Jeden Tag erwählt Chalid, der grausame Herrscher von Chorasan, ein Mädchen. Jeden Abend nimmt er sie zur Frau. Jeden Morgen lässt er sie hinrichten. Bis Shahrzad auftaucht, die eine, die um jeden Preis überleben will. Sie stehen auf verschiedenen Seiten und könnten unterschiedlicher nicht sein … Und doch werden sie magisch voneinander angezogen … Eine märchenhafte Geschichte über wahrhaft große Gefühle.
Renée Ahdieh hat die ersten Jahre ihrer Kindheit in Südkorea verbracht, inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und einem kleinen Hund in North Carolina, USA. In ihrer Freizeit ist die Autorin eine begeisterte Salsa-Tänzerin, sie kann sich für Currys, Schuhe, das Sammeln von Schuhen und Basketball begeistern. Mit Zorn und Morgenröte legt sie ihren ersten Roman vor, zu dem es eine Fortsetzung geben wird, an dem die Autorin gerade arbeitet.
Zorn und Morgenröte
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Dietmar Schmidt
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischsprachigen Originalausgabe:
»The Wrath and the Dawn«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Renée Ahdieh
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016: by Bastei Lübbe AG, Köln
E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-7325-2267-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Victor
die Geschichte in meinem Herzen.
Und für Jessica
den ersten Stern an meinem Nachthimmel.
Einst hatte ich tausend Wünsche,
doch in meinem Wunsch, dich zu kennen,
schmolzen sie alle dahin.
Jalal al-Din Rumi
Niemand sehnte den Sonnenaufgang herbei.
Der Himmel kündigte schon den Tag an, mit einem traurigen silbrigen Lichthof von jenseits des Horizonts.
Auf der Dachterrasse des Marmorpalasts stand ein junger Mann neben seinem Vater. Gemeinsam beobachteten sie, wie das erste blasse Licht langsam, aber unentwegt die Dunkelheit fortschob.
»Wo ist er?«, fragte der junge Mann.
Sein Vater blickte ihn nicht an. »Er hat seine Räume nicht verlassen, seit er den Befehl erteilte.«
Der Jüngere fuhr sich durch die welligen Haare und atmete vernehmlich aus. »Die Menschen sind unruhig. Sie werden sich auf den Straßen zusammenrotten.«
»Und du wirst sie unverzüglich auseinandertreiben.« Der ältere Mann richtete seine barsche Antwort an den noch immer trüben Lichtstreifen.
»Unverzüglich? Meinst du etwa, dass auch nur eine Mutter und ein Vater, egal welcher Herkunft und welchen Standes, nicht kämpfen werden, um ihr Kind zu rächen?«
Endlich wandte sich der Vater seinem Sohn zu. Er sah abgehärmt aus, und seine Augen waren eingesunken, als zerrte von innen ein Gewicht an ihnen. »Kämpfen werden sie. Kämpfen sollten sie. Und du wirst sicherstellen, dass ihr Kampf zu nichts führt. Das ist deine Pflicht gegenüber deinem König, und du wirst sie ausführen. Hast du verstanden?«
Der junge Mann schwieg kurz. »Ich habe verstanden.«
»General al-Churi?«
Sein Vater wandte sich dem Soldaten zu, der hinter ihnen stand. »Ja?«
»Es ist vollbracht.«
Sein Vater nickte, und der Soldat ging fort.
Wieder blickten die beiden Männer in den Himmel.
Und warteten.
Ein einzelner Regentropfen traf das ausgedörrte Dach, auf dem sie standen, und versickerte in dem lehmbraunen Stein. Ein anderer prallte auf das eiserne Geländer und zerstob zu nichts.
Schon bald prasselte ringsherum der Regen nieder.
»Da hast du deinen Beweis.« In der Stimme des Generals lag stiller Kummer.
Der junge Mann antwortete nicht sofort.
»Das kann er nicht durchhalten, Vater.«
»Doch, das kann er. Er ist stark.«
»Du hast Chalid nie verstanden. Es geht hier nicht um Stärke, sondern um Substanz. Was er tun muss, wird alles vernichten, was ihn ausmacht, und nur eine leere Hülle zurücklassen – einen Schatten dessen, was er einmal war.«
Der General verzog das Gesicht. »Glaubst du, ich habe mir das für ihn gewünscht? Ich würde mich in meinem eigenen Blut ertränken, wenn ich es damit verhindern könnte. Aber uns bleibt keine andere Wahl.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf und wischte sich den Regen vom Kinn. »Ich weigere mich, das zu glauben.«
»Jalal …«
»Es muss einen anderen Weg geben.« Damit wandte sich der junge Mann vom Geländer ab und stieg die Treppe hinunter.
In der ganzen Stadt füllten sich Brunnen, die längst ausgetrocknet gewesen waren. In rissigen Zisternen, die in der Sonne glühten, schimmerten die Pfützen der Hoffnung, und die Menschen von Ray erwachten zu neuer Freude. Sie rannten auf die Straßen und hoben ihre lächelnden Gesichter zum Himmel.
Den Preis ahnten sie nicht.
Tief verborgen, inmitten des Palasts aus Marmor und Stein, saß ein Jüngling von achtzehn Jahren allein vor einem Tisch aus poliertem Ebenholz …
Er lauschte auf den Regen.
In seinen bernsteingelben Augen spiegelte sich das einzige Licht im Raum.
Ein Licht, das der Dunkelheit zu unterliegen drohte.
Er stützte die Ellbogen auf die Knie und bildete mit den Händen eine Krone über seiner Stirn. Dann schloss er die Augen, und die Worte klangen ihm noch immer in den Ohren, diese Verheißung eines Lebens, das ganz der Vergangenheit verhaftet sein sollte.
Eines Lebens, mit dem er für seine Sünden sühnte.
Einhundert Leben für das eine, das du nahmst. Ein Leben bei jedem Sonnenaufgang. Gehorchst du an auch nur einem einzigen Morgen nicht, nehme ich deine Träume von dir. Dann nehme ich deine Stadt von dir. Und ich werde dir dieses Leben nehmen. Tausendfach.
Sanft waren sie nicht. Wieso auch?
Schließlich erwarteten sie nicht, dass sie den nächsten Morgen überlebte.
Mit abgeklärter Ruppigkeit zogen die Hände Elfenbeinkämme durch Shahrzads hüftlanges Haar und massierten ihr Sandelholzpaste auf die bronzefarbenen Arme.
Shahrzad betrachtete eine junge Dienerin dabei, wie sie ihr die bloßen Schultern mit Goldflitter bestäubte, in dem sich das Licht der untergehenden Sonne fing.
Ein Wind strich über die hauchzarten Vorhänge, die die Wände der Kammer verhüllten. Durch die Holzläden, die zur Terrasse führten und mit Schnitzereien verziert waren, trieb ein süßer Duft nach Zitrusblüten heran und flüsterte von einer Freiheit, die nun außer Reichweite war.
Es war dein eigener Entschluss. Du darfst Shiva niemals vergessen.
»Ich trage keine Halskette«, sagte Shahrzad, als ein anderes Mädchen ihr ein juwelenbesetztes Ungetüm an die Kehle legte.
»Das ist ein Geschenk des Kalifen. Du musst es tragen, Herrin.«
Shahrzad starrte das schlanke Mädchen mit amüsiertem Unglauben an. »Und wenn ich es nicht trage? Tötet er mich dann?«
»Bitte, Herrin, ich …«
Shahrzad seufzte. »Jetzt ist wohl der falsche Moment, darauf zu bestehen.«
»Ja, Herrin.«
»Ich heiße Shahrzad.«
»Das weiß ich, Herrin.« Das Mädchen blickte voll Unbehagen weg und wandte sich ab, um bei Shahrzads goldenem Mantel zu helfen. Während die beiden Dienerinnen ihr das schwere Kleidungsstück über die funkelnden Schultern legten, musterte Shahrzad sich im Spiegel.
Die mitternachtsschwarzen Tressen schimmerten wie polierter Obsidian, ihre haselnussbraunen Augen waren mit sich abwechselnden Strichen von schwarzem Kajal und Flüssigem Gold geschminkt. Mitten auf ihrer Stirn hing ein tränenförmiger Rubin von der Größe ihres Daumens; sein Zwilling baumelte von der dünnen Kette, die um ihre nackte Taille gelegt war, und strich über die Seidenschärpe ihrer Hose. Der Mantel bestand aus hellem Damast und war mit einem komplizierten Muster aus Gold- und Silberfäden durchwirkt. Wo er sich zu ihren Füßen ausbreitete, wirkte er noch undurchschaubarer.
Ich sehe aus wie ein vergoldeter Pfau.
»Sind alle so albern zurechtgemacht?«, fragte Shahrzad.
Wieder wandten die beiden jungen Dienerinnen den Blick voll Unbehagen ab.
Ich bin sicher, Shiva hat nicht so albern ausgesehen …
Shahrzads Miene wurde hart.
Shiva hat sicherlich wunderschön ausgesehen. Wunderschön und stark.
Sie bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, winzige Halbmonde stählerner Entschlossenheit.
Als es leise an der Tür pochte, wandten alle drei den Kopf – und gemeinsam stockte ihnen der Atem.
Obwohl sie all ihren Mut zusammengenommen hatte, begann Shahrzads Herz heftig zu pochen.
»Darf ich hereinkommen?« Die leise Stimme ihres Vaters durchbrach das Schweigen; sie klang bittend, und eine Spur unausgesprochener Zerknirschung lag darin.
Shahrzad atmete langsam aus … vorsichtig.
»Was machst du hier, Baba?« Ihre Worte klangen geduldig, aber sie war auf der Hut.
Jahandar al-Haizuran schlurfte in die Kammer. Sein Bart und seine Schläfen zeigten graue Strähnen, und die zahllosen Farbtupfer in seinen braunen Augen schimmerten und wogten hin und her wie das Meer im Sturm.
In der Hand hielt er eine einzelne knospende Rose, die in der Mitte weiß war, während eine schöne Malvenfarbe die Spitzen der Blütenblätter säumte. Die Blume wirkte, als würde sie erröten.
»Wo ist Irsa?«, fragte Shahrzad.
Man hörte, dass sie beunruhigt war.
Ihr Vater lächelte traurig. »Sie ist zu Hause. Ich habe ihr nicht gestattet, mich zu begleiten, obwohl sie, solange es nur ging, gestritten und gewütet hat.«
Wenigstens in dieser Hinsicht hat er meine Wünsche nicht missachtet.
»Du solltest bei ihr sein. Sie braucht dich heute Nacht. Bitte, tu es für mich, Baba. So wie wir es besprochen haben?« Sie ergriff seine freie Hand und drückte sie fest, beschwor ihn mit ihrem Griff, sich an die Pläne zu halten, die sie ihm in den Tagen zuvor dargelegt hatte.
»Ich … Ich kann nicht, Kind.« Jahandar senkte den Kopf. Ein Schluchzen stieg in seiner Brust auf, und seine schmalen Schultern bebten vor Kummer. »Shahrzad …«
»Sei stark. Für Irsa. Ich verspreche dir, alles wird gut.« Shahrzad hob die Hand und wischte ihm die Tränen vom wettergegerbten Gesicht.
»Ich kann es nicht. Der Gedanke, dass heute dein letzter Sonnenuntergang sein könnte …«
»Es wird nicht der letzte sein. Ich werde auch den morgigen Abend sehen. Das schwöre ich dir.«
Jahandar nickte, auch wenn sein Elend nicht einmal annähernd besänftigt war. Er streckte die Rose vor, die er in der Hand hielt. »Die letzte aus meinem Garten; sie ist noch nicht voll erblüht, doch ich wollte dir eine Erinnerung an unser Zuhause bringen.«
Lächelnd griff sie nach der Blume. Die Liebe zwischen ihr und ihrem Vater ging über reine Dankbarkeit weit hinaus, aber trotzdem weigerte er sich, ihr die Rose zu geben. Als sie begriff, weshalb er das tat, wollte sie Einwände erheben.
»Nein. Wenigstens damit kann ich vielleicht etwas für dich tun«, brummte er, fast, als redete er mit sich selbst. Er sah die Rose an, die Stirn gefurcht, die Lippen zusammengepresst. Eine Dienerin hustete sich in die Faust, während die andere den Boden anstarrte.
Shahrzad wartete geduldig. Wissend.
Die Rose blühte auf. Ihre Blätter entrollten sich, von unsichtbarer Hand zum Leben erweckt. Ein köstlicher Duft erfüllte den Raum zwischen ihnen, süß und perfekt für einen Augenblick … doch schon wurde er unerträglich, widerlich süß. Binnen eines Lidschlags verfärbten sich die Blütenränder von einem glanzvollen tiefen Rosa zu einem düsteren Rostbraun.
Dann welkte die Blume und starb.
Entsetzt sah Jahandar zu, wie die verdorrten Blütenblätter auf den weißen Marmor zu ihren Füßen rieselten.
»Es … es tut mir leid, Shahrzad«, sagte er weinend.
»Das spielt keine Rolle. Ich werde niemals vergessen, wie schön sie in diesem einen Augenblick gewesen ist, Baba.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. So leise, dass nur er sie hören konnte, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Geh zu Tarik, wie du es versprochen hast. Nimm Irsa mit und geh.«
Er nickte, und seine Augen glänzten wieder. »Ich habe dich lieb, mein Kind.«
»Und ich habe dich lieb. Ich werde meine Versprechen halten. Alle.«
Von seinen Gefühlen überwältigt, betrachtete Jahandar seine ältere Tochter, ohne ein Wort zu sagen.
Das nächste Klopfen an der Tür verlangte Aufmerksamkeit, statt sie zu erbitten.
Shahrzad drehte den Kopf ruckartig zur Tür. Die blutroten Rubine schwangen im Takt. Sie straffte die Schultern und hob das spitze Kinn.
Jahandar trat zur Seite und barg sein Gesicht in den Händen, als seine Tochter einen Schritt nach vorne machte.
»Es tut mir leid – so leid«, flüsterte sie ihm zu, dann schritt sie über die Schwelle und folgte den Palastgardisten, die die Prozession anführten. Jahandar sank auf die Knie und schluchzte, als Shahrzad um die Ecke bog und verschwand.
Als sie die Verzweiflung ihres Vaters hörte, weigerten sich Shahrzads Füße, sie weiter durch die breiten Korridore des Palasts zu tragen. Sie blieb stehen, und ihre Knie zitterten unter der dünnen Seite ihres Sirwals, der weiten Pluderhose.
»Herrin?«, sprach ein Gardist sie in gelangweiltem Ton an.
»Er kann warten«, stieß Shahrzad hervor.
Die Gardisten tauschten Blicke.
Ihre eigenen Tränen drohten eine verräterische Spur auf Shahrzads Wangen zu zeichnen. Sie presste sich eine Hand auf die Brust. Ohne Absicht strichen ihre Fingerspitzen über den Rand des dicken goldenen Anhängers an ihrem Hals, der mit Edelsteinen unfasslicher Größe und unbeschreibbarer Vielfalt besetzt war. Der Schmuck fühlte sich schwer an … erstickend. Wie eine juwelengespickte Fessel. Sie gestattete ihren Fingern, sich um die unerwünschte Kette zu schließen, und überlegte einen Augenblick lang, sie sich vom Leib zu reißen.
Die Wut war tröstlich. Wie eine freundliche Erinnerung.
Shiva.
Ihre beste Freundin. Ihre engste Vertraute.
Sie krümmte die Zehen in ihren Sandalen aus geflochtenen Silber- und Goldfäden und zog die Schultern einmal mehr zurück. Ohne ein Wort ging sie weiter.
Erneut blickten die Gardisten einander kurz an.
Als sie die breite Tür mit den beiden schweren Flügeln erreichte, die zum Thronsaal führte, schlug Shahrzads Herz doppelt so schnell wie sonst. Mit einem gedehnten Ächzen schwangen die Türflügel auf, und sie konzentrierte sich ganz auf ihr Ziel, hatte keine Augen für irgendetwas ringsum.
Am anderen Ende des gewaltigen Saales stand Chalid Ibn al-Rashid, der Kalif von Chorasan.
Der König der Könige.
Das Ungeheuer aus meinen Albträumen.
Mit jedem Schritt, den sie machte, steigerte sich der Hass in Shahrzad, und in gleichem Maße sah sie ihr Ziel immer klarer vor sich. Ihr Blick blieb fest, während sie ihn anstarrte. Mit seiner stolzen Haltung stach Chalid zwischen den Männern seines Gefolges heraus, und je näher Shahrzad ihm kam, desto mehr Einzelheiten entdeckte sie.
Er war groß und schlank und zeigte den Körperbau eines jungen Mannes, der zu kämpfen verstand. Seine dunklen Haare waren glatt, und seine Frisur verriet einen Menschen, der in allem nach Ordnung strebte.
Als sie auf das Podest stieg, sah sie zu ihm hoch. Sie weigerte sich, die Augen niederzuschlagen, und sei es im Angesicht ihres Königs.
Seine dichten Brauen hoben sich ein wenig. Sie beschatteten Augen von einem so hellen Braunton, dass sie in hellem Licht bernsteingelb erschienen wie die Augen eines Tigers. Sein Gesicht wirkte wie die kantige Studie eines Künstlers, zusammengesetzt aus schroffen, winkligen Strichen. Die Miene des Kalifen blieb vollkommen reglos, während er ihren wachsamen, forschenden Blick erwiderte.
Ein Gesicht, das schnitt; ein Blick, der durchbohrte.
Er reichte ihr eine Hand.
Als sie ihre Hand schon vorstreckte, um sie zu ergreifen, erinnerte sie sich an ihre Verbeugung.
Der Zorn kochte unter der Oberfläche und trieb ihr die Röte in die Wangen, aber sie neigte das Haupt.
Als sie ihm wieder in die Augen schaute, blinzelte er einmal.
»Frau.« Er nickte.
»Mein König.«
Ich werde leben und den morgigen Sonnenuntergang sehen. Begeh keinen Fehler. Ich schwöre, ich lebe lange genug, um alle Sonnenuntergänge zu sehen, die nötig sind.
Und ich werde dich töten.
Mit meinen eigenen Händen.
Der Falke segelte über den trüben Nachmittagshimmel. Kein Flügelschlag, nur ein vorbeistreichender Windseufzer hielt ihn in der Luft, während sein Blick das Unterholz absuchte.
Beim ersten flüchtigen Anzeichen einer Bewegung zog der Raubvogel die Schwingen an den Leib und schoss mit verschwimmenden blaugrauen Federn und aufblitzenden Krallen hinunter zum Boden.
Das Fellbündel, das kreischend durch das Unterholz huschte, konnte ihm nicht entkommen. Bald schon näherte sich Hufgetrappel, gefolgt von einer Fahne aus aufgewirbeltem Sand.
Die beiden Reiter hielten in respektvollem Abstand zu dem Falkenweibchen und seiner Beute. Die Sonne im Rücken, streckte der erste Reiter auf dem dunkelkastanienbraunen Al-Khamsa-Hengst den linken Arm aus und pfiff leise.
Der Falke verdrehte den Kopf zu ihm und kniff die gelb umrandeten Augen zusammen. Er stieg in die Luft, kam herbei, landete auf der Mankalah des Reiters, der gepfiffen hatte, und grub die Krallen fest in den ledernen Armschutz, der dem Mann vom Handgelenk bis zum Ellbogen reichte.
»Verflucht, Zoraya. Wieder eine Wette verloren«, sagte der zweite Reiter mürrisch und sah den Vogel an.
Der Falkner schenkte Rahim, seinem Freund seit Kindheitstagen, ein Lächeln. »Hör auf, dich zu beschweren. Sie kann nichts dafür, dass dir eine Lektion nicht genügt.«
»Du hast Glück, dass ich solch ein Narr bin. Wer sonst würde deine Gesellschaft so lange ertragen, Tarik?«
Tarik lachte leise. »Dann sollte ich deiner Mutter vielleicht nicht mehr vorlügen, dass du klug geworden bist.«
»Natürlich nicht. Hätte ich deine Mutter je angeschwindelt?«
»Du Undankbarer, steig ab und hol Zorayas Beute.«
»Ich bin doch nicht dein Diener. Mach es selbst.«
»Gut. Dann halte sie.« Tarik streckte den Unterarm vor, auf dem Zoraya geduldig wartend saß. Als das Falkenweibchen begriff, dass es an Rahim weitergereicht werden sollte, sträubte es die Federn und kreischte protestierend.
Rahim wich zurück. »Der gottverdammte Vogel hasst mich.«
»Weil sie eine gute Menschenkennerin ist.« Tarik lächelte.
»Mit einem hässlichen Temperament«, brummte Rahim. »Ehrlich, sie ist schlimmer als Shazi.«
»Noch ein Mädchen mit ausgezeichnetem Geschmack.«
Rahim rollte mit den Augen. »Ein bisschen eigennützig, dein Urteil, findest du nicht auch? Vor allem, wenn man bedenkt, dass du das Einzige bist, was sie gemeinsam haben.«
»Dass du Shahrzad al-Haizuran auf eine einzige Eigenschaft eingrenzt, könnte mit ein Grund dafür sein, dass du so oft im Mittelpunkt ihrer Zornausbrüche stehst. Ich versichere dir, Zoraya und Shazi verbindet erheblich mehr als nur die Nähe zu mir. Jetzt hör auf, unsere Zeit zu verschwenden, und steig von deinem garstigen Rotschimmel, damit wir endlich nach Hause können.«
Unter fortgesetztem Grummeln stieg Rahim von seiner Achal-Tekkiner-Stute, deren Mähne im Licht der Wüstensonne schimmerte wie polierte Bronze.
Tariks Blick strich über den Streifen aus Sand und trockenen Büschen am Horizont. Von dem Meer in Umbra und Lehmbraun stieg sengende Hitze in den blau-weiß gefleckten Himmel.
Rahim hatte derweil Zorayas Beute in dem Ledersack an seinem Sattel verstaut und schwang sich mit der Anmut eines jungen Adelssprosses, der seit seiner Kindheit in der Kunst des Reitens unterrichtet worden war, wieder auf sein Ross.
»Was die Wette wegen des Vogels angeht …« Rahim ließ den Satz verklingen.
Tarik ächzte, als er den entschlossenen Ausdruck im Gesicht seines Freundes sah. »Nein.«
»Weil du weißt, dass du verlierst.«
»Du bist von uns beiden der bessere Reiter.«
»Du hast das bessere Pferd. Dein Vater ist schließlich ein Emir. Außerdem habe ich heute schon eine Wette verloren. Gib mir die Gelegenheit, das auszugleichen.«
»Wie lange treiben wir diese Spielchen denn noch?«
»Bis ich dich schlage. Bei jedem einzelnen davon.«
»Dann spielen wir ja für immer«, scherzte Tarik.
»Mistkerl.« Rahim unterdrückte ein Grinsen und nahm die Zügel. »Dafür versuche ich nicht mal, ehrlich zu sein.« Er trieb seiner Stute die Fersen in die Seiten und jagte in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
»Narr.« Lachend entließ Tarik seinen Falken in die Lüfte und beugte sich über den Nacken seines Hengstes. Auf ein Schnalzen mit der Zunge schüttelte das Pferd die Mähne und schnaubte. Tarik zog an den Zügeln, und der Araber ging auf die gewaltigen Hinterhufe, dann stob er über den Sand davon. Seine starken Beine wirbelten eine Wolke aus Staub auf.
Tariks weißer Rida blähte sich hinter ihm, und die Kapuze drohte sich zu lösen, obwohl sie von einem Lederriemen an Ort und Stelle gehalten wurde.
Als sie um die letzte Düne ritten, erblickten sie eine Festung aus lehmgelbem Stein und grauem Mörtel, die aus dem Sand ragte. Ihre bauchigen Turmspitzen hatten spiralige Dächer aus Kupfer, die die Zeit mit einer türkisfarbenen Patina bedeckt hatte.
»Der Sohn des Emirs kommt!«, rief ein Wächter aus, als Rahim und Tarik sich dem hinteren Tor näherten. Sofort schwang es auf. Diener und Arbeiter stoben aus dem Weg, als Rahim an dem immer noch quietschenden Eisen vorbeipreschte. Tarik war ihm dicht auf den Fersen. Ein Korb mit Dattelpflaumen krachte zu Boden, sein Inhalt verteilte sich überallhin, und ein schimpfender alter Mann bückte sich mühsam nach den davonrollenden orangefarbenen Früchten.
Ohne zu ahnen, welchen Tumult sie ausgelöst hatten, zügelten die beiden jungen Adligen ihre Pferde in der Mitte des ausgedehnten Burgplatzes.
»Wie fühlt es sich an – besiegt zu werden von einem Narren?«, rief Rahim. In seinen dunkelblauen Augen funkelte der Spott.
Tarik hob amüsiert einen Mundwinkel, dann schwang er sich aus dem Sattel und zog die Kapuze seines Rida herunter. Mit der Hand fuhr er sich durch das ungebärdige wellige Haar. Sandkörnchen rieselten ihm ins Gesicht, und er blinzelte heftig, damit sie ihm nicht in die Augen gerieten.
Hinter sich hörte er Rahims ersticktes Gelächter.
Tarik öffnete die Augen.
Die Dienerin, die vor Tarik stand, sah hastig weg, ihre Wangen glühten rot. Das Tablett mit zwei silbernen Wasserbechern, das sie hielt, begann zu zittern.
»Hab Dank.« Tarik lächelte, während er nach einem davon griff.
Ihre Röte vertiefte sich, und das Rasseln wurde stärker.
Rahim stapfte herbei. Er nahm seinen Becher und nickte dem Mädchen zu. Sie wandte sich hastig ab und rannte so schnell weg, wie ihre Beine sie trugen.
Tarik stieß ihn fest an. »Du Tölpel.«
»Ich glaube, das arme Mädchen ist ein wenig in dich verliebt. Nachdem du schon wieder gezeigt hast, was für ein erbärmlicher Reiter du bist, solltest du dem Schicksal umso mehr für dein Aussehen danken.«
Tarik beachtete ihn nicht und drehte sich zum Hof um. Zu seiner Rechten bemerkte er den alten Diener, der mühsam die Dattelpflaumen aufhob, die vor seinen Füßen auf dem Granitboden verstreut lagen. Tarik schlenderte zu ihm, ging auf ein Knie und half dem alten Mann, die Früchte in seinen Korb zu legen.
»Hab Dank, Sahib.« Der Mann verneigte sich und berührte seine Stirn mit den Fingerspitzen der rechten Hand.
Tariks Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. Hell und silbern im Zentrum, gingen sie in Ringe aus tiefstem Aschgrau über. Sein Blick flatterte, die schwarzen Wimpern berührten die weiche Haut seiner Lider. Sein Gesichtsausdruck wirkte ernst, doch dieser Eindruck verblasste, sobald er anfing zu lächeln. Ein Bartschatten bedeckte die eckige Linie seines Kinns und betonte das edle Gleichmaß seiner Züge.
Tarik nickte dem älteren Mann zu und wiederholte die gebräuchliche Geste, mit der man Respekt bekundete.
Aus dem Himmel über ihnen erschallte Zorayas Schrei und verlangte augenblickliche Aufmerksamkeit. Tarik schüttelte in gespielter Verärgerung den Kopf und pfiff nach ihr. Mit einem wilden Kreischen, das weitere Menschen vom Hof vertrieb, schoss sie hinab. Erneut landete sie auf Tariks ausgestrecktem Mankalah und putzte sich stolz, bis er sie zu ihrem Stall brachte und sie dort fütterte.
»Findest du den Vogel nicht ein bisschen … verzogen?« Rahim musterte das Falkenweibchen, als es einen ganzen Streifen Dörrfleisch herunterschlang, ohne einmal zum Atemholen innezuhalten.
»Zoraya ist die beste Jägerin im Königreich.«
»Dennoch, ich bin überzeugt, dass dieser verfluchte Vogel sogar mit Mord davonkommen würde. Ist das deine Absicht?«
Ehe Tarik antworten konnte, erschien einer der engsten Ratgeber seines Vaters im Torbogen zum Vorhof.
»Sahib? Der Emir wünscht dein Erscheinen.«
Tarik zog die Brauen zusammen. »Ist etwas geschehen?«
»Vor nicht langer Zeit ist ein Bote aus Ray eingetroffen.«
»Ist das alles?« Rahim brummte missbilligend. »Ein Brief von Shazi? Wohl kaum ein Grund für eine förmliche Audienz.«
Tarik musterte den Ratgeber, die tiefen Furchen in seiner Stirn und die eng ineinander verflochtenen Finger. »Was ist geschehen?«
Der Ratgeber wich seinem Blick aus. »Bitte, Sahib. Komm mit mir.«
Rahim folgte Tarik und dem Ratgeber in die marmorne Säulenhalle und durch den gefliesten Innenhof. Am Springbrunnen, den Glasmosaike zierten, sprudelte Wasser in nie endendem Strom aus dem Maul eines vergoldeten Bronzelöwen. Sie gelangten in den großen Saal und fanden Nasir al-Ziyad, den Emir der viertreichsten Festung von Chorasan, mit seiner Frau an einem niedrigen Tisch. Das Essen stand unberührt vor ihnen.
Ganz offensichtlich hatte Tariks Mutter geweint.
Tarik blieb wie angewurzelt stehen. »Vater?«
Der Emir gab einen Stoßseufzer von sich, hob seinen Blick und sah seinen Sohn sorgenvoll an.
»Tarik, wir haben heute Nachmittag einen Brief aus Ray erhalten. Von Shahrzad.«
»Gib ihn mir.« Die Bitte war leise. Und doch auch scharf.
»Er war an mich gerichtet. Ein Teil davon ist für dich bestimmt, aber …«
Tariks Mutter brach in Tränen aus. »Wie konnte das geschehen?«
»Was ist geschehen?«, fragte Tarik mit erhobener Stimme. »Gib mir den Brief.«
»Es ist zu spät.« Der Emir seufzte. »Du kannst nichts mehr tun.«
»Zuerst Shiva«, sagte Tariks Mutter unter Tränen. »Dann, von Trauer überwältigt, nahm sich meine Schwester …« Sie erschauerte. »Und jetzt Shahrzad? Wie konnte das geschehen? Wieso?«
Tarik erstarrte.
»Du weißt, wieso«, krächzte der Emir leise. »Wegen Shiva. Für Shiva. Für alle von uns.«
Als er das sagte, sprang Tariks Mutter auf und lief fort. Mit jedem Schritt wurde ihr Schluchzen lauter.
»O Gott, Shazi. Was hast du getan?«, flüsterte Rahim.
Tarik blieb bewegungslos, sein Gesichtsausdruck leer und nicht zu deuten.
Der Emir erhob sich und ging auf Tarik zu. »Mein Sohn, du …«
»Gib mir den Brief«, wiederholte Tarik.
Mit grimmiger Resignation überreichte der Emir ihm die Schriftrolle.
Shahrzads vertraute Schrift schwamm über das Blatt, genauso herrisch und schwerfällig wie immer. Tarik hörte auf zu lesen, als sie ihn direkt ansprach. Die Entschuldigung. Die Worte des Bedauerns über ihren Verrat. Die Dankbarkeit für sein Verständnis.
Nicht mehr. Er konnte es nicht ertragen. Nicht, wenn es von ihr kam.
Er zerknüllte das Ende der Schriftrolle in der Faust.
»Du kannst nichts tun«, wiederholte der Emir. »Die Hochzeit – sie ist heute. Wenn sie Erfolg hat … wenn sie …«
»Sag es nicht, Vater. Ich flehe dich an.«
»Es muss gesagt werden. Diese Wahrheiten, ganz gleich, wie schwierig sie sind, müssen ausgesprochen werden. Wir müssen uns ihnen stellen, als Familie. Deine Tante und dein Onkel haben sich dem Verlust von Shiva nie gestellt, und sieh, welche Folgen der Tod ihrer Tochter nach sich zog.«
Tarik schloss die Augen.
»Selbst wenn Shahrzad überlebt, gibt es nichts, was wir tun könnten«, sagte der Emir. »Es ist vorbei. Wir müssen es akzeptieren, so schwierig es auch erscheinen mag. Ich weiß, was du für sie empfindest; ich verstehe es vollkommen. Es wird Zeit brauchen. Aber du wirst begreifen, dass du dein Glück bei einer anderen finden kannst – dass es auf der Welt noch andere junge Frauen gibt. Mit der Zeit wirst du es einsehen.«
»Das ist nicht nötig.«
»Wie bitte?«
»Ich begreife es schon. Voll und ganz.«
Der Emir sah seinen Sohn überrascht an.
»Ich verstehe deine Argumente. Alle. Nun musst du meine verstehen. Ich weiß, dass es auf der Welt noch andere Frauen gibt. Ich weiß, dass es mir möglich sein wird, ein gewisses Maß an Glück mit einem anderen Mädchen zu finden. Mit der Zeit mag alles Mögliche geschehen.«
Der Emir nickte. »Gut. Es ist am besten so, Tarik.«
Rahim starrte sie fassungslos an.
Als Tarik fortfuhr, blitzte das Silbergrau in seinen Augen. »Aber begreife auch eines: Ganz gleich, wie viele makellose junge Frauen du mir vorstellst, es gibt nur eine Shahrzad.« Mit diesen Worten warf er die Schriftrolle auf den Boden und machte auf dem Absatz kehrt. Mit aller Kraft schleuderte er die Türflügel auf.
Rahim tauschte einen nachdenklichen Blick mit dem Emir, bevor er Tarik folgte. Gemeinsam kehrten sie auf den Hof zurück, und Tarik winkte nach den Pferden. Rahim schwieg, bis beide Tiere zu ihnen geführt wurden.
»Was planst du?«, fragte er. »Hast du überhaupt etwas geplant?«
Tarik hielt inne. »Du brauchst nicht mit mir zu kommen.«
»Und wer ist jetzt der Narr? Bist du der Einzige, der Shazi lieb hat? Und wer hat Shiva geliebt? Ich bin nicht von ihrem Blut, aber sie werden immer meine Familie sein.«
Tarik wandte sich seinem Freund zu. »Danke, Rahim-jan.«
Der größere, schlaksige Mann sah zu Tarik herunter. »Danke mir jetzt noch nicht. Wir brauchen erst einen Plan. Sag mir, was willst du tun.« Rahim zögerte. »Kannst du etwas tun?«
Tarik biss die Zähne zusammen. »Solange der Herrscher von Chorasan atmet, kann ich immer etwas tun …« Seine linke Hand sank auf den Griff des elegant gekrümmten Schwertes an seiner Hüfte.
»Was ich am besten kann.«
Shahrzad saß allein in ihrem Gemach, mitten auf einem Podest, das mit Kissen in den unterschiedlichsten Farben bestückt war. Rings um das Bett hing ein dünner Schleier aus Spinnenseide, der sich bei der kleinsten Bewegung mit gespenstischer Trägheit bauschte. Die Knie hatte sie an die Brust gezogen und die Hände über den Fußgelenken ineinandergeschoben.
Ihre haselnussbraunen Augen waren auf die Flügeltür gerichtet.
Fast die ganze Nacht hatte sie in dieser Haltung dagesessen. Jedes Mal, wenn sie sich doch von der Stelle wagen wollte, hatte der Mut sie verlassen.
Wo bleibt er?
Sie atmete hörbar aus und verflocht die Finger noch fester.
Bald würde die Panik, gegen die sie in der vergangenen Stunde angekämpft hatte, auf sie niedergehen wie der Hammer auf den Amboss eines Schmiedes.
Was, wenn er heute Nacht nicht zu mir kommt?
»O Gott«, murmelte sie und durchbrach damit die Stille.
Dann habe ich alle betrogen. Dann habe ich jedes einzelne Versprechen gebrochen.
Shahrzad schüttelte den Kopf. Das Herz pochte ihr in den Ohren, und jeder Atemzug fiel ihr schwer.
Ich will nicht sterben.
Die morbiden Gedanken drängten sich in ihr Bewusstsein, sie rissen an ihrer Beherrschung und stießen sie in das bodenlose Reich des Schreckens – eines Schreckens, den sie bisher auf Abstand hatte halten können.
Wie soll Baba weiterleben, wenn ich sterbe? Und Irsa?
Tarik.
»Hör auf!« Ihre Worte hallten durch die gähnende Dunkelheit. Töricht, aber sie brauchte etwas – irgendetwas –, das die quälende Stille mit Klängen füllte, und sei es nur für einen Augenblick.
Sie presste die Hände an die Schläfen und drängte den Schrecken mit schierer Willenskraft …
Zurück in die stählerne Kapsel ihres Herzens.
Da öffneten sich die Türflügel des Gemachs mit einem leisen Knarren.
Shahrzad ließ die Hände auf die weichen Kissen neben sich sinken.
Eine Dienerin trat ein und brachte Wachskerzen, die nicht nur ein warmes Licht abgaben, sondern auch einen wunderbaren Duft, denn sie waren mit Ambra und Adlerholzöl parfümiert. Gleich hinter ihr folgte ein Mädchen mit einem Tablett voll Speisen und Wein. Die Dienerinnen verteilten ihre Lasten schweigend im Gemach und verließen es wieder, ohne Shahrzad auch nur einen Blick gegönnt zu haben.
Im nächsten Moment stand der Kalif von Chorasan auf der Schwelle.
Er wartete, als bedenke er etwas, dann trat er in die Kammer und drückte die Türen zu.
Im matten Schein der Kerzen wirkten seine Tigeraugen noch berechnender und unnahbarer. Als er sich vom Licht abwandte, traten seine wie mit dem Messer gezogenen Züge im Schatten umso schärfer hervor.
Ein Ausdruck der Unerschütterlichkeit umgab ihn. Kalt und abweisend.
Shahrzad schob ihre Finger unter die Knie.
»Mir wurde gesagt, dein Vater habe meinem als einer seiner Wesire gedient.« Seine Stimme war leise und unaufdringlich. Fast … gütig.
»Ja, Sayyidi. Er war ein Ratgeber deines Vaters.«
»Und jetzt arbeitet er als Verwalter.«
»Ja, Sayyidi. Als Verwalter alter Schriften.«
Er wandte ihr das Gesicht zu. »Ein gewaltiger Abstieg.«
Shahrzad verkniff sich die ersten Anzeichen von Verärgerung. »Vielleicht. Er war aber kein sehr hochrangiger Wesir.«
»Ich verstehe.«
Gar nichts verstehst du.
Sie erwiderte seinen Blick und hoffte, das Mosaik der Farben in ihren Augen verberge die Gedanken, die sich hinter ihnen überschlugen.
»Wieso hast du dich freiwillig gemeldet, Shahrzad al-Haizuran?«
Sie gab keine Antwort.
Er beharrte. »Was hat dich veranlasst, etwas so Törichtes zu tun?«
»Wie bitte?«
»Vielleicht die Verlockung, einen König zu heiraten? Oder die eitle Hoffnung, du könntest die eine sein, die das Herz des Ungeheuers rührt und ihrem Schicksal entrinnt?« Er sprach ohne jede Regung und beobachtete sie genau.
Shahrzads Puls schlug wie eine Kriegstrommel. »Unter solchen Wahnvorstellungen leide ich nicht.«
»Warum hast du dich dann freiwillig gemeldet? Wieso bist du willens, mit siebzehn dein Leben wegzuwerfen?«
»Ich bin sechzehn.« Sie kniff die Augen zusammen und blickte zur Seite. »Und ich sehe nicht, wieso das wichtig sein soll.«
»Antworte mir.«
»Nein.«
Er schwieg. »Dir ist klar, dass du dafür sterben könntest.«
Der Griff ihrer Finger verstärkte sich, sodass es beinahe schmerzte. »Ich bin nicht überrascht, das zu hören, Sayyidi. Aber wenn du wirklich Antworten möchtest, wäre es deinem Wunsch nicht sehr förderlich, wenn du mich tötest.«
Der Funke einer Regung zuckte ihm durchs Gesicht und verweilte an seinen Mundwinkeln. Sie war zu rasch verschwunden, als dass sie Shahrzad etwas von Bedeutung verraten hätte.
»Das wohl nicht.« Er hielt inne und schien wieder nachzudenken. Sie konnte sehen, wie er sich zurückzog, wie ein Schleier über die schroffen Winkel seiner Züge fiel.
Nein.
Shahrzad erhob sich von der Bettstatt und trat einen Schritt auf ihn zu.
Als er sie wieder ansah, kam sie noch näher.
»Ich habe es dir gesagt. Glaube nicht, dass du diejenige sein wirst, die den Kreis bricht.«
Shahrzad biss die Zähne zusammen. »Und ich habe dir gesagt, dass ich nicht unter Wahnvorstellungen leide. In keiner Hinsicht.«
Sie ging weiter auf ihn zu, bis sie nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt war, ohne dass ihr Entschluss ins Wanken geriet.
Er blickte ihr ins Gesicht. »Dein Leben ist bereits verwirkt. Ich erwarte nicht … mehr.«
Zur Antwort hob Shahrzad die Hand und begann, die juwelenbesetzte Kette zu öffnen, die ihr noch um den Hals hing.
»Nein.« Er fing ihre Hand ab. »Lass das.«
Er zögerte, dann legte er seine Finger in ihren Nacken.
Bei dieser bestürzend vertraulichen Berührung musste Shahrzad gegen den Drang ankämpfen, voll Abscheu zurückzuweichen und ihn mit allem Schmerz und aller Wut, die sie aufbrachte, zu ohrfeigen.
Sei nicht töricht. Du bekommst nur eine Gelegenheit. Verschwende sie nicht.
Dieser knabenhafte König, dieser Mörder … Sie würde nicht zulassen, dass er noch eine Familie zerstörte. Dass er einem anderen Mädchen die beste Freundin raubte – ein ganzes Leben an Erinnerungen, die geschehen waren und nie sein würden.
Sie hob das Kinn und schluckte die aufsteigende Galle herunter. Der bittere Geschmack blieb auf ihrer Zunge zurück.
»Wieso bist du hier?«, flüsterte er. Seine Tigeraugen lauerten immerfort.
Zur Antwort hob sie mokant einen Mundwinkel.
Sie legte ihre Hand auf seine.
Vorsichtig.
Dann hob sie den schweren Mantel von ihren Schultern und ließ ihn zu Boden gleiten.
Irsa saß rittlings auf ihrer gescheckten Stute. Sie war in der Gasse gleich neben dem Gebäude, das Rays älteste und rätselhafteste Schriften beherbergte. Die Bibliothek der Stadt war einst ein großartiges Bauwerk mit einem Säulenportal gewesen, errichtet aus sorgfältig behauenen Steinen aus den besten Steinbrüchen von Tiraziš. Im Laufe der Jahre war die Fassade immer dunkler geworden, und tiefe Risse verunstalteten sie; nur die schlimmsten waren achtlos repariert worden. Jede sichtbare Kante war abgewetzt, und der prächtige Glanz vergangener Tage war zu einem fleckigen Grau und Braun verkommen.
Als das Pferdegespann hinter ihr sich in der dichten Stille vor dem Morgengrauen rührte, blickte Irsa schuldbewusst über ihre Schulter. Sie öffnete den Mund, um den Jungen zu beruhigen, der auf dem Kutschbock saß, doch ihre Stimme war noch spröde, und sie musste sich erst räuspern, ehe sie sprechen konnte.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie dem Jungen nach einem diskreten Hüsteln zu. »Ich weiß nicht, wieso es so lange dauert. Er wird sicher bald wieder hier sein.« Ihre Stute zuckte mit dem linken Ohr, als Irsa sich im Sattel drehte.
»Es stört mich nicht, Fräulein. Solange ich nur mein Geld bekomme. Aber wenn dein Vater die Stadttore vor dem Morgengrauen durchqueren will, dann sollten wir bald aufbrechen.«
Sie nickte, aber bei den Worten des Jungen bildete sich ein neuer Knoten in ihrem Magen.
Bald würde sie die Stadt ihrer Kindheit verlassen – die Stadt, in der sie vierzehn Jahre lang gelebt hatte. In dem Wissen, dass ihr Leben nie wieder so sein würde wie gewohnt, hatte sie im Schutz der Nacht, fast von einem Augenblick auf den anderen, alles von Wert in den gedeckten Karren hinter ihr geworfen.
Wie seltsam, dass ihr nichts davon wichtig war. Zumindest noch nicht.
Das Einzige, woran sie denken konnte – der Grund für ihre raue Kehle und den verknoteten Magen –, war Shahrzad.
Ihre starrsinnige, tyrannische ältere Schwester.
Ihre tapfere, treue Freundin.
Wieder sammelten sich heiße Tränen in ihren Augen, und das, obwohl sie sich geschworen hatte, keinen einzigen Tropfen mehr zu vergießen. Ungehalten wischte sie sich mit dem Handrücken über die schon wunden Wangen.
»Ist was, Fräulein?«, fragte der Kutscherjunge. Sein Ton klang fast mitfühlend.
Natürlich war etwas. Aber wenn sie vor neugierigen Augen sicher sein wollten, durfte er nie erfahren, was das war. »Nein. Nichts ist. Danke, dass du fragst.«
Der Bursche nickte und nahm erneut seine gleichgültige Pose ein.
Irsa dachte wieder an die Reise, die ihnen bevorstand. Drei Tage Strapazen, bis sie Taleqan erreichten, die Festung von Tariks Familie. Sie schüttelte fassungslos den Kopf. Nach allem, was geschehen war, konnte nur Shahrzad die Dreistigkeit besitzen, sie zum Haus ihres Kindheitsschatzes zu schicken. Jedes Mal, wenn Irsa innehielt und an Tarik und seine Familie dachte, verzerrte Sorge ihre jungenhaften Züge …
Und Reue.
Sie seufzte müde und starrte auf die Zügel. Ihr gescheckter Schimmel warf die Mähne herum, als ein Windstoß durch die Gasse peitschte.
»Was braucht er denn so lange?«, fragte Irsa niemand Bestimmten.
Wie aufs Stichwort öffnete sich scharrend die hölzerne Tür zum Seiteneingang der Bibliothek, und die Kapuzengestalt ihres Vaters stolperte ins Licht.
Er hielt etwas in beiden Armen, drückte es sich fest an die Brust.
»Baba? Ist alles gut?«
»Es tut mir so leid, Liebes. Alles ist gut. Wir können jetzt aufbrechen«, murmelte Jahandar. »Ich habe nur … Ich musste nur sicher sein, dass alle Türen abgesperrt sind.«
»Was ist los?«, fragte Irsa.
»Hmm?« Jahandar ging zu seinem Pferd und griff nach der Satteltasche.
»Was hast du da?«
»Ach, nichts. Nur ein Buch, das mir besonders am Herzen liegt.« Er winkte ab.
»Sind wir nur wegen eines Buches den weiten Weg gekommen, Baba?«
»Es geht um dieses eine, mein Kind. Nur um dieses eine.«
»Es muss ein besonderes Buch sein.«
»Alle Bücher sind etwas Besonderes, Liebes.«
»Was ist das für ein Buch?«
Jahandar verstaute den alten Lederband mit großer Sorgfalt in der Satteltasche und schwang sich mit erheblich weniger Vorsicht aufs Pferd. Dann winkte er dem Kutscherjungen, loszufahren.
Die kleine Karawane folgte den noch schlummernden Straßen von Ray.
Irsa lenkte ihr Ross neben den schwarzen Hengst ihres Vaters. Als Jahandar mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht zu ihr heruntersah, griff sie nach seiner Hand.
»Alles wird gut, liebste Tochter«, sagte er beinahe geistesabwesend.
Sie nickte.
Irsa war keineswegs entgangen, dass er ihre letzte Frage unbeantwortet gelassen hatte.
In dem Augenblick, in dem Shahrzad seine Hand berührte, überlief sie Leidenschaftslosigkeit wie ein kühler Guss. Es war, als schwebte sie neben ihrem Leib und würde nur zusehen, was mit ihr geschah.
Zum Glück versuchte er nicht, sie zu küssen.
Auch der Schmerz hielt nicht an; er war nur flüchtig und verlor sich in der willkommenen Ablenkung ihrer Gedanken. Der Kalif schien ebenfalls kein Vergnügen zu empfinden. Welche Wonne er auch immer gewann, sie war kurz und oberflächlich. Als Shahrzad das begriff, durchfuhr sie eine tiefe Genugtuung.
Als es vorüber war, stand er wortlos von der Bettstatt auf und schob die wispernde Seide beiseite, die den Kissenberg umschloss.
Sie sah ihm zu, wie er sich mit knapper, geradezu militärischer Präzision anzog. Sie bemerkte den hellen Schimmer von Schweiß auf seinem Rücken und das Spiel seiner lang gestreckten Muskeln bei der kleinsten Bewegung.
Er war kräftiger als sie. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Körperlich konnte sie ihn nicht überwinden.
Aber ich bin nicht hier, um zu kämpfen. Ich bin hier, um zu siegen.
Sie setzte sich auf und griff nach dem hübschen Shamla, das über einen Schemel gebreitet in ihrer Nähe lag. Shahrzad schob die Arme in den glänzenden Brokat und band die silbernen Schnüre zu, dann erst trat sie zu ihm. Als sie um das Bett herumging, drehte sich der kunstvoll bestickte Saum der Robe um ihre Fesseln wie ein Derwisch mitten im Sama.
Der Kalif ging zu dem niedrigen Tisch in der Ecke der Kammer, der von noch prächtigeren Polstern und dicken Kissen in allen Juwelenfarben umgeben war.
Er schenkte sich Wein ein und stand weiter still da. Shahrzad ging an ihm vorbei und ließ sich auf die Kissen am Tisch sinken.
Das Tablett war beladen mit Pistazien, Feigen, Mandeln, Trauben, Quittenchutney, kleinen Gurken und einer Auswahl frischer Kräuter. Ein Korb mit Fladenbrot, in ein Leintuch gehüllt, stand daneben.
Bemüht, ihm seine subtile Missachtung mit gleicher Münze heimzuzahlen, pflückte Shahrzad eine Traube und steckte sie sich in den Mund.
Der Kalif musterte sie einen quälenden Augenblick lang, dann ließ er sich auf die Kissen nieder. Er saß und trank, während Shahrzad Brotstücke in das süßsaure Chutney tauchte.
Als sie das Schweigen nicht mehr ertragen konnte, hob sie eine schmale Augenbraue und sah ihn an. »Isst du nichts, Sayyidi?«
Er atmete durch die Nase ein und kniff die Augenwinkel nachdenklich zusammen.
»Das Chutney ist köstlich«, fügte sie leichthin hinzu.
»Fürchtest du dich nicht, Shahrzad?«, fragte er so leise, dass sie es beinahe überhört hätte.
Sie legte das Brot auf den Tisch. »Möchtest du, dass ich mich fürchte, Sayyidi?«
»Nein. Ich möchte, dass du aufrichtig bist.«
Shahrzad lächelte. »Aber wie würdest du es erkennen, wenn ich löge, Sayyidi?«
»Weil du keine begabte Lügnerin bist. Du hältst dich nur dafür.« Er beugte sich vor und nahm eine Handvoll Mandeln vom Tablett.
Ihr Lächeln wurde breiter. Gefährlich. »Und du bist nicht so ein guter Menschenkenner. Du hältst dich nur dafür.«
Er neigte den Kopf zur Seite, und an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. »Was willst du?« Wieder sprach er so leise, dass Shahrzad sich anstrengen musste, um ihn zu verstehen.
Mit den Händen fegte sie die Krümel von ihrem Gewand, gewann Zeit, um die nächste Falle aufzubauen.
»Ich soll bei Sonnenaufgang sterben. Ist das richtig?«
Er nickte einmal.
»Und du möchtest wissen, wieso ich mich freiwillig gemeldet habe?«, fuhr sie fort. »Nun, ich wäre bereit, es …«
»Nein. Ich lasse mich auf kein Spielchen ein. Ich verabscheue Manipulation.«
Shahrzad presste die Lippen zusammen und schluckte ihre nervöse Wut herunter. »Vielleicht solltest du weniger Zeit damit vergeuden, das Spiel zu verabscheuen, und lieber die Geduld aufbringen, die nötig ist, um es zu gewinnen.«
Sie hielt den Atem an, als sein Oberkörper erstarrte. Seine Fingerknöchel traten einen schrecklichen Augenblick lang weiß hervor, ehe er seinen Griff lockerte.
Shahrzad sah zu, wie seine Anspannung nachließ. Ein Wirbel von Gefühlen stieß in ihrer Brust zusammen und brachte ihre Gedanken durcheinander.
»Tapfere Worte für ein Mädchen, das nur noch wenige Stunden zu leben hat.« Seine Stimme war kalt wie Eis.
Sie setzte sich gerade auf und richtete die langen dunklen Haare, die ihr über eine Schulter fielen. »Möchtest du die Regeln des Spiels hören oder nicht, Sayyidi?«
Als er schwieg, beschloss sie vorzupreschen. Ihre zitternden Hände verbarg sie in den Falten ihres Shamlas. »Ich bin bereit, deine Frage zu beantworten, Sayyidi. Doch bevor ich das tue, wüsste ich gern, ob du bereit bist, mir eine kleine Bitte zu gewähren …« Sie verstummte.
Ein Anflug von herzloser Belustigung verdunkelte sein Antlitz. »Willst du mit Belanglosigkeiten um dein Leben feilschen?«
Sie lachte, und der Laut tanzte wie luftiger Glöckchenklang durch den Raum. »Mein Leben ist verwirkt. Das hast du deutlich gemacht. Vielleicht sollten wir diese Frage hinter uns lassen und uns dem Unmittelbaren zuwenden.«
»Ich bitte sehr darum.«
Sie ließ sich einen Augenblick Zeit, in dem sie sich wappnete. »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen.«