Mädchenleben

Inhaltsübersicht

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Ein Mädchen ist verschwunden. Ich spüre, dass man mich verdächtigt, deshalb bin auch ich verschwunden und schreibe jetzt, was ich weiß, um zu beweisen, dass nicht ich es war, der am Verschwinden des Mädchens schuld ist. Auf jeden Fall nicht mehr als jeder andere.

Ich sitze in einer unvollkommen heizbaren Berghütte und schreibe Mädchenleben.

 

Genaue Erhebung über diesen Sonntagnachmittag.

Um 16.12 Uhr wurde das Verschwinden festgestellt.

Für alle ein Rätsel.

Hinweise: Sie hat schlecht gegessen seit Monaten.

Sie hat abends lange gesungen.

Sie hat Freundinnen verraten und ihnen alles geschenkt.

Sie hat des Öfteren versucht, sich im Sand einzugraben.

Sie sagte: Wann kommt wieder früher?

 

Die letzten Tage sind zu schildern, aber auch das ganze nachbarliche beobachtete Leben des Herrn Zürn und seiner Frau und seiner zwei Kinder. Diese arme Familie, deren Untermieter ich bin. Frau Zürn wollte die Polizei rufen, Herr Zürn verbot es ihr.

Ach, ihr Ungläubigen, rief er. Die Polizei, lächerlich! Sirte kommt. Wenn es Zeit ist, kommt sie.

 

Ich aber muss berichten, was ich erfahren habe über die Verschwundene. Alles kann eine Bedeutung haben. In der Schule! Eine Kollegin erzählte mir, dass das Mädchen ihr auffiel, weil sie, als sie einmal schlechte Noten bekommen hatte, sich bei ihr meldete und sagte, die schlechten Noten habe sie, die Schülerin, verdient.

Das Mädchen war nie in meiner Klasse.

 

Alles kann helfen, das Rätsel ihres Verschwindens zu lösen. Zu berichten ist, was ich als sogenannter Zimmerherr der Familie Zürn mitgemacht und erfahren habe. Zu berichten wäre zum Beispiel auch, dass ich einmal hörte, wie die Mutter zu Sirte sagte:

Wasch jetzt die Haare.

Sirte: Morgen.

Die Mutter: Das hast du gestern schon gesagt.

Sirte: Aber morgen sicher.

Die Mutter: Das glaube ich dir nicht.

Sirte: Dein Pech.

 

Zu gestehen habe ich, dass ich nach diesem Mädchen eine Sehnsucht habe wie nach nichts sonst. Wenn ich sie nicht mehr sehe, nicht mehr finde, hat das Leben für mich keinen Sinn mehr. Wenn sie nicht mehr in dieser Welt ist, will ich auch nicht mehr drin sein. Oder: Wenn sie hier nicht leben kann, kann ich es auch nicht. Wenn die Welt nicht so ist, dass sie darin leben kann, dann ist diese Welt unbewohnbar für mich.

 

Seit Sirte verschwunden ist, ist nur noch von ihr die Rede. Herr Zürn entdeckte, dass sie keinen Geruchssinn hat. Er habe nicht gewagt, ihr das mitzuteilen. Er machte immer stärkere Geruchsexperimente, bis hin zur Stinkbombe.

Frau Zürn: Ob sie nach Indien ist? Aber dann hätte sie doch von sich hören lassen.

 

Weil ich so viel über Sirte gesammelt und mitgeteilt habe, stehe ich unter Verdacht und bin in der U-Haft gelandet. Mein Rechtsanwalt brachte mir Schokolade mit und aß sie dann selber auf. Aber ich konnte eine Unschuld nachweisen, die ich nicht habe, und bin wieder auf freiem Fuß.

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Und dann war sie so plötzlich, wie sie verschwunden war, wieder da, und ich kehrte aus den Bergen zurück. Sie kam zu mir und sagte: Es war ein Absprung. Ein Versuch. Sie werden es noch begreifen.

 

Ludwig Zürn, unter anderem Immobilienhändler, berichtete mir, weil er weiß, dass ich jetzt alles sammle: Wenn er merkt, dass Sirte keine Bewunderung erregt, nicht einmal Aufmerksamkeit, und sie es selber auch bemerkt, dass sie nicht bemerkt wird, und immer greller einfordert, bemerkt zu werden, ja, was soll er denn da tun, als sie an sich zu drücken, bis sie weinen kann.

 

Zu berichten ist auch, dass Herr Zürn einmal zu plötzlich von seinem Schreibtisch aufstand, in den Garten hinausrannte und auf seine Frau einschlug. Sie war gerade dabei, Lupinen zu setzen, ihre Lieblingsblumen. Dann dieser Ausbruch nach einem Telefonanruf. Das Klingeln hatte ich gehört und nach einem kurzen Gespräch das Auflegen des Hörers. Dann war es noch eine Zeit lang ruhig gewesen. Dann ging er vors Haus, stand noch einen Augenblick da, sah seiner Frau zu, und dann hin und schlug auf sie ein. Sie fiel in die weiche Erde. Sie schrie nicht. Sie sagte nur immer: Ludwig, Ludwig. Beschwörend, als wolle sie sagen: Ludwig, die Nachbarn, wenn das jemand sieht. Und Sirte war nebenan. Ich hörte, wie sie die Vorhänge vorzog, dann hörte ich ein gezogenes Weinen. Eher ein Winseln. Plötzlich ein Trampeln. Nicht laut, aber sehr schnell. Und nicht hin und her und nicht sich entfernend, sondern ein ganz schnelles Trampeln an Ort und Stelle, wie ein Trommelwirbel. Dann hörte es wieder auf. Das Winseln blieb noch eine Zeit. Dann hörte es auch auf.

 

Beide Zürn-Kinder haben sehr schwache Stimmen. Karla, die dickere, hat eine schwächere Stimme als Sirte, die dünnere.

 

Zu berichten ist jetzt: Wenn es stürmte, rannte Sirte in den See und wollte nicht mehr heraus, und wenn sie herauskam, redete sie und war nicht zu unterbrechen, und zwar redete sie da laut und bestimmt und schnell. Was sie da redete, konnte man nicht verstehen, es musste einfach laut und schnell geredet werden.

Wenn der Hund mit Sirte im Wasser war, kam Karla: Wie lang warst du mit ihm im Wasser? Ist er dir nachgeschwommen? Geh da sofort weg! Blöde Sau, blöde.

 

Sirte einmal zu mir: Ich kann mich nicht zusammennehmen. Ich müsste mich entschließen, die Arme auszustrecken, dass die Hände irgendwo Halt fänden. Ich treibe abwärts. Vielleicht nimmt die Geschwindigkeit zu. Und Angst habe ich auch. Diese Angst macht müde. Ich könnte gähnen vor Angst.

 

Wie sie Speichel schleudern und zurückholen kann durch die Zahnlücke unten. Wie die Schlangenzunge schießt der solide weiße Faden heraus und wieder zurück. Dabei bleibt sie ganz ernst. Sirte war fünf Jahre, acht Monate und siebzehn Tage, als sie ohne Aufforderung begann, die s-Laute zu korrigieren. Das spitze Kinder-S, das bisher für alles herhalten musste, wurde abgeschafft. Alles mit sch überzogen. Schon nach ein paar Tagen so viele verschiedene sch-Laute wie bei einer Schneeschmelze – tropfen, zischen, schmelzen.

 

Berichtet werden muss außerdem, wie Karla beim Mittagessen mit Sirte über die Abiturarbeit spricht: Zehn Fehler, zwei Wörterfehler, numquam statt nonumquam, und für durchwandern hat sie delare, das gibt es gar nicht, das heißt peragrare. Hörst du.

Aber Sirte hat nicht zugehört.

Du bist sehr unhöflich, du sitzt mit uns am Tisch, wir sprechen mit dir, sprechen deinetwegen, aber du hörst nicht zu, was wir sprechen.