The Town and the City

Die kleine Stadt heißt Galloway. Der Merrimac River, breit und ruhig, fließt von den Hügeln New Hampshires zu ihr herunter, macht sich nach dem Wasserfall schäumend über die Felsen her, schäumt weiter über uraltes Gestein bis zu der Stelle, wo der Fluß plötzlich in einem weiten friedlichen See zu einem großen Bogen ansetzt und dann um die Flanke der Stadt herum weiterfließt, durch Städte wie Lawrence und Haverhill, durch ein bewaldetes Tal und weiter zum Meer bei Plum Island, wo der Fluß sich in unendliche Gewässer ergießt und verschwindet. Irgendwo im Norden von Galloway, in einem fernen Quellgebiet nahe der kanadischen Grenze, wird der Fluß immerfort aus endlosen Brunnen und unergründlichen Quellen bis zum Überschäumen gespeist.

Die kleinen Kinder von Galloway sitzen an den Ufern des Merrimac und denken über diese Tatsachen und Geheimnisse nach. In der wilden widerhallenden nebligen Märznacht kniet der kleine Mickey Martin an seinem Schlafzimmerfenster und horcht auf das Rauschen des Flusses, das ferne Bellen von Hunden, das monotone

Die Erwachsenen von Galloway sind weniger mit Grübeleien am Flußufer beschäftigt. Sie arbeiten – in Fabriken, in Betrieben und Läden und Büros und auf all den Farmen in der Gegend. Die Textilfabriken, massive Backsteinbauten mit zierlichen Türmchen, drängen sich am Fluß und an den Kanälen, und die ganze Nacht herrscht in ihnen ein reges Leben. Das ist Galloway, Fabrikstadt inmitten von Feldern und Wäldern.

Wer bei Nacht in den Wald geht, der Galloway umgibt, und sich auf eine Anhöhe stellt, der sieht das alles in einem weiten Panorama vor sich: den Fluß, der im Bogen gemächlich dahinfließt, die Spinnereien mit den langen Reihen hell erleuchteter Fenster, die Fabrikschornsteine, die höher aufragen als die Kirchtürme. Aber er weiß, das ist nicht das wahre Galloway. Irgend etwas in der unsichtbaren brütenden Landschaft rings um die Stadt, irgend etwas in den hellen Sternen dicht über der Anhöhe, wo der alte Friedhof schläft, irgend etwas in den sanft rauschenden Blättern über den Feldern und Steinwällen erzählt ihm eine andere Geschichte.

Er sieht sich die Namen in dem alten Friedhof an: «Williams … Thompson … LaPlanche … Smith … McCarthy … Tsotakos.» Er ahnt das langsame tiefe Pulsieren des Lebensstromes. Ein Hund bellt auf einer Farm, keine zwei Kilometer entfernt, der Wind flüstert über den alten Steinen und in den Bäumen. Hier berichten die Inschriften von langem, langsamem Leben und lange erinnertem Tod. John L. McCarthy, in Erinnerung

Wenn dich die Lebenden interessieren, dann geh den Abhang hinunter auf die ruhigen Straßen und Häuser der Vororte Galloways zu – du wirst das ewig gleichbleibende Rauschen des Flusses hören –, geh weiter unter den dichtbelaubten Bäumen, den Straßenlaternen, vorbei an den grasgrünen Vorgärten und dunklen Veranden, den Zäunen aus Holz. Irgendwo am Ende der Straße wird es heller, und du kommst zu Kreuzungen, die zu den drei Brücken Galloways führen und damit ins eigentliche Herz der Stadt und in den Schatten der Fabrikmauern. So kommst du dann in die Mitte der Stadt, zum Square, wo um die Mittagszeit jeder jeden kennt. Blick jetzt um dich, und du siehst die geschäftige Stadt verlassen in der gespenstischen Mitternachtsstunde: den Kramladen, die drei Kaufhäuser, die Lebensmittelgeschäfte und Eisstände und Drugstores, die Kneipen, die Kinos, die Stadthalle, den Tanzschuppen, die Billardlokale, das

Warte erst mal, bis der Morgen kommt und die Immobilienbüros zum Leben erwachen und die Rechtsanwälte die Jalousien hochlassen und das Sonnenlicht die staubigen Büros überflutet. Sieh diese Männer an Fenstern stehen, auf denen ihre Namen in Goldbuchstaben prangen; sieh nur, wie sie ihren Mitbürgern zunicken, die unten auf der Straße vorbeigehen. Warte erst mal, bis die Busse ankommen, voll besetzt mit Arbeitern, die nun hustend und finster dreinblickend der Cafeteria zustreben, um rasch noch eine Tasse Kaffee zu trinken. Der Verkehrspolizist stellt sich mitten auf den Square und nickt einem Autofahrer zu, der ihn gutgelaunt anhupt; ein allseits bekannter Politiker überquert die Straße, das Sonnenlicht auf den weißen Haaren; der Kolumnist von der Lokalzeitung kommt verschlafen in den Zigarrenladen und begrüßt den Verkäufer. Hier sind ein paar Farmer, die mit ihren kleinen Lastwagen gekommen sind, um sich mit Vorräten und Lebensmitteln einzudecken und ihre Geschäfte abzuwickeln. Um zehn kommen die Scharen der Frauen, mit Einkaufstaschen und mit ihren Kindern im Schlepptau. Die Kneipen machen auf, Männer kippen ein Morgenbier, der Barkeeper wischt die Theke ab, es riecht nach sauberer Seife, Bier, altem Holz und Zigarrenrauch. Am Bahnhof schnaubt der Schnellzug, der nach Boston runterfährt, und er bläst seine Dampfwolken um die alten braunen Türmchen des Bahnhofsgebäudes, die Bahnschranken senken sich majestätisch, während die Glocke bimmelt und lärmt, Leute spurten zum Zug nach Boston. Es ist Morgen geworden, und Galloway erwacht zum Leben.

Das sind die Dinge, die Galloways Fabriken und Geschäfte dicht umgeben; sie machen aus Galloway einen Ort, der im uralten Puls des Lebens und der Arbeit und des Todes in der Erde wurzelt, und sie machen aus seinen Bewohnern Bürger einer Kleinstadt und nicht Großstadtmenschen.

 

Brich am sonnigen Nachmittag in der Stadtmitte auf, am Daley Square, und geh die River Street rauf, wo der ganze Verkehr zusammenläuft, vorbei an der Bank, an der Galloway High School und dem Gebäude des YMCA, und geh immer weiter, bis die ersten Wohnhäuser auftauchen. Hast du die Innenstadt hinter dir und blickst zurück, sind die großen Fabrikmauern links und rechts davon kaum noch zu sehen. Den Fluß entlang führt eine ruhige Straße mit ein paar stillen Bestattungsinstituten, einem Waisenhaus, herrschaftlich wirkenden Backsteinhäusern und den Brücken, die den Fluß überspringen und hinüber in die Vororte führen, wo die meisten Bewohner Galloways zu Hause sind. Geh über die Brücke, die sich genau beim Wasserfall über den Merrimac schwingt und als White Bridge bekannt ist, und bleib einen Augenblick stehen, um in die Runde zu blicken. Stadtwärts siehst du noch eine Brücke, die ausgedehnte schimmernde Wasserfläche, wo der Fluß einen Bogen beschreibt, und dahinter in

Es ist die alte Galloway Road. Genau dort wo sie ansteigt und gleich wieder hinabführt, hinein in Tannenwälder und Ackerland, liegt eine Zusammenballung von Häusern, friedfertig voneinander abgesetzt – eine Villa aus efeuumrankten Mauern, das Haus eines Richters; ein getünchtes altes Haus mit runden Holzsäulen auf der Veranda – das ist eine Meierei, auf der Weide im Hintergrund sind Kühe; und ein weiträumiges viktorianisches Haus in schäbigem Grau, ringsum von einer hohen Baumhecke eingeschlossen, gewaltige und dichtbelaubte Bäume, die die Vorderseite des Hauses fast ganz verdecken, eine Hängematte auf der alten Veranda und hinter dem Haus ein ungepflegter Hof mit einer Garage und einem Schuppen und einer alten Holzschaukel.

In diesem Haus wohnt die Familie Martin.

Von der höchsten Ulme vor dem Haus – das können

Dieses Haus hatte es George Martin besonders angetan, als er 1915 erwog, es zu mieten. Er lebte damals als junger Versicherungsvertreter mit seiner Frau und einer Tochter in einer Wohnung in der Stadt.

«Bei Gott, das ist es», hatte er zu seiner Frau Marguerite gesagt. «Genau das hat mir der Doktor verschrieben!»

Und alsbald machte er sich in dem großen weiträumigen Haus daran, in den nächsten zwanzig Jahren – in Zusammenarbeit mit Mrs. Martin – acht weitere Kinder zu zeugen; drei Töchter und sechs Söhne waren es schließlich.

 

George Martin hatte eine Druckerei aufgemacht und war in der Stadt zu einem sehr erfolgreichen Mann geworden, anfangs als Akzidenzdrucker und später als Drucker und Verleger kleiner politischer Zeitungen, die hauptsächlich in Drehsesseln im Rathaus und in den Zigarrenläden gelesen wurden. Er war ein düster dreinschauender, oft gedankenverlorener, sehr männlich wirkender Mann, jovial, sehr freigebig mit seinem Mitgefühl, ein Mann, der plötzlich in dröhnendes, rauhes Gelächter ausbrechen oder ebensogut sentimental werden und feuchte Augen bekommen konnte. Er runzelte in einer Art grimmiger

Als junger Mann war er aus Lacoshua, einem Landstädtchen in den Bergen New Hampshires, heruntergekommen, um nach der Arbeit in den Sägewerken nun sein Glück in der Stadt zu versuchen.

Im Lauf der Jahre gab seine Familie dem alten grauen Haus und seiner Umgebung einen eigenen Charakter; überall spiegelte sich ihre unbeschwerte Einfachheit, Unbekümmertheit und Fröhlichkeit. Es war ein Haus, das von allerlei Geräuschen und Gesprächen erfüllt war, von Musik und Hammerschlägen und lauten Rufen auf der Treppe. Am Abend, wenn die Familie ihren zahllosen Beschäftigungen nachging, waren fast alle Fenster erleuchtet. In der Garage standen ein neuer und ein alter Wagen, in dem alten Schuppen häufte sich all der Krimskrams, den nur eine amerikanische Familie mit vielen Jungen über die Jahre ansammeln kann, und geradezu bewundernswert waren das Durcheinander und die Vielfalt all der Gegenstände im Speicher.

Wenn die ganze Familie zur Ruhe gekommen war und schlief, wenn nachts ein paar Schritte vom Haus weg die Straßenlaterne leuchtete und die grotesken Schatten der Bäume auf das Haus warf, wenn der Fluß irgendwo im Dunkeln seufzte, wenn in der Ferne stromaufwärts die nach Montreal fahrenden Züge tuteten, wenn der Wind im weichen Laub der Bäume flüsterte und irgend etwas gegen den alten Schuppen klopfte und klapperte – dann

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Jedes Mitglied der in diesem Haus wohnenden Familie ist in seine eigene Vision vom Leben verstrickt und grübelt mit der Klugheit, die ihm die eigene Seele gibt, über alles nach. Mit dem Familienstempel, der irgendwie ihrem Leben aufgedrückt ist, kommen sie alle umhegt und zornig als Martins in die Welt, lauter energische, tatkräftige, ernste und nachdenkliche Leute, plötzlich voller Angst und Schwermut, plötzlich laut hinauslachend und fröhlich, naiv und listig, gedankenvoll oft und ebensooft maßlos erregt – alles starke und in der Familie verwurzelte und pfiffige Leute.

Sieh sie dir nacheinander an, die Kleinen, wie sie Eindrücke von der sie umgebenden Welt in sich aufnehmen, als erwarteten sie, ewig zu leben, bis hin zu den älteren Familienmitgliedern, die überall und jeden Tag die Bestätigung finden, daß das Leben genauso verläuft, wie sie es sich schon immer vorgestellt haben. Sieh dir alle an, wie sie ihre Tage verleben, die derb-überschwenglichen Tage, die Tage des Feierns und die Tage tiefer Betrübtheit.

Vater Martin ist ein Mann mit hundert intensiven Beschäftigungen: er leitet seine Druckerei, hält eine Linotype und eine Presse in Gang und führt die Bücher.

Sonntags muß er unbedingt in seinem Plymouth spazierenfahren, und er nimmt einen guten Teil seiner Familie mit, sofern sie mitkommen wollen. Er fährt kreuz und quer durch Neuengland, erforscht die White Mountains, die alten Städte an der Küste und im Landesinnern, er will überall anhalten, wo gutes Essen oder gute Eiscreme

Mutter Martin ist eine großartige Hausfrau, ihrem Mann zufolge «die beste Köchin in der ganzen Stadt». Sie bäckt Kuchen, brät mächtige Stücke vom Rind und Lamm und Schwein, hält ihren Eisschrank immer randvoll, fegt die Fußböden und wäscht Kleider und tut alles, was die Mutter einer großen Familie zu tun hat. Wenn sie einmal Pause macht und sich hinsetzt, hat sie sofort ihr Kartenspiel in der Hand, mischt die Karten, späht über den Rand ihrer Brille hinaus und blickt in die Zukunft, sieht glückliche Tage, ahnt Schicksalsschläge, hat Vorahnungen der unterschiedlichsten Art und Größe. Sie sitzt mit ihrer ältesten Tochter am Küchentisch und findet die Botschaften am Boden ihrer Teetasse. Sie sieht überall Zeichen, verfolgt interessiert das Wetter, liest die Nachrufe und die Heirats- und Geburtsanzeigen, weiß immer, wer krank ist und in Not, wer vor Gesundheit strotzt und Glück hat, sie verfolgt das Wachstum von Kindern und den Verfall

«Du brauchst es nicht zu glauben, wenn du nicht willst», sagt sie zu ihrer ältesten Tochter Rose, «aber neulich hatte ich einen Traum, da kam nachts mein kleiner Julian zu mir, er schlüpfte zu mir ins Bett, so wie früher, wenn er zu krank war, um schlafen zu können, oder wenn er vor der Dunkelheit Angst hatte, so wie in dem Jahr, in dem er starb, und er sagte zu mir: ‹Mama›, sagte er, ‹machst du dir Sorgen wegen Ruthey?› Und ich sagte: ‹Ja, mein Schatz, aber warum fragst du mich?› Und er sagte: ‹Hab keine Angst mehr um Ruthey, jetzt ist alles gut, jetzt ist alles gut.› Er sagte das immer wieder: ‹Jetzt ist alles gut.› Und er hat genauso ausgesehen wie damals in den Wochen, bevor er starb, seine kleine Stirn ganz blaß und mit Schweiß bedeckt, seine traurigen Augen ganz groß, als wolle er wissen, warum es war, daß er so krank sein mußte. Es war so ein lebendiger Traum! Ich hatte ihn direkt vor mir, Rose! Und ich hab deinem Vater davon erzählt, und er bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, du weißt ja, wie er das immer macht, und er sagte: ‹Hoffen wir’s, Marge, hoffen wir’s.› Und jetzt ist es so gekommen!» schließt sie triumphierend. «Ruthey ist zurück vom Krankenhaus und wieder ganz gesund, und wir hatten gemeint, sie sei in so großer Gefahr!»

«Okay!» ruft Rose und hebt in einer liebenswert spöttischen Geste die Hand hoch. «Dann war es eben so.»

Die Mutter blickt langsam auf und grinst. «Meinetwegen», sagt sie dann, «du kannst sagen, was du willst, aber

«Jetzt legt sie wieder los!» ruft Rose und schüttelt den Kopf in einer Geste abgestumpfter Unterwerfung. «Gleich wird sie uns alles darüber sagen.»

«So läuft es immer ab», sagt die Mutter bestimmt, als habe das Mädchen nie den Mund aufgemacht. «Mein kleiner Julian erzählt mir all diese Dinge. Er hat uns nicht vergessen, und er kümmert sich immer noch um uns, auch wenn wir ihn nicht sehen – er ist trotzdem da.»

«Also, Ma weiß schon, wovon sie redet, mach dir da mal keine Sorgen», sagt Joe, der älteste Sohn, mit einer unverhofften friedfertigen Weichheit, wobei er verschämt zu Boden blickt und in der Küche auf und ab geht. «Was sie weiß, weiß sie.»

Und die Mutter, die ein kleines nachdenkliches Lächeln des Trostes und der Freude zeigt, weil ihre Ruthey vom Krankenhaus heimgekommen ist und weil sie es in einem Traum und in den Karten vorausgesehen hat, sitzt grübelnd über ihrer Teetasse am Küchentisch.

 

Die älteste Tochter, Rose, ist ein großes stämmiges Mädchen von einundzwanzig Jahren, die «große Schwester» der Familie, die ständige Begleiterin und Helferin der Mutter, eine robuste Person voller Fröhlichkeit und Vitalität und Wärme, mit einer natürlichen Größe und Großzügigkeit. Sie steht an der Seite ihrer Mutter und späht

Die paar Freunde, mit denen sie ausgeht, sind alles große stämmige Typen wie sie selbst, Burschen, die auf Farmen arbeiten oder Lastwagen fahren oder die körperlich schwere Arbeit in Fabriken erledigen. Wenn sich einer von ihnen in den Finger schneidet oder die Hand verbrennt, setzt sie ihn auf einen Stuhl und verarztet ihn erst mal und schimpft ihn fürchterlich aus. Sie ist die erste in der Familie, die morgens aufsteht, und abends geht sie als letzte schlafen. Soweit sie zurückdenken kann, ist sie immer die «große Schwester» gewesen. In der Abenddämmerung steht sie dort drüben im Hof, nimmt die Wäsche von der Leine, packt sie in Körbe und geht damit auf die Veranda zu; nur einen Moment bleibt sie stehen, um die Kinder zu tadeln, die in den angrenzenden Feldern spielen, und dann schüttelt sie den Kopf und verschwindet im Haus.

 

Der älteste Sohn ist Joe, derzeit etwa siebzehn Jahre alt. Seine typische Beschäftigung sieht so aus: er leiht sich den alten Wagen eines Kumpels – einen 31er Auburn – und fährt zusammen mit noch einem wilden

Sie bringen Joe und die anderen ins Krankenhaus, wo er zwei Tage lang in einem «Koma» liegt, nichts sagt, verstohlen um sich blickt, horcht. Die Ärzte glauben, er habe schwere innere Verletzungen erlitten. Von Zeit zu Zeit kommt jemand von der Polizei vorbei, um Fragen zu stellen. Joes Kumpel aus Galloway, der nur eine kleine Fleischwunde abbekommen hat, ist schon bald wieder auf den Beinen, flirtet mit den Krankenschwestern, hilft in der Küche beim Abwasch und überlegt dauernd, was er als nächstes anstellen soll. Zwanzigmal am Tag kommt er zu Joe ans Bett.

«He, Joe, Kumpel, wann rappelst du dich endlich wieder auf?» stöhnt er. «Was ist bloß los mit dir? Mann, warum muß das ausgerechnet uns passieren!»

Schließlich flüstert Joe: «Sei endlich still, Herrgott noch mal», und macht, während ihn der andere Junge staunend angafft, die Augen wieder zu, ernst, fast ehrfürchtig und ergeben, mit einer verrückten Zielbewußtheit.

An dem Abend kommt Joes Vater im Dunkeln über die Berge gefahren, um seinen wilden und wahnsinnigen Sohn abzuholen. Mitten in der Nacht springt Joe aus dem

«Jetzt ist endgültig Schluß mit deinen verdammten Spritztouren!» schwört Mr. Martin und zieht heftig an seiner Zigarre. «Hast du mich verstanden?»

Seine Mutter fürchtet, er werde an Krücken nach Hause kommen, ein Krüppel auf Lebenszeit, aber als sie am nächsten Morgen aus dem Fenster schaut, liegt da ihr Sohn Joe hinten im Hof unter dem alten 29er Ford ausgestreckt, mittendrin in Überholungsarbeiten; der Schmierfleck auf seiner Oberlippe erinnert an einen kleinen Schnurrbart, so daß er irgendwie «genau wie Errol Flynn» aussieht. Und tags darauf kann man Joe beim Turmspringen sehen; er springt aus dem Fenster einer Wohnung, die direkt über einem Galloway-Kanal liegt, im Fabrikviertel, wo Joe ein Mädchen wohnen hat. Joe hat immer einen Job, verdient immer Geld, und er hat offenbar nie Zeit zum Trübsalblasen oder Schmollen. Sein nächstes Ziel ist ein Motorrad, irre verziert mit Kaninchenschwänzen und glitzernden Knöpfen.

 

Sein Bruder, Francis Martin, ist ständig am Trübsalblasen und Schmollen. Francis ist groß und hager, und an seinem ersten Tag in der High School geht er die Gänge entlang und starrt jeden mürrisch und griesgrämig an, als frage er sich: «Wer sind bloß all diese Trottel?» Francis ist erst fünfzehn Jahre alt, aber er hat die Gewohnheit, für sich zu bleiben, zu lesen oder einfach aus dem Fenster seines Zimmers zu starren. Seine Familie «wird aus ihm nicht schlau». Francis ist der Zwillingsbruder des

«Man darf nicht zuviel erwarten von Francis», sagt sie immer, «er ist nicht gesund und wird wahrscheinlich nie ganz gesund werden. Er ist ein merkwürdiger Junge, man muß ihn nur verstehen.»

Francis überrascht alle, als er in der Schule ohne große Mühe mit hervorragenden Leistungen glänzt und Zeugnisse einheimst, die zu den besten in der Geschichte der Schule gehören – aber seine Mutter versteht auch das. Er ist ein mürrisch und düster dreinblickender, schmallippiger Junge mit leicht gebeugter Körperhaltung, kühlen blauen Augen und einem Auftreten, das unverletzliche Würde und Anstand ausstrahlt. Wer sich in einer großen Familie wie der der Martins von den anderen absondert, wird immer mit Argwohn betrachtet, zugleich aber mit eigenartigem Respekt. Das gilt auch für Francis Martin, und so wird ihm schon früh die Macht der Verschlossenheit bewußt.

«Man kann Francis zu nichts drängen», sagt die Mutter. «Er ist sein eigener Herr, und er tut, was er will, wenn der richtige Zeitpunkt da ist. Wenn er so viel für sich bleibt, dann nur, weil ihn so vieles beschäftigt.»

«Wenn ihr mich fragt», sagt Rosey, «dann stimmt’s bei ihm hier oben nicht ganz.» Und sie läßt ihren Zeigefinger um ihr Ohr kreisen. «Ihr werdet noch an mich denken.»

«Nein», sagt Mrs. Martin, «du verstehst ihn nur nicht.»

 

 

Der dreizehnjährige Peter Martin ist schockiert, als er bei einem High School-Tanz seine Schwester Ruth so eng mit einem anderen Jungen tanzen sieht – im Anschluß an die jährliche Minstrel Show im Festsaal der Schule. Beim Blick über den ganzen Tanzboden – in rosiges Licht getaucht und ein wenig dunstig und einfach herrlich – kommt er zu dem Schluß, daß das Leben erregender ist, als es nach seinen bisherigen Vorstellungen eigentlich sein dürfte. Wir sind im Jahr 1935, die Band spielt Larry Clintons «Study in Red», und jeder beginnt die erregende neue Musik zu ahnen, die im Begriff ist, sich zu entfalten und sich über alle Schranken hinwegzusetzen. Es liegen Gerüchte von Benny Goodman in der Luft, von Fletcher Henderson und von der Entstehung neuer

Am Fenster starrt Peter hinaus in die brütende Frühjahrsnacht, entflammt vom Anblick der eng umschlungenen Tanzpaare, aufgewühlt von der Botschaft der Musik und erfüllt von einer grenzenlosen Sehnsucht, selber erwachsen zu werden und die High School zu besuchen, wo es auch ihm möglich sein wird, mit wohlgestalteten Mädchen im Arm zu tanzen und in der Minstrel Show mitzusingen und vielleicht auch ein Footballheld zu sein.

«Siehst du den da drüben mit dem Bürstenschnitt?» Ruth deutet in eine Richtung. «Der stämmige Typ dort, der mit dieser hübschen Blondine tanzt? Das ist Bobby Stedman.»

Für Peter ist Bobby Stedman ein auf heiligen Sportseiten gefeierter Name, eine geschmeidige verschwommene Figur in den Wochenschaubildern vom großen Thanksgiving-Spiel Lawton gegen Galloway, der Held aller Helden. Peter traut seinen Augen nicht, wie er ihn da tanzen sieht – kann das der Bobby Stedman sein? Ist er nicht der größte, schnellste, kraftvollste, geschmeidigste Halfback im ganzen Staat? Haben sie nicht seinen Namen in großen schwarzen Buchstaben gedruckt? Schwingt nicht eine majestätisch schreitende Musik mit seinem Namen und mit der stolzen düsteren Welt, die ihn umgibt?

Dann wird Peter bewußt, daß Ruth mit Lou White persönlich tanzt. Lou White – noch ein entrückter und heldenhafter Name, eine Gestalt auf regen- oder schneegepeitschten Footballplätzen, ein Gesicht in den

Als Lou White ins Haus der Martins kommt, um Ruth zum Eislaufen abzuholen, steht Peter in einer dunklen Ecke und sieht ihn lange voll einfältiger Ehrfurcht an. Als Lou White eine Weile dableibt, um Jack Benny im Radio zu hören, und über die Witze lacht, ist Peter restlos erstaunt. Und als er ihn dann am Tag des großen Thanksgiving-Spiels wiedersieht, wie er tief in der gegnerischen Hälfte über dem Ball kauert, kann es Peter nicht fassen, daß dieser entrückte Gott in sein Haus gekommen ist, um seine Schwester zu besuchen und über Witze zu lachen. Die Zuschauermassen brüllen, der Herbstwind zerrt an den Fahnen rings um das Stadion, Lou White bringt weit draußen auf dem mit vielen Linien markierten Rasen den Ball ins Spiel, rammt die Gegner mit sensationellen Stößen, die lauten Jubel auslösen, trabt zurück und erhält donnernden Applaus, als er bei seinem letzten Spiel für die Schule vom Platz geht. Die Bands spielen die Schulhymne, die sich im Wind verliert.

«In zwei Jahren bin ich dabei, dann spiele ich mit», sagt Peter zu seinem Vater.

«So so, du willst mitspielen?»

«Ja.»

«Meinst du nicht, daß du dafür ein bißchen zu klein bist? So wie die Jungs gebaut sind, könnten sie’s mit einem Lastwagen aufnehmen.»

«Ich werd noch größer», sagt Peter, «und stark werd ich auch.»

Sein Vater lacht, und von dem Augenblick an wird Peter Martin endlich von all den phantastischen und

 

Wenn an irgendeinem milden duftenden Abend im April die zwölfjährige Elizabeth Martin zu sehen ist, wie sie traurig unter den tropfnassen Bäumen umherstreift, schmollend und wütend und einsam, die Hände tief in den Taschen des kleinen hellbraunen Regenmantels vergraben, während sie über die Abscheulichkeiten des Lebens nachgrübelt und tief in Gedanken langsam zum Haus ihrer Familie zurückkehrt – dann kannst du sicher sein, auf die düsteren Schrecken der Zwölfjährigen werden frauliche Tage voll reifem, warmem Sonnenschein folgen.

Oder wenn dieser Junge dort mit dem forschen kleinen Gesicht, der kurz die Lippen anfeuchtet, bevor er auf eine Frage antwortet, der mit großen Schritten entschlossen und beharrlich auf sein Ziel zugeht, der im Keller oder in der Garage mit großem Ernst an irgendeinem Apparat oder einem alten Motor herumflickt, sehr wenig redet und jeden offen und blauäugig mit einem Blick absoluter Vernünftigkeit anstarrt, wenn also dieser Junge, der neunjährige Charley Martin, genau unter die Lupe genommen wird, während er den Beschäftigungen seines selbstbewußten und ernsten jungen Daseins nachgeht, dann erscheinen über ihm dunkle Flügel, wie um ein fremdes Licht in seinen nachdenklichen Augen zu verdecken.

Und wenn du schließlich an einem verschneiten Abend, an dem die tiefstehende Sonne die Flanke eines Hügels beleuchtet und in Fabrikfenstern aufflammt, ein Kind von sechs Jahren, einen kleinen Jungen namens

Das also ist die Familie Martin, die Alten und die Jungen und auch die Jüngsten, die flackernden letzten Flämmchen einer Sippe, die wachsen werden und mit der Zeit auch die Größe und Erfahrung und übergroße Gegenwart der anderen erlangen werden, um mit ungezähmtem Feuer durch die Tage und Nächte ihres Lebens zu stürmen und über die armseligen Dinge des Lebens ebenso zu grübeln und treffliche Aussagen zu machen wie über seine kostbaren, geheimnisvollen Seiten.