Monica Braw
Wir sind die Angst der Welt
Ein Roman von den Überlebenden in Hiroshima und Nagasaki
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
FISCHER Digital
Monica Braw lebt als schwedische Auslandskorrespondentin in Tokio, Japan, und arbeitet an einer Dissertation über die Auswirkungen der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki. »Wir sind die Angst der Welt« ist ihr zweiter Roman.
Im Fischer Taschenbuch Verlag erschien außerdem ihr Buch über »Frauen in Japan« (Bd. 3730).
Jahrelang hat Monica Braw Erinnerungsstätten besucht, Betroffene befragt. Ihre Recherchen und ihre persönlichen Begegnungen mit den Opfern der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki hat sie zu einem Roman verarbeitet, in dem sie einen ehemaligen amerikanischen Soldaten mit einer noch jungen Japanerin, die zu den »Kindern von Hiroshima« gehört, in eine spannungsreiche Beziehung treten läßt.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560668-1
Kleine Elfenbeinschnitzereien
Oden ist ein japanischer Eintopf aus mehreren Gemüsesorten, oft auch mit Fisch zubereitet.
Fest zu Ehren der Toten, das eine Woche dauert.
Japanische Satzkonstruktion. Wörtliche Übersetzung: Japanisch lernen dadurch, daß man wird (d.h. in japanischer Umgebung lebt); sinngemäße Übersetzung: Japanisch lernen.
Russisch = Brot, Kalt, Frau vorwärts!
Japanisches Atomkraftschiff
Shochu = Branntwein
Gewidmet
Shigetoshi Iwamatsu, der den Atombombenangriff auf Nagasaki überlebte.
»Das wirklich Erstaunliche ist, daß Menschen überall auf der Welt sich daran gewöhnt haben, so unbekümmert um die ständig wachsende Gefahr weiterzuleben, daß die große Verwüstung plötzlich uns alle und unsere Zivilisation auslöschen könnte.«
Alva Myrdal
Es war alles anders diesmal.
Ich stand an Deck eines Schiffs, und vor mir lag eine japanische Stadt. Aber diesmal glommen keine Feuer zwischen Ruinen. Diesmal hielt ich nicht den Atem an, aus Angst vor der Radioaktivität.
Diesmal war es ein frühsommerlicher Nachmittag, und der Kai war voll von schwarzen Köpfen, von flatternden Röcken und schaukelnden Ballons, winkenden weißen Taschentüchern und den Schreien der Kinder, die endlich die sehnlichst erwarteten, weitgereisten Gäste entdeckten, die mit dem M/S Ordzhonikidze angekommen waren.
Ich stand da, umgeben von Jubel, erwartungsvollen Rufen und frohem Lachen, eingeklemmt zwischen zwei japanischen Jeans-Mädchen mit breitkrempigen Sonnenhüten, sanft geknufft von ihren ahnungslosen, runden Körpern, als sie hüpfend und kichernd die Blicke eines Wartenden aus der Menge auf sich zu ziehen versuchten. Hinter mir standen, eher abwartend, zwei Russinnen, Kellnerinnen aus dem Schiffsrestaurant, Marlboros zwischen den Fingern und Chiffontücher ums Haar gebunden, das trotz des heißen Meereswindes eigentümlich unbeweglich am Kopf anlag.
Längs der Strandpromenade von Yokohama mit ihren Marmorplatten und dem dichten, kurzgeschorenen Rasen zogen Scharen von sauberen, adretten Familien daher, sonntäglich gestimmt, gut gekleidet. Hinter den Ginkgobäumen der Allee, nach dem Grand Hotel zu, ragten die Paläste der Banken, Reedereien, Versicherungsgesellschaften auf: grau, stabil und sicher, unzerstörbar. Über den Dächern flatterten enorme Stofffische an Masten, hoch wie Fahnenstangen, rote, grüne, graue, blaue. Einige baumelten da zu zweit, einige zu dritt, an einem reihten sich sogar sieben, sieben Söhne hatte eine stolze Familie an diesem Tag der Knaben zu feiern, sieben Söhne, von denen man hoffte, daß sie, wie der Karpfen, die Kraft haben würden, flußaufwärts gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.
In Gedanken versuchte ich, die Stadt vor mir in Rauch aufgehen, zerfallen, zu Staub werden, verschwinden zu lassen. Ich versuchte, die Blätter sich zusammenrollen, zu trockenem Pulver zerbröseln und zum Himmel emporwirbeln zu lassen. Ich versuchte, die widerstandsfähigen Stämme der Ginkgobäume zu Splittern zerbersten zu lassen. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie die frisch gebügelten Sommerkleider der Familien in Fetzen reißen, ihre Körper von Glassplittern durchbohrt werden und die Erwartung in den Augen ihrer Kinder erlischt.
So war es ja beim letztenmal gewesen.
Oder: so mußte es gewesen sein.
Aber die beiden Mädchen rechts und links von mir kreischten vor Freude. Die Gangway war ausgefahren worden! Die Volksmenge drängte sich auf die schmalen Deckstreppen zu, Rufe auf Japanisch, Englisch und Russisch flogen hin und her.
Nur die Kellnerinnen blieben gelassen stehen. Später am Tag würden sie Landurlaub bekommen, und noch später würden sie zurückkehren, zufrieden mit ihren Einkäufen an Parfum und Whisky, Kameras und Kassettenrekordern.
Als das Deck sich geleert hatte, holte ich mir ohne Eile meinen Koffer, und dann ging ich in Japan an Land.
Bei der Paßkontrolle stellte ich mich in der Schlange für Ausländer an. Am anderen Schalter standen die Japaner. Ordentlich und gerade verlief ihre Schlange, plötzlich sah ich nur noch lauter schwarze Köpfe, ein optisches Phänomen; die jungen Mädchen in Jeans, die Geschäftsleute in grauen Anzügen, die Matronen in Tiefviolett, die Mütter mit den Kindern auf dem Rücken, sogar die Dame, die während der ganzen Reise mehrmals am Tag den Kimono gewechselt hatte, erschienen mir jetzt nur als schwarze, einander gleiche Köpfe.
Am Zoll zeigte ich meinen Paß vor, und zugleich fiel mir ein, daß ich wohl irgendeine Zolldeklaration hätte ausfüllen …
»Mister … Lay … nein, Rayburn … Sie kommen aus Schweden?«
Der Zollbeamte musterte meinen Paß.
»Ja.«
»Haben Sie etwas zu verzollen?«
»Nur persönliche Dinge.«
»Ihre Deklaration … Haben Sie Kugelschreiber?«
»Wie bitte?«
»Kugelschreiber?«
»Ich weiß nicht … natürlich habe ich einen Stift …«
»Das müssen Sie hier auf dem Formular ankreuzen! Juwelen! Alkohol! Kühlschränke! … Oder nein«, unterbrach er sich selbst und sah mich forschend an. »Machen wir es so.«
Er strich die Fragen mit einem raschen und sicheren Querbalken durch.
»Willkommen in Japan, Herr Rayburn, Sie können gehen.«
Ich betrat die Umzäunung, um die sich erwartungsvolle Abholer versammelt hatten. Ich erwartete nicht, abgeholt zu werden.
»Doktor Fred?«
Die Stimme war leise, ich hielt sie zuerst für eine Einbildung. Aber sie ließ sich wieder hören:
»Doktor Fred?«
Ich sah mich um. Eine sehr kleine, ältere Japanerin stand neben mir, auf festen Füßen:
»Doktor Fred Rayburn?« fragte sie gewissenhaft.
Als ich bestätigend nickte, gab sie mir einen Brief. Der Umschlag war tadellos, das Papier war geprägt mit den Kronblättern der Regenzeitblume der Saison. Ich drehte ihn um. Er war sorgfältig an der Schmalseite zugeklebt, so fest, daß ich meinen Koffer absetzen und meinen Brieföffner hervorholen mußte, um ihn zu öffnen. Er enthielt einen Brief auf handgeschöpftem Papier:
Lieber Dr. Rayburn!
Leider war es mir nicht möglich, Sie persönlich abzuholen. Statt dessen habe ich meine Frau geschickt und bitte um Verzeihung. Sie hat den Auftrag, Sie ins Hotel Tobu in Tokio zu bringen, wo ein Zimmer für Sie bereitsteht. Ich hoffe, daß Ihr Aufenthalt in Japan sich angenehm gestaltet. Ich bitte Sie, sich unverzüglich mit mir in Verbindung zu setzen, wenn ich Ihnen zu Diensten stehen kann.
Hochachtungsvoll,
Ichiro Kabe.
Ich hatte vor meiner Abreise einige Briefe nach Japan geschickt, Briefe an Japaner, die ich irgendwo getroffen hatte, auf Konferenzen, auf Symposien; sie gaben einem immer so eifrig ihre Visitenkarten, man hielt eine Art Kongreßgepflogenheit aufrecht: Rufen Sie mich nächstes Mal in Rio an! Obwohl man nur zu gut wußte, daß das nächste Mal doch erst bei der lange geplanten Tagung auf Capri sein würde, mit Schulterklopfen und neuen Visitenkarten.
Aber Kabe!
Seine Frau bückte sich und nahm meinen Koffer unter entschuldigenden Verneigungen an sich. Nur durch meine Hartnäckigkeit schaffte ich es, ihn selber zu tragen. Entschlossen strebte sie dem Taxistand zu. Sie fand sofort einen Wagen. Die Baumwollhandschuhe des Fahrers leuchteten weiß auf dem Lenkrad. Die Hintertür schwang auf, ganz von allein. Frau Kabe beugte sich hinein und sagte etwas. Eine weiße Hand wurde widerwillig zur Vordertür ausgestreckt und öffnete sie. Frau Kabe wollte meinen Koffer hineinheben. Ich protestierte und zeigte auf den Kofferraum, machte ein paar Schritte, da ich schließlich sah, wie wenig Platz dort vorne war, hinten bot es sich doch an.
Nein nein, winkte Frau Kabe abwehrend und erhob die Hand wie ein Polizist zum Stoppzeichen. Da vorn! Der Fahrer sah ungerührt geradeaus, als ginge ihn das Ganze nichts an.
Schließlich waren wir soweit. Mein Koffer stand hochkant auf dem Vordersitz und verdeckte die Sicht. Ich saß mit der Aktentasche auf dem Schoß da. Frau Kabe saß neben mir, hübsch wie eine Geschenkpackung. Ich wünschte, ich wäre an mein Taschentuch gekommen, ich fühlte den Schweiß von den Schläfen tropfen. Frau Kabe verbeugte sich fast unmerklich und sagte entschieden:
»Shibuya!«
Wir fuhren los.
Die Neonreklamen glitzerten im letzten Sonnenlicht: Sanyo, Sony, Mazda, Coca-Cola, McDonald. Frau Kabe schaute geradeaus. Ich versuchte, mit ihr zu reden, die ersten Worte, die ich seit vielen, vielen Jahren auf Japanisch sagte:
»Es war freundlich von Ihnen, mich abzuholen.«
Sie antwortete nicht. Ich wiederholte den Satz, probierte es mit einer anderen Wortwahl. Sie antwortete trotzdem nicht. Ich dachte, ich hätte vielleicht mehr vergessen, als ich ahnte, und wiederholte noch einmal, aber jetzt auf Englisch:
»Es war freundlich von Ihnen, mich abzuholen.«
Sie schwieg noch einen Augenblick, dann sagte sie langsam und deutlich:
»Excuse me, my English is very poor.«
Ich wollte gerade zu einem Protest ansetzen, als tief aus den Verstecken der Erinnerung ein Bild aufstieg:
An einem Tag, als der Krieg noch nicht lange vorbei war, kletterte ich in eine Straßenbahn, die mit Japanern gefüllt war. Ich ging auf einen leeren Platz zu, um mich zu setzen, als im gleichen Moment ein alter Mann denselben Platz anpeilte. Ich stoppte und sagte so höflich, wie ich konnte:
»Dozo! Bitteschön! Ich brauche nicht zu sitzen!«
Er nickte und setzte sich, und die Straßenbahn fuhr los.
Nach drei Haltestellen hob er plötzlich den Blick und sah zu mir auf, höchst erstaunt. Ich war Ausländer! Aber ich hatte doch japanisch gesprochen!
Und so war es oft gewesen. Das Unerwartete wurde zunächst gar nicht zur Kenntnis genommen. Ein Ausländer, der japanisch spricht, verblüfft hier so sehr, daß man es kaum glauben kann und selbst, wenn man es mit eigenen Ohren gehört hat, nicht sofort davon überzeugt ist.
Auf dieselbe Art hatte Frau Kabe sich dafür entschieden, daß man mit mir englisch sprechen müsse. Und das konnte sie leider nicht.
Wir saßen schweigend da. Der Taxifahrer ließ seine Finger in den kreideweißen, frischgewaschenen Baumwollhandschuhen übers Lenkrad gleiten. In den Tunneln flammten Irrlichter – Autoscheinwerfer, fünf Spuren. Wir fuhren auf hohe Rampen hinauf, an Bürofenstern im zweiten Stock vorbei, wieder hinunter, durch neue Tunnel, mattgelb erleuchtet, und plötzlich waren wir draußen, in einer Siedlung von kleinen Privathäusern, zwischen Einkaufszentren eingeklemmt, und dort hielten wir.
Frau Kabe klappte rasch ihre dünne Brieftasche auf und bezahlte, ohne auf meine Proteste zu hören. Der Fahrer steckte es ein, wortlos wie zuvor. Die Türen öffneten sich, wir stiegen aus, ich nahm meinen Koffer, die Türen schlossen sich, das Taxi fuhr ab.
Frau Kabe ging direkt zur Rezeption, erklärte rasch und barsch etwas. Der Portier sah mich über ihren Kopf hinweg an:
»Herr Fred, haben Sie ein Zimmer bestellt?«
Frau Kabe schenkte er keinen Blick.
»Rayburn.«
»Ach, natürlich, Herr Fred Rayburn. Herzlich willkommen. Der Pikkolo zeigt Ihnen den Weg. Bitte folgen Sie ihm!«
Ich wandte mich Frau Kabe zu. Sie verneigte sich tief und deutete mit der Hand auf den Lift, wo der Pikkolo mich schon mit meinem Koffer erwartete. Gerade als die chromfarbenen, grifflosen Türen hinter mir zuglitten, erhaschte ich einen letzten, flüchtigen Blick auf Frau Kabe, violett auf einem goldfarbenen Teppich, ein Hauch von Farbe zwischen den Scharen von dunkelgekleideten Herren.
Nur der Sog im Magen verriet, daß wir uns bewegten, daß wir uns in ein paar Zehntel Sekunden hoch über der Stadt befinden würden.
»Hier entlang, Sir.«
Das Zimmer war kaum größer als ein Alkoven. Mein Koffer wurde auf eine in die Wand eingelassene Bank gestellt, Lichtschalter wurden vorgeführt, der Schlüssel wurde übergeben, und eine Hand blieb unbestimmt in der Luft hängen. Ich legte eine Münze hinein. Der Pikkolo verschwand.
Also angekommen.
Ich drehte mich etwas zu rasch um und schlug mir den Ellbogen an einem unvermuteten Regal an. Darauf stand ein Fernseher. Ich sah mich nach einer Garderobe für meine Kleider um, fand keine, dafür nur einen Haken, also erübrigte sich das Auspacken. Ich schaute ins Badezimmer, es war aus Plastik gegossen, nach demselben Prinzip wie dessinierte Bleistiftständer. Der Fußboden war zur Wand hinaufgezogen, als Sicherung gegen Überschwemmungen. Die Badewanne war kurz, man konnte kaum darin liegen. Über dem Klo hing eine einfache Gebrauchsanweisung: sitzend und stehend. Drei kleine dünne Handtücher. Eine Zahnbürste in Zellophan mit einer daumennagelgroßen Zahncremetube. Ein Rasierapparat zum einmaligen Gebrauch.
Kein Bettüberwurf.
Der Zeitunterschied Stockholm–Tokio: acht Stunden.
Ich wollte meiner Irritation nicht nachgeben. Die Mutlosigkeit war nur ein Gesetz der Flugreise. Ein Stündchen Ruhe, und alles würde sich viel besser ausnehmen. Ich hätte darauf bestehen sollen, Frau Kabe klarzumachen, daß ich mich ihr gegenüber wirklich ziemlich schlecht benommen hatte. Ich mußte gleich morgen früh anrufen und mich entschuldigen, vielleicht könnte ich sie beide zum Mittagessen einladen …
Ich legte mich aufs Bett, angezogen, die Arme unter dem Kopf. Ich schlief sofort ein.
Während ich schlief, kehrte alles zurück.
Es war Nacht. Eine sehr tiefe Dunkelheit. Die lange Fahrt eines ganzen Tages auf zerklüfteten Straßen schmerzte in den Gliedern. Mir schien, ich müßte blaue Flecken bis auf die Knochen haben, so ungeschützt fühlte sich mein Körper an, wenn er gegen die harte Holzbank auf der Ladefläche des Lastwagens schlug. Ich hatte den Arm hinter den Rücken meines Nachbarn gelegt und hielt mich an dem dünnen Stahlrohr fest, das über der Ladefläche einen Bogen bildete. Der Bogen war nackt, seiner Tarnpersenning entkleidet, für eine Tarnung gab es keinen Anlaß mehr, wir fuhren durch besiegtes Land. Mit dem Daumennagel kratzte ich etwas abgeblätterte Farbe von dem Stahlrohr. Ein Splitter aus der Farbschicht bohrte sich unter den Nagel. Als ich ihn herauszupulen versuchte, brach er ab, und ein kleiner Rest blieb schmerzend stecken, das Blut pochte, für eine Weile war ich abgelenkt.
Der Lastwagen holperte unregelmäßig über die Straße. Bei jedem Loch hoben sich die schweren Marschstiefel unwillkürlich von der Ladefläche. Wir sehnten uns alle nach dem Rollen des Meeres, an das wir uns auf der langen Überfahrt von der Westküste gewöhnt hatten. Wir waren achtzehn Jahre, Jungen noch, stolz auf den Bürstenhaarschnitt, den uns die Barbiere des Marinekorps verpaßt hatten, zu spät zum Krieg gekommen. Bevor wir fertig ausgebildet waren, wir Handverlesenen, bereit, auf Japans Stränden im Nahkampf mit einer fanatischen, mit Holzspeeren bewaffneten Zivilbevölkerung zu sterben, war der Krieg zu Ende.
»Verdammtes Glück gehabt, boys!« sagte der Marineoberst, als die Meldung kam, daß Hiroshima und Nagasaki von Atombomben ausgelöscht worden waren. »Verdammtes Glück, da haben wir eine Million von unsern besten boys gespart!«
Wir waren achtzehn Jahre alt, gerade ermuntert, auf Leben und Tod zu kämpfen, bleich, aber entschlossen.
Hier holperten wir nun durch das grüne Kyushu, durch den Süden Japans, unterwegs von einem Flugzeugträger zum anderen, zum Weitertransport.
Zur Mittagszeit hatten wir in einem Dorf haltgemacht, staubig in der Hitze, wo die Bambusvorhänge leicht vor offenen Türen und Fenstern wehten. Von überallher tauchten sofort Kinder auf, in ihren Holzschuhen klappernd. Zuerst versammelten sie sich in einiger Entfernung und riefen begeistert:
»Gaijin! Gaijin! Ausländer!«
Doch bald kamen sie näher heran, und einige blieben sogar kühn stehen, als der Fahrer heraussprang, um sich die Füße zu vertreten. Wir anderen blieben auf der Ladefläche sitzen und sahen uns um. Zuerst schien es, als gäbe es keine Erwachsenen im Dorf. Aber als ich mich umdrehte, erspähte ich hier und da hinter dem Bambus eine Hand, ein Gesicht, das schnell verschwand. Einmal sah ich eine junge Frau mit einem weißen Kopftuch und einem großen Korb auf dem Rücken mit raschen Schritten, von den Feldern kommend, um die Ecke biegen, rundlich in den weißen Baumwollhosen, die alle Frauen längs der Straße trugen. Das Gesicht war breit, braungebrannt, mit klaren Augen. Einen Augenblick schien es mir, als lächelte sie sekundenlang, bevor sie erkannte, was ihr im Weg stand – ein amerikanischer Militärlastwagen, voll von amerikanischen Soldaten. Sie schlug die Hand vor den Mund, drehte sich um, rannte weg.
Sie rannten weg, sie drehten sich um, die Kinder riefen Ausländer! Aber wenigstens griff niemand uns an. Frauen draußen auf den Feldern richteten sich auf, die Hände ins Kreuz gestützt. Unter dem wolkenlosen Himmel standen sie still, als wir vorbeifuhren.
Jetzt, in der Dunkelheit, war es anders. Es war nichts mehr zu sehen, nur die schwarze Nacht und, wenn man sich ein wenig über die Kante der Ladefläche zurücklehnte, flüchtige Schatten des Straßenrandes im Licht der abgeschirmten Laternen. Man konnte keine Stellung mehr finden, die nicht schmerzte, die Bank war zu hart, wir saßen eng nebeneinander. Es blieb nur der Versuch, an etwas anderes zu denken.
Ich bemühte mich, den Rücken gerade zu halten, ich bildete mir ein, dann wäre er etwas schmaler als vorgebeugt, entspannt. Wir saßen mit dem Rücken nach außen, dem Feindesland zu, Holzspeeren, versteckten Gewehren, erbittert geschwungenen Steinen ungeschützt ausgeliefert. Es gab kein Entrinnen. Einen Augenblick dachte ich, wir könnten uns doch auf die Ladefläche hocken, statt aufgereiht dazusitzen.
Rauf und runter, rauf und runter fuhren wir.
Bis wir plötzlich hielten.
Ich nahm an, daß der Fahrer eine Pause machen wollte. Ich hatte keine Vorstellung von Zeit, von Entfernung. Ich wollte mich schrecklich gern ein bißchen bewegen. Ungeschützter als auf der Ladefläche, mit dem Rücken zur Dunkelheit, konnte ich wohl kaum sein. Ich sprang herunter, und als ich da stand und mit der Kappe meines Stiefels durch den Kies pflügte, hörte ich ein leises Klirren. Ich riß ein Streichholz an und beugte mich hinunter. Vor meinen Zehen lag eine kleine Flasche aus Porzellan, zum Teil zerborsten. Merkwürdigerweise war die Oberfläche nicht eben, sondern bucklig. Das Porzellan war geschmolzen. Das Muster, ein Kranich, hatte sich so verformt, daß der lange, vorgereckte Schnabel herabhing.
Die geschmolzene Flasche noch in der Hand, sah ich mich um.
Wo ich eben noch nichts als Dunkelheit wahrzunehmen meinte, erkannte ich jetzt glimmende Feuer, nah und weiter und immer weiter weg.
Ich stand auf einer Ebene, wo nichts die Sicht behinderte, die am weitesten entfernten Feuer verschmolzen fast mit den Sternen. Ich stand da und fand es sehr schön, dieses stille Glimmen und das große Schweigen. Durch das Flüstern der Kameraden ließ ich mich nicht stören; zuerst nahm ich nur die große Stille wahr, dann hörte ich den Gesang der Grillen, und das machte die glimmenden Feuer und die Sterne noch schöner. Ich betastete mit den Fingern die bucklige Oberfläche der Porzellanflasche.
»Okay, Leute! Auf geht’s! Die Fahrtrichtung ist klar! Da braucht man eben einen, der die Himmelsrichtungen nach den Sternen bestimmen kann! In diesem Teil der Stadt gibt es ja nicht mal mehr einen Kirchturm zum Anpeilen!«
Der Fahrer zertrat munter die Zigarettenglut mit dem Absatz und schwang sich hinauf.
Im selben Augenblick wußte ich, wo ich war.
Ich stand auf keiner kahlen Ebene. Ich stand in einer Wüste. Ich stand in der von einer Atombombe zerstörten Stadt Nagasaki.
Die Porzellanflasche in meiner Hand war von den vieltausendfachen Hitzegraden der Atombombe geschmolzen, genau wie die Augen und die Haut von Menschen. Die glimmenden Feuer waren nicht den Sternen verwandt, sie waren das einzige Heim der Überlebenden.
Ich atmete dieselbe Luft wie sie.
Die Hände unnütz gegen Mund und Nase gepreßt, mit klopfendem Herzen und den Worten von irgendwo: »da kann die nächsten fünfundsiebzig Jahre keiner mehr leben«, saß ich da, bis wir am Hafen ankamen. Nervös rannten wir alle an Bord des wartenden Flugzeugträgers Chattanooga. Einen Augenblick standen wir an Deck, mit einem letzten Blick auf die Feuer und die Stadt, bevor wir in den schützenden Bauch unseres Schiffs hinabeilten:
»Verdammtes Glück hatten wir, boys, verdammtes Glück!«
Ich warf mich so heftig in meine Koje, daß ich mir die Stirn an der Wand anschlug.
Ich faßte mir an die Stirn und schlug langsam die Augen auf. Ich blieb liegen und sah wenige Zentimeter vor mir eine kreideweiße Wand. Unter den Fingerspitzen fühlte ich eine Beule anschwellen, so hart hatte ich mir offenbar den Kopf an der stummen Betonwand angeschlagen. Ich streckte die Hand aus und tastete über eine Wandtäfelung neben dem Bett. Zuerst ging eine Lampe in Fußhöhe auf dem Boden an, wie um freundlich zu zeigen, wo die Pantoffeln stehen sollten. Da stand tatsächlich ein Paar Pantoffeln. Sie waren aus Plastik und wurden von einem weißen Papierstreifen zusammengehalten, auf dem stand:
Sanitized for your protection.
Etwas wacher geworden, drehte ich nun einen anderen Knopf an der Täfelung. Der international verbreitete Hotelwecker begann zu klingeln. Als ich rasch wiederum einen anderen Knopf betätigte, verwandelte sich das Klingeln in stimmungsvolle Musik.
Feeling alright …
Beim Berühren eines weiteren Knopfes wurde diese Musik ausgeblendet und nicht nur von einer Art Popmusik in doppelter Lautstärke abgelöst, sondern auch von einem Bild. Der kleine Fernseher auf dem Regal über dem Fußende des Bettes leuchtete auf, und darin tanzten, wenn man so will, zwei japanische Mädchen mit grellroten Haaren und den kürzesten Röcken, die ich seit langem gesehen hatte. Sie schlugen ungezwungen die Kniescheiben gegeneinander, während sie zugleich mit den Händen einfache, aber mystifizierende Bewegungen machten, teils schelmisch in die Kamera drohend, teils emsig mit den Ellbogen pumpend, seitlich, aufeinander zu oder nach den Kulissen hin. Die ganze Zeit sangen sie, schrill und hemmungslos. Als die Kamera von ihnen wegschwenkte, konnte man das Publikum sehen, das Plakate schwenkte:
PINK LADIES!
Ich schaltete ab. Die Beule hatte aufgehört zu wachsen. Ich stand auf. Die Hose war zerknittert, obwohl der Hersteller versichert hatte, daß sie niemals knittern würde. Auch der Schlips war zerknittert. Ich ging zum Fenster, um es zu öffnen und etwas frische Luft zu schöpfen, aber jemand hatte den Griff abgeschraubt. Als ich eine Weile an der Verankerung herumgefummelt hatte, entdeckte ich, daß das Fenster zudem verschlossen war, mit einem Patentschloß.
Ich versuchte, wenigstens auf die Straße hinunterzusehen. Aber ich befand mich offenbar sehr hoch oben, und da ich mich nicht hinauslehnen konnte, sah ich eigentlich nur einen kleinen Streifen des glitzernden Verkehrs. Menschen sah ich keine. Kein Laut drang herauf und zu mir herein.
Nichts hatte sich auch nur im geringsten gebessert. Ehrlich gesagt bereute ich, daß ich diesen Auftrag angenommen hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, um so weniger konnte ich einsehen, wozu es gut sein sollte. Aber in diesem Zustand sollte ich nicht darüber nachgrübeln. Ich sollte ausgehen und eine Kleinigkeit essen. Doch ich war nicht einmal hungrig.
Eine Dusche vielleicht? Ich setzte mich in die kurze Badewanne und drehte den Hahn auf. Einen Augenblick, bevor ich mit der Mischbatterie zurechtkam, schnappte ich nach Luft, das Wasser war siedend heiß und hinterließ rote Spuren auf meinen Schienbeinen. Aber immerhin war es eine Dusche.
Ich fühlte mich etwas besser. Jetzt fiel mir auch ein, daß ich beim Betreten des Zimmers einen frisch gebügelten Pyjama auf dem Bett gesehen hatte, säuberlich zusammengefaltet. Da lag er immer noch. Ich faltete ihn auseinander. Es war ein Kimono. Nach einem kurzen Zögern trennte ich zuerst vorsichtig, dann immer heftiger seine Teile auseinander, die steif gestärkt aneinanderklebten. Schließlich gelang es mir hineinzuschlüpfen. Ich konnte sofort feststellen, daß ein Kimono nichts für mich war. Er hörte kurz unter den Knien auf. Meine Waden sahen lächerlich aus unter der ordentlichen, blau-weiß gestreiften Baumwolle. Auch die Arme fühlten sich lang an, und meine Hände mit den nach der Dusche hervortretenden Adern waren häßlich.
Na, es mußte eben gehen, und jetzt eine Tasse Tee. Eine Thermosflasche mit heißem Wasser, Teebeutel und henkellose Tassen waren aufgedeckt, selbstverständlich kein Zucker, aber immerhin.
Natürlich war es grüner Tee, bitterer grüner Tee, von dem man Bauchgrimmen kriegt. Ich hätte es wissen müssen.
Verärgert, aus dem Lot, einen Augenblick bereit, an die vielberedeten X- und Y-Kurven zu glauben, legte ich mich aufs Bett. Der Kimono glitt im Schritt auseinander, und es zog kalt von der Klimaanlage. Ich kreuzte die Beine und klemmte den Stoff zwischen den Schenkeln fest.
Nie hätte ich mich auf diese Sache einlassen sollen.
Angefangen hatte alles in meinem Arbeitszimmer im Institut, The Institute for Minority Peoples of the Third World (IMP), im Wenner-Gren Center in Stockholm.
Ich schrieb gerade an einem Bericht über die Dajaken auf Kalimantan, nachdem ich neue Auskünfte von unserem Berichterstatter in Kuching bekommen hatte, und es sah so aus, als würde ich ihn endlich abschließen können; wir hatten Schwierigkeiten gehabt, exakte Informationen zu erhalten, aber ich fand, ich hätte jetzt so viel, daß es ein Gesamtbild ergab.
Ich nahm es stets sehr genau damit, daß Fakten so korrekt wie irgend möglich sein sollten. Unsere eigene Arbeit würde am meisten darunter leiden, wenn jemand Fehler darin fände. Keine Verfolgungen, keine Katastrophen waren schrecklich genug, um darüber zu berichten, ohne zuvor die Fakten genau kontrolliert zu haben. Es gab in aller Welt zu viele Interessengruppen, denen daran gelegen war, uns eine Lüge nachzuweisen. Nichtsdestoweniger hatte das IMP es bisher geschafft, seinen guten Ruf zu bewahren. Wer etwas über Minderheitenvölker in der Dritten Welt wissen wollte, konnte sich getrost an uns wenden.
Ich schrieb also gerade, als ich durch die dünne Wand die Stimme meiner Sekretärin, Frau Lindblad, hörte. Frau Lindblad hatte mit mir zusammen angefangen, als das IMP 1957 gegründet wurde. Damals galten wir als ungeheuer radikal und wurden oft mit Mißtrauen bedacht. Frau Lindblad meldete sich auf die Annonce des Instituts hin als Sekretärin, und seitdem hörte ich ihr manchmal zu, wie sie Anrufe beantwortete, die Tätigkeit des IMP und das Programm der nächsten Zeit erläuterte, über einen Gastreferenten aus einem speziellen Minderheitenvolk Auskunft gab. Sie betreute auch meinen Terminkalender; wenn ich morgens ankam, brachte sie mir manchmal zusammen mit dem Kaffee einen Zettel, um mich an eine Pressekonferenz zu erinnern, oder an einen Lunch um ein Uhr, den die für Australien, Neuseeland und Ozeanien zuständige Abteilung des Außenministeriums für den Vorsitzenden der Befreiungsfront von Waplolo gab. Ich mochte die Art, wie sie meine Zeit verwaltete. In manchen Momenten dachte ich, Frau Lindblad wisse alles.
Das tat sie natürlich nicht.
An diesem Tag hörte ich also ihre etwas übertrieben muntere Stimme:
»Nur herein! Nur herein!«
Und dann eine andere Frauenstimme, jünger, zögernd:
»Aber hat Dr. Rayburn wirklich Zeit? Störe ich ihn nicht?«
»Aber gewiß nicht, meine Liebe! Er wird sich freuen!«
Dessen wäre ich mir an ihrer Stelle nicht so sicher gewesen. Ich streckte den Rücken, stellte die Füße unter dem Schreibmaschinentisch nebeneinander, erinnerte mich an meinen Hang, beim Schreiben zusammenzusinken, wollte nicht wie ein alter Mann aussehen. Ich sah etwas wie einen Pelz zwischen den Bücherregalen, die einen großen Teil meines Zimmers ausfüllten. In mein Blickfeld geriet auch ein verblichenes Farbphoto von einer japanischen Gebirgslandschaft. Ich hatte es schon jahrelang nicht mehr richtig angesehen. Neben jedem Gipfel stand kalligraphisch mit Tusche der Name des Berges geschrieben. Ich wußte nicht mehr, wie man es las. Geschickt hatte es mir ein Japaner, damit ich eine kleine Stadt zwischen schneebedeckten Gipfeln in Erinnerung behalten sollte. Es machte nicht mehr viel her, wie hat sich doch die Technik der Farbphotos seither verändert … aber siehe, da stand sie.
Entgegen meinen Vorsätzen sprang ich auf, um ihr den Pelz abzunehmen, es fiel mir schwer, mir die Höflichkeit abzugewöhnen, und doch wirkte es bestimmt altmodisch, wie wenn die Polen Handküsse geben … Es war ein eleganter Pelz, ich konnte mich nicht enthalten zu fragen:
»Ist es Wolf?«
Aber das Mädchen lachte nur:
»Es ist Nylon. Es nennt sich echter Webpelz.«
Sie setzte sich aufs Sofa. Dann sagte sie formell und feierlich:
»Entschuldigen Sie, daß ich sie einfach so störe, Herr Dr. Rayburn, aber ich habe eine Idee. Und einen Auftrag für Sie.«
Ich setzte mich zurecht, bereit, sie wohlwollend anzuhören.
»Ich … wir … möchten, daß Sie in unserem Auftrag nach Japan fahren. Nach Hiroshima und Nagasaki.«
Ich spürte, wie ich die eine Augenbraue hochzog, nicht mehr so wohlwollend. Sie merkte es und beeilte sich zu sagen:
»Lassen Sie mich erklären, bevor Sie nein sagen. Ich spreche für die Friedensbewegung. Wie Sie sicher wissen, hat die Friedensbewegung seit Jahren weltweit gegen Atomwaffen demonstriert, und jetzt …«
»Aber Sie wissen doch gar nicht, was ich von Atomwaffen halte!«
»Ach bitte, hören Sie erstmal zu! Wir bitten Sie nicht, irgendwelche Manifeste zu unterzeichnen, wir bitten Sie nicht zu demonstrieren. Wir bitten Sie nur, das zu tun, was Sie sonst auch machen, aber für uns. Haben Sie einmal daran gedacht, daß die Atombombe für alle unter Dreißig schon Geschichte ist! Wissen Sie, wie es mit den Fünfzehnjährigen ist? Wenn man Hiroshima sagt, fragen sie: Ist das nicht die Stadt, die durch Atombomben zerstört wurde? Sie fragen!«
Ich hörte geduldig zu, obwohl ich nicht der Ansicht war, das sei mein Problem, sondern eher das der Schule.
»Aber Sie wissen doch genauso gut wie wir, wie ungeheuer wichtig es ist, daß die jüngere Generation erfährt, wie es wirklich war in Hiroshima und Nagasaki. Da gibt es doch die einzigen Menschen auf der Welt, die wirklich wissen, was Atomwaffen sind! Wir müssen auf sie hören, damit wir verstehen, wogegen wir kämpfen, wenn wir für den Frieden kämpfen!«
»Das ist schon möglich«, sagte ich, etwas unangenehm berührt, da ich einen Widerwillen gegen alle fertigen Phrasen habe.
Sie bemerkte meine Distanz und fuhr ruhiger fort:
»Wir planen, kurz gesagt, eine Friedenskampagne, um junge Leute anzusprechen. Wir möchten Menschenschicksale aus Hiroshima und Nagasaki vorstellen, Menschen, die die Bombe überlebt haben und heute für den Frieden kämpfen. Wir möchten, daß Sie hinfahren, einige solche Menschen ausfindig machen und einen Bericht über sie schreiben. Wir haben nicht viel Geld, aber wir können Ihnen die Reise und ein einfaches Hotel bezahlen und hoffen, daß Sie für das übrige selbst aufkommen.«
»Aber warum ausgerechnet ich?«
»Ihr Name wird respektiert. Man weiß, daß Sie für die Menschenrechte einstehen.«
»Wissen Sie nicht, daß ich Amerikaner bin!«
»Natürlich wissen wir, daß Sie in den USA geboren sind. Was spielt das für eine Rolle? Sie sind doch seit über dreißig Jahren Schwede. Wir wollen nichts anderes, als daß Sie aufschreiben, was ein paar Leute in Hiroshima und Nagasaki Ihnen erzählen. Den Rest machen wir.«
»Aber«, wandte ich ein, »Berichte über ein paar Menschen in Hiroshima und Nagasaki schreiben, das ist doch mittlerweile schon tausendmal gemacht worden, allein schon jedes Jahr am 6. August. Ich weiß wirklich nicht, was es für einen Sinn haben sollte, daß ich …«
»Wir sind sicher, daß es notwendig ist. Sie finden heraus, wie die Dinge stehen. Das ist alles, was wir wollen. Lassen Sie sich unseren Vorschlag durch den Kopf gehen!«
Sie lächelte mich freundlich an, schwenkte ihren Rock, der aussah wie ein Sternenhimmel, gab mir die Hand und sagte auf Wiedersehen, schnappte sich ihren Pelz, und schon war sie weg.
Ich blieb sitzen und sah auf den gefrorenen Brunnsviken hinunter.
Wenn ich etwas schon früh gelernt hatte, dann war es, zwischen Engagement und Arbeit zu unterscheiden. Es war vorgekommen, daß Leute zu mir sagten, ich wäre erstaunlich zynisch und gefühlskalt, dafür, daß ich eine so menschenfreundliche Tätigkeit ausübe, wie sie sie dem IMP zuschrieben, Minderheitenvölker, Volkssplitter zu retten. Ich hatte nur eine Antwort darauf: Wer die Kraft haben will, für etwas zu kämpfen, darf sich nicht mit Gefühlen zermürben. Ich widmete meine ganze Arbeitszeit und mehr als das dem IMP, obwohl ich wußte, daß ein großer Teil der Arbeit zu keinem Ergebnis führen würde. Wir sammelten mühsam Material, wir waren für viele Menschen die letzte Hoffnung, wir appellierten an Staatsmänner, schrieben Berichte, nahmen Kontakt mit der UNO auf, mit amnesty international, unermüdlich, manchmal half es, manchmal führte es nur dazu, daß Sprachforscher und Anthropologen sich nach unserem Alarm aufmachten, um schnellstens Material zusammenzutragen, bevor eine weitere Volksgruppe sich endgültig auflöste. Ich hielt mich nicht für zynisch. Ich wußte nur, wie es war. Aber natürlich machte ich weiter. Wir müssen immer versuchen, weiterzumachen.
Ich hielt meine Methoden für die einzig stichhaltigen. Ich arbeitete auf ferne Ziele hin, ich war nur einer von Tausenden, die Untersuchungen machten und Berichte schrieben. Stets pflegte ich Ermittlungsarbeiten und langwierige internationale Verhandlungen zu verteidigen, die scheinbar zu nichts führten. Hauptsache, die Arbeit ging weiter.
Und so reiste ich zu irgendeiner neuen Konferenz und merkte am vierten Tag von sieben, daß Zeit und Geld vergeudet wurden. Aber nach den Sitzungen tröstete ich mich mit privaten Gesprächen mit einem alten Freund, der mir mehr erzählte, als ich auf der ganzen Konferenz hätte lernen können, und wir sagten, wie alle anderen, daß das teure, zeitraubende Drumherum nötig sei, um die Möglichkeit für solche privaten Kontakte zu schaffen.
Schließlich war sogar Gudrun meine Frostigkeit leid. Es verletzte mich, daß sie nicht verstand, wie notwendig es war, so zu sein wie ich, um etwas zu bewirken. Ich hatte geglaubt, sie würde mich kennen. Statt dessen verließ sie mich.
Ich sah sie vor mir, da draußen in Brunnsviken.
Ich stand an der Landungsbrücke unterhalb vom Restaurant Stallmästaregården und wartete. Das Eis lag als weißes Feld vor mir, endlos, völlig sicher, fest und zuverlässig. Hier und da glänzte eine Flocke vom Schneefall der letzten Nacht. Ich war gerade über die Hügel gekommen, an August Strindberg vorbei, der seine Steinaugen voller Qual zu den Zinnen des Riksmuseum schweifen ließ.
Ich setzte mich vorsichtig auf die Holzbank an der Landungsbrücke, ich wollte nicht naß und kalt werden, da wir den ganzen Tag unterwegs sein würden und es erst Morgen war. Doch kurz darauf erhob ich mich wieder, denn in weiter Ferne sah ich eine graue Gestalt übers Eis herankommen, und ich war sicher, daß sie es war. Kein Lärm drang von der Stadt herüber, gleichmäßig und lautlos kam sie näher, als würde ich sie an einer Angelschnur herbeiziehen. Sie kam genau auf mich zu, ich konnte allmählich erkennen, wie sie ihren linken Arm locker schwingen ließ, während sie in der rechten Hand einen Stab hielt. Sie glitt vor der Brücke herauf, und ich freute mich, ihre roten Wangen zu sehen, obwohl sie nicht meinetwegen errötet waren.
Sie lachte ein bißchen, als ich mir unbeholfen die schmalen Langlaufschlittschuhe anzog, aber sie ermunterte mich auch, gab mir den Stab, hielt mich an der Hand, als ich vorsichtig aufs Eis hinunterkletterte und mich ein Weilchen eingewöhnte, die Fußgelenke stabilisierte, die Schnürsenkel fester zog, vorsichtig hinausglitt. Dann übernahm sie die Führung, zuerst langsam, dann in schnellerem Tempo, bis wir den richtigen Rhythmus gefunden hatten, hinaus auf das weite Eis, heraus aus dem Schutz der Bucht.
Ich sah nur ihren Rücken, mit dem halbvoll schlotternden Rucksack. Aber die Touristenaufkleber lockten mit weißen Fjällgipfeln und gelbglitzernden Sonnen: Sulitelma, Abisko, Wasserfall der sieben Schwestern. Und auf einmal drehte sie sich um und winkte:
»Sollen wir eine Pause machen?«
Ihre Stimme floß mir entgegen, vom Wind getragen.
»Nein«, schrie ich im Gegenwind.
Sie drehte sich wieder halb um und fragte noch einmal:
»Sollen wir eine Pause machen?«
Mir schien es, als hätte ihre Stimme glitzernde Frostränder, jede Silbe war deutlich und klar.
Ich schüttelte ablehnend den Kopf.
Wir glitten weiter. Als ich die Luft durch die Nasenlöcher sog, froren die Nasenflügel einen Augenblick zusammen, und als ich den Mund öffnete, stieß die eisige Luft in die Lungen, so daß ich ihn schnell wieder zumachte.
So wollte ich mein Leben haben:
kühl und klar, in langen, sicheren Bögen.
Dazu brauchte es keinen weiten Schritt. Amerika band mich auf keinerlei Weise, auch wenn ich die Europareise nur als Besuch geplant hatte, eine Möglichkeit, um einen Entschluß aufzuschieben.
Gudrun und ich fingen an, Bücherregale aus ungestrichenen Holzbrettern mit Ziegelsteinen dazwischen zu bauen.
Es war nicht einmal schwierig, eine Nische für mich zu finden, zuerst an der Universität, dann im Institut. Bald war ich etabliert.
Ich hatte eine Familie, ich hatte eine Stellung, ich hatte eine Arbeit, die in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung war, ich hatte einen Terminkalender mit Aufträgen, die sich auf Jahre im voraus erstreckten.
Ich wußte, kurz gesagt, wo ich stand.
Bis es sich auf einem Gebiet nach dem anderen zu zeigen begann, daß ich mich, alles in allem, vielleicht geirrt hatte.
Zum erstenmal kam mir dieser Gedanke, als Gudrun mich verließ.
Aber, um auf den Besuch des Mädchens zurückzukommen, ich fand ihren Vorschlag bedenkenswert. Er reizte mich. Eigentlich war ein solcher kurzfristiger Auftrag, wenn man ihn nun so nennen konnte, gegen meine Prinzipien. Ich hatte ohnehin vollauf zu tun. Aber es gab etwas, was das Mädchen nicht von mir wußte, und zwar, daß ich nicht nur Amerikaner gewesen war. Ich war auch Marinesoldat gewesen und unterwegs auf dem Stillen Ozean, als die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Ich erinnerte mich, daß damals jemand sagte, es sei dank der Atombomben, daß ich und eine Million amerikanischer Soldaten überlebten. Ich hatte keinen Anlaß, das zu bezweifeln. Dieser Ansicht war ich immer noch. Ich diskutierte niemals darüber, es stand für mich fest. Es war tatsächlich Jahre her, seit ich genauer darüber nachgedacht hatte. Aber das Merkwürdige war, daß dieses Mädchen eine Erinnerung in mir wachrief, fast eine Erinnerung … etwas, an das ich mich lange nicht mehr erinnert hatte …
»Frau Lindblad, ich mache einen Spaziergang!«
Mit langen Schritten ging ich über den Hof des Stallmästaregården. In dem ungeputzten Rotaryschild brach sich ein bleicher Sonnenstrahl. Die Fenster des Pavillons waren streifig von Regen und Schnee. Dort drinnen verblich die Farbe der Plastiktulpen, und eine tote Fliege lag auf dem Damast zwischen den überwinternden Gedecken für ein Souper. Um den runden Tisch herum standen in jeder Himmelsrichtung vier Stühle, in Erwartung ihrer Jahreszeit. Draußen in der Bucht zerfiel das Eis immer mehr. Ein Fahrrad war darauf geworfen, bis zum Sommer unwiederbringlich verloren, wenn es im Bodenschlamm versunken sein würde. Die Stockenten standen bis zu den Kniegelenken auf dem Eis im Wasser. Am Vogelhäuschen zankten sich die Saatkrähen um das Futter für die kleinen Vögel. Die Spur des Eichhörnchens führte zum Papierkorb.
An den Plastikkuppeln der Tennishallen vorbei kam ich in den Park. Er lag verlassen da. Die Eisentore zur königlichen Begräbnisstätte waren verriegelt. Wie eine Fata Morgana ragte hinter der Einzäunung und den schwarzen Bäumen der Chinapavillon in Rosa und Lila auf. Es war schon zu spät, um auf dem Eis um die Landzunge herumzugehen und den Pavillon von der Seeseite her aus der Nähe zu betrachten. Das mußte nun bis zum nächsten Winter warten.
Unten an der Quelle, am Ende von Vasaslätten, rutschte ich aus und wäre fast hingefallen. Jemand hatte Löcher ins Eis gehackt, das Wasser sprudelte hervor, eine leere Milchpackung lag daneben.
An einem frühen Sommermorgen im vorigen Jahr hatte ich ein Paar mit einem Fahrrad und angekoppeltem Anhänger gesehen. Der ganze Anhänger war voll von ordentlich aufgereihten Milchtüten. Der Mann hockte an der Quelle und füllte eine Milchtüte nach der anderen, die die Frau ihm reichte. Die gefüllten Packungen versiegelte sie mit Klebeband und stellte sie auf den Anhänger zurück. Ich ging schnell an ihnen vorbei und schaute weg, um zu zeigen, daß ich sie nicht verraten würde. Erst hinterher fragte ich mich, ob ich sie überhaupt bei irgendwas erwischt hatte. Warum setzte ich das voraus? Wem gehört das Wasser?
Die leere Milchtüte machte eine viertel Umdrehung im Wind.
Ich ging den Hügel hinauf auf den Echotempel zu. Die Pfade des Winters nahmen ganz andere Richtungen als die Kieswege des Sommers, die unter dem bleichen Schnee verborgen waren, nur mit Schildern markiert: Nicht gestreut.
Schreie durchbrachen die Abgeschiedenheit. Den Abhang zum Echotempel hinab rollten kreischend blaue und rote Bündel. Als sie am Fuß angekommen waren und zu rollen aufhörten, standen sie mühsam auf und kletterten wieder hinauf.
»Kindergarten«, dachte ich und fürchtete, daß es mit der Ruhe vorbei wäre.
Aber die Kinder hatten es schon satt, Echos im Tempel zum Leben zu wecken, und ich konnte ungestört mitten unter der Kuppel stehen. Der Wind pfiff zwischen den Säulen.
Ich sah zur Decke hinauf. Man hatte sie ganz verfallen lassen, von den Malereien waren nur noch Schatten übrig, abblätternd. Abblätternd … ich merkte, daß dieses Wort mit einer Erinnerung zusammenhing, die das Mädchen … der Rock des Mädchens … wie ein Sternenhimmel … ich stand still da, noch ohne zu frieren. Ich versuchte, in den bleichen Fragmenten der Deckengemälde irgendeine Gestalt zu erkennen. Dabei blieb ich an einem bläulichen Umriß hängen, vielleicht der Flügel eines Vogels, oder eines Engels … nein, ein Vogel, und kurz davor sah ich nun eine gestreckte Linie, wie ein langer Schnabel …
Und plötzlich wußte ich, was ich in meiner Erinnerung gesucht hatte.
Es war eine kleine Flasche aus Porzellan mit einer Zeichnung von einem weißen Kranich auf blauem Grund, und der Schnabel, der einmal hochgestreckt gewesen war, hatte einen Knick bekommen, und die Oberfläche des Porzellans war bucklig geworden, als sie in der Hitze von der Atombombe in Nagasaki schmolz.
Daran hatte ich mich erinnern wollen, an die furchtbare Einsicht dieses Augenblicks unter dem Sternenhimmel von Nagasaki, als ich begriff, daß um mich her auch Menschen waren, und Angst davor bekam, wie diese Menschen aussehen mochten, die einer Hitze ausgesetzt gewesen waren, die das Porzellan zum Schmelzen gebracht hatte.