Mely Kiyak
Herr Kiyak dachte,
jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an
Fischer e-books
Mely Kiyak ist Publizistin und Autorin in Berlin. Ihre Analysen, Kommentare, Essays und Feuilletons schreibt und spricht sie unter anderem für die Wochenzeitung Die ZEIT, Faz, FAS, taz, Deutschlandradio Kultur. Seit 2008 erscheint in der Frankfurter Rundschau, und später parallel in der Berliner Zeitung ihre wöchentliche politische Kolumne, für die sie 2011 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet wurde.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: Gundula Hißmann und Andreas Heilmann, Hamburg
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402394-6
Man stirbt.
Man steht morgens auf, macht seine Arbeit und stirbt.
Man träumt und stirbt.
Man gießt Blumen, geht einkaufen, schüttelt Decken aus und stirbt.
Man liest. Man liebt. Man stirbt.
Vögel zwitschern, Narzissen springen mit einem leisen Rascheln auf – was folgt ist Sterben.
Ob man es brauchen kann oder nicht, zwecklos sich damit anzulegen, man stirbt.
Man stirbt. Man stirbt.
Die Welt ist groß. Deshalb grenzt es an ein Wunder, wenn ich meinem Vater auf der Straße begegne. Sicher, er wohnt nur eine Häuserecke entfernt von mir, aber wie oft im Leben trifft man in dieser Millionenmetropole Berlin jemanden? Mit meiner Nachbarin im Haus verständige ich mich per SMS, weil wir uns nie begegnen. Dabei leben wir nur durch ein Stockwerk getrennt voneinander. Und dennoch. Wir treffen uns nie. Um wie viel größer ist also das Geschenk, dass ich meinem Vater zufällig auf der Straße begegne?
Ich laufe die Straße entlang und halte Ausschau nach einer kleinen, schwankenden Gestalt. Mein Vater ist nämlich klein, von sehr brauner Hautfarbe und läuft so langsam, dass es nicht den Eindruck macht, als käme er weit. Er sieht aus, als drehe er sich gleich wie ein Derwisch um die eigene Achse. Tatsächlich ist er mit nichts anderem beschäftigt, als sorgfältig einen Fuß vor den nächsten zu setzen und mit den Armen die Balance zu halten. Es ist lange her, da fuhren mein Vater und ich in Istanbul im Bus, der Bus war voll, wie das in Istanbul immer ist, wir hatten keinen Sitzplatz und hielten uns an einer Stange fest. Jedes Mal wenn der Bus nach einer Station anfuhr, reichte dieser kurze Ruck aus, dass wir uns im Kreis um die Stange drehten, was mich zum Lachen brachte, weshalb auch mein Vater lachen musste.
Meistens handelt es sich bei keiner der Personen auf der Straße um meinen Vater.
Manchmal aber doch. Dann passiert es, dass einer, wie als schwenke er eine Fahne, die Hand hebt und weit ausholend winkt. Mein Vater weiß, dass ich stark kurzsichtig bin und dass ich ihn nur sehe, wenn er diese Bewegung macht. Er macht es so lange, bis ich nah genug bin, um ihn zu erkennen. Zwischen ihm und mir liegen nur wenige Meter. Früher fragte er: Was, erst jetzt hast du mich gesehen? Im Laufe der Jahrzehnte aber hat er begriffen wie augenkrank ich bin und sich das Wundern abgewöhnt.
Wir bleiben stehen, fragen einander: Wo kommst du her, wo gehst du hin, dann umarmen und küssen wir uns, und jeder geht seines Weges. Jedes Mal, wirklich jedes Mal denke ich, wie oft wird er mir in diesem Leben auf dieser Straße begegnen? Mein Vater. Der mit dem längsten Sterben der Welt. Der lebendigste Tote, den es je gab. Der, dessen größter Verdienst seines Lebens ist, dass er trotz allem lebt. Der, auf dessen Tod ich mich gründlich aber vergeblich vorbereitet hatte. Mein Vater. Der mit dem Krebs. Mein Vater. Der mit den Geschichten.
Meine erste Erinnerung an meine Heimatstadt Kiği ist zwei Zentimeter lang und verläuft über meiner linken Augenbraue. Mit drei Jahren fiel ich vier Meter tief in den Fluss, als ich die Brücke über den Murat überquerte. Die Wunde war groß, ich verlor viel Blut und musste genäht werden. Sie brachten mich zu einem Veterinär, der mich nicht nähen konnte, weil der Faden für ein Kind nicht geeignet war. Der Veterinär schickte uns zum Zahnarzt, der nähte die Wunde dann schnell zu. Diese Narbe ist meine älteste Erinnerung an das Geräusch meiner Heimat, das ich über meinem Auge trage. Willst du wissen, wie der Muratfluss klang? Wie der Maschinenraum der Fabrik, den ich zwanzig Jahre später in einem anderen Land betreten sollte, schschsch, schschsch, schschsch …
Ziemlich unexklusiv, was mir da widerfahren ist. Aus unserer Familie hat jemand Krebs bekommen. In diesem Moment könnten sich Tausende von Menschen in meiner Stadt, Hunderttausende in Deutschland, Millionen auf der Welt dazu gesellen und sagen: Das Gleiche ist in unserer Familie der Fall. Genauso viele würden sich melden, wenn ich erzählte, dass jemand aus unserer Familie Mukoviszidose oder Herzprobleme oder Bluthochdruck hat. Denn immer hat irgendwer irgendetwas. In der Generation meines Großvaters galt man als besonders gebildet, wenn man nicht sagte, »ein Familienmitglied ist krank«, sondern »meine Großcousine hat Tuberkulose«. Dass man »Großcousine« statt »Familienmitglied« sagte und »Tuberkulose« statt »Unwohlsein«, war ein enormer Vorsprung an Wissen. Ich würde gerne wieder dahin zurück. Nicht zu viel zu wissen, ist manchmal beruhigender, denn je mehr ich weiß, desto kranker werde ich. Ich bin co-krank. Ich habe Co-Krebs. Mein Familienmitglied hat Krebs. Ich habe es auch.
Ich vermute, dass ich die Krankheit meines Vaters zu meiner Krankheit mache, sein Schicksal zu meinem, weil ich nur einen Vater habe. Hätte die Krankheit einen Bruder oder eine Schwester getroffen und hätte ich zwei Brüder und zwei Schwestern, dann hätte ich immer noch jemanden, der gesund wäre. Eine Schwester mit Krebs und eine ohne. So wäre die Welt ein klein wenig gerechter. Das ist eine Vermutung. So wie alles eine Vermutung ist, was mit dieser Krankheit zu tun hat. Wenn in Vaters Behandlungsbericht »Leber: metastasenverdächtig« steht, dann spielt es keine Rolle, dass er, bevor er es las, guter Dinge war, denn nun hat er es erfahren und das Gehirn merkt sich das, im Gegensatz zu dem, was es eben noch in der Zeitung las, das verlegt das Gehirn nämlich ganz gerne, aber so eine monströse Neuigkeit wie die metastasenverdächtige Leber, die hat das Gehirn von da an Tag und Nacht parat. Es wird zum identitätsstiftenden Merkmal, Gestatten – ich bin Herr Müller, und Sie? Angenehm, Kiyak, vor Ihnen steht ein Metastasenverdächtiger. Der Lungenkrebs steht fest. Die Nierenzyste sieht man. Der Diabetes ist neu. Der niedrige Blutdruck, dem ich es zu verdanken habe, dass es ziemlich lange dauert, bis mein Vater sich aufregt und ich deshalb ausgiebig meine Späßchen auf seine Kosten treiben kann, dieser niedrige Blutdruck ist ein ganz alter Bekannter. Aber immer ist noch etwas. Immer kommt noch ein Verdacht dazu. Metastasenverdächtig. Als ob alles nicht unglücklich genug verläuft. Der Krebs ist ein Karzinom. Er kann schnell wachsen oder langsam. Er ist gut eingegrenzt oder nicht. Seine Zellen sind groß oder klein. So sitzt man mit anderen Verbündeten in der Krankenhauscafeteria und stellt Fragen, indem man nur noch Begriffe hin und her wirft. Karzinom? Kleinzellig? Ach so. Oh je. Schlecht differenzierbar? Ach Gott. Ja dann, alles Gute. Und bei Ihnen? Krebs ist im Griff? Was, die zweite Drainage? Das hatte mein Vater auch. Na, du liebes bisschen! Jetzt auch noch das Herz? Na dann, tja, wird schon irgendwie. Manches wird übrigens wirklich wieder irgendwie. Denn die Leber tat nur so als ob. Da warf die Kontrastflüssigkeit im Computertomographen doch einen so ungünstigen Schatten, dass sich die arme unschuldige Leber verdächtig machte. Ja, manches erledigt sich von selbst, andere Verdachtsmomente aber erhärten sich, werden real, sind da und egal wie die Sonne steht, ihr Schatten bleibt und rückt nicht weg. Jemand aus meiner Familie hat Krebs. Und ich bin traurig.
Fische fingen wir im Muratfluss mit den Händen. Dazu nahmen wir einen kleinen Stein und warfen ihn auf einen großen Stein. Wenn sich darunter ein Fisch vergrub, erschrak er sich und verließ sein Versteck. Dann griffen wir zu.
Im Frühjahr konntest du den Murat nicht überqueren – so viel Wasser war drin. Dann bauten sie den Staudamm in Elazığ und das Wasser wurde umgeleitet. Wenn sie es brauchten, öffneten sie die Klappen und ließen das Wasser zufließen. Ansonsten trocknete der Fluss langsam aus. Zu deiner Zeit war es ein ausgetrockneter Fluss. Zu meiner Zeit floss das Wasser im Überfluss.
Noch etwas zum Murat. Du kennst doch Schildkröten, so kleine, ich aber kenne noch große. So groß wie zwei Wassermelonen aus Diyarbakır. Wir teilten uns mit den Schildkröten den Fluss. Während die sich am Ufer sonnten, gingen wir ins Wasser. Wenn wir fertig waren, kamen die Schildkröten dran und schwammen eine Runde.
Auf der Stirn meines Vaters klafft nun eine Wunde. Es ist der Tag seiner stationären Aufnahme. Wir kommen auf einem großen Krankenhausgelände an und verstehen nicht auf Anhieb, dass es sich um zwei Grundstücke handelt. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein weitläufiger Park. Gepflegte Wege, geschwungene Linien, alter Baumbestand. Wir laufen an kleinen Backsteingebäuden vorbei, bis wir zu einem großen Gebäude gelangen. Dort erfahren wir an der Information, dass wir im falschen Krankenhaus sind. Ich halte die ganze Zeit Vaters Röntgenbilder in der Hand, die in einem Umschlag aus besonders robustem Papier liegen. Während mein Vater sich bückt, um seine Reisetasche hochzuheben, halte ich den Umschlag so ungeschickt, dass die scharfe Kante der Pappe meinen Vater, während er sich aufrichtet, in die Stirn sticht. Sie beginnt sofort zu bluten. Mein Vater hat spätestens jetzt alles über. Schon auf dem Weg hierher blieb er einfach stehen und sagte: Wir kehren um. Ich war vollkommen verblüfft. Umkehren wovon? Umkehren im Sinne von kehrtmachen? Umdrehen und in die andere Richtung gehen? Ich sagte: Lass es uns doch erst hier entlang versuchen. Mein Vater stand auf dem Weg und sagte: Nichts werde ich versuchen. Wir kehren um und ich fliege zurück in die Türkei. Wie immer, wenn ich ratlos war, ließ ich mir nichts anmerken und insistierte: Das ist doch albern. Wir ziehen das jetzt durch. Egal, was geschieht, wir benehmen uns wie erwachsene Leute. Mein Vater trottete missmutig neben mir her. Als ich ihm aber aus Versehen und vielleicht war es auch gar nicht meine Ungeschicklichkeit, sondern seine, die Stirn aufreiße und es blutet, hat er wirklich genug. Ich nehme den Fehler sofort auf mich, entschuldige mich immer und immer wieder. Dass ich ihm helfe und die Stelle abtupfe, lässt er nicht zu, weil er es nicht ausstehen kann, dass man ihm zur Hand geht oder ihn anfasst. Nicht, wenn sein Körper in einem gesundheitlich bedenklichen Zustand ist. Dann zieht mein Vater sich in seinen Kokon zurück. So ist er immer. Er entrückt sich derart, dass sogar seine Augen nach innen rutschen. »Er rollt schon wieder mit den Augen, lasst den armen Hasan in Ruhe«, ist so ein Satz, den man über meinen Vater sagt.
Am Morgen hatte ich im türkischen Radiosender ein altes Lied gehört, in dem Wolken gemächlich am Himmel spazieren, ein leichter Regen fällt und die Kamille blüht. Es ist März und ich bringe meinen Vater ins Krankenhaus. Er lässt sich seine Tasche nicht tragen und sein Blut nicht abwischen, so laufen Vater und Tochter die Alleen entlang und sind beide unglücklich, jeder auf seine Art. So fängt dieser Tag im Frühjahr an. So schwermütig, wo Schwermut nicht meine Sache ist. So einsam, obwohl mir das Einsame nicht liegt. So vergeblich, obwohl Aufgeben nicht zu mir passt. So ist die Stimmung.
Das also ist seine Sehnsucht, denke ich über meinen Vater. In seinen Hasenfußmomenten will er abhauen, in die Türkei. Jahrzehnte hat er in Deutschland gelebt. Wir laufen und ich begreife, mein Vater und ich, das sind zwei Länder. Das ist er, dort, und ich, hier. Wo gibt es denn das? Dass Vater und Kind nicht dem gleichen Ort entspringen. Was ist das für eine Perversität, dass Menschen ihre Länder verlassen? Das alles geht mir durch den Kopf und vereinzelt mich. Ich sehe die anderen Patienten, die mit ihren Angehörigen im Park spazieren gehen. Wahrscheinlich ermuntern sie ihren Kranken, Kopf hoch, bald bist du wieder zu Hause, und meinen damit alle das gleiche Zuhause. Die Prignitz, das Sauerland, den Teutoburger Wald. Nur unsereins muss sagen: Kopf hoch, Papa, bald bist du wieder in deinem Land. Deinem Land. Nicht unserem Land. Was für eine Verstörung, dass Menschen ihren Geburtsort verlassen, was für eine Zerstörung. Was für eine überflüssige Einrichtung, das Reisen, das Verlassen, das Gehen. Von einem Ort zum anderen wechseln. Alle sollen gefälligst da bleiben, wo sie geboren sind. Dann wäre an diesem Märztag alles einfacher für mich. Genau genommen hatte ich die Fremdheit schon, als ich mit meinem Vater in den öffentlichen Verkehrsmitteln saß und für die Fahrt über eine Stunde brauchte, in der es nichts zu sehen gab. Wir fuhren durch die märkische Landschaft, deren herausragendes Merkmal das Nichts ist und ich versuchte ihn für eine Gegend zu begeistern, die mich selbst nicht begeisterte. Jahre zuvor lebte ich in einem märkischen Dorf, das ich fluchtartig wieder verließ. Damals besuchte mich mein Vater und wir spazierten um einen See. Es war klar, es gefiel ihm nicht. Er lief nur einmal durch das Dorf und fragte mich anschließend, ob die Leute mit den Glatzköpfen aus politischen Gründen kahlgeschorene Schädel hätten. Ich verneinte und nahm sie in Schutz. Weil ich nicht wollte, dass mein Vater mit Kummer abreiste. Denn wenn ich auf etwas keinen Wert lege, dann sind es Vaters Sorgen in Bezug auf mich. Nun also war ich es, die sagte: Weißt du, es gab vor über hundert Jahren einen verrückten Schriftsteller, der ganze Bände mit Reportagen über diese Steppe füllte. Er hieß Theodor Fontane und hat jedem märkischen Pilz unter das Köpfchen geschaut und dessen Geschichte aufgeschrieben. Seine »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« stehen in meinem Regal, du hast es sicher gesehen. Mein Vater schaute durch die verschmutzte Scheibe der Bahn und sagte nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Dass es ihn gerade nicht interessiert? Dass er seinem Flugticket hinterhertrauert, das ich eine Woche zuvor storniert hatte, als er noch bei mir auf dem Sofa saß? Ich log ihn an und sagte, dass wir alles Geld erstattet bekämen und dass die freundliche Türkin von der Fluggesellschaft meinem Vater gute Besserung wünschte. Natürlich wünscht einem niemand gute Besserung und Geld gibt es auch nicht zurück. Wenn man konfus ist, macht man alles falsch. Um alles richtig zu machen, darf man nicht konfus sein. Den gepackten Koffer aus dem Blickfeld räumen und Vater unter Protest ins Krankenhaus zu bringen macht konfus. Er war untröstlich, der Vater. Untröstlich in der Bahn. Am Informationsstand des falschen Krankenhauses. Auf den geschwungenen Wegen. Untröstlich gefangen in sich selbst. Mit einer Wunde an der Stirn, die ich ihm zugefügt hatte, unwissentlich, unwillentlich, freiwillig alle Schuld auf mich nehmend, weil mein Vater schon Schuld genug empfand für alles. Später lese ich in der Krankenakte über meinen Vater, er hätte »keine Abwehrspannung«. Welches Organ gab Auskunft über Vaters Abwehrspannung? Das hätte ich diagnostizieren können. Warum fragt mich keiner? Ich lebe seit über dreißig Jahren in der Funktion Tochter an Vaters Seite. Ich weiß bestens Bescheid darüber, inwiefern mein Vater in der Lage ist abzuwehren. Dass seine Abwehrspannung von geringer Bedeutung ist, hätte ich ebenfalls attestiert. Denn hätte Vater eine kräftige Abwehrspannung, hätte er sich sein Flugticket genommen und wäre gegen jeglichen Rat seiner Ärzte in die Türkei geflogen, wo seine Liebste auf ihn wartet. So aber bleibt er ein Mann, der zeit seines Lebens eine geringe Abwehrspannung hatte. Wie sonst kann man sein halbes Leben in einem Land leben und für dessen Menschen arbeiten, ohne je dafür Anerkennung bekommen zu haben? Wie soll das gehen – mit Abwehr? Ein Mensch mit guter Abwehrspannung hätte den Dienst längst quittiert. Hätte gesagt: Hier steht ein Mensch vor euch, ihr aber seht nur den Arbeiter, Schluss aus, ich gehe zurück in die Türkei. Mein Vater aber blieb und arbeitete und erzählte uns Kindern immer wieder: Schaut, wie euer Vater arbeitet, macht ihm keinen Kummer. Das sprach ein Mann, der sich längst mit allem abfand. Und selbst wenn wir ihm Kummer gemacht hätten, was hätte er dem mit seinen geringen Fähigkeiten zur Abwehr entgegensetzen können? Was haben wir Kinder über unseren Vater gelacht, wenn er sich aufregte. Richtig ineinandergekrallt vor Lachanfällen haben wir uns, während mein Vater vor uns stand und meinte, einen auf bedrohlich machen zu müssen, um irgendwann aufzugeben und zu grinsen und zu sagen, dass wir Esel seien und zur Hölle fahren sollten. Wir sind dann in unser Zimmer gegangen und haben den Vater nachgespielt. Wie er da stand, schwankend, instabil, und sich aufregte und wir ihn baten, seinen Missmut auf Deutsch zu artikulieren, weil wir vorgaben, ihn nicht zu verstehen. So stand er wackelig vor uns und tat uns den Gefallen und fiel über die Silben und wir, wie gesagt, konnten nicht an uns halten und gaben vor, ihm zu helfen. Wenn er sagte, ihr habt meine Gefühl …, erwiderten wir: Was denn, Papa, was haben wir deine Gefühl, sage es doch! Kaputt, stolperte mein Vater die Worte ab. Was, wir haben deine Gefühle kaputt? Kaputt was? Papa, das ist doch kein Satz, ihr habt meine Gefühle kaputt, Papa, da fehlt doch das Verb. Papa, bitte nenne uns das Verb und wir werden dich demütigst um Verzeihung bitten.
Als wir endlich im richtigen Krankenhaus ankommen, sind wir irritiert. Denn was kann man von einem Krankenhaus erwarten, das aus drei Knusperhäuschen besteht? So sieht doch keine Spezialklinik aus! Wo die Aufnahmestation neben dem Krankenhausbistro liegt. Wo man so freundlich begrüßt wird, als checke man in ein Hotel ein. Grundgütiger, bitte mach, dass hier Menschen arbeiten, die in Chicago, Tokio und London studiert haben, dann verspreche ich, an dich zu glauben, murmle ich. Kann es ausgerechnet in der Mark Brandenburg international anerkannte Lungenspezialisten geben? Wieder spreche ich meinem Vater Mut zu: Schau mal, Papa, wie übersichtlich, und wie gemächlich und würdevoll der Arzt eben über den Rasen schritt. Und innerlich denke ich, ein Arzt, der nicht rennt, ist doch kein Arzt, das weiß ja nun wirklich jeder. Das sind hundertprozentig Ärzte aus dem Osten, na ja, vielleicht hat man Glück und gerät an eine ungarische Koryphäe, hoffe ich. Die Frau in der Aufnahme fragt: Was haben Sie denn da an der Stirn? Nichts, sagt mein Vater. Soll ich mal schauen, ob ich ein Pflaster habe? Ach was, sagt mein Vater, hier gibt es sicher schlimmere Fälle als mich. Das hoffe ich sehr für Sie, sagt die Frau, und lächelt ihm freundlich zu. Hoffnung muss man immer haben, sagt mein Vater. Das sehe ich genauso, flirtet sie zurück. Sie bittet meinen Vater um eine Telefonnummer für »dringende Fälle«. Er diktiert ihr seine Telefonnummer. Ich schaue ihn an und kläre ihn auf: Papa, die Frau meint das anders, es geht darum, dass man jemanden aus deiner Familie erreichen kann, falls mal etwas sein sollte. Ach so, sagt mein Vater und fällt gleich in sich zusammen. Das war es. Der kurze Flirt ist vorbei, als ich meine Handynummer, meinen Namen und meinen Verwandtschaftsgrad angebe. Sollte mein Vater sterben, werde ich diesen Tag nicht vergessen, der Tag als ich ihn verletzte, nicht im Sinne von »Gefühl kaputt«, sondern im physischen Sinne, der Tag, als das Krankenhaus mich um meine Telefonnummer für dringende Fälle bat, wobei man sich den Plural hätte sparen können, denn ein Mensch stirbt nur einmal im Leben. An diesem Märztag, der mit einem türkischen Lied begann, in dem jemand von Wolken sang, die ein wenig am Himmel spazieren, ging ich mit meinem Vater und seiner blutenden Stirn ins Krankenhaus. Dank seiner fehlenden Abwehrspannung erreichten wir das Ziel.
Ich begleite meinen Vater in das erste Krankenzimmer seines Lebens. Seine Tasche trägt er selbst. Wir rechnen mit maximal drei Tagen Aufenthalt. Er solle sich, so befahl es die Krankenschwester, in seinem Zimmer aufhalten und den Arm freimachen, damit der Arzt sofort die Kanüle legen könne. Wir gehen davon aus, dass es sich um Minuten handelt. Wir beeilen uns. Mein Vater legt die Tasche neben das Bett, macht den Arm frei und setzt sich auf die Bettkante. Die erste Stunde, es ist noch Vormittag, sitzt er reglos da. Die zweite Stunde, ich habe ihm die ganze Zeit zugeredet, lehnt er seinen Kopf wenigstens aufs Kissen. Am Mittag sitzt er immer noch da. Der Kopf liegt am äußersten Zipfel des Kissens. Die Schuhe hat er immerhin ausgezogen, manchmal hebt er das Bein und legt es kurz auf dem Bett ab, um es sofort wieder von der Bettkante baumeln zu lassen. Es ist wie ein Wettkampf. Nicht liegen wollen. Nicht ankommen.
Gegen Nachmittag fängt mein Vater an zu husten. Er hält sich ein Taschentuch vor den Mund. Als er nach Luft röchelt, sehe ich, dass aus seiner geballten Faust ein Stück des Papiers rot gefärbt herausschaut. Er läuft zum Waschbecken und kann das gleichzeitige Husten mit dem Luftholen nicht koordinieren. Aus seinem Mund läuft eine Mischung aus Spucke und Auswurf. Alles rot. Ich laufe auf den Flur und schreie: Mein Vater erstickt! Mein Vater spuckt Blut! Ich schreie so laut ich kann. Dann geht alles sehr schnell. Der Arzt kommt, die Krankenschwestern tupfen, Kanülen werden gelegt, Vater kriegt Sauerstoff durch die Nase, Plastikbecher werden unter seinen Mund gehalten, der Auswurf muss ins Labor, sofort, und dann endlich, nach Stunden, legt mein Vater sich auf das Bett. Lang ausgestreckt. Die Arme auf dem Bauch gefaltet, liegt er regungslos. Aus kurzen Atemzügen werden lange Atemzüge. Innerhalb weniger Stunden ist aus meinem Vater, der eben noch selbst laufen konnte, ein Blut spuckender, fiebriger Mann geworden. Seine Tablettenbox wurde mit Pillen gefüllt. Das Abendfach quillt über. Eine Pille liegt im Nachtfach. Reingerutscht? Aus Versehen? Aus meinem Vater, der morgens unter vitalem Protest von mir ins Krankenhaus begleitet wurde, aus meinem Vater, der seine eigene Tasche tragen konnte, ist ein Kranker geworden, der nicht mal nach dem Wasserglas greifen kann. Bloß weil wir in ein Krankenhaus gegangen sind. Das erste Krankenzimmer meines Vaters. So ist er, mein Vater, denke ich, seine Abneigungen übertragen sich sofort auf seinen Körper, so war er immer, so war er immer, tröste ich mich. Ich gehe raus auf den Gang und sehe zum ersten Mal, mit wem wir es hier zu tun haben. Patienten, die nach zwei Schritten auf ihren Rollatoren zusammenbrechen. Menschen, die sich wie verrückt schwitzend an Handknäufen festhalten. Menschen, denen aus dem Kehlkopf Röhrchen und aus den Trainingshosen Zigarettenschachteln herausschauen und die beim Sprechen klingen, als würden sie durch eine Blechgießkanne sprechen. Ich gehe zurück ins Zimmer. Mein Vater liegt immer noch da, wie ich ihn verließ. Aus dem normal sprechenden Mann ist ein Flüstermann geworden.
Papa?
Geh nach Hause.
Ich bringe dir ein Kissen.
Geh nach Hause.
Ja, ich fahre nach Hause und komme sofort wieder. Es ist Feierabendverkehr. In zwei Stunden bin ich zurück. Mit dem Kissen.
Geh nach Hause.
Ist gut. Ich fahre los.
Mein Freund Yaşar sagte mir eines Tages, wir waren vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt: Morgen, mein Freund Hasan, trinken wir Wein. Woher wird der Wein denn kommen, fragte ich ihn. Das wirst du sehen, sagte Yaşar, morgen um zehn Uhr ist Treffpunkt. Am nächsten Morgen, er hatte Geld dabei, kauften wir zehn frische Eier, brachten sie in die Teestube zu Onkel Ali und baten ihn, sie uns zu kochen. Es war März, der Schnee schmolz, wir kauften frische Zwiebeln, etwas Käse, zusammen mit den Eiern und der kleinen Viertelliterflasche Rotwein hatten wir ein herrliches Frühstück, das uns betrunken machte und einschliefen ließ bis zum Abend. Ich gebe zu, heute ist Bingöl nicht so weit wie der türkische Westen, wo es Kneipen und Strandlokale an jeder Ecke gibt. Bis heute kann man in Bingöl in keinem Lokal Alkohol trinken. Das ist die eine Seite der Medaille. Weißt du, die Europäer machen so ein Tamtam, oder wie wir auf Türkisch sagen, tan-tana, wegen ihres Sektfrühstückes. Was sie nicht wissen, ist, dass bereits in den sechziger Jahren in den anatolischen Bergen zwei gewisse Herren ein Rotweinfrühstück zu sich nahmen und den Frühling begrüßten. Ich war also nicht nur gemessen an Bingöl, sondern auch gemessen an Europa meiner Zeit weit voraus.
Zu Hause angekommen werfe ich alles ab. Schuhe, Tasche, Schlüssel. Ich laufe in mein Schlafzimmer. Nehme eines der Kissen, die mit Getreide gefüllt sind. Nehme einen dicken Leinenbezug, ohne Stickerei und Bordüren, damit diese ihn beim Schlafen nicht drücken. Beziehe das Kissen. Nehme meinen Marktkorb. Lege das Kissen rein. Gehe ins Badezimmer. Nehme alle Waschlappen auf einmal und halte meine Wange daran. Welche sind am weichsten?
Gehe in die Küche. Packe ein paar Oliven und eingelegte Peperoni in eine Plastikbox. Setze einen Kaffee auf, lasse ihn durchlaufen, fülle ihn in die Thermoskanne um. Lege alles in den Korb. Laufe durch die Wohnung. Schaue mich um. Was kann er brauchen? Was würde ihn erleichtern? Was würde helfen, trösten? Ich ziehe meine Schuhe an, schaue in den Spiegel, lege Parfüm auf, ziehe meine Lippen nach, verspreche mir selbst, dass ich niemals, egal was passiert, damit aufhören werde und keine äußerlichen Nachlässigkeiten an mir dulde. Sie sollen im Krankenhaus über uns sagen, was sie wollen, aber nicht, dass wir uns gehenlassen.
Ich fahre los. Der Verkehr ist wie immer um diese Zeit. Nachmittags aus der Stadt herausfahren heißt, im ersten Gang fahren, den Fuß immer auf der Kupplung lassen, ich denke, maximal drei Tage, dann ist es eben so, anfahren, bremsen, warten. Ich merke mir keinen Strauch, keine Kurve, keinen Blitzer. Weshalb auch? Drei Tage. Maximal.
Ich stelle Oliven, Peperoni und Kaffee auf den Tisch im Krankenzimmer und lege das Kissen in Vaters Bett. Mein Vater und sein Bettnachbar Adam haben sich einander schon vorgestellt. Der korpulente Mann trägt einen Kaiser-Wilhelm-Bart, dessen geschwungene Bartspitzen Richtung Ohren zeigen, seine Haut und seine Haare sind ganz weiß. Adam erzählt, dass er zu DDR-Zeiten Zirkuskoch war. Er erzählt, was er für die Artisten gekocht hat. Gulaschsuppe. Bohnensuppe. Sauerkrautsuppe. Mein Vater sagt jedes Mal: Gulaschsuppe, kenn ich. Bohnensuppe, kenn ich. Sauerkrautsuppe, kenn ich. Alles, was Adam sagt, ergänzt mein Vater durch: Kenn ich. Sie erzählen einander kleine Kochgeschichten.
Käsekuchen gibt es heutzutage keinen guten mehr, sagt Adam.
Meine Tochter macht guten Käsekuchen, sagt mein Vater.
Es gibt nur schlechten Käsekuchen, sagt Adam.
Schlechter Käsekuchen? Kenn ich.
Guten Käsekuchen gab es früher, bei uns.
Meine Tochter macht guten Käsekuchen.
Nee, guten Käsekuchen gibt es nicht mehr.
Ich sitze da und höre zu. Komisch denke ich, warum sprechen sie nicht über ihre Krankheiten? Mein Vater wäre eben fast krepiert und der andere sieht auch aus, als stürbe er gleich.
Gegen Abend kommt eine Ärztin und klärt meinen Vater auf. Sie werden eine Bronchoskopie machen. Dazu werden sie Vater eine örtliche Betäubung geben und mit einem Schlauch durch die Luftröhre eine Gewebeprobe aus seiner Lunge entnehmen. Diese Probe werden sie untersuchen, um herauszufinden, was es mit der hartnäckigen Lungenentzündung auf sich hat. Ich denke, es handelt sich um eine Entzündung, sagt die Ärztin. Am gleichen Abend besorge ich Vater eine Chipkarte, damit er Radio, Fernseher und Telefon benutzen kann. Ich habe die Wahl, seine Guthabenkarte mit zehn, zwanzig oder fünfzig Euro aufzufüllen. Ich nehme den mittleren Betrag. Maximal drei Tage, so hat man uns gesagt. Bevor ich nach Hause fahre, gehe ich in den Supermarkt bei mir um die Ecke, der neuerdings bis Mitternacht geöffnet hat. Ich kaufe Eier, Quark, Zitrone. Zu Hause backe ich einen Kuchen. Anschließend lege ich mich ins Bett. Hätte eigentlich einen Artikel schreiben müssen. Hätte meine Familienmitglieder anrufen und informieren müssen. Auf dem Anrufbeantworter bittet mich mein Lieblingsonkel, Papas jüngster Bruder Arif, die Telefonnummer mitzuteilen, unter der er meinen Vater im Krankenhaus erreichen kann. Ich schlafe ein.
Am nächsten Morgen rufe ich meinen Vater an. Seine Stimme klingt, als hätte er eine Erkältung und gleichzeitig eine Wäscheklammer auf der Nase. Er stammelt. Ich lege auf, ziehe mich sofort an und fahre los. Ich schaffe es, in dreißig Minuten anzukommen. Als ich in sein Zimmer gehe, sehe ich ihn liegen. Er ist erschöpft, aber insgesamt sieht er besser aus, als er klang. Ich begreife, dass es sich um eine Untersuchung handelt, die anspruchsvoller ist als eine Blutabnahme. Ich fülle für meinen Vater den Speiseplan aus. Ich weiß, dass er lieber Nudelsuppe statt Pfannkuchen mit Kompott isst. Ich mache die Kreuzchen so, dass in den Menüs genug Salat und Gemüse auftauchen. Einmal gibt es Bratwurst mit Kartoffelbrei und Sauerkraut. Da wird er sich freuen, denke ich. Für Frühstück und Abendessen kreuze ich alles an, was man ankreuzen kann. Butter, Schmelzkäse, Aufschnitt, Scheibenkäse, Graubrot. Wie soll man denn vorher wissen, was man essen will? Wir gehören nicht zu jenen Leuten, die von sich sagen könnten, dass sie die letzten dreißig Jahre ihres Lebens morgens mit einer Tasse Kaffee und einem Brötchen mit Marmelade begonnen hätten. Im Frühling isst mein Vater Petersilie, Rucola und Frühlingszwiebeln zum Frühstück. Frische grüne Peperoni und Oliven sowieso. Im Herbst isst mein Vater Pflaumenmarmelade, denn nur im Herbst gibt es frische Pflaumen, aus denen man Konfitüre kocht. Wenn er in Deutschland ist, beginnt mein Vater seinen Tag zusätzlich mit »Tamara«. Tamara ist Vaters deutsche Dauergeliebte. Es gibt sie nur bei Aldi und mein Vater liebt sie in der Geschmacksrichtung Sauerkirsche. Abends wird warm gegessen. Auf Suppe folgt ein Hauptgericht. Zu jeder Mahlzeit gibt es einen Salat. Nach dem Essen ein frischer schwarzer Tee zur Entspannung. Und dann eine Frucht. Im Sommer Melone. Im Winter Trockenfrüchte. So ist es mein Vater gewöhnt. Wo kann man das ankreuzen?
Am Nachmittag komme ich wieder. Mein Vater und Adam trinken Kaffee und essen den Käsekuchen, den ich am Morgen mitgebracht habe.
Und, meine Herren, schmeckt es?
Schmeckt!
Schmeckt!
Ich will meinen Vater überreden, dass wir außerhalb des Krankenhausgeländes spazieren gehen.
Das darf ich nicht, gibt mein Vater allen Ernstes zu bedenken.
Natürlich darfst du. Ich bringe dich wieder zurück.
Der Arzt kommt vielleicht.
Vielleicht gegen Abend, hat die Schwester gesagt.
Vielleicht kommt er früher.
Macht nichts. Dann bist du eben nicht da.
Ich soll Adam Zigaretten bringen. Ernte 23.
Was hat er?
Krebs. Hat nach überallhin ausgestreut.
Du meinst, er hat Metastasen?
Ja, nach überallhin.
Was meinst du mit »überall«?
Mein Vater zieht einen Kreis über seinen Bauch.
Welchen Krebs hat er?
Weiß ich nicht. Wahrscheinlich Lunge. Er ist eigentlich herzkrank. Der Arzt war heute früh da und hat gesagt, sie können nichts mehr machen.
Nichts?
Nichts.
Warum ist er dann da?
Weiß ich nicht. Der Arzt hat gefragt, ob er es seiner Frau erzählen will oder ob der Arzt es machen soll. Adam hat gesagt, bitte noch zwei Tage warten.
Warum zwei Tage?
Weiß ich nicht.
Lass das lieber mit den Zigaretten.
Nein, ich habe es versprochen. Heute früh hat er Weinbrand getrunken.
Wo gibt es so etwas?
In der Patientenkantine.
Hast du nicht gesagt, lass das mal lieber sein, Adam?
Doch, habe ich. Ich habe gesagt, warte, bis ich die Zigaretten bringe, dann schmeckt es besser.
Mensch, Papa, du bringst den Mann noch um. Komm, zieh dich an, wir gehen raus und du erzählst mir eine schöne Geschichte.
Wir stammen nicht aus Bingöl, auch wenn wir das immer sagen. Meine Mutter stammt von den Lolans. Die Lolan-Sippe kam aus dem Norden Iraks. Meine Urahnen väterlicherseits hatten vier Söhne. Jeder von ihnen ließ sich auf einem anderen Hügel nieder. Immer im Umkreis von fünf, sechs Kilometern. Sie gründeten Familien. Einer hieß Xeramen, die anderen S¸ırnan, Cafran und Hüsenler. Diese vier Männer waren grobe Leute, mit Augen schwarz wie Oliven, sie nahmen es mit jedem Bären auf. Was also taten die Dorfvorsteher, die Ağas, in diesen Dörfern? Sie sagten sich, wir haben die Wahl, sie uns zu Freunden zu machen oder gegen sie zu kämpfen. Sie entschieden sich dafür, den Kerlen ihre Töchter zu geben und Verwandtschaft untereinander zu knüpfen. So wie es die Königshäuser auch machten. Sie schlossen sich zusammen. So entstand die Xeramen-Sippe, die Cafran-Sippe, die S¸ırnan-Sippe und die Hüsenler-Sippe. Weil also die ansässigen Ağas mit den vier Söhnen Verwandtschaft schlossen, bildeten sich die daraus entstandenen Kinder ganz schön was auf sich ein. Sie sagten: Wir sind die Kinder des Ağas. Denn ein Ağakind zu sein, bedeutet mehr, als das Kind eines Immigranten zu sein. Selbst mein Vater, also dein Großvater, versuchte uns beizubringen, dass wir Ağakinder seien und nicht die Nachfahren der groben Typen aus den Bergen. Die Ağas waren natürlich sehr schlau. Sie benutzten die neuen Familienmitglieder als Kämpfer. Die starken Kerle waren unerschrocken und skrupellos, man sagte ihnen nach, wenn sie schießen, dann schießen sie, selbst wenn sich ihnen ihr eigener Vater in den Weg stellt. Kennst du diese mexikanischen Filme mit den Cowboys und ihren Hüten? Aus so einer Familie stammst du. Wir waren die Mexikaner Anatoliens, die Cowboys aus Bingöl und Umgebung.
In einem Dorf bei Karlıova, wo ungefähr siebzig Häuser stehen, spazierte eines Tages mein Großvater mit drei Kerlen aus seiner Sippschaft ein. Sie wollten gemütlich ein paar Ziegen, Kälber, Lämmer und Schafe rauben. Oberbefehlshaber der Truppe war mein Großvater, weil er der Älteste von ihnen war. Sie sahen die Hirten auf den Hügeln, hielten sie fest und banden die armen Jungs an einen Baum. Einer der Burschen wollte rasch das Vieh zusammentreiben. Nein, sagte mein Großvater, so nicht, sie einfach mitzunehmen wäre Diebstahl, das ist feige, so machen wir es nicht. Wir schicken einen der Hirten ins Dorf, der sagen soll: Die Xeramen sind da und nehmen das Vieh mit. Nein, das geht nicht, versuchten die Kumpel meines Großvaters ihn umzustimmen, Was soll denn das bringen? Wir sind bloß zu viert, im Dorf leben mindestens zweihundert Menschen. Wir haben doch schon Mühe, die Tiere heimwärts zu treiben, wie sollen wir denn gleichzeitig schießen? Nein, sagte mein Großvater, ich esse das Eigentum eines anderen nur, wenn es mit Blut befleckt ist, nur so hat es seine Ordnung. Sie banden einen der Hirten los und trugen ihm auf, im Dorf die Kunde zu tun, die Xeramen sind da und nehmen die Tiere mit.
Die alarmierten Männer des Dorfes griffen ihre Waffen und rannten den Räubern hinterher. Die hatten mit den Ziegen und Schafen bereits den Rückweg angetreten und fingen an, sich ab und an umzudrehen und zu schießen. Die Frauen des Dorfes liefen mit Wassereimern ins Kriegsgelände, um die Krieger abzukühlen und ihre Wunden zu versorgen. Mein Großvater legte sich auf den Bauch ins Gras und schoss munter drauflos. Einer seiner Kumpanen sagte: Stell dich doch wenigstens hinter einen Baumstamm, damit du vor den Kugeln geschützt bist! Halt die Klappe, rief mein Großvater und eine Kugel traf ihn. Nun hatten die anderen drei Burschen auch noch den zerschossenen Kerl am Hals. Einer nahm meinen Großvater auf den Rücken und die anderen hielten das Vieh zusammen. Hin und wieder zielte mein verwundeter Großvater auf gut Glück rückwärts, und traf einen aus der Gegenpartei. Sie kamen in das Gebiet von Karel, das siebenunddreißig Dörfer umfasst. Die Kriegsbeute gelangte bis auf den angeschossenen Räuber gesund über Karels Ländergrenzen, die in keiner Landkarte verzeichnet sind. In Karel sprach es sich wie ein Lauffeuer herum, dass die Xeramen das gesamte Vieh aus dem sunnitischen Dorf herausgeholt hatten. Natürlich machten sich alle über meinen verwundeten Großvater lustig: Siehst du, nun hast du für das Blut am Eigentum eines anderen selbst gesorgt, nämlich mit deinem eigenen Blut. Sie wünschten noch guten Appetit und amüsierten sich sehr. Meinem Großvater aber war die gute Laune etwas abhandengekommen. Er verlangte nach Wasser. Sie gaben ihm das Wasser nicht. Du wirst sterben, wenn du das Wasser trinkst, sagten die Dorfbewohner. Gebt mir Wasser, sagte mein im Sterben liegender Großvater, der selbst in seiner letzten Stunde so furchteinflößend war, dass sich ihm niemand widersetzte. Er trank das Wasser, machte einen kräftigen Rülps, sagte goodbye und starb. Mein Vater war zu dem Zeitpunkt vierzig Tage alt.
Natürlich glaubst du mir wieder nicht, dass er goodbye gesagt hat. Aber so war es!
Er sprach zwar nur Kurdisch und es handelt sich bei unseren Urahnen um Halunken, Räuber und Mörder, aber sie waren allesamt Experten ihres Fachs.
Eines möchte ich noch betonen. Früher waren die Zeiten nicht so fein wie heute. Man ging etwas robuster miteinander um, und doch ist deine Sippe die mit Abstand furchterregendste der ganzen Gegend gewesen. Wenn die Kinder nicht spurten, drohten ihnen die Mütter: Wehe, du gehorchst nicht, dann rufe ich einen Xeramen und aus ist es mit dir!
Ich fahre nach Hause. Mein Vater spuckt kein Blut mehr. Offenbar hatte er sich so aufgeregt, dass er beim Husten die Schleimhäute verletzt und deshalb geblutet hat. Das Essen schmeckt ihm. Den Käsekuchen hat er voller Stolz seinem Bettnachbarn präsentiert. Er hat jetzt mich und meinen Kuchen zum Angeben. Adam hat nach mehrmaligem Fragen zugegeben, dass ihm der Kuchen schmecke. Allerdings meinte er auch den Grund zu kennen. Weil ein Kilo Quark drin sei, damit sei es keine große Kunst, einen Käsekuchen zum Schmecken zu bringen. Mein Vater pflichtete kennerhaft bei: Ja, ein ganzes Kilo Quark. Ich wollte die beiden nicht durcheinanderbringen. Im Kuchen ist bloß ein halbes Kilo Quark. Ich habe ein gutes Gefühl.
Mein Vater ruft an.
Keine guten Nachrichten, Tochter.
Was denn, Papa?
Doktor Visite sagt Krebs.
Was Krebs?
Krebs.
Ganz ruhig, Papa. Bist du sicher, dass du das richtig verstanden hast?
Karr-si-nomm.
Karzinom? Ist das Krebs?
Wann kommst du?
Jetzt. Ich komme jetzt sofort.
Auf der Station angekommen halte ich Ausschau nach einem Arzt. Ich klopfe an die Scheibe des Schwesternzimmers und bitte darum, mit einem Arzt sprechen zu dürfen. Die Schwester schaut irritiert. Was ich denn vom Arzt wolle. Ich erkläre ihr, dass ich die Tochter des Patienten im Zimmer gleich nebenan bin. Ja und, fragt die Schwester. Mein Vater rief mich soeben an und teilte mir mit, dass er Krebs habe, erkläre ich. Ja, so ist der Befund, sagt die Schwester. Ja, so ist der Befund, sage ich. Ich möchte mit einem Arzt sprechen, bitte. Weshalb denn, fragt sie erneut.
Ja, warum will ich mit einem Arzt sprechen? Warum will man wohl nach so einer Diagnose mit einem Arzt sprechen? Was antwortet man? Mir fällt keine Antwort ein. Ich bleibe weiter stehen. Sie greift zum Hörer und spricht hinein. Dann geht sie. Ich bleibe stehen. Von weitem sehe ich eine Ärztin in meine Richtung laufen. Sie hält mir ihre ausgestreckte Hand wie eine Waffe entgegen.