Fritz F. Pleitgen

Durch den wilden Kaukasus

Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG

Kurzübersicht

Inhaltsverzeichnis

Über Fritz F. Pleitgen

Fritz F. Pleitgen, geboren am 21. März 1938 in Duisburg, besuchte Gymnasien in Bünde und Bielefeld. Ab 1952 war er als freier Mitarbeiter bei der Freien Presse tätig.

Von 1959 bis 1961 absolvierte er ein Volontariat in verschiedenen Zentralredaktionen und Außenstellen der Freien Presse. Im Januar 1963 wechselte er zum WDR Fernsehen. Er war dort bis 1970 als Reporter für die Tagesschau und für Sonderberichte tätig. 1970 begann Pleitgen seine langjährige Tätigkeit als Fernsehkorrespondent für die ARD. Für sieben Jahre berichtete er als Korrespondent des ARD-Studios Moskau aus der ehemaligen Sowjetunion.

Im Anschluss, 1977, übernahm er für fünf Jahre die Leitung des ARD-Studios DDR in Ostberlin. 1982 ging er als Leiter in das ARD-Studio Washington und war ab 1. Juli 1987 in gleicher Funktion im ARD-Studio New York.

1988 kehrte Fritz Pleitgen zum WDR nach Köln zurück und wurde zum Chefredakteur Fernsehen und Leiter des Programmbereichs Politik und Zeitgeschehen berufen.

Danach, vom 1. Januar 1994 bis zum 30. Juni 1995, war Pleitgen Hörfunkdirektor des WDR, vom 1. Juli 1995 bis zum 1. April 2007 Intendant des Westdeutschen Rundfunks.

Seit 2007 ist Fritz Pleitgen Geschäftsführer der RUHR 2010.

Über dieses Buch

Ein literarisch-politischer Reisebericht über den Kaukasus und seine Geschichte, über seine grandiosen Landschaften und Kulturen, über Kriegsgebiete und Handelsstraßen, über Menschen und ihre uralten Traditionen, über grenzenlose Gastfreundschaft und unausrottbare Blutrache.

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Erschienen bei KiWi Bibliothek

© 2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

 

Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln

 

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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

 

Impressum der Reprint Vorlage

ISBN (eBook) 978-3-462-41142-3

Für Gerda, Christoph, Vanessa,

Frederik und Benjamin

Der Kaukasus: mein Traum!

Kaukasien, du fernes Land,

der Freiheit armes Domizil,

von soviel Unglück übermanznt,

von blutigen Kriegen allzu viel!

Diese Verse hat der russische Dichter und Schriftsteller Michail Lermontow 1830 geschrieben. Warum stelle ich sie meinem Buch voran? Dafür kann ich Gründe nennen, die hoffentlich einleuchten. Erstens habe ich als schlichter Mensch eine Schwäche für Romantik. Zweitens bin ich von jung an ein Fan von Lermontow. In meiner Sturm- und Drangzeit war er für mich ein früher James Dean. Drittens haben seine Zeilen, als ich sie zum ersten Mal las, genau meine Vorstellung vom Kaukasus getroffen. So etwas vergisst man nicht. Aber man will es auch einmal überprüfen. Und das werde ich jetzt endlich unternehmen!

Warum der Kaukasus? Seit meiner Kindheit spukt er durch meine Träume. Schuld daran ist Prometheus. Als 12-Jähriger stieß ich auf seine Geschichte. Ob sie von Hesiod oder Aischylos geschrieben war, weiß ich nicht mehr. Aber was ich damals las, erfüllte mich mit Schaudern. An einen Felsen im Kaukasus ward Prometheus gekettet, weil er es gewagt hatte, dem großen Zeus, dem obersten aller Götter, das Feuer zu entwenden, um es den Menschen zu bringen. Die Geschichte bewegte mich tief. Sie wirkte auf mich abstoßend und faszinierend zugleich. Die Dosis reichte, seitdem bin ich vom Kaukasus infiziert. Ich stellte mir ein gewaltiges Felsenschloss vor, voller Geheimnisse und wilder Gewalt.

Was Prometheus für seine menschenfreundliche Tat zu erleiden hatte, ging mir sehr nahe. Jeden Tag erschien ein Adler und hackte dem Gefesselten die Leber aus. Sie wuchs über Nacht nach, aber dann kam wieder dieser furchtbare Vogel angeflogen. Adler sind seitdem bei mir unten durch, auch als Wappentiere. Tut mir Leid! Das Martyrium sollte gottlob nicht ewig währen. Prometheus wurde von Herakles befreit, doch das Happy End konnte mich nicht besänftigen. Ich war über Zeus entsetzt. Der König der griechischen Götter hatte bei mir verspielt. Mir erschien er als ein engstirniger alter Knacker, rachsüchtig auch gegenüber den Menschen. Man denke nur an die Geschichte mit der Pandora. Dieses Frauenzimmer hatte Zeus aus Wut darüber geschaffen, dass er sich bei einem Speiseopfer von Prometheus übervorteilt fühlte. Seine Schöpfung schickte er auf die Erde und gab ihr eine Büchse mit, die gefüllt war mit Übel und Elend. Natürlich konnte Pandora dem Drang nicht widerstehen, die Büchse zu öffnen. Seitdem ist die Menschheit um ein geflügeltes Wort reicher und die Erde für immer verseucht. Der Kaukasus scheint von Pandoras Büchse besonders viel abbekommen zu haben, denn im Laufe der Jahrtausende ist dieses erhaben schöne Land immer wieder von Kriegen und Katastrophen heimgesucht worden.

Doch davon wusste ich damals als junger Knabe nichts. Meine Kaukasus-Erkundungen standen erst am Anfang. Ich hielt mich vorerst weiter an die griechische Mythologie, denn sie lieferte mir noch eine andere »kaukasische« Geschichte, die mich in den Bann schlug. Es ging um den Zug der Argonauten, eine GSG-9-Operation der Antike. Die Story stammt aus der Zeit Homers. Ich blätterte nach: Der griechische Erzähler hatte 800 Jahre vor Christus gelebt, verriet mir der Brockhaus. Der Kaukasus musste also den Menschen schon früh bekannt gewesen sein.

Mit heißem Herzen las ich, wie 50 griechische Helden, angeführt vom kühnen und listenreichen Jason, mit ihrem Schiff »Argos« quer über das Schwarze Meer Richtung Kaukasus fuhren, um aus der reichen Kolchis das legendäre Goldene Vlies zu holen. Ich fieberte mit, wenn die Argonauten wieder und wieder in größte Gefahr gerieten und schier unlösbare Herausforderungen zu meistern hatten. Im Laufe der Lektüre abgebrüht, wunderte es mich nicht, dass es kurz vor dem Ziel wieder einmal besonders heikel wurde. Als die Argonauten endlich in der Kolchis angekommen waren, wollte der dortige König das Goldene Vlies nicht herausrücken. Doch Jason wusste sich zu helfen. Er machte sich an die zauberkundige Königstochter Medea heran. Sie verliebte sich in den schmucken Argonautenführer und war für ihn zu allem bereit. Sie betäubte den Drachen, der das Goldene Vlies bewachte, mit einem Schlaftrunk. Der Trick gefiel mir. Jason hatte nun leichtes Spiel. Unangefochten kehrte er mit dem Goldenen Vlies und der schönen Medea als künftige Gemahlin in seine Heimat zurück. Dass die Ehe später nicht funktionierte und zu allerhand – auch tödlichen – Komplikationen führte, stand für mich auf einem anderen Blatt. Mir war wichtig, dass im Kaukasus alles gut gegangen war. Fortan war Winnetou bei mir abgemeldet, mein neuer Held war Jason.

Ich war jetzt endgültig auf den Geschmack gekommen. Meine Phantasie hatte zusätzlich Nahrung erhalten. Der Kaukasus war für mich nun mehr als ein düsteres, wolkenverhangenes Felsenschloss. Zu seinen Füßen dehnten sich vor meinem inneren Auge reiche, üppig blühende Landschaften wie die Kolchis aus. Doch ich wollte mehr wissen. Mit Hilfe des Hausmeisters verschaffte ich mir Zugang zum Kartenzimmer unserer Schule. Meine Suche galt dem Kaukasus. Ich fand ihn und war beeindruckt. Die Mercator-Projektion brachte seine majestätische Größe eindrucksvoll zur Wirkung.

Welche Rolle er für seine Umgebung spielte, war mir allerdings nicht auf Anhieb klar. Einerseits erkannte ich auf den ersten Blick, dass der Kaukasus wie eine Landbrücke das Schwarze mit dem Kaspischen Meer verband. Andererseits wirkte das mächtige Gebirge auf mich wie ein Sperrriegel zwischen Europa und Kleinasien. Großer und Kleiner Kaukasus bauten sich jedenfalls wie zwei mächtige Mauern hintereinander auf, als gelte es, Angreifer aus dem Norden und dem Süden abzuwehren. Genützt hat es wenig, wie ich später gelernt habe. Perser, Griechen, Römer, Tataren, Mongolen, Araber, Türken und Russen überwanden immer wieder die scheinbar unüberwindlichen Gebirgszüge.

Selbst die Deutschen zeigten im Kaukasus Flagge. Buchstäblich! Am 21. August 1942 kletterten Gebirgsjäger des 99. Regiments der Ersten Gebirgsdivision auf den 5.633 m hohen Elbrus und hissten auf dem Gipfel den Edelweiß-Stander. Sportlich war es eine respektable Leistung, eine Ruhmestat war es dennoch nicht, denn die Kletterpartie war Teil des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieges.

Kriege hat der Elbrus viele erlebt. Wie ein Schiedsrichter hat er darüber gestanden. Was waren die Gründe für so viel Mord und Totschlag? Es lag an der Anziehungskraft des Kaukasus, an seiner geographischen Lage. Er stand wie eine Drehtür zwischen Orient und Okzident und zwischen Nord und Süd. Von weit her kamen die Völker, trafen auf andere und gerieten nicht selten in Streit, weil das eine Volk dem anderen nicht weichen wollte. Über Jahrtausende ging das so. Wer nicht durchkam, blieb in den Bergen hängen. Dicht an dicht haben sie sich im Laufe der Zeit eingenistet. In keiner Weltgegend sind mehr Völker anzutreffen als im Kaukasus. Nirgends gibt es mehr Sprachen als hier. Sie gehören drei Familien an: Indoeuropäisch, Kaukasisch und Turk, mit Dutzenden eigenen Sprachen. Ein solches Babylon ist in der Welt einzigartig. Seit der Herrschaft der Zaren wurde Russisch zur allgemeinen Verkehrssprache im Kaukasus. Im Umgang untereinander blieb die Muttersprache, aber Russisch erleichterte die Kommunikation über die alten Grenzen hinweg. Nun kommen Englisch und Türkisch auf.

Es sind Menschen unterschiedlichster Herkunft, die hier ihre Heimat haben. Sie sind sich häufig nicht zugetan, aber was sie verbindet, ist ihr unbändiger Freiheitswille. Dafür geben sie ihr Leben hin und nehmen auch bedenkenlos das Leben anderer Menschen, bis auf den heutigen Tag. Doch alle Opfer halfen nicht, jahrhundertelange Unterwerfungen blieben ihnen nicht erspart.

Die Bergvölker im Großen Kaukasus wehrten sich am härtesten und längsten gegen Besetzung und Unterdrückung, während die Blütezeiten der armenischen und georgischen Königreiche schon weit zurücklagen – bei den Armeniern vor Christi Geburt, bei den Georgiern im 12. und 13. Jahrhundert. Danach machten sich die Mongolen über sie her. Anschließend gerieten Armenier und Georgier unter die Oberherrschaft der Perser und der Türken, ehe diese im 19. Jahrhundert von den Russen aus Transkaukasien gedrängt wurden. Obwohl als Befreier begrüßt, brachte auch das Zarenreich nicht die ersehnte Unabhängigkeit. Noch schlimmer wurde es in der Sowjetdiktatur unter Stalin. Erst seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums Ende des letzten Jahrhunderts stehen Armenien, Aserbaidschan und Georgien auf eigenen Füßen, wenn auch politisch und wirtschaftlich wackelig.

Auf meiner Schulkarte war der wechselvolle Verlauf der Geschichte nicht abzulesen. Sie gab den politischen Status von 1950 und die unabänderliche Geographie des ewigen Kaukasus wieder. Was ich sah, prägte ich mir genau ein. Im Norden erstreckte sich der Große Kaukasus über eine Strecke von 1.100 km vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer. Auf seiner Südseite dehnte sich zwischen den beiden Meeren Transkaukasien mit dem Kleinen Kaukasus als Rückwand aus. Als ich die Karte absuchte, fiel mein Blick auf Städte mit reizvollen Namen: das russische Wladikawkas, das georgische Tbilissi, das armenische Eriwan. Völlig untypisch für die eigenwillige Region reihten sie sich von Nord nach Süd auf einer Linie auf, als seien sie militärisch ausgerichtet. Im Osten fand ich Baku am Kaspischen Meer und auf der Gegenseite im Westen die Stadt Suchumi am Schwarzen Meer.

Alexandre Dumas und andere Vorreiter

Nach dem Kartenstudium fühlte ich mich fit für eine intensivere Beschäftigung mit dem Kaukasus. Entschlossen begab ich mich in die Gemeindebibliothek. Mit kostbarer Beute kehrte ich heim. »Die Eindrücke einer Reise durch den wilden Kaukasus« hieß das Buch, das ich mir ausgeliehen hatte. Sein Autor: Alexandre Dumas. Besseres als diese alte, abgegriffene Ausgabe hätte mir nicht in die Hände fallen können. Der Nachteil wurde mir bereits am nächsten Tag klar. Das Buch war so spannend geschrieben, dass ich es im Handumdrehen ausgelesen hatte. Als ich es mir Jahrzehnte später wieder vornahm, erging es mir genauso. Ich kann seine Lektüre nur empfehlen. Was Dumas beobachtete und beschrieben hat, macht auch das Geschehen im heutigen Kaukasus verständlich.

Mir war der Meister der Feder damals schon vertraut. Seine Bücher »Der Graf von Monte Christo« und »Die drei Musketiere« hatte ich bereits intus, die Filme dazu auch. Dumas war für mich eine Autorität. Ob er gelegentlich flunkerte wie Karl May, war mir egal. Seine Beschreibungen waren hinreißend. Wie er in den Kaukasus gelangte, verdient ein paar Worte, denn die Begleitumstände seiner Reise decken sich mit heutigen Erfahrungen.

Der Dramatiker, Feuilletonist und Romancier Alexandre Dumas war bereits zu Lebzeiten weltberühmt geworden. Jedes Land hätte es sich zur Ehre angerechnet, einen solchen Schriftsteller einreisen zu lassen. Nicht so Russland! Dumas hatte in den 1830er Jahren einen Roman über die revolutionären Dekabristen in St. Petersburg geschrieben. Der russischen Zensur hatte das missfallen. Zar Nikolaus I. persönlich untersagte Dumas die Einreise. Wie wir sehen, hat das Misstrauen russischer Behörden und Herrscher gegenüber Fremden eine lange Tradition.

Zum Glück für den französischen Schriftsteller und sein weltweites Publikum starb der gestrenge Zar. Ihm folgte sein aufgeschlossener Sohn, der als Alexander II. den Thron bestieg und als Reformer in die Geschichte eingegangen ist. Anders als sein Vater hatte er nichts dagegen, dass Alexandre Dumas quer durch den europäischen Teil des Zarenreiches reiste. Der Franzose wurde nun von den Behörden und den Verantwortlichen vor Ort auf das Großzügigste unterstützt. Damit hatte man ihn gleichzeitig unter Kontrolle. Auch dieses Verfahren hat sich bis heute in Russland gehalten.

Der erste Teil seiner Route führte über Petersburg und Moskau nach Astrachan an der Wolga-Mündung. Bis dahin war die Reise zwar anstrengend, aber unproblematisch verlaufen. Dafür hatte es der zweite Teil – die Durchquerung des Kaukasus – in sich. Es war das Jahr 1858. Die Bergvölker im Kaukasus waren in Aufruhr. Seit Jahrzehnten kämpften sie unter ihrem Anführer Schamil gegen die russische Armee. Alexandre Dumas, sonst durch nichts zu erschüttern, war von der Grausamkeit der Kämpfe betroffen. »Und wie wird dieser erbarmungslose Krieg geführt!« notierte er. »Es ist ein Krieg ohne Gnade, ein Krieg ohne Gefangene, wo fast jeder Verwundete umgebracht wird.«

Die Menschheit hat sich seitdem nicht gebessert. Die Kriegsführung im Kaukasus ist heute so brutal wie damals. Die Waffen sind allerdings noch weit verheerender geworden. Gleich geblieben sind die Methoden. Die Russen ließen, wie es Dumas schilderte, mit überlegener Militärtechnik keinen Stein auf dem anderen. Bei der Verfolgung der Rebellen wurde Ort für Ort, Aul für Aul zerstört. Die Aufständischen – Lesghier und Tschetschenen – schlugen in Partisanenmanier grausam zurück. Beide Seiten schenkten sich nichts. Den Besiegten wurde der Kopf, im milden Fall die Hand abgeschlagen. Wenn es zu viele wurden, begnügte man sich mit den Ohren, um sie als Beleg für die allfällige Prämie vorzulegen.

»Tempora mutantur!« heißt es. Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen, haben wir von Ovid gelernt. Nicht so im Kaukasus! Heute wird nicht anders gekämpft und miteinander umgegangen als in früheren Jahrhunderten. Fernsehbilder und Berichte führen es uns immer wieder vor Augen.

Es gehörte Mitte des 19. Jahrhunderts schon großer Mut dazu, durch dieses Land zu reisen, »wo der Totschlag nur eine Gebärde ist«, wie Alexandre Dumas den großen russischen Dichter Alexander Puschkin zitierte. Doch der Franzose – obschon Mitte 50 – ließ sich nicht abschrecken. Im Gegenteil, mit wahrer Wonne stürzte er sich in die kaukasischen Abenteuer. Auf besonders gefährlichen Abschnitten reiste er mit militärischer Eskorte, aber oft riskierte er es auch auf eigene Faust. Nicht selten geriet er in Scharmützel, die mit Toten und Verwundeten endeten. Alexandre Dumas genoss die Gefahr. Er ließ sich auch nicht davon abhalten, nach einer Party mit drei russischen Kopfjägern räuberischen Tschetschenen aufzulauern. Der nächtliche Ausritt hatte den gewünschten Erfolg. Mit dem abgeschlagenen Kopf eines Tschetschenen und einer weiblichen Geisel, die dem Räuber abgenommen worden war, kehrte die Patrouille zurück.

Doch nicht nur die Gefahr von Überfällen lauerte hinter jedem Felsen des Gebirges, auch die Wegstrecke war teilweise ein selbstmörderisches Abenteuer. Zu Ross, in der Kutsche und im Schlitten mussten schwierigste Passagen gemeistert werden. Reißende Gebirgsflüsse, tiefer Schlamm und hoher Schnee waren zu überwinden. Die Unterkünfte boten längst nicht immer Erholung. Obwohl die ganze Tour eine riesige Tortur war, verlor Dumas nie seinen Witz, nie seine professionelle Neugier. Mochte er noch so erschöpft sein, nahm er sich doch Zeit und Gelegenheit, seine jeweilige Umgebung eingehend zu studieren. Seine Reise ging durch das heutige Tschetschenien und Dagestan zunächst Richtung Osten nach Baku am Kaspischen Meer und von dort nach Westen über Tbilissi bis zum Schwarzen Meer. Über 1.500 km hatte Dumas am Ende allein im Kaukasus über Stock und Stein zurückgelegt, und das mitten im Winter.

Als ich das Buch ausgelesen hatte, stand für mich fest, irgendwann selbst eine Reise durch den Kaukasus zu wagen. Inzwischen bin ich in die Jahre gekommen, der Traum war immer noch nicht verwirklicht worden. Näher gekommen bin ich ihm lediglich während meiner Korrespondentenzeit in Moskau. Aber die Verhältnisse ließen damals ein Gelingen nicht zu. Die kommunistischen Herrscher handelten weder so total abweisend wie Zar Nikolaus I. noch so aufgeschlossen wie Zar Alexander II. Sie duldeten zwar Berichterstatter im Land, versagten ihnen aber die Bewegungsfreiheit. Wir Journalisten, zumal aus dem Westen, standen im Kalten Krieg quasi unter Zensur.

Doch ganz hermetisch abgeriegelt waren wir nicht. Ich kam zwar nicht zum Kaukasus hin, aber der Kaukasus kam mir in Moskau vielfach entgegen. Aufgeweckte, dunkelhaarige, braunäugige Menschen aus Georgien, Armenien, Aserbaidschan und dem Großen Kaukasus bevölkerten die Märkte der Hauptstadt. Mit dem Kommunismus hatten sie wenig im Sinn. Sie konnten nicht einmal, so ein Witz in jener Zeit, den großen Sowjetführer Lenin vom Fußballspieler Pele unterscheiden. Dafür verstanden sie viel von Geschäften. Sie boten an, was der Staat nicht lieferte: Blumen, südländisches Obst und Gemüse in reicher Auswahl. Nicht alles produzierten sie selbst, sondern sie zweigten es aus staatlichen und genossenschaftlichen Betrieben ab. Sie brachten es im Polizeistaat Sowjetunion sogar fertig, ein Passagierflugzeug der offiziellen Fluggesellschaft Aeroflot dauerhaft in eine private Frachtmaschine für Blumen umzufunktionieren. Weil sie nicht billig verkauften, waren sie nicht sonderlich beliebt. »Schwarzärsche« nannte man sie abfällig, aber man sah sie doch gerne nach Moskau kommen, denn ohne die Kaukasier wäre es um die russischen Küchen noch ärmlicher bestellt gewesen. Wenn ich mit diesen Menschen ins Gespräch kam, priesen sie mir ihre Heimat als einen wahren Garten Eden auf Erden, was meine Kaukasus-Träume immer wieder beflügelte.

1971 gab es dann doch eine Möglichkeit zum Reisen. 50 Jahre Sowjet-Republik Georgien wurden gefeiert. Mir wurde offiziell angeboten, über das Jubiläum zu berichten. Begleitet von einem sowjetischen Kamerateam – drei netten, hilfsbereiten Russen, die allerdings nur Schönes drehen durften – gelangte ich nach Tbilissi. Die Zugehörigkeit zur ruhmreichen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wurde mit viel Prunk und großer Parade als freiwillige Entscheidung gefeiert. In Wirklichkeit wären die Georgier 1917 nach dem Sturz des Zaren gerne ihren eigenen Weg gegangen, aber sie wurden in die Sowjetunion gepresst. Ein Landsmann, der später zu fürchterlicher Berühmtheit gelangte, stand dahinter: Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin.

Kritische Auskünfte zu diesem Vorgang waren bei meinem Besuch damals nicht zu erhalten. Vermutlich war die Mehrheit der Bevölkerung auch mit ihrem Schicksal mehr oder weniger zufrieden, denn im Vergleich zu den anderen Völkern der UdSSR ging es den Menschen in Georgien nicht schlecht. Auch untereinander schienen sie gut auszukommen. Vom späteren Hass zwischen Abchasen, Osseten und Georgiern, die mit vielen anderen Völkerschaften alle in einer Republik lebten, war damals nichts zu spüren; jedenfalls nicht für mich als flüchtigen Besucher. Jeder bekannte sich zu seiner Abstammung, aber man lebte und feierte wie gute Nachbarn und Freunde zusammen. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass sich diese fröhlichen, gastfreundlichen Menschen gegenseitig auf brutalste Weise massakrieren könnten, wie es 20 Jahre später passieren sollte.

Was indes nicht vor mir verborgen wurde, war der Stolz auf Stalin, den viele der Georgier, mit denen ich sprach, nach wie vor als größten politischen Führer, als Retter der Sowjetunion und Menschenfreund betrachteten. Seine Verbrechen, die eigentlich seit Chruschtschows Enthüllungen allen Sowjetbürgern bekannt sein sollten, hielten sie zu meiner Verblüffung schlicht für Verleumdung.

Es waren damals heitere Tage im südländischen Tbilissi. Ich kam mir vor wie in einem mediterranen Land. Das Leben war viel entspannter als im ruppigen Moskau. Funktionäre und Normalbürger überschlugen sich in Freundlichkeiten. Meine Leber musste Schwerstarbeit leisten. Morgens, mittags, abends gab es Cognac. Zu den Mahlzeiten wurde selbstverständlich auch reichlich Wein serviert. Jeder Versuch, sich der vitalen Gastfreundschaft zu entziehen, war zum Scheitern verurteilt. Es wurde – so bekam ich zu hören – schließlich nicht nur zum Vergnügen getrunken, sondern auch auf Frieden und Völkerfreundschaft. Mir fiel auf, je weiter der Abend vorrückte, desto mehr löste sich die Sowjetmacht in der feucht-fröhlichen Atmosphäre auf. Am Ende ging es nur noch um die deutsch-georgische Freundschaft, direkt und ohne Umweg über das Friedensbollwerk UdSSR.

Auch im Kommunismus verstanden es die Georgier, Geld zu machen. Gesetze stellten für die meisten von ihnen kein Hindernis dar. Das galt nicht nur für die da unten, sondern erst recht für die da oben. Die Partei- und Republikführung herrschte selbstherrlich und korrupt. Nur einer stellte angeblich eine Ausnahme dar. Er war – so wurde mir erzählt – weder bestechlich noch ängstlich. Als Innenminister für Recht und Ordnung in Sowjetmanier zuständig, übte er sein Amt nicht nur pro forma aus. Er brachte in einem atemberaubenden Krimi sogar den allgewaltigen Parteichef zur Strecke, weil dieser sich auf besonders obszöne Weise bereichert hatte. Danach rückte der Innenminister selbst zur Nummer 1 der Republik auf, wurde später Außenminister der Sowjetunion, hatte dabei maßgeblichen Anteil an der Deutschen Einheit und ist nun Präsident von Georgien. Er heißt Eduard Schewardnadse. Mehrmals habe ich ihn in den Monaten der deutschen Vereinigung noch 1989 interviewt. Ich wollte ihn gerne wieder sehen.

Als ich Georgien verließ, wurde ich mit Einladungen überhäuft, aber von der großen Kaukasus-Reise konnte ich weiter nur träumen. Sie ließ sich damals nicht verwirklichen. Es gab keine Genehmigungen, bis auf kurze Stippvisiten in Baku und Eriwan. So musste ich mich mit Erzählungen begnügen. Zum Glück kannte ich den Germanisten Lew Kopelew und seine Frau Raissa Orlowa, eine Amerikanistin. In Moskau waren sie als Andersdenkende unter den Druck des Sowjetregimes geraten. Um den Repressalien wenigstens zeitweise zu entgehen, reisten sie im Land dorthin, wo sie noch nicht auf den »schwarzen Listen« standen. »Wir fuhren von uns weg und zu uns hin«, sagten sie. Besonders gerne waren sie in Armenien und Georgien, wo sie sogar noch Vorlesungen halten konnten. Mit Begeisterung erzählten sie von Theatervorstellungen und Konzerten, von Besuchen historischer Stätten und Begegnungen mit den Menschen. In Eriwan trafen sie den großen Maler Martiros Sarjan. »Er sagte uns«, schrieb Kopelew später, »dass er vieles in Petersburg, Paris und Istanbul gelernt habe, aber wirklich gefunden habe er sich erst in der Heimat, in diesem wunderschönen Tal, von dem aus man auf den Ararat schaut. Hier stand sein Haus, umgeben von den armenischen Bergen, den Farben und der Sprache Armeniens. Sarjan pflegte seinen verstorbenen Freund, den großen Dichter Awetik Issaakjan, mit den Worten zu zitieren: Wie kann ein Engländer glücklich sein, wenn er am Morgen erwachend plötzlich begreift, dass er kein Armenier ist!«

Sehr viele Freunde hatten Lew Kopelew und Raissa Orlowa in Tbilissi. Sie kamen aus der Geisteswissenschaft, aus dem Theater, aus dem Film und der Literatur. So lernten sie den Amerikanisten und Englischlehrer Swiad Gamsachurdia kennen. Als Kopf einer Menschenrechtsgruppe in Tbilissi forderte er die Armee auf, die Schießübungen in der Nähe des alten Klosters David Garedschi einzustellen, sonst würden durch die Explosionswellen und Granatsplitter wertvolle Ornamente und Fresken zerstört. Mit Respekt hörten wir davon. So etwas war damals in der Sowjetunion höchst ungewöhnlich und damit auch sehr riskant. Lew Kopelew half Gamsachurdia, Protestbriefe ins Ausland zu schmuggeln. Schließlich willigte die Armee ein. Das Übungsgelände wurde um einige Kilometer verlegt. Swiad Gamsachurdia wurde dadurch ein populärer Anführer der Opposition, aber Lew Kopelew ging später zu ihm auf Distanz. »Sein unverfrorener Chauvinismus, seine dumm-boshaften Äußerungen über Armenier, Abchasen und auch Russen stießen uns ab.«

Als sich die Sowjetrepublik Georgien 1991 von der UdSSR unabhängig erklärte, wurde Swiad Gamsachurdia zum ersten Präsidenten seines Staates gewählt. Sein Chauvinismus heizte die Emotionen unter den verschiedenen Nationalitäten Georgiens auf und führte schließlich zum Bürgerkrieg. Gamsachurdia wurde vertrieben, er ist inzwischen tot, aber seine Saat geht immer wieder auf. Georgien hat heute noch darunter zu leiden.

Die Zeit ging dahin. Ich wechselte als Korrespondent von Moskau nach Ostberlin, von dort erst nach Washington und anschließend nach New York. Schließlich kehrte ich nach Köln am Rhein zurück. Inzwischen Chefredakteur des Westdeutschen Rundfunks, erlebte ich als Berichterstatter unmittelbar mit, wie sich die Verhältnisse in der Sowjetunion drastisch änderten. Das Imperium brach zusammen. Alle Sowjetrepubliken machten sich selbstständig, auch im Kaukasus. Armenien, Aserbaidschan und Georgien wurden unabhängige Staaten. Journalisten konnten nun reisen. Unsere Korrespondenten waren ständig im Kaukasus. Zu unterhaltsamen Reiseberichten kamen sie allerdings nicht. Sie mussten sich mit blutigen Auseinandersetzungen beschäftigen, deren Ursachen auf jahrhundertelange territoriale Willkürakte zurückgehen. Nun wurden berechtigte und unberechtigte Ansprüche mit Gewalt geltend gemacht.

In Berg Karabach brachten sich Armenier und Aserbaidschaner um. In Georgien brach ein mörderischer Bürgerkrieg aus. Am lieblichen Schwarzen Meer gingen sich Abchasen und Georgier gegenseitig an die Gurgel. Derweil erklärten sich die Tschetschenen für unabhängig, was Moskau nicht hinnahm und zu zwei Kriegen führte, die grausige Opfer unter der Bevölkerung forderten und die Welt entsetzten. Es war, als sei Pandora zurückgekehrt. Wieder einmal suchten Tod und Verwüstung den stolzen, unglücklichen Kaukasus heim.

Es ist ein ewiger Teufelskreis. Jahrhundertealte Rechnungen werden untereinander beglichen. Interessenten von außen kommen dazu. Bodenschätze und die geopolitische Lage rufen auch westliche Großmächte auf den Plan. Das chronisch misstrauische Russland sieht sich dadurch ständig herausgefordert. Statt gemeinsam eine Friedensordnung zu suchen, werden gefährliche Überkreuz-Allianzen gebildet. Sie machen den Kaukasus zu einem dauernden Pulverfass.

Die Religion spielt mit hinein. Armenien und Georgien waren früh christianisiert worden, bereits im 4. Jahrhundert. Im 8. Jahrhundert kamen dann die Araber. Die vielen kleinen Völker um die Armenier und Georgier herum gingen in mehreren Wellen bis in die neuere Zeit zum Islam über. Die Glaubenskonstellationen haben sich bis zum heutigen Tag gehalten, aber sie bestimmen nicht allein die Beziehungen im Kaukasus.

So kommen das christliche Georgien und das muslimische Aserbaidschan gut miteinander aus. Sie versuchen Anschluss an den Westen zu gewinnen. Für Moskau ist das Grund genug, die Gegner der beiden zu unterstützen. Das sind zum einen die Abchasen, die von Georgien unabhängig sein möchten, und zum anderen die Armenier, die mit Aserbaidschan wegen der Enklave Berg Karabach im hasserfüllten Streit leben. Aserbaidschan wiederum unterhält traditionell enge Beziehungen zur Türkei. Armenien – von den Türken über Jahrhunderte bis hin zum Völkermord drangsaliert – pflegt daraufhin ein gutes Verhältnis zum Iran, der seinerseits in gespannter Nachbarschaft mit der Türkei und Aserbaidschan lebt. Es sind Beziehungskisten, die es in sich haben.

Öl und Gas am und im Kaspischen Meer sorgen für weiteren Zündstoff. Die Amerikaner und Engländer spielen im Hinterhof der Russen lebhaft mit. Unverhohlen erklären sie Aserbaidschan zu einem wertvollen Partner, was Moskaus ewiges Misstrauen nur bestätigt. Der Verlauf existierender und geplanter Pipelines wird zur strategischen Frage. So bekommt Tschetschenien als Transitland für die Ölleitung vom Kaspischen zum Schwarzen Meer für Moskau eine zusätzliche Bedeutung.

Wer mit wem? Im Kaukasus ist das ein jahrhundertealtes Spiel. »The Great Game« nennen es die Diplomaten heute. Für die Menschen in dieser Region bedeutet das »Große Spiel« allerdings wenig Gutes, sondern die fortwährende Gefahr von Krieg und Verheerung. Doch über dem schändlichen Tun der Menschen thront unangefochten und ewig verlockend der Kaukasus.

Hier atmet alles Einsamkeit. Hier ist alles rätselhaft – sowohl die dichten Lindenalleen, die sich über den Bach neigen, der sich mit Tosen und Schäumen von Klippe zu Klippe stürzend einen Weg durch die grünen Berge bahnt, als auch die Schluchten voller Dunkel und Schweigen. Eine herrliche Landschaft! Von allen Seiten unbesteigbare Berge, rotschimmernde Felsen, die mit Efeu behangen und von Platanengehölzen gekrönt sind, gelbe Abbrüche mit stark eingezeichneten Wasserrinnen, und hoch, hoch oben der goldene Saum der Schneefelder …

so schwärmte Michail Lermontow vor 160 Jahren vom Kaukasus. Er war hierhin verbannt worden, aber dieser Landschaft verfallen. Ihr widmete er Geschichten und Gedichte. Sein Hauptwerk »Ein Held unserer Zeit« ist zu einem Klassiker der Weltliteratur geworden. Michail Lermontow, der als russischer Byron gefeiert wurde, starb jung und seiner wilden Umgebung gemäß. Er wurde im Duell erschossen.

Der Kaukasus! Seine Schönheit, seine Dramen und seine Tragödien haben die größten Geister der russischen Poesie und Prosa angezogen. Wer hier nicht gewesen war, möglichst unter Gefahren, hatte nichts gesehen. So kamen sie wie Michail Lermontow und hinterließen von ihren Besuchen die schönsten und eindrucksvollsten Beschreibungen. Alexander Puschkin, Alexander Gribojedow, Lew Tolstoi, Andrej Belyj, Maxim Gorki, Ossip Mandelstam. Jede Zeile, die ich von ihnen las, fasste ich als Aufforderung auf, selbst dorthin zu fahren. So wurde mit der Zeit aus dem Kindheitstraum der konkrete Plan, eine literarisch-politische Reise durch den Kaukasus zu unternehmen, Vergangenheit und Gegenwart anhand von Zeugnissen der Poesie und Prosa zu vergleichen.

Stoff steht reichlich zur Verfügung. Schon die großen Geschichtsschreiber der Antike, die Griechen Herodot und Strabo sowie der Römer Plinius, wussten erstaunlich viel über den Kaukasus. Reich ist auch der literarische Nachlass einheimischer Autoren, angefangen von Schota Rustawelis Ballade »Der Recke im Tigerfell« aus dem 12. Jahrhundert oder dem Epos »Pandj Gandj« (»Fünf Schätze«) von Abu Mohamed Nizami aus Aserbaidschan bis hin zu Fasil Iskanders »Geschichten aus dem Kaukasus« aus der Neuzeit. Schließlich gibt es noch die Berichte westlicher Reisender. Neben dem brillanten Alexandre Dumas hinterließen Friedrich von Bodenstedt (aus dem Jahre 1849), Knut Hamsun (1895), Clara Zetkin (1926) und Fridtjof Nansen (1927) aufschlussreiche Beschreibungen.

Von Fridtjof Nansen war ich als jugendlicher Leser besonders angetan. Ich glaubte, Seelenverwandschaften festzustellen. Dass dem Norweger beim Betrachten des Kaukasus Prometheus und Jason in den Sinn kamen, wäre mir sicher genauso ergangen, dachte ich beim Lesen. Seine Schwärmerei für die Landschaft entsprach voll und ganz dem Bild, das ich mir in meiner Phantasie gemalt hatte. Auf der Route der Argonauten war Fridtjof Nansen über das Schwarze Meer gekommen. Als er sich auf die Reise durch das Land machte, ging er beim Anblick des Kaukasus mit seiner Begeisterung gleich in die Vollen:

Draußen über dem Meer war die Sonne untergegangen – im Norden lagen blaue Berge von weißen Gipfeln überschwebt. Der Kaukasus, wo der Titan des Menschengeistes, der den Göttern das Feuer stahl, an den Berg gekettet liegt, indes der Adler an seinen Eingeweiden zerrt: der ewige Kampf des Geistes gegen die irdischen Fesseln. Wir näherten uns der weiten Ebene des Rion-Flusses, dem Phasis der Alten, der durch das reiche Kolchis floß, das Land der Morgenröte, wohin der Widder der Sage entfloh und am Strand im Feuer des Sonnenaufgangs geopfert wurde. Sein goldenes Vlies ward am Baum des nächtlichen Himmels aufgehängt und von Drachen der Eifersucht bewacht. Hierher kamen die Argonauten auf ihrer wagemutigen Fahrt und segelten den Phasis aufwärts zum Sonnenkönig Aëtes von Kolchis. Hier begegnete im Wald der Sonnenheld Jason des Königs schöner Tochter, der Giftmischerin Medea; mit ihrer Hilfe zähmte er die feuerspeienden ehernen Stiere, säte die Drachensaat, fällte den Drachen, zerstreute das Dunkel und holte das Vlies.

Wenn ein alter Fahrensmann wie Fridtjof Nansen so auf Touren kommt, dann konnte ich mich in meiner Zuneigung zum Kaukasus nur bestätigt fühlen.

Nansen schrieb nicht so elegant und lebendig wie Alexandre Dumas, aber durch ihn erfuhr ich viel über die Geschichte und die damalige Gegenwart Transkaukasiens, insbesondere Georgiens und Armeniens. Der Norweger war aus ähnlich hartem Holz geschnitzt wie Dumas, ein vielseitiger, starker Typ! Als Erster überquerte er Grönland auf Skiern und Schlitten von Ost nach West. Beim Versuch, den Nordpol zu erreichen, kam er auf einer anderen Tour zwar nicht ganz an, aber sein Wagemut beeindruckte mich ebenso wie sein Forschungsdrang bei der Erkundung der Meere.

Nansen wurde später Diplomat. Nach dem Ersten Weltkrieg kümmerte er sich um Kriegsgefangene und organisierte Hilfe für die Hungergebiete in Russland. Zu Recht erhielt er für seine guten Taten den Friedensnobelpreis. Im Auftrag des Völkerbundes, dem Vorläufer der UNO, reiste Fridtjof Nansen nach Transkaukasien, um zu sehen, wie den verzweifelten armenischen Flüchtlingen geholfen werden konnte. Darüber verfasste er einen Reisebericht mit dem Titel »Betrogenes Volk«.

Aus diesem Buch erfuhr ich, was das armenische Volk erlitten hat. Es hatte schon lange keinen eigenen souveränen Staat besessen. In den letzten Jahrhunderten aufgeteilt unter russischer und türkischer Herrschaft, war es zwischen die Mühlsteine des Ersten Weltkrieges geraten. Als die Feindseligkeiten ausbrachen, behauptete die türkische Regierung, die Armenier in ihrem Staat wollten gemeinsame Sache mit den Russen machen. Dies sollte radikal verhindert werden. Eine grausame Verfolgung wurde ausgelöst, die zum Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern in der Türkei führte.

Franz Werfel hat das Leiden und den Überlebenskampf der Armenier in seinem Roman »Die 40 Tage des Musa Dagh« verewigt. Die Welt war bewegt, geholfen hat sie nicht und daraus gelernt auch nicht. Im Gegenteil! Als Werfels Buch erschien, machten sich Hitler und Stalin daran, als noch größere Völkermörder in die Geschichte einzugehen.

Fridtjof Nansen war erbittert über die Untätigkeit und Unfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft, insbesondere der westlichen Großmächte. Dem Völkerbund, der ihn entsandt hatte, schrieb er ins Stammbuch, seine Verantwortung nicht wahrzunehmen. Es ginge ja nur um ein kleines, blutendes, aber begabtes Volk ohne Ölfelder und ohne Goldminen. »Wehe dem armenischen Volk, dass es in die europäische Politik verwickelt wurde!« Mit diesen Worten endete Nansens Bericht. Seine Klage hat für den Kaukasus nichts an Aktualität verloren.

Die Ironie des Schicksals wollte es, dass ausgerechnet Nansens enger Vertrauter auf dieser humanitären Reise später zum Helfer des größten Menschenschinders aller Zeiten wurde. Er hieß Vidkum Quisling. Seine Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft wurde Nansen nicht müde zu loben. Gut, dass er nicht miterlebte, was aus seinem gepriesenen Reisebegleiter geworden ist. Als die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg Norwegen besetzte, arbeitete Quisling mit den Nazis zusammen. Nach dem Krieg wurde er als Kollaborateur gehenkt. Sein Name ist zum Synonym für politische Kollaborateure schlechthin geworden.

Das Buch von Fridtjof Nansen bleibt aber eine ergiebige Fundgrube für jeden Kaukasus-Interessierten. Auf die Nerven geht nur sein völkischer Fimmel, jeden Georgier und jeden Armenier nach seiner Schädelform einzuordnen, Langschädel oder Rundschädel, mit vorspringender Nase oder flachem Hinterkopf. Ansonsten lässt sich mit ihm gut durch den Kaukasus seiner Zeit reisen.

Anders als Dumas durchquerte Nansen nicht mehr mit der Kutsche oder hoch zu Pferde den Kaukasus, sondern mit der Eisenbahn. Aus dem Zug konnte er in Muße die Landschaft genießen.

 

Nach erneuter Lektüre seines Buches hatte ich keine andere Wahl: Ich musste endlich dahin, wo »die Bergriesen an der Pforte von Asien nach dem zersplitterten Europa wachen«.

Wie Risiken ausgeschaltet werden

Es war schon ein verwegener Gedanke, als Intendant eines eben nicht kleinen Rundfunkunternehmens einen Film über den Kaukasus zu machen und dazu ein Buch zu schreiben. Aber eine Erfahrung machte mich kühn. Ich hatte mich ein Jahr zuvor darauf eingelassen, neben meinen Management-Arbeiten ein Feature über Rügen zu drehen, und es war gut gegangen. Mit Disziplin, Organisation und Nachtarbeit ist das zu machen, sagte ich mir. Während eines Moskau-Besuches sprach ich mit unserem Korrespondenten Thomas Roth darüber. Er machte mir Mut und sicherte mir gleichzeitig seine Unterstützung zu. Praktischerweise war ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann dabei. Obwohl er sonst nicht leicht zu überzeugen ist, »kaufte« er das Vorhaben »Durch den wilden Kaukasus« gleich ein. Das Angebot stimmte offensichtlich.

Albrecht Reinhardt, Auslandschef beim Westdeutschen Rundfunk, nahm das Projekt unter seine Fittiche. Eine zweiteilige Fernsehreportage sollte ich liefern. Damit die Sache nicht schief ging, übernahm Heribert Blondiau, selbst ein erfahrener Autor, die Redaktion. Um die Recherchen – insbesondere für Literatur und Geschichte – kümmerte sich Maria Klassen. Wir beide kennen uns von einem gemeinsamen Filmprojekt über die russische Bürgerrechtlerin Larissa Bogoras. Für den Filmschnitt brauchte ich eine Könnerin mit Stehvermögen. Ein Gebirge von Kassetten würde zu bewältigen sein (70 Stunden wurden es schließlich). Mit Cordula Krämer fand ich die richtige Partnerin. Die »Heimatfront« stand also.

Wer aber sollte mich in den Kaukasus begleiten? Das Team musste sich auskennen. Kriegs- und Krisengebiete waren zu durchqueren. Nicht immer konnte die Einreise direkt von Nachbar zu Nachbar unternommen werden. Umwege waren erforderlich. Mit vielen Stellen musste verhandelt werden, um die Aufnahmen vor Ort zu sichern. Diesen Job leisten Producer. Sie sind Experten, die mit den Drehgebieten bestens vertraut sind und zugleich das Thema beherrschen. Für das schwierige Unternehmen Kaukasus gewann ich den besten Mann, Igor Butz. Er arbeitet für das ARD-Studio Moskau und kennt den Kaukasus von Dutzenden Reisen. Oft waren es lebensgefährliche Einsätze, wenn über die Bürgerkriege im Nord- und Transkaukasus berichtet werden musste. Zu meiner Freude und Erleichterung ist auch der Filmemacher Stefan Tolz mit von der Partie. Er kennt als Georgien-Spezialist die Sprache des Landes, das er viele Male bereist hat. Dabei entstand ein einfühlsamer Film »Das kaukasische Gastmahl«, der beispielhaft für das wechselhafte Schicksal Georgiens die Biographien freundschaftlich verbundener Menschen schildert. Wenn ich zu Recherchen unterwegs bin, wird Stefan Tolz die Dreharbeiten leiten und später beim Schnitt dabei sein.

Lange diskutierten wir, welches Kamerateam an den politisch sehr unterschiedlichen Drehorten am besten zurechtkommt. Wir entschieden uns für eine russische Besetzung. Da konnte nur die Wahl auf Maxim Tarassjugin als Kameramann fallen. Er hatte für die ARD »Die Ballade vom Baikalsee« von Klaus Bednarz gedreht. Tonmann Mischa Falin vom ARD-Studio Moskau komplettierte das Team.

Der Kaukasus ist eine vielfältige, sehr verschachtelte Region wie kaum eine andere auf der Erde. Welche Route sollten wir nehmen? Wir entschieden uns für klare Linien, die auch von Außenstehenden unschwer zu verfolgen sind. Zunächst wollen wir die klassische Durchquerung des Kaukasus von Nord nach Süd in Angriff nehmen, danach werden wir von West nach Ost reisen, also vom Schwarzen Meer zum Kaspischen Meer.

Starten wollten wir wie Alexandre Dumas im russischen Kisljar, dann sollte es weitergehen durch Tschetschenien, über Wladikawkas und die »Große Georgische Heerstraße« nach Tbilissi und Eriwan bis schließlich an die Grenzen zur Türkei und zum Iran. Als Ausgangspunkt der zweiten Tour hatten wir uns Suchumi am Schwarzen Meer ausgesucht. Von dort wollten wir durch die Kolchis nach Tbilissi und weiter am Kura-Fluss entlang durch Transkaukasien zum Endpunkt unserer Reise nach Baku reisen.

In unsere Vorbereitung kamen die Nachrichten von Entführungen in Abchasien und Tschetschenien. Von ortskundiger Seite wurde uns geraten, die Reise nicht mit großem Getöse anzukündigen. Professionelle Kidnapper würden sich sicher viel Lösegeld versprechen, den Chef einer deutschen Rundfunkanstalt einzukassieren. Wir unterließen deshalb jede Vorab-Ankündigung.

Zu fünft brachen wir auf, im Kopf die Zeilen des russischen Dichters und Symbolisten Andrej Belyj:

Kaukasus und Transkaukasien sind urälteste Orte der Menschheit. Mir ist klar, warum die Arche Noah hier strandete, warum die Argonauten hier hinreisten, warum Prometheus das himmlische Feuer des Wissens hierhin brachte.

Ich hatte mir schon eine üppige Vorstellung angelesen, aber nun wollte ich es genau wissen.

Von Machatschkala nach Kisljar

Abdul Mussajew holt uns früh ab. Er ist Oberst der Miliz von Dagestan. Wir beide geben ein schönes Bild ab. Uns trennen nur winzige 45 cm in der Körpergröße. Doch der kleine Oberst weiß sich zur Geltung zu bringen. Was ihm an Wuchs fehlt, macht er durch energisches Auftreten und seine Makarow wett. Die 9-Millimeter-Pistole trägt er sichtbar und griffbereit an der Hüfte.

Wir fahren von Machatschkala nach Kisljar, 120 km parallel zur tschetschenischen Grenze. Sie ist von russischen Streitkräften abgeriegelt, aber für die tschetschenischen Rebellen kein Hindernis. Sie dringen immer wieder über die Grenze nach Dagestan vor. Auch diese Straße ist vor ihnen nicht sicher. Die Russen haben Dagestan bei ihrem Vorstoß nach Süden unter Peter dem Großen erobert. Die Errungenschaft bereitete ihnen nicht immer Freude. Hier gab es viele Aufstände gegen die Herrscher in Moskau und Petersburg. Der Aware und legendäre Rebellenführer Schamil kam aus Dagestan. 25 Jahre machte er den zaristischen Truppen die Hölle heiß. Nun herrscht wieder Krieg, nebenan in Tschetschenien. »Sympathisieren Ihre Landsleute mit den Tschetschenen?« will ich von Abdul Mussajew wissen. »Einige schon!« »Wer sind diese Leute?« »Es sind die Wahabiten. Sie wollen das strenge Regime des Islams, die Scharia, einführen. Ein ganzes Gebiet hatten sie schon unter ihre Kontrolle gebracht. Sie haben einfach unsere Behörden rausgeschmissen. Die Polizei gleich mit.« »Wie ist das ausgegangen?« »Die Tschetschenen unter Bassajew drangen auf unser Territorium vor, um einen Wahabiten-Staat zu schaffen. Unsere Armee hat die Sache radikal beendet. Bei der Gelegenheit haben wir auch mit den Wahabiten reinen Tisch gemacht.« Ich erinnere mich. Es soll, so die Berichte, kein Stein auf dem anderen geblieben sein. Mit äußerster Brutalität sei vorgegangen worden. Das ist im Kaukasus nichts Neues. Beide Seiten schenken sich nichts. Trotz schwerster Verluste geben sie nicht nach. Allein der Kaukasische Krieg im 19. Jahrhundert dauerte von 1817 bis 1864, weit länger also als der Dreißigjährige Krieg in Deutschland.

Wir fahren nun schon eine geraume Weile. Alles flach! Aufregend ist die Landschaft wahrlich nicht. Rechts Steppe, links Steppe. Ab und zu ein Dorf. »Wer wohnt hier?« »Kumyken und Nogaier, alte Steppenvölker.« »Sind die Sprachen unterschiedlich?« »Völlig! Keiner versteht den anderen. Dagestan ist einzigartig. 33 Nationalitäten stammen von hier. Jede hat ihre eigene Sprache. Dazu kommen noch Dutzende andere Nationalitäten, die hier eingewandert sind. Russen, Georgier, Armenier, Ukrainer, Deutsche. Gleich fahren wir durch das Dorf Luxemburg. Benannt nach Rosa Luxemburg. Haben Deutsche gebaut. Sie sind jetzt alle weggezogen.« »Wie verständigen sich die Leute in Dagestan?« »Auf Russisch!«

Wir rollen über den Terek-Fluss. Wie viele Lieder sind auf ihn gesungen worden, wie viele Gedichte und Geschichten sind über ihn geschrieben worden? Hier sieht er abgekämpft aus, der Schicksalsfluss der Kaukasier und der Russen. Seine Wildheit, seinen Elan hat er auf seiner langen, gewundenen Wegstrecke aus den Schluchten des Kaukasus bis hierhin verloren, wo er nun in der Ebene bedächtig auf das Kaspische Meer zugleitet. Dieser Fluss hat viele Kämpfe und Kriege erlebt, viele Menschenleben haben an seinen Ufern ein gewaltsames Ende gefunden, viel Blut ist mit ihm zu Tal geströmt. Michail Lermontow hat es in seinem Gedicht »Die Gaben des Terek« elegisch besungen.

Durch Gefels in wildem Jagen

Brüllt der Terek grimmgemut;

Sturmesheulen – seine Klagen,

Schaumgeperl – die Tränenflut.

 

Doch an des Gebirges Fuße

Strömt er murmelnd sanft einher,

Und mit schmeichlerischem Gruße

Spricht er zu dem Kaspimeer:

 

»Teile gastlich deine Wogen,

Meeresgreis, und gib mir Raum:

Aus der Ferne hergezogen,

Bin ich müde, welle kaum …