Eric-Emmanuel Schmitt
Die zehn Kinder, die Frau Ming nie hatte
Roman
FISCHER E-Books
Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyons, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Anfang der 90er Jahre begann er als Autor für Theater, Film und Fernsehen zu arbeiten. Er lebt heute in Brüssel. Mit seinen kleinen Erzählungen über die großen Religionen der Welt wurde er international berühmt und gehört zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren in Frankreich. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Mit einem eigenen Theater in Paris, das er 2012 erwarb, erfüllte sich Eric-Emmanuel Schmitt einen langersehnten Traum.
Marlene Frucht, geboren 1980, übersetzt seit 2008 Bücher. Sie hat Literaturübersetzen studiert und am Georges-Arthur-Goldschmidt-Programm teilgenommen. 2009 erhielt sie das Bode-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Sie hat Autoren wie Assia Djebar, Leila Marouane und Éric-Emmanuel Schmitt übersetzt und lebt in Berlin.
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Umschlagabbildung: Marcelino Truong
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die französische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
›Les dix enfants que madame Ming n'a jamais eus‹
bei Éditions Albin Michel, Paris
© Éditions Albin Michel 2012
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402843-9
China ist kein Land, China ist ein Geheimnis.
Als ich mich eines Tages mit Frau Ming unterhielt, einer Chinesin mit durchdringendem Blick und schwarzweiß meliertem Haarknoten, die wie immer sehr aufrecht auf ihrem Schemel saß, sagte sie zu mir, dem Europäer auf der Durchreise:
»Die Natur erschafft uns als Brüder, erst durch Erziehung werden wir verschieden.«
Sie hatte recht … Obwohl ich bereits kreuz und quer durch China gereist war, kam das Land mir immer noch unbegreiflich vor. Bei jeder meiner Reisen erschien es mir noch größer, seine Geschichte zerbröselte mir zwischen den Fingern zu Staub, ich fand keinen Zugang, und immer, wenn ich dachte, einen Zugang gefunden zu haben, erwies er sich als Sackgasse; obwohl mein Kantonesisch immer besser wurde, obwohl ich viel las und mit seinen Bewohnern haufenweise Verträge abschloss, schien China wie der Horizont vor mir zurückzuweichen, je weiter ich ins Land vordrang.
»Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen«, verkündete Frau Ming.
Aber wie? An wen sollte ich mich wenden, damit er für mich Licht in dieses rätselhafte Land brachte? Wen sollte ich mir dafür herausgreifen? Schließlich lebten in China in etwa so viele Menschen wie im Mittelmeer Fische.
»Auf unserem Planeten leben eine Milliarde Chinesen und fünf Milliarden Ausländer«, murmelte Frau Ming, während sie dabei war, einen Strumpf zu stopfen.
Sie hörte eine Sendung auf ihrem Radio aus dunkelbraunem Plastik – einem Überbleibsel aus der Mao-Zeit, das jedem Sprecher einen Schnupfen und eine feuchte Aussprache verpasste – und wiederholte die Aussagen des regierungskonformen Reporters, eines ausgewiesenen Experten in Sachen Statistik und Arschkriecherei.
»Eine Milliarde Chinesen.« In dem Moment verstand ich nicht, was sie daran so beunruhigte, dass es so viele Chinesen gab oder so wenige …
Als Angehörige des mathematisch begabten Volkes, das einst die Rechenmaschine erfunden hatte, pflegte diese Dame ein ganz besonderes Verhältnis zu Zahlen. Auf den ersten Blick gab es wenig, das sie von anderen Menschen um die fünfzig unterschied; doch wie jeder weiß, sieht der erste Blick nichts.
Sie hatte einen runden Kopf und ein gerötetes Gesicht, das von einem Netz feiner Falten durchzogen war, ihre Zähne sahen aus wie kleine Apfelkerne. Frau Ming erinnerte an einen reifen, vielleicht sogar leicht überreifen Apfel, ein wunderbares Stück Obst, gesund, saftig, noch nicht vertrocknet. Sie war sehr schlank, und ihr Körper war biegsam wie ein Schilfrohr. Sobald sie etwas sagte, merkte man, dass sie nicht zu einer der süßen Sorten gehörte, sondern eher von einer etwas herberen Sorte war, denn sie servierte ihren Gesprächspartnern säuerliche Bemerkungen, die zum Nachdenken anregten.
Frau Ming thronte im Untergeschoss des Grandhotel in der Provinz Guangdong auf ihrem dreibeinigen Schemel und bekleidete dort, zwischen weißen Fliesen und grellen Neonleuchten, in den nach Jasmin duftenden Waschräumen das Amt der Toilettenfrau – oder der dame pipi, wie man bei uns sagt.
Ein Beruf, den mürrische Gemüter als Schande empfinden; sie aber verstand es, ihm seine Würde zurückzugeben: Sie herrschte im Zentrum der Welt. Die Teilnehmer der Kongresse und Seminare, die regelmäßig eine Etage weiter oben stattfanden, kamen stets im Laufschritt bei ihr an. Doch sobald man sich ihr näherte, wurde man langsamer, machte immer kleinere Schritte, bis man schließlich vor ihr stehenblieb. Eingeschüchtert von ihrer stummen Würde verbeugte man sich vor ihr, warf ihr einen flehenden Blick zu, erbettelte von ihr die Erlaubnis, ihr Königreich betreten zu dürfen; das war der Augenblick, in dem sie einen von oben bis unten musterte, so dass man zu spüren glaubte, sie wisse, was tief in einem vorging – und zwar sowohl in den Hirnwindungen als auch in den Eingeweiden. »Sagen Sie nichts, ich weiß ohnehin schon, mit wem ich es zu tun habe.« Kein Urteil las man in ihren grauen Pupillen, sondern Wohlwollen, besser noch: eine Absolution. Ganz egal, wer vor ihr stand, ob Arbeiter, Ingenieur, Leiter der Verkaufsabteilung oder Geschäftsführer, sie sah sein Elend und akzeptierte ihn, den einstigen Rotzbengel, der darum bat, auf den Pott gehen zu dürfen, armseliges Wesen aus Fleisch und Blut, das seinem Körper Erleichterung verschaffen will. In Frau Ming lebten sowohl der Egalitarismus aus Maos Zeiten wie auch der Humanismus des Konfuzius fort.
Frau Ming war also für die Männertoiletten im Grandhotel in Yunhai zuständig, eine Position, die, ihrem stolzen Auftreten nach zu urteilen, von ihrem Erfolg kündete. Hätte sie dagegen am Ende des Ganges die Frauentoiletten sauber zu halten gehabt, so hätte das in dieser Nation, in der das männliche Geschlecht bevorzugt wurde, bedeutet, tief zu sinken; dort wäre sie Dienerin gewesen, hier aber war sie Herrscherin, weil die Männer in Scharen an ihr vorbeizogen, ihr zunickten, darauf warteten, dass sie ihnen gütig das Recht einräumte, sich zu erleichtern. Näherte man sich der Tür, auf der als Symbol ein Kleid zu sehen war, so hörte man dahinter das Gelächter und Geplapper der dunkelhaarigen Frauen, die ihr Make-up erneuerten und dabei Nichtigkeiten von sich gaben. Hinter der Tür dagegen, auf der eine Hose zu sehen war, gab es nichts dergleichen: keine Unterhaltungen, kein frivoles Komplizentum, keiner blickte seinen Nebenmann direkt an, nur hin und wieder ein Seufzen; hier war ein Jeder, von den Pissoirs bis zu den Waschbecken, um ein würdevolles Auftreten bemüht, man fügte sich fatalistisch ins Unvermeidliche, mit der Solidarität von Soldaten, die den Gesetzen der Natur gehorchen. Lag es an Frau Mings gestrenger Gegenwart? Der Ort verwandelte sich in eine Art metaphysisches und moralisches Versuchslabor, wo die Sterblichen ihre Illusion der Macht ablegten.
Sie wollen von mir wissen, warum ich Sie mit diesen Einzelheiten belästige? Ich möchte es Ihnen gerne erklären.
Die Geschäfte meiner Firma führten mich in den Süden Chinas. Im Juli kaufte ich dort das Spielzeug ein, mit dem wir am darauffolgenden Weihnachtsfest unsere Kleinen glücklich machen würden; außerdem gab ich dort in noch größerem Umfang allerlei Nippes in Auftrag, der für die chinesischen Kinder bestimmt war. Puppen, Babypuppen, Autos, Flugzeuge, all diese Plastikgegenstände wurden für einen günstigen Preis in der Provinz Guangdong hergestellt und anschließend nach Frankreich geschickt, wo unsere Designer und Arbeiter sie verpackten, bevor ein Teil davon wieder zurück nach China ging. Da das Hin und Her auf dem Frachtschiff sich kaum auf die Gewinnmargen auswirkte, nutzten sowohl die Europäer als auch die Amerikaner dieses System, und so kam es, dass der chinesische Markt von westlichen Marken dominiert wurde, allerdings mit Artikeln, die wiederum vor Ort hergestellt wurden.
Aufgrund meiner Begabung für Sprachen – damals sprach ich bereits sieben verschiedene –, war ich von meinen Vorgesetzten nach Asien gesandt worden, weil sie hofften, dass ich das steife Verhandlungs-Englisch schon bald aufgeben und stattdessen anfangen würde, mich auf Mandarin zu verständigen. Ein guter Plan, bis auf eine Kleinigkeit: Statt auf Mandarin musste ich mich auf Kantonesisch durchschlagen, weil dies die Sprache der Provinz Guangdong ist, wo die Spielzeugfabriken wie Pilze aus dem Boden schossen.
Auch das Dorf Yunhai, wo ich Frau Ming begegnete, erlebte eine drastische Verjüngungskur: Aus einem kleinen Nest war eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern geworden. Der Ort hatte sich noch nicht von all den Veränderungen erholt und machte einen etwas schockierten, verstörten, orientierungslosen Eindruck. An die Stelle von Häusern waren Hochhäuser getreten, aus kleinen Gassen waren große Verkehrsstraßen geworden; das winzige Lebensmittelgeschäft von Herrn Yibulaxin, das einmal so gut bestückt gewesen war wie eine Schachtel voller Stecknadeln, war von vier Supermärkten mit Kühlräumen überrollt worden, und die einst ländliche Umgebung lag nunmehr unter einer sechsspurigen Ringautobahn vergraben, auf der die letzten Igel den Tod fanden. Die monotonen Fassaden wirkten wie verputzte Pappe, zu neu, eilig hochgezogen, ließen sie jene Patina vermissen, den Schmutz, die Gebrauchsspuren, die alten Häuschen ihren besonderen Charme verleihen. Und wo befand sich nun das Zentrum von Yunhai? Die gesamte Anordnung folgte einem rigorosen Vernunftprinzip, kleine Straßen kreuzten größere Straßen, die größeren Straßen kreuzten die Avenuen, die Avenuen kreuzten die Autobahn; große Verkehrskreisel, in die man vor lauter Verkehr nicht hineinkam, schienen zu rufen »Fahrt nur im Kreis, es gibt hier nichts zu sehen«. Die einzigen Plätze, die sich noch als Versammlungsorte anboten und die auf diese Weise das alte Waschhaus beerbten, das nunmehr unter dem Beton begraben lag, waren die von Ampeln überwachten Kreuzungen. Es gab nichts, was noch an die Vergangenheit erinnerte, nicht einmal eine Ruine im Herzen oder am Rande von Yunhai. Das heilbringende Wirtschaftswachstum fegte alles hinweg.
Die Alten verschwanden; wer nicht vor lauter Staunen über diese Umwälzungen das Zeitliche gesegnet hatte, verkroch sich in modernen Appartements, die ungefähr so viel Behaglichkeit verströmten wie ein neuer Mülleimer.