Eric-Emmanuel Schmitt
Was Liebe will
Zwei Romane über ein widersprüchliches Gefühl
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
FISCHER E-Books
Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyons, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Anfang der 90er Jahre begann er als Autor für Theater, Film und Fernsehen zu arbeiten. Er lebt heute in Brüssel. Mit seinen kleinen Erzählungen über die großen Religionen der Welt wurde er international berühmt und gehört zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren in Frankreich. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft.
Mit einem eigenen Theater in Paris, das er 2012 erwarb, erfüllte sich Eric-Emmanuel Schmitt einen langersehnten Traum. Zuletzt erschien in deutscher Übersetzung: Die zehn Kinder, die Frau Ming nie hatte, Frankfurt am Main 2014
Marlene Frucht, geboren 1980, übersetzt seit 2008 aus dem Französischen und Englischen. 2009 erhielt sie das Bode-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Zu ihren Autoren gehören Assia Djebar, Leila Marouane, Baptiste Beaulieu und Eric-Emmanuel Schmitt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Was will die Liebe? In zwei Romanen erzählt Eric-Emmanuel Schmitt von den Widersprüchen eines großen Gefühls: mal himmelhochjauchzend, mal zu Tode betrübt. Ist die Liebe vielleicht nur ein Botenstoff, der unsere Gefühlschemie durcheinanderbringt, uns zu Höhenflügen anstachelt oder niederschmettert, je nachdem?
Einst waren Adam und Louise ein glückliches Paar. Inzwischen leben sie tausende Kilometer voneinander entfernt. Er in Paris, sie in Montreal. Und während Adam aus der alten Liebe eine neue wunderbare Freundschaft machen möchte, hat die romantisch Liebende Louise ganz andere Absichten. Der Liebestrank erzählt von alten Blessuren und neuen Abenteuern, die beide sich in ihren E-Mails mitteilen, und von einer Wette, die gefährlich und reizvoll ist: Ist es möglich, einen anderen Menschen in sich verliebt zu machen? Als Lily, eine junge, attraktive Kollegin von Louise, nach Paris geht und Adam kennenlernt, wird sie zum Köder in einem maliziösen Spiel, das Louise absichtsvoll vorantreibt.
In Das Liebesgift haben sich vier junge Mädchen ewige Freundschaft geschworen. In ihren Tagebüchern notieren sie intime Wünsche, Sehnsüchte, erste Niederlagen und Eroberungen. Sie schicken einander SMS, in denen sie sich miteinander austauschen. Wie kann man den Gefühlsdramen entkommen, die die eigenen Eltern Tag für Tag vorführen? Dabei sind sie selbst auf dem besten Weg, ein Drama zu inszenieren, in dem Eifersucht und Täuschung eine unheilvolle Allianz eingehen. Bei einer Schulaufführung von Romeo und Julia kommt es zu einer unvorhersehbaren Katastrophe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die französische Originalausgabe erschien in zwei Bänden:
L’élixir d’amour, Éditions Albin Michel, 2014
Le poison d’amour, Éditions Albin Michel, 2014
© Éditions Albin Michel, Paris 2014
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Zitatnachweis: William Shakespeare, Romeo und Julia,
Deutsch von Frank Günther, ars vivendi verlag GmbH & Co. KG 2000, Cadolzburg
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: Michael Trevillion/Trevillion Images
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403810-0
»Liebe, gib Kraft! Denn Kraft wird Hilfe sein.«
Shakespeare, Romeo und Julia
Ich ziehe mich um und schminke mich, ich bin das allerglücklichste Mädchen, weil ich mich gleich mit meiner Clique treffe, ich ziehe mich noch mal um, besprühe mich mit Parfum, ziehe mich wieder um, und wieder, schminke mich erneut, gehe raus, laufe zurück in mein Zimmer, ziehe mich um, kämme mich, ziehe mich noch mal um und noch mal und breche in Tränen aus: zu hässlich, ich bleibe zu Hause! Niemand hat jemals so sehr gelitten wie ich …
Tränenüberströmt blicke ich auf mein Telefon, um zu sehen, ob meine Freundinnen sich Sorgen machen. Nichts. Keine einzige Nachricht. Niemand vermisst mich.
Also beschließe ich, eine Schachtel Schlaftabletten zu schlucken. Im Zimmer meiner Mutter brauche ich keine fünf Sekunden, um sie zu finden – ich habe das Haus heute Abend ganz für mich allein, weil die ganze Familie bei Großmama zum Essen ist. In dem Moment, als ich den tödlichen Cocktail hinunterschlucken will, fällt mir wieder ein, was für eine schreckliche Woche ich letzten Winter im Krankenhaus verbracht habe, und ich lasse es bleiben. Mein früherer Selbstmordversuch bewahrt mich vor erneuten Selbstmordgedanken: Ich hatte solche Schmerzen damals.
Anstatt mich umzubringen, esse ich die Packung Maroneneis im Kühlschrank auf. Dann das Vanilleeis. Und dann das mit Erdbeergeschmack.
Um einundzwanzig Uhr vibriert mein Telefon, weil die Mädels anrufen und sich Sorgen machen. Sie haben mich nicht im Balmoral angetroffen, unserem Stammlokal, und da wird mir klar, dass dies die eigentlich verabredete Uhrzeit war, und nicht neunzehn Uhr, wie ich geglaubt habe.
Raphaëlle, Anouchka und Colombe haben mich nicht verraten, ich bin nicht mehr allein auf dieser Welt.
Allerdings kann ich mich jetzt in meinem Zustand nicht mehr sehen lassen, vor allem nicht nach den Ferien. Was für ein gelungener Abend! Mein Gesicht ist vor lauter Kummer ganz verquollen, und morgen werde ich eine fette Kuh sein.
Heute Morgen habe ich die drei Stunden, in denen ich allein zu Hause war, genutzt, um mich im Schlafzimmer meiner Eltern einzuschließen und mich in dem einzigen großen Spiegel unserer Wohnung einmal von Kopf bis Fuß zu betrachten.
Obwohl es nicht kalt war, habe ich gefröstelt, als ich mich dort, wo ich sonst immer nur angezogen herumlaufe, ausgezogen habe.
Ich schwöre, dass ich es wirklich versucht habe, mich ohne Vorurteile anzuschauen! Aber ganz ehrlich, ich sehe nicht so aus, wie es mir lieb wäre …
Zuerst habe ich eine Fremde gesehen. Das krebsrote Mädchen mit den leichten X-Beinen, den zu langen Armen, den ungleichen Brüsten, die ihre mageren Finger vor ihre Scham hielt, um sie zu verbergen, hatte nichts zu tun mit Anouchka, der Anouchka, die ich bin, oder die ich zumindest einmal war, wie ich sie immer schon kenne.
Außerdem sah das Spiegelbild vor mir nicht aus wie eine erwachsene Person. Ich habe ja gar nichts dagegen, die Kindheit hinter mir zu lassen, aber nur, wenn aus mir dann auch eine Frau wird. Aber nicht so! Ich sehe aus wie irgendeine unfertige Zwischenform. Man wächst einfach in alle Richtungen, ohne Symmetrie und Harmonie, fängt an zu riechen, die Haut nimmt eine komische Farbe an, und man wird von parasitären Elementen besiedelt. Kurz: Ich sondere Haare, Pickel, Talg und Gerüche ab.
Das ist kein guter Start ins Leben. Mit einem solchen Körper könnte ich niemanden verführen, selbst wenn alles sich noch ein wenig zurechtrückt! Da hilft bloß noch das Sprichwort, wonach »jeder Topf irgendwann seinen Deckel findet«. Ja, eines Tages wird vielleicht irgendein bescheuerter Typ auftauchen, der mich annehmbar findet … Aber wird ausgerechnet dieser Idiot mir dann auch gefallen?
Die Konfrontation mit meinem Aussehen hat mich total fertiggemacht. Nachdem ich mich von vorne betrachtet hatte, habe ich noch alle möglichen anderen Blickwinkel ausprobiert – von hinten, von der Seite, von oben, von unten –, indem ich alle Spiegel aus der Wohnung zusammengetragen und überall dort aufgehängt habe, wo es möglich war. Ich habe mich noch krasser verrenkt als eine chinesische Kunstturnerin, und am Ende habe ich so getan, als ob ich mein Spiegelbild nur zufällig erblicke, während ich eilig an den vielen Spiegeln vorbeihusche.
Gestern hat mein Vater, stets zu Scherzen aufgelegt, die Pubertät als die »Revolte des Körpers« bezeichnet. Sobald diese Haare überall auftauchen, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Man erkennt sich nicht wieder, weder körperlich noch mental. Die Fragen prasseln auf einen ein. Wer bin ich? Warum lebe ich? Wo gehe ich hin? Wie wirke ich auf die anderen? Dad vertritt die Ansicht, dass es der wichtigste Umsturz in der Entwicklung des Menschen ist, der zwar jeden betrifft, über den aber kaum gesprochen wird. Er hat nicht unrecht, obwohl ich nicht weiß, was daran lustig sein soll.
Gut, das kleine braune Dreieck unterhalb des Bauches, meinetwegen, aber die Haare unter den Achseln, nein, überflüssig! Und dieser Flaum auf der Oberlippe, wo soll das noch hinführen?
Schlechtgelaunt habe ich das Chaos beseitigt, das ich im Zimmer meiner Eltern angerichtet hatte, und anschließend geduscht, weil ich durchgeschwitzt war wie ein Mozzarella. Beim Abtrocknen habe ich nach der Enthaarungscreme meiner Mutter gegriffen und mir was davon unter die Arme und unter die Nase geschmiert. Unter den Achseln hat es auch funktioniert. Dafür ist meine Oberlippe sofort dunkelrot geworden, doppelt so dick angeschwollen, und es juckt! Ich sehe aus wie eine Ente mit brennendem Schnabel.
Ich hatte gehofft, dass sie abschwillt, bevor meine Mutter und mein Bruder zurückkommen. Träum weiter! Als ich gehört habe, wie die Tür aufging, habe ich schnell das Licht in meinem Zimmer gedimmt und so getan, als ob ich mir einen Film ansehen würde, aber Mama konnte es natürlich nicht lassen, mich zu stören, und hat gleich gemerkt, was mit mir los war.
Ich habe behauptet, ich hätte Orangenviertel ausgelutscht, und dass meine Lippen auf die Schale reagiert hätten – ich weiß noch, dass mir das einmal passiert ist, als ich elf war.
Mama hat mich nur angeschaut und nichts gesagt. In letzter Zeit fällt mir öfter auf, dass ein betrübter, schwer zu deutender Ausdruck über ihr Gesicht huscht, wenn ich sie anlüge, um etwas, wofür ich mich schäme, vor ihr zu verbergen. Nimmt sie es mir nicht ab? Oder hält sie mich für verrückt?
Jedes Mal, wenn ich mich verliebe, erwischt es mich kalt. Ein Junge kommt ins Balmoral, und ich fühle mich ins Herz getroffen. Mir wird heiß, ich glühe, bekomme wacklige Knie, ich bin das Opfer eines Attentats, wurde aus dem Hinterhalt angeschossen, Kollateralschaden. Ich hatte keinerlei Mitspracherecht! Manchmal sieht der Junge mich überhaupt nicht, er blickt woanders hin, geht lässig vorbei, streicht sich übers Haar, lächelt eine Kellnerin an oder ruft einem Kumpel am anderen Ende des Raumes etwas zu, und ich breche zusammen, spüre, wie ich Risse bekomme, stehe mitten im Kugelhagel.
Ich bin die Erschießungsmauer, eine Fassade in Damaskus, die Mauer von Ramallah.
Ich hasse die Liebe. Ich möchte mich dagegen zur Wehr setzen. Wenn Lieben bedeutet, dass man erträgt, sich selbst verliert, zum Sklaven wird, dann will ich nicht lieben.
Dann besser selber zuschlagen, provozieren.
Ich möchte Frieden, keinen Krieg. Aber wenn der Krieg sich als unvermeidlich herausstellt, werde ich ihn führen.
Die Männer werden mich nicht zu ihrer Beute machen, sondern ich sie zu meiner.
Jungs interessieren sich nicht für mich. Umso besser, denn ich interessiere mich auch nicht für sie.
Alles, was ich von ihnen will, ist, dass man mit ihnen Spaß hat, dass sie witzig und gut drauf sind und dass sie dafür sorgen, dass was los ist, wenn wir ausgehen und uns betrinken.
»Raphaëlle ist mein bester Kumpel!«, das höre ich ständig von ihnen …
»Raphaëlle ist einfach topp: Klassenbeste und das feierwütigste Mädchen von allen.« Sie wundern sich darüber … Es stimmt allerdings, dass am Lycée Marivaux die Jungs, die ständig die Nächte durchtanzen und rauchen und trinken, meistens auch die sind, die in der Schule nicht viel hinbekommen und denen ihr Schreibtisch vor allem dazu dient, ihren Kopf darauf abzulegen, um zu schlafen. Ach ja, viel kriegen die echt nicht auf die Reihe, diese Kerle …
»Mit Raphaëlle will jeder befreundet sein. Mit der kann man sich gar nicht nicht verstehen.« Das höre ich schon seit Jahren. Warum fühle ich mich dann so allein, wenn ich doch angeblich so beliebt bin?
Ich übertreibe! Ich habe das Glück, echte Freundinnen zu haben, Julia, Anouchka und Colombe, andernfalls würden meine Gespräche mit meinesgleichen über den Austausch von rein schulischen Informationen nicht hinausgehen oder sich auf »Willst du was trinken?« und »Kommst du mit auf die Tanzfläche?« beschränken. Aber selbst in den Augen meiner Freundinnen bin ich ein seltsamer Vogel, weil ich in Übersetzen gut bin und mich gerne amüsiere. In meiner Familie ist das aber nichts Ungewöhnliches, dass man ins Café oder abends in den Club geht, ohne dass der Beruf darunter leidet.
Bin ich normal?
»Raphaëlle ist mein bester Kumpel!«
Oder stimmt mit mir was nicht?
»Raphaëlle ist mein bester Kumpel!« Wie oft ich das schon gehört habe …
»Was ist eine beste Freundin?«, fragt mich Thibault.
»Für mir sind das Colombe, Julia und Raphaëlle.«
»Nein, du hast mich nicht verstanden: Was ist für dich eine beste Freundin? Was bedeutet das für dich?«
Manchmal macht mein Bruder mich sprachlos: Obwohl er erst zwölf ist, stellt er mir solche Lehrerfragen. Ziemlich verblüfft antworte ich:
»Meine beste Freundin, das bin ich, aber in einer besseren Version.«
»Danke.«
Er dreht sich um und geht zurück zu seiner Freundin, Zoé, zwölf Jahre alt, mit der er zusammenklebt, seit sie aufs Collège gehen.
Nicht schlecht, meine Definition, oder? Ich sehe Raphaëlle, Julia und Colombe als meine Doppelgängerinnen an, meine idealen Doppelgängerinnen, ohne meine Fehler. Dafür liebe ich sie.
Und morgen sehen wir uns alle wieder!
Dad würde sagen: Ist das Leben etwa nicht schön?
Was für ein toller Tag! Wir wollten noch einmal unsere Freiheit genießen, bevor die Schule wieder anfängt, und haben uns im Balmoral getroffen, Julia, Raphaëlle, Anouchka und ich, und als da keiner war – keiner von unseren Freunden, mit denen wir sonst immer rumhängen –, sind wir zur Pont des Arts gegangen.
Ich hatte im letzten Jahr schon mal vorgeschlagen, dass wir dort ein Schloss mit unseren Initialen anbringen, aber damals sind die anderen nicht darauf eingegangen; es wollte zwar keine laut sagen, aber jede von uns wollte sich dieses Projekt für den Zeitpunkt aufsparen, an dem sie mit einem Jungen zusammen ist. Kein Wunder, schließlich sind es meist Paare, die von der Brücke angezogen werden, sie ist ein Symbol für die Besiegelung der Gefühle! Aber wenn man sich auf diese Aussicht versteift, läuft man Gefahr zu verschimmeln … Auf dem Weg dorthin habe noch mal für unsere Sache geworben:
»Und was ist mit uns, Mädels? Wir haben das Glück, die besten Freundinnen der Welt zu sein. Ist die Freundschaft nicht genauso wunderbar wie die Liebe? Genauso lebendig? Genauso langlebig?«
Raphaëlle hat noch einen draufgesetzt:
»Viel langlebiger als die Liebe, Colombe, wenn du meine Meinung hören willst! Meine Eltern haben sich kurz nach meiner Geburt getrennt, und mittlerweile habe ich schon eine ganz ansehnliche Sammlung von Stiefvätern und Stiefmüttern vorzuweisen.«
Wir haben ihr recht gegeben. Auch in meiner Familie lebt niemand mehr, weder mein Vater noch meine Mutter noch meine Onkels und Tanten, mit der Person unter einem Dach, mit der er oder sie Kinder in die Welt gesetzt hat. Das gleiche Spiel bei all unseren Freunden. Außerdem hat unser Sozialkundelehrer auf dem Collège, Monsieur Burgos, uns verkündet: Statistisch gesehen werden wir mehrere Berufe ausüben und in unserem Leben mehrere Paarbeziehungen haben. Willkommen in der modernen Welt! Mir ist das ganz recht, zum einen, weil ich keine Vorstellung davon habe, was für einen Beruf ich ergreifen, und zum anderen, weil ich keine Ahnung habe, welcher Junge mir gefallen könnte; also würde ich ganz gerne ein paar ausprobieren.
(Obwohl ich mich, während ich das schreibe, am liebsten ohrfeigen würde, weil ich Lucas nicht erwähne, meinen Lucas, nach dem ich verrückt bin, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe, meinen Lucas, an den ich Tag und Nacht denke. Aber ganz ruhig, auch wenn ich überzeugt bin, dass Lucas der Mann meines Lebens ist, ist er immer noch mit dieser blöden Vanessa zusammen und geht nach Brüssel, um dort seinen Abschluss zu machen.)
Anouchka war auch unserer Meinung, was die Kurzlebigkeit von Schwärmereien angeht; ihre Eltern sind zwar noch zusammen, berühren sich aber nicht mehr und küssen sich nie, so dass sie und ihr Bruder sich ganz sicher sind, Retortenbabys zu sein. Julia hatte jedoch noch eine Frage:
»Dass die Liebe schnell wieder vorbei ist, dafür haben wir Beweise. Aber kennen wir Freundschaften, die schon sehr lange bestehen?«
Auf diese Frage hatten wir unzählige Antworten parat: Jeder von uns sind auf Anhieb mehrere Beispiele eingefallen, von Erwachsenen, die schon seit Jahrzehnten miteinander befreundet sind. Damit war der Prozess entschieden: Wir haben die Freundschaft freigesprochen und die Liebe wegen Untreue hinter Gitter gebracht! Dann haben wir festgestellt, dass die französische Sprache im Irrtum ist, weil sich in ihr amour, Liebe, auf toujours, immer, reimt, dass sie dafür aber richtig klingt, wenn sie amitié, Freundschaft, sich auf éternité, Ewigkeit, reimen lässt.
Von dieser Feststellung ermutigt, haben wir uns von einem Straßenverkäufer, der Angst hatte, von der Polizei erwischt zu werden, ein Schloss gekauft. Dann sind wir stolz und triumphierend auf das über und über mit Metall behängte Geländer geklettert, und es kam uns nun gar nicht mehr so altmodisch vor, dass wir als reine Mädchengruppe dort mitgemacht haben. Wir fühlten uns als Freundinnen jetzt so stark, dass die Paare uns auf einmal völlig verrückt vorkamen.
»Wie lange gehen die wohl schon miteinander ins Bett, der Japaner und die Japanerin?«, hat Raphaëlle mich gefragt und mich mit dem Ellenbogen angestoßen. Einen Monat? Ein Jahr? Und wie lange noch? Ach, was für ein Elend …
Julia hat, wie es für sie typisch ist, gleich mal wieder ein Shakespeare-Zitat vom Stapel gelassen, das zum Thema passte: »Wer lang vermählt lebt, der ist schlecht vermählt. Gut ist vermählt, wer jung vermählt gleich stirbt.« Wir mussten lachen, erstens, weil das Quatsch war, und zweitens, weil wir es ziemlich beachtlich finden, eine Freundin zu haben, die Shakespeare zitiert wie normale Jugendliche Songs vor sich hin summen. Das hat doch Klasse, oder etwa nicht?