Impressum

Die Originalausgabe erscheint 2018 unter dem Titel «Vännen» im Verlag Wahlstöm & Widstrand, Stockholm.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

«Vännen» Copyright © 2017 by Joakim Zander

Das Zitat auf S. 7 stammt aus «Salt» von Nayyirah Waheed, in der deutschen Übersetzung von Karen Witthuhn,

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Redaktion Annika Ernst

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Umschlagabbildung Mark Owen/Trevillion Images

Autorenfoto: © Emil Malmborg

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen

Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN Printausgabe 978-3-499-27363-6 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-40268-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40268-3

niemals

Angst,

mir zu sagen,

wer du bist.

eines Tages

werde ich es

wissen

 

Nayyirah Waheed

Jacob

Es ist noch früh am Morgen, aber Jacob fühlt sich, als wäre er schon unendlich lange wach, seit Tagen, seit Wochen, als hätte er nie geschlafen. Es ist seine Straße, durch die er läuft, aber er kennt sie nicht mehr, stolpert und strauchelt, nicht länger vertraut mit Schlaglöchern und Schotter und den dicht geparkten Autos. Er kennt auch das Beiruter Licht nicht mehr, die Einschusslöcher in den Fassaden, die noch geschlossenen Bars, die Cafés und den lärmenden Verkehr, der sich auf jeder schmutzigen, holprigen Fahrbahn drängt.

Die Wintersonne steht bereits hoch am Himmel, in dünnen Strahlen fällt ihr Licht schräg vom Meer in die Stadt, schneidet sich durch die Abgase, wird von Spiegeln und Glas zurückgeworfen und macht alles sichtbar. Dabei sollte er eigentlich im Schatten bleiben, im Verborgenen.

Im Moment sehnt sich Jacob einzig und allein danach, dass die Zeit verstreicht. Der Tag vergeht. Das Licht verschwindet. Er darf nicht gesehen werden, denn die Aufgabe sitzt ihm jetzt unter der Haut. Sie ist ein Teil desjenigen geworden, der er nun ist, und er kann sie nicht mehr kontrollieren oder beeinflussen, er kann die Dinge einfach nur geschehen lassen.

Seine Hände zittern, und das Blut rauscht in seinem Kopf. Die Aufgabe kommt ihm so schwer vor, als würde sie ihn in die Knie zwingen, und dann wieder so leicht wie ein Heliumballon, als könnte sie ihn in die Lüfte heben und über die Stadt und aufs Meer hinaustragen. Jacob weiß, dass er sich beherrschen muss. Er bleibt

 

In einem der neuen, trendigen Cafés in der Armenia Street im Osten Beiruts bestellt Jacob einen doppelten Espresso und setzt sich in die hinterste Ecke. Die Bandage scheuert auf der Wunde am Rücken. Mittlerweile, eine Stunde nach dem kleinen Eingriff, lässt die Betäubung nach. Jacob verzieht das Gesicht vor Schmerz und vermeidet jede Berührung mit der Stuhllehne. Er muss mit geradem Rücken dasitzen, das ist der Preis für das, worauf er sich heute Morgen eingelassen hat, worauf er sich in den letzten Monaten eingelassen hat.

Er zittert so sehr, dass er die Tasse mit beiden Händen halten muss, während er sich umdreht, um die anderen Gäste im Blick zu haben. Aber bis auf einen müden Barista und ein junges Mädchen, das weiter vorn einen Tisch abwischt, ist er allein.

Als er sein Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickt, die zu dem kleinen Innenhof hinausgeht, zuckt er zusammen. Er sieht sich selbst nicht mehr ähnlich. Durch die Ereignisse und den Schlafmangel der letzten Tage hat er abgenommen, und seine hohen Wangenknochen lassen ihn bleich und unterernährt aussehen und nicht dandyhaft, wie er es sich früher manchmal eingeredet hat. Ohne Haarwachs hat der Wirbel auf der linken Kopfseite seine sonst so sorgfältig frisierten blonden Haare zu einer störrischen Welle aufgebauscht. Unter seinen grünen Augen liegen tiefe Schatten, und sein hellblaues Oxfordhemd ist nach zwei Tagen total zerknittert.

Die Stiche am Rücken schmerzen. Was empfindet er? Verwirrung? Angst? Stress? Ja, all das. Aber vor allem Erwartungsfreude. Und Sehnsucht. Und eine Liebe, die ihn umfängt und zugleich über alles erhebt, über Beirut und sich selbst und alle Zusammenhänge, bis nur noch Liebe existiert.

Er denkt an den Mann, der ihn gerade erst mit dem Taxi abgesetzt hat. An die Nächte in seiner riesigen, gläsernen Wohnung, seine Bartstoppeln und seine Hände und seinen Mund. Er denkt an die Gefahr, die Unsicherheit und die brennende Wunde. An die Aufgabe. Das Abenteuer, das jetzt beginnt.

Bitte, denkt er, gib mir Leben.

 

Rasch kippt er den letzten Schluck des starken Kaffees herunter und hat sofort das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Heute ist ein ganz normaler Werktag, und eigentlich sollte Jacob längst in dem kleinen Verschlag am Ende des Gangs der schwedischen Botschaft sitzen. Sollte an diesem sinnlosen Bericht arbeiten, den man ihm bei seiner Ankunft vor einigen Monaten als ungeheuer wichtig angepriesen hat. Aber inzwischen weiß Jacob, dass es sich lediglich um eine Beschäftigungsmaßnahme für Praktikanten handelt. Er hat versucht, sich nützlich zu machen, Kontakte zu den Kollegen aufzubauen und mit ihnen auszugehen. Aber niemand sieht ihn, keiner interessiert sich für ihn. Dieses sechsmonatige Praktikum sollte das große Sprungbrett für ihn sein, seine internationale Karriere begründen, seine Kommilitonen vor Neid erblassen lassen. Jetzt ist es bedeutungslos geworden.

Als er das Café verlässt und in die kühle Novembersonne hinaustritt, weiß er, dass nichts von alldem jetzt noch zählt. Die Karriere und die Verpflichtungen – alles, wofür er gekämpft hat und worin er seine Bestimmung sah. Es waren nur Annäherungen, Versuche, ein schlechter Ersatz.

Ohne darüber nachzudenken, geht er langsam Richtung Osten. Jetzt erwacht das Leben in den Straßen, und Jacob wird wie magisch von seiner kleinen Mietwohnung über dem Lebensmittelgeschäft angezogen, durchquert eilig Essensdünste und Wolken aus Abgasen, Schweiß und Parfüm. Als er vor vier Monaten in Beirut ankam, hat ihn dieses quirlige Durcheinander sofort fasziniert. Jetzt nimmt er es kaum noch wahr. Es bedeutet ihm nichts mehr. Nur er ist noch wichtig, dieser Mann, der gerade zum Flughafen verschwunden ist.

 

Schon bevor er die zerschlissenen Treppenstufen hinaufsteigt, spürt er es wie eine Vibration in der Luft. Irgendetwas stimmt nicht. Jacob duckt sich unter den verworrenen Kabelsträngen hindurch und nimmt zwei Stufen auf einmal, während er in den zweiten Stock läuft. Aus einer Wohnung weiter oben tönt Rihanna, und er bleibt auf seinem Treppenabsatz in der Brise stehen, die aus einem offenen Fenster hereinweht. Langsam gleitet sein Blick über das schöne, schmutzige Mosaik auf dem Boden vor seiner Wohnung. Dann betrachtet er die Tür, wie sie quietschend hin- und herschlägt. Er schluckt, geht vorsichtig näher und ballt unwillkürlich die Fäuste.

Doch als er die Augen wieder öffnet, hat sich nichts verändert.

Zögernd tritt er über die Schwelle in die Wohnung, die er bei seiner Ankunft gemietet und vom ersten Moment an geliebt hat, und die nun kaum wiederzuerkennen ist.

Kein einziges Möbelstück ist ganz geblieben. Kein Teller oder Glas. Das Mosaik auf dem Boden ist mit zerschlagenem Holz und Porzellan übersät, mit zerrissenen Stoffen und Büchern und Dokumenten.

Jacob zittern die Knie, und er kann sich kaum noch aufrecht halten, als er vorsichtig ein paar Schritte in die Wohnung hineingeht.

Langsam sinkt er zwischen all den Trümmern und Scherben in die Hocke. Er bekommt ein zerfetztes Taschenbuch zu fassen, das er auf dem Weg nach Beirut am Flughafen gekauft hat – in einem früheren Leben. Wer auch immer seine Wohnung zerstört hat, ist so sorgfältig vorgegangen, dass nicht einmal dieses Buch ganz bleiben durfte, es musste in zwei Hälften gerissen werden. Jacob lässt es wieder zwischen die anderen Überreste fallen und richtet den Blick auf die Balkontür.

An der Scheibe ist ein Zettel befestigt. Jacobs Rücken brennt, als er langsam wieder aufsteht. Vorsichtig bahnt er sich einen Weg durch das verwüstete Zimmer bis zur Balkontür. Es ist eine kurze Nachricht, nachlässig mit dickem Filzstift hingekritzelt. Jacob weiß sofort, wer das geschrieben hat. Und er weiß, wer seine Woh

Es sind nur drei Zeilen:

15.00 Uhr

Sursock Museum

Letzte Chance

Klara

Als der erste zaghafte Herbstschnee auf die kargen Klippen des Schärengartens fiel, war Klara Walldéens Großvater seit zwei Wochen tot. Seither hatte sie die Tage auf ihrer Heimatinsel Aspöja verbracht, nur umgeben von struppigen Bäumen, gelbem Gras und dem grauen, aufgewühlten Meer. Wie ferngesteuert war sie durch die Gegend gelaufen und hatte hohle Gespräche mit dem Bestattungsunternehmen und den Nachbarn geführt.

Als ihr Großvater im Sterben lag, war sie aus London zurückgekehrt und hatte im Krankenhaus seine Hand gehalten, ehe er immer tiefer im Morphiumnebel versunken war, um am Ende doch loszulassen. Der Prostatakrebs war zu spät erkannt worden und hatte sich schnell ausgebreitet. Seit der Diagnose waren nur zwei Monate vergangen.

Wenn Klara ihre Großmutter auf der anderen Seite des Krankenbetts anblickte, erwartete sie Trauer und Bitterkeit in ihrer Miene. Schließlich hatten Großvater und sie ein ganzes Leben miteinander geteilt, sie waren beide auf den kargen, unzugänglichen Inseln im Schärengarten aufgewachsen. Altersgenossen, Klassenkameraden und ein Paar, seit ihrem sechzehnten Lebensjahr.

Doch in den Augen der Großmutter lag eine friedvolle Wärme, wenn sie Klaras Blick ruhig erwiderte und sich dann über das Bett lehnte, um ihrem Mann über die Wange zu streichen.

«Er hatte ein schönes Leben, Klaramädchen», sagte sie. «Wir hatten ein schönes Leben.»

In diesen Momenten hatte Klara ihre Tränen heruntergeschluckt,

Sie hatten ihr auch in jenem Winter vor zwei Jahren zur Seite gestanden, als Klara von ihrer Vergangenheit eingeholt und in ein riskantes weltpolitisches Spiel hineingezogen worden war, das sie fast das Leben gekostet hätte. Sie waren da gewesen, als Klaras amerikanischer Vater sie wiedergefunden und gerettet hatte, nur um kurz darauf in ihren Armen zu sterben. Und sie hatten sich um sie gekümmert, als Klara einen Zusammenbruch erlitten hatte und danach wochenlang kaum aus dem Bett gekommen war.

Langsam und behutsam hatten sie Klara wieder ins Leben zurückgeführt und sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin Gabriella davon überzeugt, die Stelle in London bei einer schwedischen Professorin an einem Institut für Menschenrechte anzunehmen. Sie hatten nicht ahnen können, dass Klara dort und in Stockholm erneut in machtpolitische Interessen verwickelt werden würde.

Nachdem Gabriella und sie herausgefunden hatten, dass das Londoner Institut russische Interessen bediente, war Klaras Arbeitgeber so peinlich berührt gewesen, dass man ihr eine nicht weiter definierte Aufgabe als «Beraterin» zuteilte, damit sie sich neu orientieren konnte. Klara war in London geblieben und hatte ihren Alkoholkonsum reduziert, der während des Sommers zunehmend eskaliert war. Sie hatte gerade angefangen, Sport zu treiben und ernsthaft zu überlegen, wie ihre Zukunft aussehen

Die letzten Monate waren ein langer Abschied gewesen. Ihr Großvater wollte auf keinen Fall, dass sie nach Hause kam und sich um ihn kümmerte, hatte sich dann aber darauf eingelassen, dass sie ihn regelmäßig besuchte.

«Du sollst dein eigenes Leben leben», hatte er gesagt.

Am ersten Wochenende nach der Diagnose waren sie in den äußersten Schären gewesen und hatten Seevögel gejagt, noch bevor sich sein Zustand zusehends verschlechterte. Es war einer dieser üblichen stillen, grauen Tage, an denen das Meer und die Klippen im Nebel ineinander verschwammen, und er hatte sie mit seinen blauen Augen fixiert.

«Oma kommt auch zurecht, wenn ich nicht mehr da bin, das weißt du. Niemand will, dass du dein eigenes Leben wieder zurückstellst, jetzt, wo du endlich wieder auf die Füße kommst.»

Klara hatte genickt, aber nicht gewusst, ob sie das schaffen würde. Es gab so vieles, was sie noch nicht verkraftet hatte, so vieles, was in den letzten Jahren passiert war und immer noch tief in ihrem Inneren schwelte.

«Versprich es mir», hatte ihr Großvater gesagt. «Du musst es versprechen, Klara.»

Und sie hatte im Nieselregen seinen Blick erwidert und versprochen, das zu werden, für das er sie schon immer hielt: jemand, den so leicht nichts umwarf.

Sie hatte keine einzige Träne vergossen.

Und getrunken hatte sie auch nicht, auch wenn sie kurz davor gewesen war, Großvaters Flasche Famous Grouse zu öffnen, als ihre Großmutter und sie müde und stumm aus dem Krankenhaus

Dennoch war das erste schreckliche Bedürfnis, das Klara nach dem Tod des Großvaters überkommen hatte, der Wunsch nach Alkohol. Nach diesem Oktober, in dem ihr Großvater Behandlungen und Schmerzen erduldet hatte und sein Gesicht mit jedem Tag schmaler und ausgemergelter geworden war, wäre sie am liebsten in einem diffusen, warmen Rausch versunken. So, wie sie es auch im Frühjahr und Sommer getan hatte. Doch sie hatte sich gezwungen zu widerstehen. Sie hatte sich gezwungen, sich zu vergegenwärtigen, dass sie so leicht nichts umwarf.

 

Als Klaras Kindheitsfreund Bosse ihre Großmutter und sie mit seinem alten Volvo zur Kirche brachte und Klara in den Schneematsch hinaustrat, durchfuhr sie schließlich doch ein schmerzhafter Stich, und sie erstarrte mitten in der Bewegung. Da spürte sie, wie sich die Hand der Großmutter behutsam um ihren Ellbogen schloss.

«Klara», sagte sie ruhig, «ist alles in Ordnung?»

Sie wandte den Kopf um, sah in die eisblauen Augen der Großmutter und hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. Jetzt gab es nur noch sie.

«Könntet ihr mich bitte eine Minute allein lassen?», fragte sie. «Ich muss nur kurz … durchatmen.»

«Komm», sagte Bosse und legte die Hand auf den Arm der Großmutter. «Wir schauen mal nach, ob schon alles vorbereitet ist.»

Wie in einem Traum sah Klara Bosse und ihre Großmutter die Treppen hinaufsteigen, ihre geraden Rücken und ihre polierten feinen Schuhe, die im Neuschnee glänzten.

Sie schloss die Augen. Zwei Wochen lang war es ihr gelungen, die Gefühle von sich fernzuhalten, indem sie die Beerdigungsformalitäten geregelt hatte. Zwei Wochen hatte sie sich eingeredet, die

Er ist fort, dachte sie.

 

Klara wusste nicht, wie lange sie dort bei zunehmendem Wind im Schneegestöber gestanden hatte. Sie war so in sich versunken gewesen, dass sie nicht gehört hatte, wie ein Wagen hinter ihr auf den Parkplatz fuhr und eine Tür geöffnet und zugeschlagen wurde. Erst, als ihr jemand den Arm um die Schultern legte, zuckte sie zusammen und drehte sich um.

«Es tut mir so leid», sagte Gabriella Seichelmann. «Es tut mir so unglaublich leid, Klara.»

Klara drehte sich um und drückte ihre nasse, kalte Wange an Gabriellas, und so standen sie da, bis eine dünne Schicht Schnee ihre Haare und Jacken bedeckte.

«Du musst jetzt noch einmal stark sein», sagte Gabriella ruhig. «Die Beerdigung, und dann ist es vorbei, Klara. Dann brauchst du dich um nichts mehr zu kümmern.»

Klara sah ihre beste Freundin an und nickte stumm.

«Aber was mache ich danach?», fragte sie. «Wenn alles vorbei ist?»

Gabriella zog sie noch einmal an sich.

«Du kommst mit mir nach Stockholm. Deine Großmutter will doch sowieso ihre Schwester besuchen, und du musst ja wohl nicht gleich wieder zurück nach London, oder?»

Klara nickte erneut, hilflos, mechanisch.

«Ich hätte nicht gedacht, dass du herkommen würdest», sagte sie schließlich.

Gabriella war immer für Klara da gewesen. Sie hatte Klara vor zwei Jahren mit ihrer messerscharfen Intelligenz aus den rücksichtslosen Fängen des amerikanischen Geheimdienstes gerettet. Und auch im Sommer hatte sie sich ins Kreuzfeuer gestellt und Klara beigestanden. Doch seither hatten sie nur sporadisch voneinander gehört. Gabriella war Partnerin in einer großen Anwaltskanzlei geworden und hatte kaum noch Freizeit. Und Klara hatte das Gefühl, dass ein Ungleichgewicht zwischen ihnen herrschte, weil immer sie diejenige war, die um etwas bat oder Hilfe brauchte.

Gabriella löste sich aus der Umarmung und schob Klara sanft in Richtung Kirche. Klara schielte zu ihr hinüber und bemerkte, dass das rote Haar ihrer Freundin zu einem raffinierten Zopf eingerollt war. Gabriella trug ein diskretes Make-up und ein schwarzes Kostüm mit weißer Bluse. Beerdigung oder Gerichtstermin, bei Gabriella passte die Kleidung zu beidem.

«Meine Mandanten müssen sich eben etwas gedulden, Klara», erklärte sie jetzt. «Die Beerdigung ist wichtiger.»

Doch als Klara Gabriella erneut von der Seite ansah, stellte sie fest, dass ihr Mund verkniffen war und ihr Blick gestresst flackerte.

«Ist etwas?», fragte Klara.

Gabriella wandte sich ihr wieder zu, doch ihr Lächeln wirkte angestrengt.

«Konkret sein?», fragte Klara. Sie musste kichern und blieb stehen, und jetzt musste auch Gabriella hinter vorgehaltener Hand lachen.

«Meine Güte, wie unpassend», flüsterte sie. «Verzeih mir. Ich meine es ernst, bitte verzeih mir.»

Doch Klara hakte sich nur bei ihr unter und lehnte den Kopf an ihre Schulter.

«Danke, Gabi», sagte sie. «Du weißt nicht, wie viel es mir bedeutet, dass du gekommen bist. Und du hast recht, wir haben einen Großvater zu beerdigen.»

Jacob

Manches geht so schnell. Verwirrt landet Jacob Seger in Beirut. Er hat während des Flugs geschlafen, und vielleicht schläft er noch immer, als er dem Strom der Passagiere zur Grenzkontrolle folgt, wo die schwer bewaffneten Polizisten oder Militärs ihn befragen, weshalb er in Beirut ist, wie lange er bleiben wird und warum er keinen Diplomatenpass hat, wo er doch in der schwedischen Botschaft arbeiten wird.

«Nur intern», erklärt er. «Ich werde als Praktikant dort sein. Nicht als Diplomat.»

Noch nicht, hätte er am liebsten hinzugefügt. Noch bin ich kein Diplomat. Aber dies ist der erste Schritt. Nur noch das Examen in Politologie an der Universität Uppsala – sofern er diese mühsame Statistikprüfung bestehen würde. Aber jetzt absolviert er erst einmal ein Praktikum in Beirut. Und dann wird er richtig in den diplomatischen Dienst einsteigen, ein Ziel, von dem er vier Jahre lang geträumt hat, während er The Economist las und die Regierungschefs obskurer asiatischer Staaten, schwedische Exportzahlen und internationale Nobelpreisträger auswendig lernte, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Blauer Diplomatenpass und Kalbslederaktentasche. Das soll es sein. Nur sein Französisch muss er noch verbessern – und sein Arabisch.

Vor dem Schalter packt ihn plötzlich ein wenig die Angst, als ihn der Uniformierte mit neutralem, müdem Blick mustert. Sprachen sind Jacobs Achillesferse, obwohl er weiß, wie wichtig sie für eine Diplomatenkarriere sind. Doch allein der Gedanke daran, in

Er schüttelt den Gedanken ab. Es spielt keine Rolle. Er wird das schon hinkriegen, denn er weiß ja, dass er in diesem Punkt nicht versagen darf. Alles andere wäre auch ungerecht. Er ist für dieses Leben bestimmt, für Flughäfen und wichtige Aufgaben. Als er seinen Pass zurückbekommt, spürt er, wie ihn die Träume und Erwartungen von neuem erfüllen, während er die Kontrolle hinter sich lässt und den grünen Schildern Richtung Ausgang folgt.

 

In der Ankunftshalle mischen sich feuchte, drückende Mittelmeerluft, Abgase und Zigarettenrauch. Vor dem Ausgang warten Fahrer mit handgeschriebenen Schildern in arabischer Schrift, die Jacob nach einem halben Jahr Arabischkurs lesen können müsste, doch er stellt deprimiert fest, dass es ihm nicht gelingt, die Buchstaben zu entziffern. Sein Puls steigt erneut. Ob man ihn in der Botschaft auf sein Arabisch testen wird? Immerhin hat er den Platz ja nur wegen seiner angeblich «guten Sprachkenntnisse» bekommen. Hat er sich falscher Angaben schuldig gemacht? Er beschließt, das als Definitionssache zu betrachten. Die anderen Passagiere schieben und drängen zu den Parkplätzen und Taxischlangen, während Jacob stehen bleibt und sich umsieht.

Es hatte geheißen, jemand würde ihn hier abholen. Jemand von der Botschaft. Er hat erwartet, bei den Taxifahrern auch ein Schild mit dem Namen «Seger» zu entdecken, und lässt seinen Blick noch einmal an ihnen entlanggleiten, doch mit demselben niederschmetternden Ergebnis. Einen schwarzen Mercedes oder Volvo hat er sich erhofft, auf dessen Rückbank der stellvertretende Botschafter sitzt, um Jacob eine Einführung zu geben und erste Aufgaben zu übertragen. Eine Verhandlung oder ein Treffen mit der

Doch er ist ein Niemand. Kein Name auf einem Schild. Keiner, den man sucht, nirgends sieht er einen europäisch aussehenden Menschen mit einem gestressten, suchenden Blick.

Jacob nimmt sein Telefon zur Hand. Er hat dafür gesorgt, dass seine SIM-Karte auch im Libanon funktioniert, aber das war nur ein kleines Detail seiner akribischen Vorbereitung. Hier zu telefonieren ist teuer, das weiß er, und wenn jemand kein Geld hat, dann er. Aber er lässt sich nicht unterkriegen, er ist souverän und sucht die Nummer einer Frau namens Agneta Adelheim heraus, die man ihm vor ein paar Wochen geschickt hat.

Souveränität zu zeigen ist wichtig. Nicht zu einem Opfer der Umstände zu werden, sondern Kontrolle über die Situation zu haben. Als er den Namen Adelheim findet, verspürt er Zufriedenheit. Das ist nicht irgendeine dahergelaufene Andersson, nein, eine Adelheim. Er hat sogar recherchiert, die Familie ist tatsächlich adlig. Das vermittelt ihm ein sicheres Gefühl. Auf diesem Weg befindet er sich jetzt, auf dem Weg zu den Diplomaten und Adligen. Ein wohliger Schauer läuft ihm über den Rücken, als er ihre Nummer eintippt und ein Freizeichen ertönt.

Doch Agneta Adelheim geht nicht ans Telefon, und er wird nicht einmal mit einer Mailbox verbunden. Nachdem er es eine Weile hat klingeln lassen, beendet er den Anruf und schließt die Augen. Er ist auf dem Flughafen von Beirut. Zum ersten Mal im Nahen Osten.

«Nein, nein», sagt er laut vor sich hin.

Er muss sich zusammennehmen. Erneut versucht er es bei Agneta Adelheim. Als sie sich nach dem zweiten Signal meldet, überflutet ihn die Erleichterung wie eine warme Welle.

«Du lieber Himmel!», sagt sie, als Jacob sich vorgestellt hat. «Es tut mir so leid. Ich hatte gedacht, Sie würden erst nächste Woche kommen. In einer halben Stunde bin ich da.»

Jacob beendet das Gespräch und schiebt seine Enttäuschung beiseite. Sie haben ihn vergessen. Das ist ein Rückschlag, aber so etwas kommt vor. Bestimmt haben sie viel zu tun. Kein Wunder, dass da manches untergeht. Man kann nicht alles im Blick haben. Das heißt ja nicht, dass er sie nicht trotzdem beeindrucken kann.

Er zieht eine Dagens Nyheter aus seiner neuen braunen Lederaktentasche. Die Zeitung trägt er schon seit dem Boarding in Stockholm bei sich, hat sie aber noch nicht gelesen. Es kann ja nicht schaden, über die neusten Ereignisse auf dem Laufenden zu sein, denkt er und überfliegt die Titelseite, in erster Linie auf der Suche nach Meldungen über Beirut. Er hat im Internet etwas über den Streik im Regierungsbezirk gelesen. Aus Protest gegen die korrupte Regierung wurde der Müll nicht abgeholt, und in den Straßen breiten sich Gestank und Seuchen aus. In der schwedischen Zeitung findet er aber nichts darüber. Stattdessen wird über irgendeinen Säpo-Skandal berichtet. Jacob erinnert sich dunkel, gestern in den Nachrichten etwas zu den Enthüllungen über die schwedische Sicherheitspolizei gehört zu haben, ohne dass er sich weiter damit befasst hat.

Doch jetzt hat er Zeit. Mindestens eine halbe Stunde, und als er

«Russland hat Unruhen in Vororten unterstützt», lautet die fette Überschrift.

Jakob verschlingt den Artikel in kürzester Zeit, dann liest er den Leitartikel und die Hintergrundberichte. Offenbar hat eine russische Firma mit direkten Verbindungen zum Kreml eine schwedische Professorin bestochen, damit diese für ein Treffen im EU-Ministerrat ein Gutachten verfasst, das eine zunehmende Privatisierung der europäischen Polizei befürwortet. Außerdem hat dieselbe Firma im Zusammenhang mit einem EU-Gipfel in Stockholm in der vergangenen Woche dabei geholfen, die Krawalle, die in mehreren Vororten ausgebrochen waren, zu organisieren und anzuheizen. Ihr Ziel war es offenbar, die Polizei zu destabilisieren und Sicherheitsfirmen mit Verbindungen nach Russland den Weg freizumachen, manche Aufgaben der Polizei zu übernehmen. Und all das hat die Säpo angeblich gewusst und geschehen lassen.

Jacob schlägt die Zeitung zu und betrachtet noch einmal das Foto der jungen, hübschen Frau auf der Titelseite. Gabriella Seichelmann. Anwältin in einer prestigeträchtigen Kanzlei. Sie ist diejenige, die alles aufgedeckt hat. Offenbar gab es noch weitere Beteiligte, aber sie ist das Gesicht der Enthüllungsstory. Sie verfügt über die Zeugenaussagen und Dokumente, in die Journalisten Einsicht erhielten, wenn sie versprachen, diese aus Gründen der Geheimhaltung nicht zu veröffentlichen. Diejenigen, die diese Unterlagen gesehen haben, verifizieren ihren Wahrheitsgehalt, aber die Säpo verweigert weiterhin jede Stellungnahme.

Als Jacob die Zeitung sinken lässt, klopft sein Herz schneller.

Diese hübsche Anwältin. Viel älter als er sieht sie nicht aus, vielleicht fünf oder sechs Jahre? Er stößt einen tiefen Seufzer aus. An einer solchen Sache beteiligt zu sein, für die Gerechtigkeit zu kämpfen und sich gegen die herrschenden Mächte aufzulehnen? Und dabei all diese Aufmerksamkeit zu bekommen? Plötzlich fühlt er sich schäbig. Sein Praktikumsplatz und die Statistikprüfung, seine Unfähigkeit, eine Sprache zu lernen – für eine Karriere, die nie an das heranreichen wird, was diese Seichelmann jetzt schon geschafft hat. Vielleicht sollte er doch lieber Jura studieren?

Sein Handy brummt, und er nimmt es aus der Tasche. Vielleicht ist Agneta Adelheim endlich da. Nein, es ist Simon. Natürlich.

«Bist du schon gelandet, Babe?»

Babe. Jacob ist irritiert. Wann begreift Simon endlich, dass das, was im Frühjahr war, längst vorbei ist? Sie haben sich im Sommer doch kaum gesehen. Muss man alles immer so direkt aussprechen? Klar war es spannend gewesen. Viel aufregender für Jacob, als er es Simon gegenüber gezeigt hat. Und es hätte auch mehr daraus werden können, etwas, zu dem das Wort «Babe» gepasst hätte. Wenn Jacob losgelassen hätte, sich hingegeben hätte. Doch ihm war alles viel zu schnell gegangen. Schon nach drei Wochen hatte Simon davon gesprochen, dass sie zusammenziehen könnten. Auch Jacob hatte diesen Wunsch verspürt, die ganze Zeit über zusammen zu sein. Nie wieder aus dem Bett zu steigen. Aber er hatte sich gezwungen, seinem Verlangen nicht nachzugeben. Dafür war er nicht nach Uppsala gekommen. Das war nicht sein Plan. Ganz und gar nicht. Und schließlich hatte Simon auch noch davon angefangen, dass er Jacobs Eltern kennenlernen wollte.

«Du kannst doch wenigstens mal von ihnen erzählen», hatte er gesagt. «Hundert Pro ist deine Mutter superglamourös und dein

Ab diesem Moment war nichts mehr gegangen. Jacob konnte nicht von seiner Herkunft erzählen. Er hatte sie weit hinter sich gelassen, um durch seinen Wegzug aus Eskilstuna ein anderer Mensch zu werden. Und in diesem Plan kam seine Mutter nicht vor. Sie passte nicht zu der Uppsala-Ausgabe von Jacob Seger. Der Diplomatenausgabe.

«Jacob?»

Eine Stimme reißt ihn aus seinen Grübeleien, und als er aufsieht, steht eine Frau Mitte fünfzig mit grauem Haar und in einem dunkelblauen, leichten Kleid vor ihm.

«Ich bin Agneta Adelheim. Es tut mir so leid, dass Sie warten mussten!»

 

Schließlich sitzt Jacob tatsächlich auf der Rückbank eines schwarzen Volvo und späht aus dem Fenster, während sie durch die Vororte ins Zentrum von Beirut fahren. Eine neue, blendende Sonne. Erst sieht Jacob überall Autobahnen und die grünen Flaggen der Hisbollah in den Slums. Dann, je näher sie der Innenstadt kommen, bemerkt er an allen Ecken Einschusslöcher und glitzerndes Glas. Baukräne, um der Geschichte zu entkommen. Und auf allen Straßen heilloses Verkehrschaos und stinkender Müll.

Endlich steigen sie aus dem Wagen und gehen durch das Eingangstor, widerhallende Treppen hinauf und in eine Art Konferenzraum mit hellem Holz und Stahlrohrstühlen, die lautlos über den Boden gleiten. Auf einem Tisch stehen Wasserflaschen mit abblätternden Etiketten. Sie setzen sich einander gegenüber, und Agneta erzählt von der Botschaft und dass die Arbeit noch sehr chaotisch sei.

«Sie wissen, dass die Botschaft nur vorübergehend hier unter

Jacob nickt. Er kennt alle Hintergründe, er hat sich vorbereitet.

«Mir ist nicht ganz klar …», fährt Agneta fort. «Also ich weiß nicht, was man sich dabei gedacht hat, gerade jetzt einen Praktikanten herzuschicken. Hier herrscht eher Ausnahmezustand.»

Jacob schluckt. Vielleicht ist er doch nur wegen seiner Arabischkenntnisse genommen worden? Ist das der Moment, in dem er auffliegt?

«Na, was soll’s», seufzt Agneta. «Ich bin ja nur die Assistentin. Das ist nicht meine Entscheidung.»

Aber was ist mit Ihrem Namen?, hätte Jacob am liebsten gerufen. Sie heißen doch Adelheim? Dann müssten Sie doch mindestens die Büroleitung innehaben?

«Und wie gesagt», fährt Agneta fort, «wir haben ja gedacht, Sie würden erst nächste Woche kommen, deshalb fürchte ich, dass wir gerade gar nicht so viel für Sie zu tun haben. Immerhin ist es mir gelungen, eine Wohnung für Sie zu organisieren. Eine Kollegin von der französischen Botschaft ist den ganzen Herbst über verreist, und Sie können dort zur Untermiete wohnen. Ich würde vorschlagen, dass wir erst den Papierkram erledigen und dann nächste Woche zu neuen Taten schreiten?»

Also gehen sie einen Stapel Formulare durch, Jacob erhält eine Art Passierkarte für die Botschaft, und ehe er sich versieht, sitzt er wieder mit Agneta in dem Volvo – diesmal unterwegs in östliche Richtung, hinter die grüne Linie, von der er gelesen hat. Es ist jene Linie, die den muslimischen Teil Beiruts vom christlichen trennt, in dem er wohnen wird, und an der entlang im Bürgerkrieg die Front verlief. Jetzt ist sie nur noch eine gewöhnliche Durchfahrtsstraße.

«Das ist sozusagen die Adresse», erklärt sie Jacob. «Hausnummern haben hier keine Bedeutung. Sagen Sie den Taxifahrern einfach, Sie wollen zur Armenia Street, zum Saliba Market, okay?»

Im Haus kramt Agneta einen Schlüssel aus ihrer Tasche und schließt die Tür auf. Wie sich herausstellt, verbirgt sich dahinter eine reizende Art-déco-Wohnung mit Mosaikböden und einem kleinen Balkon, der auf die Straße hinausgeht. In den Fassaden der umliegenden Häuser klaffen Einschusslöcher, in der Ferne sieht man den Hafen und das Meer.

«Ich bin mir sicher, dass Sie gut zurechtkommen werden», sagt sie. «Sie machen ja einen souveränen Eindruck.»

Jacob spürt, wie er sich bei diesen Worten ein wenig entspannt. Ein souveräner Eindruck. Natürlich ist Agneta, trotz ihres verpflichtenden und beeindruckenden Familiennamens, nur Assistentin. Aber wenn sie das schon bemerkt, was werden erst die anderen in ihm sehen?

Und dann ist Jacob endlich allein. Agneta hat anderes zu tun als Babysitterin für den neuen Praktikanten zu spielen, und er fühlt sich verlassen und erleichtert zugleich. Der Anfang entspricht nicht dem, was er sich den ganzen Sommer über erträumt hat, aber die Wohnung ist viel schöner als erhofft. Er öffnet die Flügeltüren und lässt den Lärm herein, der von der Armenia Street heraufdringt. Unten geht Agneta auf den wartenden Volvo zu, sie dreht sich um und winkt.

«Ich habe vergessen zu sagen, dass Sie wegen des Generators mit der Nachbarin über Ihnen sprechen müssen», ruft sie ihm zu. «Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel mit ihrem Namen und der Num

Nachdem sie in den Wagen gestiegen ist, setzt Jacob sich auf einen Plastikstuhl auf dem Balkon und lässt die Wärme, die Abgase, die Kakophonie aus Motorengeräuschen, Hupen und lauten Stimmen auf sich einströmen. Die nächsten sechs Monate wird er hier leben. In dieser Stadt. In dieser Wohnung. Für einen Moment spürt er keinerlei Freude oder Zufriedenheit, sondern nur ein Gefühl von Entwurzelung, das ihm so lange zusetzt, bis er sich innerlich ganz leer fühlt und die Augen schließen muss.

 

Er ist allein. So allein, wie er es war, als er nach Uppsala kam und in dem schmutzigen Zimmer in Rackarberget saß, in dem er in den ersten Wochen zur Untermiete wohnte, nachdem er sich sein neues Leben eingerichtet hatte. Er hat so viel durchgemacht, um es bis hierher zu schaffen. Aber wozu? Um diese Leere und Sinnlosigkeit zu fühlen? Er holt das Handy aus der Tasche und liest noch einmal Simons SMS.

Es wäre so leicht, darauf zu antworten. Zu schreiben: «Ja, Babe! Wann kommst du mich besuchen?» Dem Gefühl nachzugeben, das er doch für Simon empfindet. Vielleicht könnte aus ihnen beiden etwas werden? Vielleicht bekämen sie eine schöne Zweizimmerwohnung in Vasastan? Simon nimmt eine Stelle bei Bukowskis oder in einem Museum an, und er selbst wird Marktanalyst in irgendeinem PR-Büro. Vielleicht in einer Abteilung, wo er Karriere machen und ab und zu nach Brüssel fahren kann?

Vielleicht, vielleicht, vielleicht.

Aber Jacob weiß, dass er das nicht kann, nach so einem Leben strebt er nicht. Er sucht nach mehr. Größeren Aufgaben. Einem schnelleren Herzschlag.

Er zwingt sich, die Leere hinunterzuschlucken, und mit einem

 

Mittlerweile ist es dunkel geworden, und Jacob fällt ein, dass er vergessen hat, die Nachbarin nach dem Strom zu fragen. Er erreicht sie unter der Nummer, die seine Vermieterin tatsächlich auf dem Küchentisch hinterlassen hat. Alexa erklärt ihm, dass vor morgen früh niemand auftauchen und den Generator reparieren wird.

«Aber komm doch aufs Dach», sagt sie. «Hier gibt es eine Terrasse. Und Wein.»

 

Auch im Treppenhaus funktioniert das Licht nicht, und Jacob muss sich in dem spärlichen Schein vorantasten, der in jedem Stockwerk durch die Fenster fällt. Es ist so plötzlich dunkel geworden, ganz anders als in Schweden, er hat nicht einmal die Dämmerung bemerkt. Dabei ist es erst sechs Uhr abends.

Plötzlich flackert das Licht im Treppenhaus auf, eine Glühbirne beginnt zu surren und verbreitet einen warmen gelben Schein, als Jacob das Gittertor aufschiebt, hinter dem die gemeinschaftliche Dachterrasse liegen muss.

«Ah!», sagt die Stimme, die er eben noch am Handy gehört hat. «Ein Hoch auf das Elektrizitätswerk! Das Licht ist zurück.»

Zögernd geht Jacob ein paar Schritte auf das Dach. Vor ihm breitet sich der Stadtteil Mar Mikhael bis zum Hafen aus. Gedämpftes Licht in den Fenstern, kaputte Fassaden und unten die Lastkräne vor endloser Dunkelheit, in der sich das Mittelmeer erstreckt.

«Du musst Jacob sein», sagt Alexa. «Willkommen in Beirut.»

Sie tritt aus dem Schatten heraus, und schon im nächsten Moment hat sie ihn mit Wangenküssen begrüßt und ihm ein Glas Wein in die Hand gedrückt.

Jacob nickt langsam und sieht sie an. Alexa ist vielleicht zehn Jahre älter als er, und sie sind fast gleich groß. Die Nachbarin ist nicht direkt dick, aber kräftig. Ihr dunkles lockiges Haar hat sie mit einem breiten weinroten Tuch gebändigt, dazu trägt sie ein langes grünes Kleid und Sandalen.

«Lass mich raten», sagt sie. «Du bist zum allerersten Mal im Nahen Osten? Und ein bisschen geschockt und nervös wegen des ganzen Durcheinanders?»

Lachend legt sie den Kopf in den Nacken. Jacob spürt, wie sich seine Muskeln anspannen. Alexa behandelt ihn wie ein Kind, einen naiven Neuankömmling ohne jede Weltläufigkeit. So hat er sich seinen ersten Abend in Beirut auf keinen Fall vorgestellt. Er hatte sich in der Botschaft gewähnt anstatt mit dieser Frau auf dem Dach eines Hauses, in dem der Strom kommt und geht, wie er will.

Alexa lacht wieder und legt ihm den Arm um die Schultern.

«Trink, habibi

Jacob trinkt sein Glas leer, und dann trinkt er noch eines, und ein weiteres, während er Alexa hilft, Geschirr und Speisen aus ihrer Wohnung hoch auf die Terrasse zu tragen. Sie feiert ein Abschiedsfest. Ab nächster Woche wird sie im Jugendzentrum des palästinensischen Flüchtlingslagers Shatila arbeiten und auch dort wohnen. Während sie gemeinsam den Tisch decken, erzählt sie, dass sie französische und marokkanische Wurzeln hat und seit fast fünf Jahren in Beirut lebt.

Langsam füllt sich die Terrasse mit Menschen, die hundert verschiedene Sprachen zu sprechen scheinen. Alexa steckt Kerzen auf die leeren Weinflaschen aus dem Bekaa-Tal, und die Flammen flackern im Wind. Irgendjemand bringt einen kleinen Generator zum Laufen, und an einem Kabel an der Wand werden nackte Glühbirnen aufgehängt. Eine Stereoanlage wird angeschlossen, und arabischer Pop mischt sich mit Weeknd und Rihanna, während Jacob erneut sein Glas füllt und spürt, wie sich sein Körper immer leichter anfühlt, obwohl er verwirrt ist und kaum noch weiß, wie man Englisch spricht.

Für einen kurzen Moment denkt er, dass diese Vorstellung lächerlich ist. Er muss sich rasch ein Glas Wasser holen und wieder nüchtern werden. Es ist sein erster Abend, da muss er die Kontrolle bewahren und darf sich nicht von all diesem Magischen, Kosmopolitischen verführen lassen. Er muss das Ziel vor Augen behalten, die Botschaft und den guten Eindruck, den er dort hinterlassen will.

Doch momentan fühlt er sich so wohl in seiner Fremdheit, in der Anonymität, fühlt sich sicher in der Unsicherheit. Und statt Wasser holt er sich ein Bier aus einer Tonne, in der die Flaschen auf Eis liegen wie in einem Film. Egal, denkt er. Heute Abend muss es so sein. Nur einen Abend. Dann wieder Fokus.

In dem Moment hört er direkt neben sich eine Stimme und zuckt erstaunt zusammen. Er hatte das Fest völlig ausgeblendet, den Redemption Song nicht mehr wahrgenommen, den jemand irgendwo in der Mitte der Terrasse singt und dazu auf der Gitarre spielt.

Jacob dreht sich um. Und noch während er das tut, noch ehe er das Gesicht sieht, das zu dieser Stimme gehört, weiß er, dass sich von nun an alles ändern wird, dass es kein Zurück mehr geben wird, keine Vergangenheit, sondern nur noch die Zukunft. Nichts wird mehr so sein wie früher.

«Sind wir uns schon mal begegnet?», fragt er leise.