Als Ravensburger E-Book erschienen 2014

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2014 Ravensburger Verlag GmbH, D-88194 Ravensburg

Illustrationen und Umschlagillustration: Jürgen Rieckhoff
Redaktion: Beate Spindler

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten
durch Ravensburger Verlag GmbH

ISBN 978-3-473-47562-9

www.ravensburger.de

KAPITEL 1

EIN WICHTIGER BRIEF

Noah fixierte den Ball. Sah zum Tor. Beobachtete jede Bewegung des Torwarts. Jedes Zucken seiner Muskeln.

Neun Meter vor ihm die Ein-Mann-Mauer: Matti, der Mittelfeldmotor. Mit den Händen vor den Kronjuwelen. Besser so, bei der Wucht von Noahs Schüssen.

Noah senkte den Kopf, nahm drei Schritte Anlauf. Drei große Schritte. Eins, zwei, drei. Holte tief Luft. Ließ die Arme locker hängen. Wie Cristiano Ronaldo.

Dann rannte er los. Traf den Ball optimal mit dem Innenrist. Wamm!

Die Pille zirkelte haarscharf über Mattis Frisur. Genau ins Lattenkreuz.

Hardy im Kasten konnte sich so lang machen, wie er wollte. Gegen diesen Kunstschuss war auch der beste Torwart der Welt machtlos.

Noah ließ sich auf die Knie fallen. Ballte die Fäuste.

„Ich bin genial!“, brüllte er über den Platz.

„Wissen wir!“, antworteten Matti und Hardy wie aus einem Munde. Beide lachten.

Noah war schon seit der ersten Klasse ihr Freund. Deshalb wurde ihm auch jeder Anflug von Größenwahn verziehen.

Noah hätte in diesem Augenblick die ganze Welt umarmen können. Es war Frühling. Über ihnen strahlte die Sonne. Ein Samstag. Keine Schule. Was konnte es da Schöneres geben, als mit seinen besten Kumpels Matti und Hardy auf der eigenen Fußballwiese zu spielen? Vor ihrem Klubhaus, einem alten Bauwagen.

Nur Simon, den alle wegen seiner ultradicken Brillengläser Eule nannten, fehlte noch zum totalen Glück.

Plötzlich quietschte eine Bremse. Reifen schrappten über den Kiesweg. Staub wirbelte auf.

Ein orangerotes Bonanzarad kam neben dem Spielfeld zum Stehen. Darauf der Teufelsfahrer Nummer eins: Eule. Er wedelte mit einem Brief.

Eule hatte einen knallroten Kopf. Musste gerast sein wie ein Berserker.

„Er ist da!“, brüllte Eule völlig außer Atem. Er stieg ab. Sein sonst so heiß geliebtes Fahrrad fiel achtlos in den Dreck. „Leute, verdammt noch mal, er ist da!“

Wenn Matti, Hardy und Noah den Ball liegen ließen, konnte es nur um etwas noch Aufregenderes gehen als den Weltuntergang: um Fußball.

Nach null Komma zwei fünf Sekunden standen die drei neben ihrem Verteidiger. Alle starrten den Brief an.

Einladung stand auf dem Umschlag. Der Absender: die Sportschuhmarke Sprintastic.

„Wahnsinn!“, stammelte Matti. „Nun mach schon auf!“

Eule nickte. Mit zittrigen Fingern öffnete er den Umschlag. Dann las er ihnen den Text vor.

„Lieber Simon … blabla … tolle Leistung … blabla … Wir freuen uns, dich zum internationalen Fußballturnier nach England einladen zu können. Abfahrt ist Sonntag, 8. Juni, 8 Uhr.“

Noah schüttelte ungläubig den Kopf. „Es war also wirklich kein Traum, Leute. Wir haben alle Mannschaften Deutschlands geschlagen. Und die Auswahlteams von Österreich und der Schweiz. Jetzt machen wir die anderen Länder kalt!“

Hardy schnaufte tief durch. „Jungs, ich glaub erst dran, wenn ich meine eigene Einladung in den Händen halte.“

Kaum hatte er ausgesprochen, näherten sich drei Frauen dem Fußballplatz. Aus drei verschiedenen Richtungen.

Hardys Mutter in Pantoffeln.

Mattis Mutter mit einem Handtuch um den Kopf.

Und Noahs Mutter mit einer Tasse Kaffee in der Hand.

Alle winkten schon von Weitem mit einem Umschlag.

Als hätten sie sich vorher abgesprochen, riefen die drei im Chor: „Post für dich! Ein Brief von Sprintastic!“

KAPITEL 2

ALLES AUS!

Die folgenden Tage zogen sich in die Länge. Wie Kaugummi unter einer Schuhsohle. Wollten einfach nicht enden. Minuten wurden zu Stunden. Stunden zu Tagen. Tage zu Jahren.

Dann endlich brach die letzte Woche an. Die letzten sechs Tage vor dem Turnier. Vor der Mini-WM in England.

Als der Wecker am Montagmorgen klingelte, war Noah längst wach. Wie jeden Morgen las er seinen Star-Wars-Figuren den Brief von Sprintastic vor. Darth Vader, Luke Skywalker und Yoda starrten ihn ungläubig an, als hörten sie die frohe Botschaft zum ersten Mal.

„Noah, aufstehen!“, rief eine Stimme von unten. Seine Mutter. Noah seufzte. Leider nicht sein Vater. Seine Eltern hatten sich vor zwei Jahren getrennt. Dummerweise war Luiz nicht ins Nachbardorf gezogen, sondern zurück in seine Heimat. Nach Brasilien. In die Hauptstadt Rio de Janeiro.

Luiz schickte fast jeden Tag eine SMS. Und sie telefonierten, so oft es ging. Aber die Flüge in die Stadt des Zuckerhuts waren irre teuer.

Erst ein Mal war Luiz seit der Scheidung in Deutschland gewesen. Noah noch nie in Brasilien. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als dorthin zu fliegen. Besonders in diesem Sommer, zur Fußballweltmeisterschaft.

Noah legte den Brief auf seinen Nachttisch. Er dachte mal wieder an den Schwur, den er, Matti, Hardy und Eule in der Silvesternacht geleistet hatten: alles dafür zu tun, um bei der Fußball-WM in Brasilien dabei zu sein.

Wunder konnten wahr werden. Das hatte ihm sein Vater seit der Wiege ins Ohr geflüstert. Und daran glaubte Noah ganz fest. War dieser Brief nicht der beste Beweis?

Sie waren kurz davor, ihren Traum zu leben. Der Sieger des Turniers in England wurde zum Endspiel eingeladen.

Einen Moment lang überlegte Noah, seinem Vater von dem Preis zu schreiben. Doch dann ließ er es lieber bleiben.

„Es reicht, wenn einer nachher enttäuscht ist“, murmelte er vor sich hin. Dann erschrak er über seine eigenen Worte. Hatte er etwa Zweifel?

Bisher war der Glaube an seine Fähigkeiten auf dem Platz unerschütterlich gewesen. Wenn er aufs Spielfeld ging, dann immer mit der Gewissheit, die andere Mannschaft zu besiegen.

Aber jetzt? Jetzt sollte er mit seinen Freunden gegen die besten Teams der Welt spielen. Und es gab bestimmt auch andere Neun- bis Zehnjährige, die mit dem Ball umgehen konnten.

„Nooo-aaah!“

Noah sprang aus dem Bett. Wenn seine Mutter seinen Namen so in die Länge zog, war es höchste Eisenbahn.

Er warf den Schlafanzug auf den Boden. Aber den fiesen Gedanken wurde er nicht los. Die Angst, sein Traum von Brasilien könnte doch noch platzen wie eine Seifenblase.

Auf dem Schulweg platzte auch etwas: sein Vorderreifen am Fahrrad. Ein böses Omen? Noah musste den Rest der Strecke schieben.

Fünf Minuten zu spät betrat er das Klassenzimmer.

„’tschuldigung, Doktor Knesebrecht“, nuschelte er. „Der beschissene … Ich meine, mein Rad war schuld.“

Sein Klassenlehrer sah ihn an, als hätte Noah nicht das Rad, sondern ihn persönlich beleidigt. So ernst hatte er den Mann noch nie erlebt.

„Das Wort ist mir so rausgerutscht“, stammelte Noah. „Tut mir leid. Aber mein verdammtes Fahrrad …“

Weiter kam er nicht. Er bemerkte die Blicke. Spürte die Stimmung. Wie bei einer Beerdigung.

Eule, Hardy und Matti waren kalkweiß.

 

Da sprang Eule auf. „Das Schulamt hat geschrieben.“ Er kämpfte sichtlich mit den Tränen. Und verlor. „Sie wollen uns so kurz vor den Ferien keine fünf Tage schulfrei geben“, schniefte er. „Und weil alle aus unserer Mannschaft ja aus dem gleichen Bundesland kommen, darf keiner fahren.“

Hardy holte tief Luft. „Das Turnier in England muss ohne Deutschland stattfinden!“