Susanne Gelhard
Ab heute ist Krieg
Der blutige Konflikt im ehemaligen Jugoslawien
FISCHER E-Books
Susanne Gelhard, 1957 geboren, arbeitet als Fernsehkorrespondentin beim ZDF.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560725-1
Die Abbildungen stellten uns zur Verfügung:
© US-PRESS, Wien 89
© ITN, London 103
© Susanne Gelhard 36, 111, 133, 149
© Danielle Proskar 14, 18, 23, 49, 130, 145, 152
© Patrick Ritter 33, 35, 42, 45, 65, 73, 74, 92, 93, 96, 106, 115, 120, 122, 137, 140, 150, 153, 155
© Vjiesni 87
FAZ
A.Sturm
Mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn im ehemaligen Jugoslawien wüten die Kämpfe in Bosnien-Herzegowina und Kroatien grausamer denn je. In Sarajevo werden Zivilisten brutal zusammengeschossen, auf Mostar fallen Bomben, die Altstadt von Dubrovnik wird erneut angegriffen, und in Osijek müssen die Menschen weiter in Schutzkellern dahinvegetieren. Serben, Moslems und Kroaten sind hoffnungslos verfeindet. Die Jugoslawische Armee, die sich in Bosnien-Herzegowina mittlerweile Serbische Armee nennt, setzt ihren Eroberungskrieg erbarmungslos fort. Der größte Flüchtlingsstrom in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs setzt sich in Richtung Westeuropa in Bewegung. Die Europäische Gemeinschaft schaut hilflos zu. Die Friedensmission der Vereinten Nationen ist gefährdet.
Der vorliegende Band ist eine Chronik dieses Krieges. Er enthält die Beobachtungen und Gedanken einer politischen Beobachterin, die die Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien während des letzten Jahres fast ununterbrochen selbst miterlebt hat. Es ist ein sehr persönliches Buch – der Versuch, die Ereignisse in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina näherzubringen. Der anscheinend plötzliche Ausbruch an Haß und Gewalt im ehemaligen Jugoslawien ist für viele, besonders in Westeuropa, unverständlich und nur schwer nachzuvollziehen. Ich möchte das Unvorstellbare näherbringen, indem ich über das berichte, was ich selbst gesehen und erfahren habe.
Schlußbetrachtungen zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien sind verfrüht. Kein Mensch kann heute ein Ende des Konflikts absehen. Der Krieg mitten in Europa und seine Folgen gehen uns alle an. Auch das will dieses Buch vermitteln.
Wien, im Juni 1992
Es war am 27. Juni 1991 kurz nach sechs Uhr morgens, zwei Tage nach den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens. In meinem Hotelzimmer in Ljubljana klingelte das Telefon. Die aufgeregte Stimme des Dolmetschers: »Die Panzer stehen vor der Stadt. Sie sind bis zum Flughafen vorgerückt.« Jetzt war also doch eingetreten, was alle befürchtet, aber niemand so richtig geglaubt hatte: Die Jugoslawische Armee machte ihre Drohungen wahr. Sie wollte die Unabhängigkeit Sloweniens mit Gewalt verhindern.
Wenig später war unser Team unterwegs in Richtung Flughafen Ljubljana. An diesem Tag begann der Krieg.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch Hoffnung bestanden, daß die Jugoslawische Armee die Entscheidung respektieren würde, die die Abgeordneten des slowenischen Parlaments am Abend des 25. Juni 1991 getroffen hatten. Sie hatten in die Verfassung aufgenommen, was die Bürger Sloweniens schon im Dezember zuvor mit einem Referendum und überwältigender Mehrheit als Volkswillen kundgetan hatten: Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit ihrer Republik. Mit 193 Ja-Stimmen und fünf Enthaltungen machten die Abgeordneten den Weg frei für eine neue, bessere Zukunft – wie sie hofften.
Ganz so sicher vor der Jugoslawischen Armee und der Zentralregierung in Belgrad fühlten sie sich jedoch schon an diesem Tag offenbar nicht, denn die Abstimmung im Parlament fand ganz überraschend einen Tag früher als geplant statt. Die slowenische Regierung fürchtete Störmanöver aus Belgrad, politische und militärische. »Wir müssen damit rechnen, daß es zu Zwischenfällen und Provokationen kommt«, meinte der slowenische Außenminister Dimitrij Rupel noch am Tag der Unabhängigkeitserklärung. »Aber eine massive Besetzung Sloweniens wird es nicht geben.«
Ahnte der Minister wirklich nicht, was seiner Republik drohte? Oder war es reiner Zweckoptimismus? Ihre gerade beschlossene Unabhängigkeit nahmen die Menschen in Slowenien jedenfalls merkwürdig ruhig, ja fast schon bedrückt zur Kenntnis. Sie fürchteten die Reaktionen aus Belgrad.
»Natürlich freuen wir uns, zugleich sind wir aber auch besorgt«, meint eine Slowenin, die ich am Morgen nach der Unabhängigkeitserklärung nach ihren Erwartungen frage. »Ich kann noch nicht glauben, daß diese Unabhängigkeit nun Wirklichkeit werden soll.«
Wie berechtigt ihre Sorge war, sollte sich schon einige Stunden später zeigen, als die Jugoslawische Armee sich anschickte, sämtliche Grenzposten in Slowenien zu besetzen und die Slowenen, die sie einnehmen wollen, von dort zu vertreiben.
Wer der Armee dazu den Befehl gab, ist nicht geklärt. Ihre Befehlshaber berufen sich auf eine Anweisung des damaligen jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Marković. Der aber soll sie lediglich gebeten haben, die Posten entlang der slowenischen Grenze, die bis dahin von slowenischen Zöllnern und Armeesoldaten gemeinsam kontrolliert wurden, zu halten. Anscheinend hat er außerdem die Armee um Unterstützung gebeten, die Grenzen und damit die Einheit Jugoslawiens zu schützen. Ein ausdrücklicher Marschbefehl war das nicht, eher ein indirekter.
Marković war als Ministerpräsident ohnehin nicht befugt, der Armee Befehle zu erteilen, da laut jugoslawischer Verfassung das Staatsoberhaupt Oberbefehlshaber der Armee ist. Ein Staatsoberhaupt wiederum gab es in Jugoslawien zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht, da die Vertreter Serbiens und ihre Verbündeten eine Wahl verhindert hatten. Die Armee agierte also ohne Führung. Das Hilfegesuch des Ministerpräsidenten nahm sie jedoch gerne zum Anlaß, um ihre Soldaten und Panzer in Bewegung zu setzen. Am 26. Juni, dem Tag nach der Unabhängigkeitserklärung, begnügte sie sich allerdings damit, ihre Präsenz zu demonstrieren – und ihre Macht.
Als erstes bei Lipica an der Grenze zwischen Slowenien und Italien, einem idyllischen Ort, bekannt wegen seines Gestüts. Seit dem 16. Jahrhundert werden dort die Lipizzanerpferde gezüchtet, früher für den Hof der Habsburger Kaiser, heute für die Spanische Reitschule in Wien. Am 26. Juni wird Lipica zum Schauplatz einer bedrohlichen Begegnung zwischen den Panzern der Jugoslawischen Armee und den Soldaten der slowenischen Bürgerwehr, der sogenannten Territorialverteidigung. Die Slowenen haben sie mit ihrer Unabhängigkeitserklärung zur Republiksarmee erklärt. Dies ist eine Begegnung, die der Auftakt für die blutigen Auseinandersetzungen der folgenden Tage werden soll.
Schon auf dem Weg nach Lipica werden wir mehrmals von der slowenischen Polizei angehalten. »Verschwinden Sie lieber, solange noch Zeit ist«, sagt uns ein slowenischer Einsatzleiter. Wir fahren trotzdem weiter, durch Lipica hindurch und an mehreren Straßenkontrollen vorbei bis zur Grenze. Wir wollen sehen und filmen, was sich dort abspielt.
Die Szene ist gespenstisch: Direkt am Grenzübergang stehen sich nun die als Feinde gegenüber, die bisher die Grenze gemeinsam kontrolliert haben. Auf der einen Seite die slowenischen Polizisten, die die Grenzen ihrer unabhängigen Republik nun alleine bewachen wollen, ohne die Jugoslawische Armee. Auf der anderen Seite die Soldaten der Jugoslawischen Volksarmee, die die Übernahme der Grenzposten durch die Slowenen verhindern sollen. Sie haben Befehl, die jugoslawische Fahne zu bewachen, die noch immer über der Grenzstation weht. Sie sollen dafür sorgen, daß die Slowenen an der Grenze nicht ihre Fahne hissen und ihre Schilder mit der Aufschrift »Republik Slowenien« aufstellen.
Einer der slowenischen Polizeikommandanten berichtet uns, wie seine Leute versucht haben, eine solche Tafel anzubringen. Die Soldaten der Jugoslawischen Armee seien dazwischengegangen und nach einem kurzen Handgemenge habe man sich entschieden, die Tafel lieber nicht zu »enthüllen«. Jetzt bewachen die Slowenen ihr eingepacktes Schild, wiederum von den Armeesoldaten mißtrauisch beobachtet, die fest entschlossen sind, jeden weiteren Versuch, es auszupacken, zu verhindern.
Das alles spielt sich nur wenige Meter von der italienischen Grenze entfernt ab. Noch ist der Übergang nach Italien offen, aber der Verkehr ist bereits ins Stocken geraten. Die italienischen Zöllner verfolgen das Geschehen auf der slowenisch/jugoslawischen Seite in höchster Alarmbereitschaft und mit wachsendem Mißtrauen. Es ist ein fast schon absurdes Schauspiel – wenn es nur nicht so gefährlich wäre.
Inzwischen bewegt sich ein Armeekonvoi auf die Grenze bei Lipica zu. Er soll dort die Armee-Einheiten verstärken. Die Slowenen haben Lastwagen auf der Straße quergestellt, um der Militärkolonne den Weg zu versperren. Dahinter staut sich der Verkehr. Einige Militärfahrzeuge gelangen trotzdem bis zur Grenze, die Panzer bleiben zwischen den Blockaden stecken.
Einem der Militärkonvois begegnen wir auf dem Rückweg nach Ljubljana. Er hat direkt hinter einer Straßenbiegung mitten im Wald angehalten. Als ich aus dem Wagen steige und mit einem der Offiziere sprechen will, macht dieser mir schon von weitem unmißverständlich klar, daß wir am besten sofort verschwinden. Die Soldaten sind ziemlich nervös, ihre Gewehre haben sie entsichert, den Finger am Abzug. Der slowenische Einsatzleiter hatte recht: Vorsicht beim Umgang mit der Jugoslawischen Armee. Auf Aufnahmen und Interviews müssen wir hier verzichten. Wir drehen lieber um. Unser Kameramann schafft es trotzdem, aus dem wegfahrenden Wagen ein paar Einstellungen zu drehen.
Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt es an diesem 26. Juni nicht – noch nicht. Statt dessen findet am Abend vor dem Parlament in Ljubljana wie geplant der Festakt mit der offiziellen Verkündung der Unabhängigkeit statt, allen Drohgebärden der Armee zum Trotz. Die Slowenen halten daran fest, obwohl sicher kaum einem zum Feiern zumute ist. Selbst von dem Lärm der Kampfflugzeuge der Jugoslawischen Armee, die pünktlich zu Beginn der Veranstaltung über die Stadt fliegen, lassen sie sich nicht stören.
Später am Abend, als im Zentrum von Ljubljana slowenische Musiker aufspielen, wird die Stimmung dann doch gelöster. Die offizielle Feier geht in ein Volksfest über. Bis in die frühen Morgenstunden freuen sich die Slowenen über ihre neue Unabhängigkeit, so wie im Dezember 1990 nach der Volksbefragung, als sich eine überwältigende Mehrheit für eine selbständige Republik ausgesprochen hatte.
Zehntausende promenieren in den malerischen Gassen der Altstadt entlang dem Ufer der Ljubljanica, einige singen und tanzen. Es scheint, als ob keiner dieses Fest verlassen und nach Hause gehen wolle – so, als ob die Menschen in dieser Nacht ahnten, was sie am nächsten Tag erwartet.
Am Morgen des 27. Juni erreichen wir als eines der ersten Fernsehteams Brnik, den Flughafen von Ljubljana. Wir müssen zahlreiche Straßensperren umfahren, die die Einwohner von Ljubljana zusammen mit der slowenischen Polizei und der Territorialverteidigung errichtet haben. Die slowenische Regierung hat dazu aufgerufen, damit die Panzer vor der Stadt nicht ins Zentrum gelangen. Fast zwei Stunden dauert es, bis wir uns mit Presseausweisen und mehreren längeren Verhandlungen an slowenischen Wachposten vorbei durch die quergestellten Lastwagen und Busse gekämpft haben. Dann sind wir endlich am Ziel.
Wie viele Panzer am Flughafen stehen, kann man uns nicht sagen. Etwa 20 seien es, höre ich, die meisten im Wald versteckt. Wir sehen nur zwei von ihnen, schwere sowjetische Kampfpanzer mit laufenden Motoren, die drohend in Stellung gehen, sobald man sich ihnen nähert. Sie kommen aus dem Armeestützpunkt Vrhnika 20 km südwestlich von Ljubljana, wie wir später erfahren. Dort ist eine Panzerbrigade stationiert, die vorwiegend aus Serben besteht. Am frühen Morgen kurz vor drei Uhr haben sich die Panzer in zwei Kolonnen in Bewegung gesetzt, zunächst direkt in Richtung Stadt. Die Soldaten der Territorialverteidigung versuchten, sie mit Blockaden aufzuhalten, woraufhin sie zum Flughafen Brnik, der nordwestlich von Ljubljana liegt, auswichen. Auf dem Weg dorthin drückten die Panzer die Blockaden beiseite, die die Slowenen errichtet hatten.
Was davon übriggeblieben ist, sehen wir auf dem Weg zum Flughafen: umgekippte Busse, zerquetschte Lastwagen und Autowracks säumen die Straße. Die Panzer haben auch weiter Befehl, alles niederzurollen, was sich ihnen in den Weg stellt. »Wir werden schießen, wenn die Armee schießt«, sagt uns ein Offizier der Territorialverteidigung, und er fügt hinzu: »Die Situation ist außer Kontrolle geraten.« Über dem Flughafen: Kampfflugzeuge der Jugoslawischen Armee. Davor die Panzer. Drinnen im Gebäude und auf dem Rollfeld: schwerbewaffnete Einheiten der slowenischen Territorialverteidigung.
Die Panzer der Jugoslawischen Armee haben sich einen Weg durch die Blockaden gebahnt
Sie können den Flughafen nicht lange halten. Am nächsten Tag wird er von der Jugoslawischen Armee bombardiert. Das Rollfeld wird beschädigt, parkende Autos zerstört, alle vier Passagierflugzeuge der slowenischen Luftlinie »Adria« getroffen. Slowenien wirtschaftlichen Schaden zufügen – auch das scheint die Armee zu wollen. Dazu sucht sie sich ganz rücksichtslos vor allem zivile Ziele aus.
Das erste Opfer des Krieges in Slowenien ist ein Offizier der Jugoslawischen Armee. Er kommt am 27. Juni bei Schießereien in der Nähe von Maribor ums Leben.
Wir fahren zum slowenischen Außenminister Rupel, dem Mann, der noch vor zwei Tagen erklärt hat, es werde zu keiner Besetzung Sloweniens durch die Jugoslawische Armee kommen. Jetzt sitzt er müde und erschöpft in seinem Kabinett. Der Schreibtisch, schon bei unserem ersten Besuch mit Papierstößen und Aktenordnern überladen, scheint dieses Mal noch chaotischer. Dimitrij Rupel ist ratlos. Der jugoslawische Ministerpräsident Ante Marković habe ein Angebot gemacht, erzählt er uns: Die Armee werde sich zurückziehen, wenn Slowenien seine Unabhängigkeitserklärung zurücknehme. Und der Oberbefehlshaber des fünften Armeebezirks, General Kolšek, hat am Morgen ein Telegramm geschickt, in dem er erklärt, die Jugoslawische Armee sei auch weiterhin fest entschlossen, sämtliche Grenzposten zu besetzen und so die Einheit und Staatsgrenzen Jugoslawiens zu schützen. Darauf wird sich die Regierung in Ljubljana jedoch niemals einlassen. »Gerade berät die Bundesregierung in Belgrad«, sagt Rupel. »Wir stehen mit ihr in Kontakt. Wir hoffen, daß Herr Marković in den nächsten Tagen zu Verhandlungen nach Ljubljana kommen wird.«
Der slowenische Verteidigungsminster Janez Janša klingt weniger optimistisch. Am Abend tritt er im gefleckten Tarnanzug der slowenischen Territorialverteidigung vor die Presse und verkündet, daß gegen Slowenien Krieg geführt wird. Mindestens 100 Menschen seien an diesem Tag in Slowenien bei Schießereien verletzt worden oder ums Leben gekommen. Die Armee meint es ernst, davon ist der Verteidigungsminister überzeugt, spätestens seit dem Nachmittag. Da nämlich haben Soldaten der Territorialverteidigung in einem erbeuteten Schützenpanzer der Armee einen Kommandoplan gefunden, ein Geheimdokument der Armee, wie sich später herausstellt. »Bedem 91« heißt er: »Bollwerk 91«.
Das Papier enthält Anweisungen an die Einheiten der Jugoslawischen Armee für folgendes Planspiel: Europa ist destabilisiert, nachdem der Warschauer Pakt aufgelöst ist und in verschiedenen Teilen der Sowjetunion die Unabhängigkeitsbestrebungen wachsen. Ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes wie Ungarn, Bulgarien und außerdem auch Albanien haben ihre Streitkräfte der NATO unterstellt, um ihre Gebietsansprüche Jugoslawien gegenüber durchzusetzen. Innerhalb Jugoslawiens haben ökonomische und ethnische Probleme ein kritisches Stadium erreicht. Kroatien, Slowenien und Makedonien fordern die völlige Unabhängigkeit, und sie haben bereits mit mehreren NATO-Staaten bilaterale Beziehungen aufgenommen, um so die internationale Anerkennung zu erreichen. Einige führende Politiker dieser Republiken haben die NATO bereits um eine Intervention in Jugoslawien gebeten. Aus diesem Grund plant die NATO, die kommunistischen bzw. sozialistischen Regierungen der Republiken Serbien und Montenegro zu entmachten, um dann für ganz Jugoslawien eine neue, ihr genehme Bundesregierung einzusetzen. Jugoslawien ist also von feindlichen Streitkräften umzingelt: sowohl die NATO und die USA als auch sämtliche Nachbarländer, Rumänien ausgenommen, bereiten sich auf einen Angriff vor. Schließlich stellt der amerikanische Präsident der jugoslawischen Regierung ein Ultimatum, in dem er den Rücktritt der Regierungen von Serbien und Montenegro, freie und demokratische Wahlen in diesen Republiken einschließlich Wahlen im Kosovo, ein Ende des militärischen Drucks der Jugoslawischen Armee auf Slowenien und Kroatien und den sofortigen Einsatz von Beobachtern der NATO in Jugoslawien fordert. Als sich Jugoslawien diesem Ultimatum nicht beugt, ordnet der amerikanische Präsident am »D-Day« den Beginn der Operation »Balkanfeuer« an. Der Angriff auf Jugoslawien beginnt. Dabei werden vor allem Marine und Luftwaffe eingesetzt.
Der Plan enthält genaue Anweisungen für die »roten« (jugoslawischen) Streitkräfte, wie sie den »blauen« Angreifern zu begegnen haben. Im wesentlichen, so ist vorgesehen, sollen die militärischen Auseinandersetzungen vor allem auf slowenisches und kroatisches Territorium und auf Teile Bosniens beschränkt bleiben. Eine besonders wichtige Aufgabe der Jugoslawischen Armee besteht darin, die Hauptstädte der beiden nördlichen Republiken, Ljubljana und Zagreb, unter ihrer Kontrolle zu halten.
In Teilen liest sich dieser Plan geradezu abenteuerlich. Andererseits nimmt er fast prophetisch einiges von dem vorweg, was sich in den folgenden Wochen und Monaten ereignen sollte. Auf jeden Fall wurde durch ihn schlagartig die ganze Tragweite des Konflikts zwischen Ljubljana und Belgrad deutlich: Der geheime Kommandoplan der Armee, der sich in Windeseile in ganz Slowenien herumsprach, zeigte, daß die Militärs in Belgrad fest entschlossen waren, den Bundesstaat Jugoslawien zu erhalten. Aber nicht nur das: Ihnen ging es vor allem um die Bewahrung der alten kommunistischen Machtstrukturen, für die die demokratisch gewählten Regierungen Sloweniens und Kroatiens mit ihren Unabhängigkeitsbestrebungen eine echte Gefahr darstellten. In Slowenien begann sich jetzt die Angst breitzumachen, die Jugoslawische Armee könnte tatsächlich versuchen, ihren Einsatzplan zu verwirklichen.
Am selben Abend verschärft sich die Situation weiter: Die slowenische Territorialverteidigung schießt zwei Armeehubschrauber direkt über Ljubljana ab. Fünf Armeesoldaten kommen dabei ums Leben. Es ist klar, daß die Rache der Armee sicher nicht lange auf sich warten lassen wird. Und schon folgt die Nachricht, daß eine Kolonne von 30 Panzern aus dem Armeestützpunkt Novo Mesto, 60 km von Ljubljana entfernt, in Richtung slowenische Hauptstadt unterwegs ist. An diesem Abend ist man auf alles gefaßt.
Der nächste Tag gibt allen schlimmen Befürchtungen recht. Kampfflugzeuge der Jugoslawischen Armee bombardieren nicht nur den Flughafen Ljubljana, sondern auch andere zivile Ziele: in Šentilj/Spielfeld, am größten Grenzübergang zu Österreich, greifen die Bomber eine wartende Autokolonne an. Vier LKW-Fahrer werden dabei getötet. Das grausamste Blutbad richtet die Jugoslawische Armee jedoch auf der Hauptverbindungsstraße Ljubljana–Zagreb bei dem Dorf Trebnje an.
Auch dort haben die Slowenen Autoblockaden errichtet. Sie sollen die Panzer aus Novo Mesto aufhalten. In kilometerlangen Schlangen steht der Verkehr auf mehreren Spuren hinter quergestellten Fahrzeugen still. Auch viele Lastwagen aus dem Ausland stehen im Stau, Fernlastzüge auf dem Weg nach Bulgarien, Griechenland, in die Türkei. Die wenigsten Fahrer wissen, daß sie sich mitten im Kriegsgebiet befinden, daß dies kein normales Verkehrschaos ist, sondern daß nur einige hundert Meter weiter eine Panzerkolonne eingekeilt ist. Die Menschen sitzen ahnungslos in ihren Fahrzeugen, als die Kampfflugzeuge der Jugoslawischen Armee sich nähern, um den Panzern den Weg freizumachen. Eine Bombe geht nur wenige Meter neben dem Führerhaus eines Lastwagens nieder. Der Fahrer wird zerfetzt. Drei Türken sterben in ihren Wagen. Verletzte versuchen, sich zu retten, doch sie finden nirgends Schutz. Völlig wehrlos sind sie dem Angriff der Jugoslawischen Armee ausgesetzt.
Auf dem Weg zum Flughafen
Noch Tage später stehen die zerbombten und zerschossenen Autowracks auf der Straße, dazwischen Überreste menschlicher Körper, Haarbüschel und Eingeweide, in der Luft ein unerträglicher Gestank. Die Bauern, deren Häuser sich gleich neben der Straße befinden, können noch lange nach dem Angriff nicht fassen, was passiert ist. Immer wieder erzählen sie vom Anblick der Toten und von den Verletzten, die nicht versorgt werden konnten, weil die Krankenwagen zwischen den dichten Autoreihen nicht durchkamen. Und sie berichten von der Familie, die nur noch tot aus den Trümmern ihres zerbombten Hauses geborgen werden konnte.
Die Armee meinte es wirklich ernst. Am Abend des 29. Juni sprach Generaloberst Negovanović vom Obersten Armeestab im Belgrader Fernsehen. »Die Situation ist dramatisch«, erklärte er und forderte die Slowenen zum bedingungslosen Waffenstillstand auf. Für die Armee müßten »normale« Lebens- und Arbeitsbedingungen wiederhergestellt werden. Andernfalls werde man weiter mobilisieren und energische militärische Maßnahmen ergreifen. Mit massiven Drohungen wollte die Armee die Slowenen dazu bringen, die Barrikaden aufzulösen, ihre Waffen abzugeben, sich der Armee zu beugen und die Unabhängigkeitserklärung zu widerrufen. Bis zum nächsten Morgen um neun Uhr gab der Generaloberst der slowenischen Regierung Bedenkzeit. Doch die ließ sich von dem Ultimatum nicht beeindrucken und blieb hart. In ganz Slowenien wurden die Barrikaden verstärkt, und die Soldaten der Territorialverteidigung warteten in höchster Alarmbereitschaft.
Am folgenden Tag um neun Uhr, pünktlich zum Ablauf des Ultimatums, heulen in Ljubljana, genauso wie in mehreren anderen slowenischen Städten, die Sirenen: Fliegeralarm. Kurz darauf sind die Straßen wie leergefegt. Die Menschen bringen sich in Tiefgaragen und Luftschutzräumen in Sicherheit. Seit dem Ultimatum der Armee haben sie sich bereit gehalten, aber mit einem Luftangriff auf die slowenische Hauptstadt hat kaum jemand gerechnet.
Wir gehen in den Luftschutzkeller unseres Hotels. Die Kellnerinnen, die noch vor kurzem das Frühstück servierten, zeigen den Weg. Zwei Küchenmädchen bringen kistenweise Mineralwasser nach unten. Der Empfangschef steht wie immer an der Rezeption und achtet darauf, daß alles seine Ordnung hat. Die Bewohner der umliegenden Häuser kommen mit Kindern an der einen, Spielzeug und vollgepackte Taschen in der anderen Hand. Keiner rennt oder redet laut. Alles läuft so ab, als sei es schon eingeübt und hundertmal erlebt. Seltsam unwirklich erscheint die Situation. Sie paßt nicht an diesen Ort mitten in Europa, und sie paßt nicht in diese, in unsere Zeit.
Wir alle haben Angst. Das Schlimmste: Die Armee, die anzugreifen droht, ist unberechenbar, unkontrolliert, und sie ist grausam. Viele, die im Keller des Hotels warten, denken in diesem Moment an die Bilder des Luftangriffs auf die Autokolonnen bei Trebnje. Eine Familie hat ein Radio mitgebracht. Mehrere Kampfflugzeuge seien von Armeestützpunkten in Zagreb, Zadar und aus Bosnien losgeflogen in Richtung Ljubljana, heißt es. »Sie wollen das Parlament bombardieren, die Regierungsgebäude sind das Ziel«, sagt eine junge Frau. »Das haben sie gerade durchgegeben.« Die meisten sitzen schweigend da und bewahren nur mit Mühe die Fassung.
Es fielen keine Bomben auf Ljubljana. Nach 80 Minuten gaben die Sirenen Entwarnung. Die Flugzeuge hätten abgedreht, meldete das Radio. Die Armee erklärte später, die slowenische Regierung habe den Luftangriff nur vorgetäuscht, um die Menschen zu verunsichern. Es sei kein einziges Kampfflugzeug an diesem Morgen aufgestiegen. Eine zynische Behauptung nach allem, was geschehen war.
Der slowenische Präsident Milan Kučan ist sicher einer der wenigen Politiker, die früh die Gefahr erkannt haben, die Armee und Zentralregierung in Belgrad für die Eigenständigkeitsbestrebungen seiner Republik darstellten. Er brachte es fertig, Slowenien aus dem Machtbereich Belgrads zu lösen. Als prominenter Politiker der kommunistischen Partei in Slowenien duldete er nicht nur andere Parteien – er förderte sogar die Einführung eines pluralistischen Systems und wagte damit als erster tatsächliche Reformen in Jugoslawien. Er war es, der wesentlich zur Auflösung des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens beitrug, als seine Delegation im Januar 1990 den 14. und letzten Parteikongreß verließ. Die Slowenen dankten es ihm, indem sie ihn im April 1990 zum Präsidenten wählten. An dem Tag, an dem er sein Amt übernahm, trat er aus der kommunistischen Partei aus.
Milan Kučan ist ein politischer Profi. Er kennt die Machtstrukturen in Belgrad und weiß, wie sie funktionieren. Nur wenige Tage nach Ausbruch des Krieges war ihm klar, daß sich nach Auflösung des Bundes der Kommunisten die Jugoslawische Armee berufen sah, den Bundesstaat zusammenzuhalten, denn sie war als einzige Kraft im Lande dazu in der Lage – mit Gewalt. Doch ein solches Jugoslawien wollten weder die Kroaten noch die Slowenen. »Razdruživanje« – die Auflösung des Bundesstaates in der bisherigen Form – war ursprünglich ihr Ziel gewesen.
Noch vor kurzem hätte er sich ein künftiges Jugoslawien als Konföderation vorstellen können, nicht als zentralistischen Bundesstaat wie bisher, sondern als losen Staatenbund souveräner Republiken, sagte Milan Kučan auf einer der vielen Pressekonferenzen jener Tage. Aber das sei jetzt vorbei. Die Idee einer jugoslawischen Staatengemeinschaft sei nun wohl endgültig tot.
Er verhandelte jedoch weiter mit den Politikern aus Belgrad, obwohl klar war, daß mittlerweile die Armee die Staatsführung lenkte und nicht umgekehrt. »Die Armee wird von niemandem mehr kontrolliert und ergreift sämtliche Maßnahmen völlig unabhängig«, meinte er. Deshalb seien auch alle politischen Vereinbarungen nur wenig wert. Trotzdem versuchte Milan Kučan, mit dem jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Marković und den Außenministern Hollands, Italiens und Luxemburgs, die im Namen der EG vermittelten, einen Weg aus dem Krieg hin zum Frieden zu finden. Dabei wurde er selbst von den eigenen Leuten mißtrauisch beäugt, weil sie fürchteten, er gäbe um des Friedens willen die Unabhängigkeit Sloweniens auf.