fertigpizzas, wenn man sich das Herzmittel für die kranke Tochter nicht leisten kann? Was ist Luxus? Kabellose Kopfhörer oder eine Physiotherapie nach einer Verletzung, auf die jeder Kubaner zumindest ein Anrecht hat?
Pedro kennt viele, die gegangen sind. Er wollte das nie, seinen Traum konnte er auch hier verwirklichen. Da er kein Geld für ein Boot hatte, fuhr er fast zwanzig Jahre lang jeden Morgen mit einem kleinen Netz und einer Angel auf einem großen Schwimmreifen aufs Meer hinaus. Man muss nur ein paar Kilometer von Havanna Richtung Westen fahren. Dort sieht man diese Männer immer noch. Ein paar hundert Meter vor der Küste. Dutzende Fischer ohne Boot. Männer, die auf einem Lkw-Reifen sitzen und eine Angel ins Wasser halten. Sie sehen aus der Ferne wie Vögel aus, die im Meer treiben.
Anfangs reichte es gerade mal fürs Überleben, sagt Pedro. Kubaner essen lieber Fleisch als Fisch. Als aber die Sowjetunion zusammenbrach und die sozialistische Bruderhilfe für Kuba auslief, kollabierte auch die kubanische Wirtschaft. Das war schlecht für die Insel, aber für Pedro die Chance seines Lebens. «Es waren die besten Jahre.» Pedro verkaufte massenweise Fisch. Die Lebensmittel wurden knapp auf Kuba, Fleisch wurde rationiert. Pedro konnte seinen Fisch deutlich teurer verkaufen als früher. Hinzu kam, dass immer mehr Privatrestaurants für Touristen öffneten. Spanier, Italiener, Franzosen aßen gern Fisch, und die Köche der neuen Restaurants bezahlten für gute Qualität in Devisen. «Irgendwann sah ich ein Boot, das in Frage kam», sagt Pedro. Er hatte genug Geld zusammen und kaufte es. Er angelte nicht mehr, er fischte. Wieder zehn Jahre später konnte er sich das große Boot leisten, in dem ich jetzt sitze. Es ist uralt, müsste gestrichen werden. Es leckt ein wenig, und der Motor läuft unrund. Er steckte mal in einem japanischen Laster. Aber Pedro hat ihn schon so oft auseinandergenommen, dass er ihn auch in einem Sturm reparieren könnte.
Pedro ist ein lustiger, geselliger Kerl, und weil eine Sturmfront im Norden es nicht erlaubt, wirklich weit rauszufahren, fragt er per Funk einen Kollegen, ob er nicht etwas von seinem Fang «rüberwerfen» könnte. So könnte ich wenigstens behaupten, etwas gefangen zu haben.
Ich mache Fotos. Es gibt ein Bild von mir auf Pedros Boot, hinter mir Cojímar. Ein Kuba-Motiv, das nicht viele haben.
Es ist ein schöner Tag, den wir gemeinsam verbringen. Die Whiskey-Flasche ist schnell geleert, Pedro holt noch irgendwas Kubanisches raus, das ich in Deutschland zum Desinfizieren von Wunden nutzen würde. Wir trinken weiter, Pedro erzählt von der Marlin-Saison. Eigentlich machen wir nichts Besonderes. Männer auf einem Boot, die reden. Ich fange an, mich über Carlos’ bunte Badehose lustig zu machen. Er habe auf der Terrasse wie ein Triebtäter ausgesehen, Pedro lacht, Carlos erwidert, dass er, anders als ich, wenigstens nicht wie ein Mädchen trinken würde. Pedro erzählt von den Spinnern, die in alten, mit Styropor isolierten Badewannen versucht hätten, nach Florida zu gelangen, dann erzählt er von den Fischen, die er aus dem Wasser zieht, sie werden immer größer, je länger er redet. Es sind keine tiefgreifenden Gespräche, wir reden einfach über die Welt, sind albern. Ich spüre die Wirkung des Alkohols.
Ich habe Hemingways Faszination fürs Fischen nie geteilt. Angeblich verliebte er sich in Vigo, in Nordspanien, in die Thunfischjagd. Er sah einen riesigen Fisch am Haken und wollte wissen, wie man so ein Monster aus dem Wasser zieht. Mehrere Meter lang, mehrere Zentner schwer. Als er erfuhr, dass ein einzelner Mann so ein Tier aus dem Wasser ziehen kann, war es um Hemingway geschehen, denn natürlich war es nicht die Besinnlichkeit des Angelns, die ihn reizte. Ihm gefiel der Kampf zwischen Mensch und Tier. Das zähe Ringen, wenn man einen großen Brocken am Haken hat und nicht weiß, wer am Ende aufgeben wird: Fisch, Angler oder Leine. Im «Toronto Star Weekly» schrieb er: «Es ist rückenzerstörende, sehnenspannende Männerarbeit, selbst mit einer Rute, die wie ein Hacke-Griff aussieht. Aber wenn du nach einem sechsstündigen Kampf einen großen Thunfisch landest, nach einem Kampf ‹Mann gegen Fisch›, deine Muskeln von der unaufhörlichen Belastung schwach geworden, und du bringst ihn schließlich neben das Boot, grünblau und silber im ruhigen Ozean, wirst du gereinigt sein und in der Lage sein, unverfroren in die Gegenwart der alten Götter einzutreten, und sie werden dich willkommen heißen.»
Ich glaube, dass Hemingway ein Mann war, der einfach nicht wusste, wohin mit dem ganzen Testosteron. Er liebte den Stierkampf in Spanien, die Ballerei in Afrika, den Krieg in Europa. Er konnte nicht einfach nur angeln, er musste sich genau die Disziplin suchen, das Hochseeangeln, in der Angeln zum Zweikampf wird. Mann gegen Tier.
Mir ist das alles fremd. Die Fische haben mir nichts getan. Aber ich liebe Hemingways Bücher, gerade «Der alte Mann und das Meer», und mir gefällt die Idee, dass vor vielen Jahren Hemingway genau an dieser Stelle, wo ich jetzt bin, mit seinem Freund Gregorio Fuentes aufs Meer fuhr. Gregorio, ein gebürtiger Spanier, war Analphabet, er hat das Buch nie gelesen, aber es war auch nicht nötig. Hemingway und er verbrachten viele Tage auf See, redeten, tranken und fühlten sich frei. So wie ich mit Pedro, José, Carlos und Mirco gerade. Ein Journalist und ein Fotograf aus Deutschland, zwei Fischer und Carlos, von dem ich überhaupt nicht genau wissen will, womit er sein Geld verdient. Uns verbindet nichts. Es spielt keine Rolle. Auch sie werden nie einen Text von mir lesen, und es könnte nicht unwichtiger sein. Wir schauen aufs Meer und fühlen uns frei. Ich für meinen Teil bin ziemlich betrunken.
Pedro posiert jetzt mit den Fischen. Mirco macht Fotos. Carlos, der Makler des Unmöglichen, hat für seine Verhältnisse kaum gesprochen. Er hatte lange auf Pedro geschaut, als der von seinem Traum erzählte, davon, wie er sich langsam hochgearbeitet hat.
Carlos ist in Cojímar aufgewachsen und wollte immer nur weg. Nach Amerika. Auch er hatte einen Traum. Mittlerweile ist er wieder da und schlägt sich mit halbseidenen Geschäften durch. Die beiden Leben könnten kaum unterschiedlicher sein.
«Mein Vater war Fischer», sagt er schließlich, «er hat immer gesagt, dass es der beste Beruf der Welt sei. Ich habe ihm nie geglaubt.»