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Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-55500-8

ISBN E-Book 978-3-688-10220-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10220-4

Anmerkungen

Der Anfang oder: Ich kenne mich nicht aus

Vgl. zur Wortgeschichte von ‹Philosophie›: G. Colli, Die Geburt der Philosophie, Frankfurt 1981. Bruno Snell hat festgestellt, daß sophia anfangs neben techne als das Wissen und Können im Beruf steht. Das geistige Interesse tritt dann besonders hervor in der Poesie. So heißen die Dichter anfänglich sophoi. Andererseits weitet sich in der vorplatonischen Philosophie die sophia über den Kreis des eigenen Nutzens hinaus zu einer allgemeinen Lebensklugheit aus. In diesem Sinne sprach Herodot von den ‹Sieben Weisen›. Rein intellektuell gefaßt wird diese Lebensklugheit zuerst in Ionien. Vgl. B. Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Göttingen 1922; B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 1986 (6. Aufl.); W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt 1987, S. 178f; E. Martens und H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 40ff.

Ich verstehe diese Anspielung auf den ‹Radikalen Konstruktivismus› nicht als Anerkennung eines neuen Weltbildes, das uns wieder einmal eine endgültige Wahrheit über das Funktionieren und die Struktur jedes lebenden Systems vorschreibt. Der Begriff ‹Autopoiesis› liefert nur ein Bild, das einen bestimmten, wenngleich m.E. wesentlichen Zug des Philosophierens zu skizzieren erlaubt, mehr nicht. Das Konzept der ‹Autopoiesis› ist zunächst von den beiden chilenischen Biologen Francisco J. Varela und Humberto R. Maturana entwickelt worden. Es hat unterdessen, in den verschiedensten Bereichen, seine Anhänger gefunden, u.a. Niklas Luhmann, Paul Watzlawick, Siegfried J. Schmidt, Ernst von Glaserfeld, Heinz von Foerster, Peter M. Hejl.

Die sechs Oppositionen, an denen das Sprachspiel der Philosophen dekonstruiert wird, sind paradigmatisch gemeint. An ihnen wird die allgemeine Struktur dieses Sprachspiels vorgeführt, für die auch andere Beispiele einstehen könnten wie gut/böse; schön/häßlich; rational/irrational; Sinn/Unsinn; Ordnung/Chaos; Eigenes/Fremdes; Subjekt/Objekt etc. An all diesen Oppositionen ließe sich die inimicus-Struktur philosophischer Rätsel erhellen. Denkbar wäre auch eine Philosophiegeschichtsschreibung, die auf einzelne Philosophen intendierte und zeigen würde, in welchem Maße sie jeweils durch eine (oder mehrere) dieser Rätselformen besessen waren.

Wittgenstein hat als ersehntes Ziel dessen, der philosophiert, «Friede in den Gedanken» postuliert (vgl. Werkausgabe Band 8, S. 511). Auch in den «Philosophischen Untersuchungen» findet sich ein ähnliches Motiv: «Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, sodaß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen» (PU 133). Aber eine solche ‹Entdeckung› ist ihm trotz lebenslanger Mühe nicht gelungen. Bis zu seinem Tode blieb er in der philosophischen Aus-einander-setzung gefangen, deren aporetische, verhexende Struktur unlösbar blieb. Gerade durch den ungeschlichteten Widerstreit blieb sein Philosophieren lebendig, selbst wenn es oft wie ‹gepeitscht› erscheint.

Auch die aktuelle Auseinandersetzung zwischen den tonangebenden Tendenzen der deutschen (Apel, Habermas, Tugendhat, Schnädelbach) und der französischen (Deleuze, Derrida, Lyotard) Gegenwartsphilosophie dokumentiert – gleichsam auf einer Metaebene – die Fruchtbarkeit eines Philosophierens im Widerstreit. In Opposition zueinander stehen: Konsens und Dissens, Einheit und Vielheit, Logozentrismus und Differenz, Universalismus und Ereignishaftigkeit, Homogenität und Heterogenität etc. – Um eine Schlichtung dieses Streits ist besonders Manfred Frank bemüht. Vgl. zuletzt: M. Frank, Die Grenzen der Verständigung, Frankfurt 1988. Dabei wird deutlich, daß dieser dialogische Versöhnungsversuch selbst «konstruiert oder richtiger: erfunden werden muß» (ebd., S. 22) und dabei wiederum an ‹Grenzen› stößt, an denen sich der ‹polemische› Widerstreit metaphilosophisch perpetuiert.

1.2 Welche Wege des Suchens allein zu denken sind

Parmenides wurde wahrscheinlich in Elea geboren, einer von ausgewanderten Phokäern an der italienischen Westküste, etwa 40 Kilometer südlich von Paestum gegründeten Kleinstadt. Als sein Lehrer wird, zurückgehend auf Platons Charakterisierung des Parmenides im «Theaitetos» (183 e) und im «Parmenides» (127 a), allgemein Xenophanes genannt. Er dürfte ungefähr um 540 v. Chr. geboren worden sein. Sein Lehrgedicht wird um die Jahrhundertwende datiert. Aber das ist nicht zwingend, und auch eine Abfassung in etwas späterer Zeit, etwa um 480 v. Chr., ist möglich. – Ich zitiere den Spruch des Parmenides nach der Übersetzung von Uvo Hölscher.

Bereits Platon und Aristoteles haben Parmenides als ‹Weltlaufanhalter› und ‹Unnaturforscher› abgewertet. Seitdem ist immer wieder die Leerheit und Tautologie der parmenideischen Ontologie kritisiert worden. E. Topitsch hält das Ganze für eine Sackgasse (Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, München 1972, S. 148). Parmenides mußte «das Leben opfern», sagt Paul Tillich (Der Mut zum Sein, Stuttgart 1953, S. 28). Aber dieses Opfer befreit nicht vom Geopferten: «Der parmenideische Philosoph haßt gerade das Blut seiner Opfer, das Blut der von ihm geopferten Empirie» (F. Nietzsche, Werke III, S. 388). Klaus Heinrich versuchte zu zeigen, welch hohen Preis Parmenides für seine abstrakte Entdeckung zu zahlen hatte: Er mußte die Lebendigkeit des Seins verwerfen, den Anspruch auf Gemeinschaft mit den Menschen und schließlich auch den Anspruch auf eine Erfüllung des Lebens in Zielen (Parmenides und Jona, Frankfurt 1982, S. 93). – Das mag ja alles zutreffen. Aber es tangiert m.E. nicht die große gedankliche Leistung des Parmenides, dessen logische Entdeckung uns auch heute noch wesentlich mehr zu denken gibt als irgendwelche historisch stets relativierbare Meinung über das Leben. Und es sollte auch nicht übersehen werden, daß sich der Bannspruch des Parmenides nicht gegen das ‹Ja› richtet, sondern gegen das ‹Nein› und das ‹Nichts›.

1.3 Sechs Auswege

Vgl. den Überblick bei Vincent Descombes, Das Selbe und das Andere, Frankfurt 1981, S. 32ff. – Für das Sein der Differenz plädiert z.B. Alexandre Kojève, Hegel, Frankfurt 1975, S. 318f, mit dem Hinweis: «Parmenides sagte zu Recht, daß das Sein ist und daß das Nichts nicht ist, aber er vergaß hinzuzufügen, daß es einen ‹Unterschied› zwischen dem Nichts und dem Sein gibt, der in gewissem Umfange mit gleichem Recht wie das Sein ist, da ohne einen solchen Unterschied zwischen dem Sein und dem Nichts das Sein selbst nicht wäre.» Daraus läßt sich aber wiederum schließen, daß die Differenz zwischen Etwas und Nichts nicht ist, zumindest soweit ‹Sein› bedeutet ‹Etwas-Sein›. «Denn wenn die Differenz zwischen Etwas und Nichts selber etwas wäre, bedürfte es einer neuen Differenz, um die Differenz, die etwas ist, vom Nichts zu unterscheiden. Daraus folgt, daß ‹Sein› nicht notwendig ‹Etwas-Sein› (das heißt ‹Identisch-Sein›) bedeutet» (V. Descombes, Das Selbe und das Andere, S. 48). Gilles Deleuze (Différence et répétition, Paris 1968) und Jacques Derrida haben diese Antinomie einer Differenz, die sowohl als seiend wie auch als nichtseiend gedacht werden kann, weiterentwickelt. In einem ersten Schritt hat Derrida die Begriffe des ‹Seins› und des ‹ist› durchgestrichen, um so die Überschneidung von Bejahung und Verneinung zu indizieren. In einem zweiten Schritt versucht er, mit dem Begriff der (Ur-)Spur die Logik dieser Durchstreichung zu markieren. Etwas Neues taucht auf, das dem klassischen Schema von Ja und Nein, Präsenz und Nichtsein entrissen ist. Es wird als «reine Bewegung» gedacht, welche die eingespielten Differenzen hervorzubringen vermag. «Die (reine) Spur ist die * Differenz» (J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt 1974, S. 109). Das Sternchen der * Differenz signalisiert dabei die besondere Schwierigkeit des Übersetzers. Denn Derrida spielt hier mit der unhörbaren Differenz zwischen «différence» und «différance», zwischen Unterschied und unendlichem Aufschub: Die «différance» wird als eine nichtseiende Spielbewegung imaginiert, welche die Differenzen produziert und selbst niemals präsent sein kann (vgl. J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Frankfurt/Berlin/Wien 1976, S. 6–37). Die Dichotomie zwischen Seiendem und Nichtseiendem wird aufgelöst durch eine nichtpräsente Spur, «die nicht mehr zum Horizont des Seins gehört, sondern deren Spiel den Sinn des Seins trägt und säumt: das Spiel der Spur oder der différance, die keinen Sinn hat und die nicht ist. Die nicht angehört. Keine Jetztheit, keine Tiefe für dieses bodenlose Schachbrett, auf dem das Sein ins Spiel gebracht ist» (ebd., S. 30). – Nur vor dem Hintergrund der parmenideischen Verwirrung, die sich im unfaßbaren Spannungsverhältnis zwischen Sein und Nichts verlor, haben diese Überlegungen ihren Sinn. Sie bejahen das unlösbare Problem des Parmenides durch ein fröhliches Denken, lachend und tänzerisch.

Bereits Platon hatte ein ähnliches Feuerwerk mit den eleatischen Begriffen ‹Sein› und ‹Nichts› veranstaltet. Auch Derridas Begriff der Spur wurde dabei, als Konzept des ‹Bildes›, durchgespielt: das Bild als wirklich-seiendes nichtwirklich Nichtseiendes (Sophistes 239 e 1–241 b 3).

1.4 Der sprachlogische Zeigefinger

Auch die Linguistik, für die Sprache kein Anlaß zu philosophischer Reflexion ist, sondern nur gegebenes Objekt einer wissenschaftlichen Analyse/Synthese, hat es mit der Negation nicht leicht. Strukturell gesehen hängt das damit zusammen, daß die Negationswörter weder einer bestimmten Wortklasse eingegliedert noch auf bestimmte grammatische Funktionen festgelegt werden können. Daran scheiterte eine rein distributionalistische Analyse. Vgl. Gerhard Stickel, Untersuchungen zur Negation im heutigen Deutsch, Braunschweig 1970. Einen ersten Ausweg bot der Weg in die grammatische Tiefenstruktur, indem man alle Negationswörter aus einem tiefenstrukturellen Zeichen NEG ableitet, wobei allerdings unklar bleibt, welchen Status von Gegebenheit dieses NEG besitzt. Vgl. zur linguistischen Negationsforschung bes.: Wilfried Kürschner, Studien zur Negation im Deutschen, Tübingen 1983; Wolfgang Heinemann, Negation und Negierung, Leipzig 1983.

Quine favorisiert als kanonische Notationsform den ‹quantifizierten Prädikatenkalkül›. Seine Elemente sind: Existenzquantor «(∃x)»; Allquantor «(x)»; Individuenvariable «x» und Prädikatvariable «F». Deren einfachste Verkettungen sind:

(∃ x) Fx

 – es gibt ein x und x ist F

(x) Fx

 – für alle x gilt: x ist F.

Durch die Quantoren wird die Individuenvariable ‹gebunden›. In diesem syntaktischen Gefüge funktioniert die Negation «∼» symmetrisch:

∼ (x) Fx

≡ (∃ x) ∼ Fx

∼ (∃ x) Fx

≡ (x) ∼ Fx

(x) Fx

≡ ∼ (∃ x) ∼ Fx

(∃ x) Fx

≡ ∼ (x) ∼ Fx

2 Dieser Satz ist nicht wahr. Die Antinomie des lügenden Kreters

Erste Zweifel an der Echtheit des 1. Paulusbriefs an Timotheus hat J.E.C. Schmidt geäußert. Ihm folgte Friedrich Schleiermacher in seinem «Sendschreiben an J.C. Gess» (1807). Wenige Jahre später dehnte J.G. Eichhorn (1812) dieses Urteil auf alle drei Pastoralbriefe aus. H.J. Holtzmann hat alle Einwände zusammengefaßt und die weitere bibelexegetische Recherche nachhaltig beeinflußt: Die Pastoralbriefe, kritisch und exegetisch bearbeitet, Leipzig 1880. Auch der Brief des Paulus an Titus («im Dienst des Glaubens der von Gott Erwählten und der Vollerkenntnis der Wahrheit») ist nur eine ‹Fiktion›, ein pastoraler Schachzug im Kampf eines bereits recht weit entwickelten Kirchenrechts gegen die Bedrohung seitens eines jüdisch-gnostischen Synkretismus, der die Gemeinde auf Kreta unbotmäßig mit unwillkommenen «Lügen» zu unterwandern droht. Vgl. zu diesem religiösen Streit: W. Nauck, Herkunft des Verfassers der Pastoralbriefe, Göttingen 1950.

2.1 Sophistische Fangstricke

Ähnlich wie der ‹Lügner› funktioniert der ‹Betrüger›. ‹Elektra› und ‹Verhüllter› fragen so: Kennst du diesen (verhüllten) Menschen? Nein. Er ist aber dein Bruder/Vater; also kennst du deinen Bruder/Vater nicht. Der ‹Gehörnte›: Was du nicht verloren hast, das hast du noch. Hörner hast du nicht verloren. Also hast du Hörner. Der ‹Gehäufte› und der ‹Kahlkopf› beziehen sich auf das schlechte Unendliche und das quantitative Fortgehen, das zu keinem qualitativen Gegensatz kommen kann und sich am Ende doch bei einem qualitativen Gegensatz befindet: Mit wieviel Körnern beginnt ein Haufen? Wieviel Haare muß man verlieren, um glatzköpfig zu sein?

2.4 Formalistische Scheinlösungen

In mehrwertigen Logiken könnte die Lügnerantinomie den Wahrheitswert «unbestimmt» erhalten. Berücksichtigt werden damit «truth-value gaps», die zwischen den Wahrheitswerten «wahr» und «falsch» sich einnisten können. Saul Kripke ist dabei noch einen Schritt weitergegangen und hat jene Sätze als paradox charakterisiert, die «keinen Wahrheitswert» zugewiesen bekommen können (Outline of a Theory of Truth, in: Journal of Philosophy 72 (1975), S. 690–716). – Auf der Suche nach ähnlichen Lösungen, freilich mit neuen Folgeproblemen, befinden sich z.B. Bas C. van Fraasen, H.G. Herzberger, Anil Gupta. – In Deutschland hat zuletzt Ulrich Blau einen Lösungsvorschlag ins Spiel gebracht, der mit einer sechswertigen Logik mit unendlich vielen Reflexionsstufen arbeitet (Vom Henker, vom Lügner und von ihrem Ende, in: Erkenntnis 19 (1983), S. 27–44; U. Blau, Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, in: Erkenntnis 22 (1985), S. 369–459). – Um ein hohes Maß an neuer und offener Virulenz des Lügnerproblems zu erreichen und dadurch auch Ulrich Blaus Lösung zurückzuweisen, hat Rudolf Schüßler den «Super-Lügner» erfunden. Er ist «noch cooler und noch gemeiner als seine Vorgänger» (Nachwuchs für den Lügner, in: Erkenntnis 24 (1986), S. 219–234).

Der allerneueste Lösungsvorschlag stammt von Jon Barwise und John Etchemendy (The Liar, New York/Oxford 1987) und ist in seinen Grundzügen von Volker Beeh referiert worden (Wahrheit, Theoremheit, Beweisbarkeit und die entsprechenden «Lügner-Sätze», in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 7/2 (1988), S. 151–172), der das Lügner-Paradox als einen Grenzfall des Denkens und Sprechens vorstellt, «der nicht ausreichend durchdacht ist» (ebd., S. 151). Diesen Mangel glaubt Beeh behoben zu sehen, wenn die semantische Wahrheitsantinomie syntaktisiert/gödelisiert und im Hinblick auf einen konsistenten Theoriekalkül T bewiesen wird, daß T weder den Lügner-Satz noch seine Negation wahr macht, sondern beide falsch. Im Rahmen einer syntaktisch konstruierten Theorie T mag das beweisbar sein. Aber ist damit das rätselhafte Problem des «ich lüge» gelöst, das philosophiegeschichtlich doch etwas ausreichender durchdacht worden ist als Beeh wahrzunehmen bereit ist?

3.1 Fragen und Verwicklungen

In diesem Streit geht es nicht nur um die philosophisch allgemeine Spannung zwischen metaphysischem Einheitsdenken und kontextualistischer Zerstreuung. Es handelt sich auch um das Problem, ob und wie sich «die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen» behaupten kann (Jürgen Habermas) oder ob diese Einheit heute nicht zu einer völlig illusionären Größe geworden ist, der nur noch ein Grabmal gesetzt werden kann (Jean-François Lyotard). Diese Frage aber ist, wenn man sie soziologisch konkretisiert, das Problem des bürgerlichen Intellektuellen und seiner Verantwortlichkeit. Verwirrt wird er hin- und hergerissen zwischen Universalismus und Partikularismus. Auf der einen Seite zwingen ihn sein Denken und sein Humanismus zur Einnahme eines universalistischen Standpunktes, der sich von partikularen Festlegungen und Einschränkungen befreit. Er spricht, denkt und handelt aus der fiktiven Position des Menschen, der Menschheit, des Lebens oder einer ähnlichen Entität. Auf der anderen Seite ist er faktisch geprägt durch eine besondere gesellschaftliche, sprachliche und erkenntnismäßige Situation, die nur gewaltsam universalistische Geltung erreichen kann. In der Regel ist er Teil der (klein-)bürgerlichen Klasse und teilt deren Perspektive. Vgl. zu dieser widersprüchlichen Stellung des Intellektuellen als «singularer Universaler» Jean-Paul Sartres Plädoyer für die Intellektuellen, in: J.-P.S., Mai ’68 und die Folgen, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 9–64. Auch auf diesen Widerspruch spielt das prädikative Urteil «Sokrates ist ein Mensch» an, in dem die Partikularität eines mit seinem Eigennamen bezeichneten Individuums vermittelt wird mit der überindividuellen Kategorie eines humanen Wesens, das nicht zufällig ein Philosoph war und im Namen eines universellen Subjekts zu sprechen versuchte.

3.2 Platons Rätsel

Das Argument des dritten Menschen trifft strenggenommen nicht Platons eigentliche Lehre, sondern nur ihre mythisch-metaphorische Einkleidung. Es stellt nicht Platons Konzeption eidetischer Begriffe, mit denen wir ‹abstrakte Objekte› repräsentieren, in Frage, sondern allein deren konkretistische Verdinglichung: als seien diese abstrakten Objekte selbst Gegenstände vom Typ konkreter Gegenstände und empirischer Singularitäten. Aus dem Argument des dritten Menschen folgt nicht, daß es keine platonistischen Begriffe oder Ideen gibt, sondern allein, daß, falls es sie gibt, sie nicht den konkreten Einzeldingen ‹gleichgemacht› oder ähnlich sein können.

3.4 Ockhams Rasiermesser

Ockhams Zeichentheorie steht in der Tradition jener ‹terministischen› Lehrbücher, die bereits zwischen 1230 und 1250 erstellt worden sind, z.B. von Wilhelm von Sherwood. Auch das Konzept der ‹Supposition› hat hier seinen Ursprung. In Abgrenzung zur significatio, mit der das prädikative (konnotative) Sprechen über das (denotierte) Suppositum ausgedrückt wird, steht die suppositio als Gebrauch eines Terminus für etwas. Suppositio heißt allgemein ‹Denotierung eines Subjekts›, d.h. alles, für das ein Subjekt eines konkreten Satzes steht, eingegrenzt zwischen logischen Synkategoremata (wie: ein, alle, kein) und zugesprochenem Prädikat. Sie kann in verschiedener Weise verwendet werden:

  • als suppositio materialis für den Ausdruck selbst: HOMO est nomen;

  • als suppositio simplex für den Allgemeinbegriff als solchen oder für den ganzen durch den Terminus ausgedrückten Inhalt: HOMO est species;

  • als suppositio personalis für die extramentalen Supposita: HOMO est animal.

Die suppositio personalis läßt sich weiter untergliedern in suppositio personalis discreta (SOCRATES currit) und suppositio personalis communis, die wie derum als determiniert (aliquis HOMO currit) oder konfus (omnis homo est animal) ausgesagt werden kann. – Allgemein kann die terministische Suppositionslehre als ein Versuch angesehen werden, die semantischen Voraussetzungen und Folgen der aristotelischen Satz- und Kategorienlehre explizit darzustellen. Darauf konnte Ockham aufbauen. Die ontologische Struktur der Wirklichkeit wurde dabei zunehmend verflüchtigt zugunsten einer Erhellung der intentiones animae, denen keine intentiones ex parte rei mehr entsprechen müssen.

Ockham hat sein sprachkritisches Rasiermesser besonders schön am Beispiel «Die Menschheit ist in Sokrates» (humanitas est in Sorte) arbeiten lassen. Wo liegt der absolute Fehler? Ockham fragt: Wofür steht hier der Ausdruck «Menschheit»? Universalienrealistisch ist man versucht zu sagen: für eine universale Essenz, eine Art dinglichen überindividuellen Wesens. «Wenn der Ausdruck für ein Ding (pro re) supponiert, dann frage ich: Für welches Ding? Entweder für Sokrates oder für einen Teil des Sokrates oder für ein Ding, das weder Sokrates noch ein Teil von ihm ist» (SL II, 2 (4)). Alle drei möglichen Antworten halten Ockhams scharfsinniger Kritik nicht stand und werden durch eine reductio ad absurdum argumentativ widerlegt. «Und so ist es klar, daß dieser Satz ‹Die Menschheit ist in Sokrates› absolut falsch ist.» Er ist nur ein ontologischer Scheinsatz, der in der ökonomischen Ordnung sinnvollen Sprachgebrauchs nichts zu suchen hat.

3.6 Rückblick

Die ungelöste Spannung zwischen Allgemeinem und Einzelnem ist philosophiegeschichtlich durch dialektische Vermittlungsversuche zu entschärfen versucht worden. Von der aristotelischen Einbindung allgemeiner Wesenheiten ‹in› die einzelnen Erscheinungen über die mittelalterlichen Versuche eines dritten Weges bis hin zu den modernen dialektischen Kompromissen (von Hegel bis Adorno, von Schelling bis Habermas, von Schleiermacher bis Frank) reicht das Band eines Denkens, das mit der Figur des Einerseits-andererseits, Sowohl-als-auch spielt. Diese Lösung des Universalienstreits lebt paradoxerweise von seiner logischen Unlösbarkeit, indem sie den Widerspruch als Prinzip dialektisch positiviert. Insofern ist auch sie kein Mittel gegen das philosophische ‹Jucken›, sondern nur eine seiner möglichen Erscheinungsformen.

4.1 Ludwig Wittgenstein – ein Mystiker?

In einem Brief an L. Hänsel vom 13.12.1920 hat Wittgensteins Schwester Hermine geschrieben: «Ich hätte (oft) lieber einen glücklichen Menschen zum Bruder, als einen unglücklichen Heiligen! Denn bei einem Heiligen weiß man nie, wie es weiter geht!» (zit. nach Wuchterl und Hübner 1979, S. 84 f). Auch Wittgenstein fühlte sich oft nur noch einen Schritt vom Wahnsinn entfernt und fürchtete, ihn weiterzugehen. Das mag eines der Motive sein, sich mit mystischer Intention und Intensität auf das Unsagbare zu konzentrieren, um es ‹von innen› zu begrenzen, aus der Position eines sinnvoll Sagbaren, das klar und deutlich ist und sicheren Halt verspricht. – Über Wittgensteins Mystik liegen einige erhellende Studien vor. Ich verweise auf John A. Irving (1959), B.F. McGuinness (1966), Eddy Zemach (1966), Rolf-Albert Dietrich (1971), Jerry S. Clegg (1985). – Die Frage, ob Wittgenstein ein ‹religiöser Mensch› war, ist schwer zu beantworten. Gewiß ist, daß er keinen bestimmten religiösen Glauben angenommen hat. Und die Idee eines Schöpfers, der die Welt geschaffen hat, war ihm ebenso unbegreiflich wie all die theologischen Beweise und Versuche, dem religiösen Glauben eine rationale Grundlage zu geben. Aber doch taucht bei ihm immer wieder die Vorstellung von einem Gott auf, die er zu begreifen versucht, sofern sie in dem Bewußtsein der eigenen Sünde und Schuld enthalten ist. Aber diese Vorstellung, die sich oft als Anruf «Möge Gott geben, daß …» äußert, bezieht keine theologische Position. Sie kann nicht sinnvoll gesagt werden. Sie drückt vielmehr ein sicheres Vertrauen aus, das trotz aller Verzweiflung vor dem Wahnsinn und dem Schritt ins Nichts schützt, eine Art von Seelenzustand, «in dem man geneigt ist zu sagen: ‹Ich bin sicher, nichts kann mir weh tun, was immer geschehen mag›» (Malcolm 1987, S. 96; vgl. S. 132ff; zum Unsinn des ‹was immer› vgl. Wittgenstein 1989, S. 14ff).

4.3 Der Streit um die Typen

Gegen diese Schlußfolgerung, die Wittgensteins Satz T 6.522 aus seinem engeren (ethisch-ästhetisch-religiösen) Kontext löst und als Resümee versteht, das auch aus der logisch-philosophischen Abhandlung über den Bildcharakter sinnvoller (wissenschaftlicher) Sätze seine Bedeutung erhält, hat Chris Bezzel einen kritischen Einwand erhoben. Ähnlich wie Wolfgang Stegmüller (1969, 4. erw. Aufl., S. 555ff) und Erik Stenius (1969) akzentuiert er die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes «zeigen»:

  • Extern zeigt (z1) ein sinnvoller Satz, wie es sich in der Welt verhält, wenn er wahr ist, und sagt, daß es sich so verhält;

  • intern zeigt (z2) ein sinnvoller Satz die logische Form der Wirklichkeit, die er mit ihr gemein haben muß, um sie darstellen zu können, ohne das selbst sagen zu können;

  • mystisch zeigt (z3) sich das Unaussprechliche als das Mystische im unsinnigen Gebrauch ethischer, ästhetischer und religiöser Aussagen.

Diese Triade läßt sich noch ergänzen durch ein tautologisches Zeigen (z4), das bereits anhand der Form logischer Sätze sehen läßt, daß sie nichts sagen und sinnlos sind, obwohl nicht unsinnig. Sie gehören zum Symbolismus, und zwar ähnlich wie die Null zum Symbolismus der Arithmetik (T 4.4611). Wittgensteins mystische Intention wird von Bezzel dabei auf den Bereich von z3 eingegrenzt. «Dieses dritte, mystische Zeigen (z3) ist klar zu trennen von der aktiven menschlichen Satzsinnproduktion (z1) wie von der Spiegelbildlichkeit, die die Logizität der Welt aufweist und verbürgt (z2). Es steht im Zusammenhang mit der philosophischen Frage nach dem ‹Sinn der Welt›, nach der ‹Lösung des Rätsels des Lebens›» (Bezzel 1988, S. 89). Und: «Wittgenstein ist weder logischer Mystiker noch mystischer Logiker … Das Mystische ist nichts Logisches, es ist das Andere zum Logischen, zum Denkbaren, zum Sagbaren» (S. 90). – Aber warum, so mein Gegeneinwand, spricht Wittgenstein in all den Fällen des Sich-Zeigens, das sich nicht sagen läßt, die gleiche Sprache? Immer geht es ihm doch darum, das Undenkbare von innen durch das Denkbare zu begrenzen (T 4.114) und das Unsagbare zu bedeuten, indem das Sagbare klar dargestellt wird! Ist es nur ein Zufall, daß Wittgenstein immer wieder auf die unaufhebbare Differenz zwischen Sagbarem und Zeigbarem intendiert, gleichgültig, ob es sich um sinnvolle, sinnlose oder unsinnige Sätze handelt, um z1, z2, z3 oder z4? Auch wenn es sich bei Ethik, Ästhetik und Religion um das «Andere» zum Logischen, Sag- und Denkbaren handelt, so ist dieses Andere doch gerade auch anhand dessen aufzuzeigen versucht worden, was sich im sinnvollen Gebrauch abbildender Sätze zeigt. Es wäre für mich unverständlich, warum Wittgenstein sich so große Mühe gab, durch sinnkritische Klärungen das Unsagbare zu bedeuten, wenn er dabei nicht auch jener mystischen Intention gefolgt wäre, die es ihm ermöglichte, dem Unsinn zu lauschen, von dem er sich zugleich bedrohen und ansprechen ließ, auf der Suche nach dem, was sich in ihm andeutet. Die Tendenz, gegen die Grenze der Sprache anzurennen, «deutet auf etwas hin». Und gibt es für dieses Etwas, das Heidegger als nicht innerweltlich seiendes In-der-Welt-sein ängstlich gestimmt erfuhr, einen passenderen Namen als: das Mystische?

Diesem ‹Hindeuten› folgte Wittgensteins mystische ‹Intention›, die keine wissenschaftliche oder theoretische Absicht war. Es war nicht sein Ziel, eine mystische Weltsicht zu formulieren oder zu begründen. Seine Intention war vielmehr eine Art philosophischer Triebenergie, die dem verschütteten etymologischen Gehalt des Begriffs intentio treu blieb, der «im ganzen Mittelalter nicht auf das Wollen ging, sondern nur auf das Erkennen, auf die Energie oder Anspannung beim Erkennen» (Mauthner 1980, S. 584 f), auf eine Intensität, die in der scholastischen Metapher vom Bogenspannen und vom Richten des Pfeils als intentio festgehalten worden war. Spielt deshalb der Pfeil und das, worauf er zielt, in Wittgensteins Spätphilosophie eine so große Rolle?

Wittgensteins mystische Intention darf deshalb nicht als mystagogische Gefühlsphilosophie mißverstanden werden, die zu einem Übersprung ins Undenkbare und Unsagbare jenseits der Grenze eines sinnvoll Sagbaren verführt. Seine Intention ist kein schwärmerisches Vermögen der Ergreifung dessen, was keine Erkenntnis erreicht; keine Offenbarung eines verborgenen Geheimnisses, das mystagogisch als das ‹ganz Andere› vorgegaukelt wird. Das unterscheidet Wittgenstein vom späten Heidegger, der – nach seiner ‹Kehre› – den ‹Sprung› in den geheimnisvollen Bereich eines ‹Seyns› riskiert, das jenseits der Grenze von allem Seienden und wissenschaftlich Sagbaren west. Diesen Unterschied zwischen Mystiker und Mystagogen habe ich erläutert anhand der Bemerkung Wittgensteins (30.12.1929) über Heidegger, in: Spuren 29 (1989).

5.1 Im Reich der Bilder

Das Verfahren der Introspektion ist nicht nur philosophiegeschichtlich bedeutsam; es hat auch in der wissenschaftlichen Psychologie seine Vertreter. Die ‹Introspektive Psychologie›, wie sie in Deutschland etwa von Wilhelm Wundt als ‹Elementarpsychologie› (1918, 3. Aufl.), in den USA in modifizierter Form von E.B. Titchener als ‹Strukturalismus› (1907) praktiziert worden ist, hat an jener Tradition eines Blicks nach Innen angeknüpft, die sich eines inneren Schauplatzes sicher war. Die Gefahr des Solipsismus wurde dabei zu umgehen versucht, indem die jeweiligen Ergebnisse der geschulten Introspektion die Struktur des ‹Bewußtseins überhaupt› erfassen sollten und individuelle Unterschiede als Ergebnis mangelnder Introspektionsfähigkeit erklärt wurden. – Dagegen erhob der Behaviorismus seine kritischen Einwände. Er zieht seine Stärke aus der Schwäche seines Gegners. Introspektiv gewonnene Aussagen gelten als nicht intersubjektiv überprüfbar. An die Stelle eines Einblicks ins Ich trat die Beobachtung des äußerlichen Verhaltens. Man kann auch an dieser wissenschaftlichen Debatte sehen, wie sehr hier philosophische Traditionen Pate standen. Ähnliches spielt sich sprachwissenschaftlich ab in der Kontroverse zwischen linguistischen Behavioristen und mentalistischen Kompetenztheoretikern.

5.2 Griechische Stichworte zum Leib-Seele-Problem

Konnte man in Sokrates noch den Ethiker sehen, der die Seele als erzieherisches Medium eines tugendhaften und vernünftigen Lebens bemühte, und in Platon den unübertroffenen Meister eines Gesprächs, durch das die Leere des bloßen Meinens überwunden werden soll, so betritt mit Aristoteles ein neuer Typ die philosophische Bühne. Er ist ein Forscher, der sich der Wirklichkeit und ihren Gesetzmäßigkeiten zuwendet und seiner Philosophie eine möglichst breite, auf planmäßiger, umfassender Beobachtung beruhende Erfahrungsgrundlage zu geben versucht. Sein ganzes Leben wird er damit zubringen, auf die mythologischen Extravaganzen seiner Vorgänger kaltes Wasser zu gießen. Besonders den ‹Ideen› seines Lehrmeisters gilt seine radikale Kritik. Damit war es ihm möglich, das Problem der Seele nicht mehr in Abhängigkeit zur Ideenlehre zu behandeln, sondern unter dem Gesichtspunkt des Lebens. Denn die Verneinung einer ‹wahren Welt›, an der Platons Seele parasitär Anteil hat, läßt auch der Seele nur einen Raum im Diesseits der natürlichen Lebenswelt. Aristoteles geht es um das, was die Einheit von Stoff und Form charakterisiert, ihren hylemorphen Zusammenhalt, der sich in jeder Äußerung eines lebenden Wesens zeigt, bei Pflanze, Tier und Mensch: Pflanzen verfügen über eine vegetative Seele, Tiere über eine Sinnen-Seele und der Mensch noch über eine Vernunft-Seele. Mit ihr tauchen die Probleme auf, für die auch Aristoteles letztlich nur metaphysische Lösungen anbieten konnte.

5.3 Der erste Schritt ist der ganz unauffällige

Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß diese trilemmatische Rekonstruktion des Leib-Seele-Problems sich nicht direkt aus seinen griechischen Anfängen herleiten läßt. Während die beiden ersten Annahmen uns seit der Antike vertraut sind, entsteht die Annahme 3, daß der Bereich der physischen Phänomene als ‹kausal geschlossen› anzusehen ist, erst mit der Entwicklung der modernen Physik im 17. Jahrhundert. Sie zieht die philosophische Konsequenz aus einem naturwissenschaftlichen Programm, welches das körperliche Universum wie eine mechanisch arbeitende Maschine zu erklären versucht. Von Descartes, der jede materielle Körperlichkeit nur noch als geometrisch erfaßbare Ausdehnung begreift und den menschlichen Geist von ihr absondert, bis hin zu den modernen Regulativen eines methodologischen oder ontologischen Physikalismus, der für jedes physische Phänomen nur eine rein physische Ursache zu finden sucht, reicht das Band von Überzeugungen, die durch die Annahme 3 pointiert zusammengefaßt werden können.

Monistische Konzeptionen

Aus der unüberschaubaren Fülle vorgeschlagener (Auf-)Lösungen des Leib-Seele-Problems habe ich hier nur einige besonders einschlägige vorstellen und knapp skizzieren können. Es gibt selbstverständlich auch andere. Hinweisen möchte ich nur auf die aktuelle ‹emergenztheoretische› Lösung Heiner Hastedts, der davon überzeugt ist, daß seine Emergenztheorie die Inkonsistenz des Trilemmas endgültig beseitigt und das Leib-Seele-Problem damit gelöst hat (1988, S. 304ff). Was dabei herauskam, ist allerdings eher ein kompromißlerischer Versöhnungswunsch als eine überzeugende Lösung: Der Geist ist zwar keineswegs in Aussagen über den Körper erfaßbar und bleibt selbstreferentiell auf sich selbst verwiesen; dennoch ist die Emergenztheorie monistisch ausgerichtet und erkennt ontologisch nur eine einzige Wirklichkeit als gegeben an. «Die materialistische Intentionen aufgreifende systematische Emergenztheorie bleibt aber eine Interpretation des selbstreferentiellen Geistes, so daß dieser trotz der Materialität im Rahmen der Teilnehmerperspektive methodisch vorrangig bleibt. Die für das Entstehen des Geist-Körper-Problems insbesondere verantwortliche Annahme I wird also in wesentlichen Punkten in meiner Lösung des Geist-Körper-Problems hinfällig … Die Inkonsistenz der drei Annahmen ist damit in meiner emergenztheoretischen Lösung beseitigt» (S. 305). Das heißt selbstbewußt reden, sieht jedoch eher nach einem Taschenspielertrick als nach einer wirklichen Lösung aus, von deren Notwendigkeit Hastedt a priori überzeugt ist.

5.5 Der Mensch ist das beste Bild der menschlichen Seele

Die Darstellung des Leib-Seele-Problems verblieb hier im Rahmen einer diskursiven philosophischen Argumentation. Sie ließ die Sprache der Dichtung außer acht, in der die Seele seit der frühgriechischen Lyrik eine Heimat gefunden hat. Auch wenn Wittgenstein immer wieder ‹Bilder› benutzt hat, um uns die Seele sichtbar zu machen, so vertraute er doch nicht auf die direkte Kraft einer Sprache, deren Poesie das Seelische auszudrücken vermag. Wittgensteins Bilder dienen nicht dazu, der menschlichen Einbildungskraft einen dichterischen Raum zu schaffen, in dem sie sich phantasievoll bewegen und verlieren kann. Auch die Imagination eines Käfers-in-der-Schachtel stammt, im Unterschied zu Buñuels Filmbild, nicht aus dem unergründlichen Vorrat der Innerlichkeitsträumereien, um einem poetischen Geheimnis sein Schmuckkästchen zu schaffen. Sie empfängt ihr Licht, d.h. ihren Zweck, von dem philosophischen Problem, das sie zu lösen anstrebt. Denn sie läßt die philosophische Konzeption der Seele als eine bildliche Darstellung unserer Grammatik erkennen, gleichsam als eine «illustrierte Redewendung» (PU 295), über die wir uns klar sein müssen, wenn wir uns nicht im metaphysischen Labyrinth verlieren wollen. – Einen anderen Weg ging Heidegger. Er versuchte in seinem Spätwerk, die Seele zum Sprechen zu bringen, indem er sich auf ein Gespräch mit der Dichtung einließ. In seiner Erörterung von Trakls Gedicht «Frühling der Seele» kreist er besonders um den Vers «Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden», um an ihm das Wesen dessen zu erhellen, was «Seele» heißt (Heidegger 1959, S. 39ff; vgl. Derrida 1988, S. 98ff).

Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung

Des Waldes und Mittag war und groß das Schweigen des Tiers;

Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dorn.

Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen.

Dunkler umfließen die Wasser die schönen Spiele der Fische.

Stunde der Trauer, schweigender Anblick der Sonne;

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden. Geistlich dämmert

Bläue über dem verhauenen Wald und es läutet

Lange eine dunkle Glocke im Dorf; friedlich Geleit.

Stille blüht die Myrthe über den weißen Lidern des Toten.

Von diesem Humanismus hat sich besonders jene Wissenschaft verabschiedet, in deren Namen die Seele (Psyche) nur noch eine etymologische Spur hinterlassen hat: die institutionalisierte, experimentalwissenschaftlich orientierte Psycho-logie. In ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung ist ein zunehmender Substanzverlust des Seelischen festzustellen, der am Ende nur noch seelenlose Menschen-Dinge übrigläßt. Im Lexikon der Psychologie kommt ‹Seele› nicht mehr als ernstzunehmender Terminus vor (vgl. Sonntag 1988).

Dagegen opponieren bemerkenswerterweise jene klinisch arbeitenden Neuropsychologen, die trotz ihrer neurologischen Perspektive die ‹Person› – den leidenden, kranken und gegen seine Krankheit ankämpfenden Menschen – wieder in den Mittelpunkt zu stellen versuchen. Sie sehen auch neurologische ‹Ausfälle› nicht als bloß körperliche Tatsachen, sondern versuchen, sie in ihren Auswirkungen auf das Selbst und die Identität des menschlichen Subjekts zu verstehen. Erhellend ist in diesem Zusammenhang die Geschichte eines Mannes, die Oliver Sacks erzählt hat. Nach Abschluß der ersten Sitzung «streckte er die Hand aus und griff nach dem Kopf seiner Frau, den er hochzuheben und aufzusetzen versuchte. Offenbar hatte er seine Frau mit einem Hut verwechselt. Seine Frau sah aus, als sei sie derlei gewohnt» (Sacks 1987, S. 27). Der Patient war nicht blind, seine Augen waren ‹in Ordnung›. Aber er stand der visuellen Welt wie ein Computer gegenüber und analysierte sie, indem er sich an charakteristische und schematische Beziehungen hielt. Verlorengegangen war ihm die Fähigkeit, die Menschen als Personen zu erkennen. «Er betrachtete sie nicht, er setzte sich selbst nicht in Beziehung zu ihnen. Kein Gesicht war ihm vertraut, kein einziges war für ihn ein ‹Du›. Jedes von ihnen stellte für ihn ein ‹Es›, eine Ansammlung von Elementen dar. Dr. P. verfügte also über eine formale, aber über keine personale Gnosis. Das erklärte seine Indifferenz, seine Blindheit für die Sprache der Mimik. Für uns ist ein Gesicht Ausdruck der Persönlichkeit – wir sehen das Individuum gewissermaßen durch seine persona, sein Gesicht. Für Dr. P. jedoch existierte keine persona in diesem Sinne – keine äußerliche persona und keine innere Persönlichkeit» (S. 29 f). Mit Wittgenstein gesagt: Dr. P. sieht den Menschen nicht als Bild der menschlichen Seele, er nimmt das Gesicht nicht als Seele des Körpers wahr. An seiner Unfähigkeit zeigt sich, daß ihm die Seele ein Fremdes geworden ist, so fremd wie der empirischen Wissenschaft, die diese Entfremdung zum Programm erhoben hat. Sie «läßt die Seele und das, was das persönliche Wesen bestimmt und ausmacht, außer acht» (S. 63).

6.2 Diese verhexten Dispositionsprädikate

Die sprachanalytische Klärung des Möglichkeitsbegriffs steht in der langen Tradition eines philosophischen Denkens, für das die Kategorie ‹Möglichkeit› von Anfang an eine logische Provokation gewesen ist. Wie so oft war es auch hier wieder die megarische Schule, die, angeregt durch die eleatische Lehre des unbewegten Seins, das Stichwort gab in Form eines logischen (Schein-)Beweises gegen das Mögliche. Diodoros Kronos: Aus Möglichem kann nichts Unmögliches hervorgehen; da aber ein Mögliches, das nicht wirklich würde, Unmögliches aus sich hervorgehen ließe, nämlich ein anderes Ist als das Ist, das ist, so ist dieses Mögliche selber unmöglich und das Wirkliche als das einzig Mögliche bewiesen.

Damit war der logisch-statische Kampf gegen das Mögliche eröffnet, besonders gegen die Ontologie eines objektiv-real Möglichen. Ernst Bloch hat seine Geschichte in Grundzügen rekonstruiert und zu zeigen versucht, daß auch die großen Denker des Möglichen (Nikolaus von Cues, Spinoza, Leibniz, Kant, Hegel) nur Diodoros Kronos im großen Stil geblieben sind (Bloch 1959, S. 278ff): «stets scheint es das Frische, Kommende zu sein, dessen hier nicht gedacht wird.» Auch die moderne analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts bleibt in dieser Hinsicht gedankenlos.

Die ‹materiale Implikation› ist ebenfalls megarischen Ursprungs und geht auf Philo von Megara zurück. Sie bestimmt die Wahrheit des konditionalen Ausdrucks ‹p→ q› wahrheitsfunktional unter Absehung der Bedeutung von ‹p› und ‹q› allein aufgrund der Wahrheitswerte W und F (wahr/falsch): Der Gesamtsatz ist falsch nur dann, wenn der Vordersatz wahr, der Nachsatz falsch ist; er ist wahr in allen anderen Fällen.

p

q

p→ q

W

W

W

W

F

F

F

W

W

F

F

W

Dahinter steht die Überzeugung, daß nur eine falsche Folgerung aus einem wahren Antezedens logisch notwendigerweise falsch ist; alle anderen konditionalen Wahrheitswertverknüpfungen können demgegenüber wahr sein. Auch aus falschen Sätzen können möglicherweise wahre Aussagen gefolgert werden. – Über die Angemessenheit der materialen Implikation wurde bereits im Altertum heftig gestritten (Peirce 1931ff, 3.441ff; Lukasiewicz 1935); die Diskussion ist auch heute noch nicht beendet (Quine 1969, S. 38ff).

6.3 Das ‹kann› und die menschliche Handlungsfreiheit

Adorno hat die ungelöste Spannung in Kants Freiheitslehre sozialgeschichtlich interpretiert. Der Widerstreit von Gesetz und Freiheit entspricht seinem Standort in der gesellschaftlichen Realität. «Seit dem siebzehnten Jahrhundert hatte die große Philosophie Freiheit als ihr eigentümlichstes Interesse bestimmt; unterm unausdrücklichen Mandat der bürgerlichen Klasse, sie durchsichtig zu begründen. Jenes Interesse jedoch ist in sich antagonistisch. Es geht gegen die alte Unterdrückung und befördert die neue, welche im rationalen Prinzip selbst steckt. Gesucht wird eine gemeinsame Formel für Freiheit und Unterdrückung: jene wird an die Rationalität zediert, die sie einschränkt, und von der Empirie entfernt, in der man sie nicht verwirklicht sehen will … Gesellschaftlicher Nachdruck auf Freiheit als einem Existenten koaliert sich mit ungeminderter Unterdrückung, psychologisch mit Zwangszügen. Sie sind der in sich antagonistischen Kantischen Moralphilosophie gemeinsam mit einer kriminologischen Praxis, in welcher der dogmatischen Lehre von der Willensfreiheit das Bedürfnis sich paart, hart, uneingedenk empirischer Bedingungen, zu strafen» (Adorno 1966, S. 211, 229).

Von dieser Einsicht haben sich die Nachfolger der Kritischen Theorie zunehmend entfernt. Ihre diskursethische Fassung des Moralprinzips ist sozialgeschichtlich immer mehr entleert worden. Von Adornos kritischer Intention gegen die repressive Gewalt der bürgerlichen Klasse, deren ‹Rationalität› nicht frei von Unterdrückung ist, findet sich bei seinen Schülern kaum noch eine Spur. Der antagonistische Widerspruch, der Kants Freiheitslehre durchzog, wird entspannt durch den rationalen Begründungsversuch einer universalistischen Moral, der sich auf die Seite des kantischen Moralgesetzes schlägt und ‹Freiheit› kaum noch als Thema praktischer Philosophie zur Kenntnis nimmt.

Vorwort

Es ist ja kein böses Geschick, das dich fortgeleitet hat über diesen Weg, um ans Ziel zu gelangen – einen Weg, der weitab vom üblichen Pfad der Menschen liegt –, sondern göttliche Fügung und dein Recht.

 

Parmenides

Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer andern zur selben Stelle und kennst dich nicht mehr aus.

 

Ludwig Wittgenstein

1. Der ganzen bisherigen Naturgeschichte verdankt der Mensch seine fünf Sinne. Mit ihnen sieht, hört, schmeckt, riecht und tastet er, was für ihn da ist, stets jetzt und immer hier. Dieses paradiesische Dasein sinnlicher Präsenz mußte der Mensch verlassen. Er lernte das Abwesende, das Nichtexistierende, das Imaginäre kennen. Er muß denken, was es nicht gibt, und sich vorstellen, was möglich ist. Das Sprachvermögen ist sein sechster Sinn, Organ eines kulturgeschichtlichen Sprachspiels, in dem er mitzuspielen gelernt hat. Im Sinn der Sprache entwickelt sich sein Sinn für dies Andere, das nicht präsent ist und oft genug nur eine Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist.

2. Die unaufhebbare Trennung vom sinnlichen Dasein der Dinge, vom Ich-Jetzt-Hier der sinnlichen Gewißheit, fordert zur Frage heraus: Wie steht es um die Differenz zwischen Sein und Nichtsein, konkreten Tatsachen und sprachlichem Ausdruck, Zeigbarem und Sagbarem, Wirklichkeit und Möglichkeit? Gedacht und gesagt werden kann und muß etwas, das nicht oder nur möglich ist. Wie steht es um dieses Etwas?

3. Mit dieser Verschiebung öffnet sich ein endloser Horizont des philosophischen Fragens. Denn keine philosophische Frage kann abschließend beantwortet werden. Jede Lösung wirft neue Folgeprobleme auf, jeder lösende Einfall verstrickt aufs neue in eine Situation des Erstaunens, der Rätselhaftigkeit, oft auch der Ratlosigkeit im eingespielten Medium der Sprache selbst. Mit jeder Antwort verschiebt sich der Horizont des philosophischen Fragens in eine neue Ferne. Angetrieben durch den vordergründigen Wunsch, eine unantastbare und definitive Antwort zu finden und die Probleme endgültig zu beseitigen, begibt sich die Philosophie auf einen endlosen Weg. Immer erneut läßt sie sich durch ihre Rätsel verführen und versucht, sie zu lösen im ungesagten Bewußtsein ihrer Unlösbarkeit. Aus dieser Paradoxie bezieht sie ihre Kraft und Ausdauer.

Im Innern des philosophischen Diskurses taucht das Unlösbare als inimicus auf, als geliebter Provokateur. Gegen ihn wird kein Krieg geführt, um ihn als gegnerischen Feind, als hostispolemos(le différend)inimicus