Nicole Drawer
Das Echo ferner Tage
Kriminalroman
Knaur e-books
Nicole Drawer war Oberkommissarin beim Landeskriminalamt in Hamburg. Sie hat als verdeckte Ermittlerin beim Staatsschutz gearbeitet. Da sie fließend Türkisch und Arabisch spricht, wurde sie besonders mit Fällen betraut, die unter dem Oberbegriff Nahostkonflikt zu fassen sind. Später studierte sie dann Kriminalistik, Kriminologie und Psychologie und beschäftigte sich hauptsächlich mit psychischen Störungen von Serienmördern.
»Und die Vergangenheit ruht nie …«
Verfassungsschutz-Agentin Ann Deckert ist ausgestiegen. Zu viele Opfer forderte dieser Job von ihr, zuletzt ihren Ehemann und Vater ihres Sohnes. Nun will sie endlich Zeit für sich und ihren Sohn haben. Doch bevor sie ihr neues Leben genießen kann, holt die Vergangenheit sie erneut ein: Christian Beyer, Terrorist und Neonazi, ist aus dem Gefängnis geflohen. Die Zeit ist reif, seinen akribisch geplanten Anschlag endlich in die Tat umzusetzen und Rache an seiner Todfeindin, Ann Deckert, zu nehmen. Ein brisanter Agentenstoff aus der Feder einer verdeckten Ermittlerin.
Originalausgabe August 2009
Copyright © 2010 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Maria Hochsieder
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-426-55898-0
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Als er damals sein Jurastudium begonnen hatte, hatte er sich bereits als zweiter Perry Mason gesehen. Heute, über zwanzig Jahre später, hatte Johannes Merthin so ziemlich jede Illusion verloren. Hätte man ihm in jungen Jahren gesagt, wozu er sich einmal hergeben würde, er hätte es vehement abgestritten.
Viele seiner Überzeugungen waren im Laufe der Jahre den Bach hinuntergegangen, nicht zuletzt sein fast heroisches Bild vom aufrechten Strafverteidiger. Zwar hatte es ihm eine Menge Geld eingebracht, vielleicht auch eine Berühmtheit, die er als armer, aber ehrlicher Anwalt nie erreicht hätte, aber sein Leben war verpfuscht. Er war zu einem Handlanger geworden, und er fand sich auch jetzt in einer der depressiven Stimmungen wieder, die ihn so oft überkamen. Vielleicht war Depression nicht der richtige Ausdruck. Selbstmitleid traf es wohl besser.
Er zuckte zusammen, als er hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte und das Kommen seines derzeit einzigen Mandanten ankündigte.
Christian Beyer hielt es nicht für nötig, seinen Anwalt zu begrüßen. Er blieb an der Tür stehen, sah zu, wie ihm einer der Schließer die Handschellen abnahm, und blickte dem Mann hinterher, bis dieser die Tür schloss und er mit seinem Anwalt allein in dem kleinen, kahlen Raum war. Es war der Besprechungsraum, den die Gefängnisleitung ihren Insassen und deren Strafverteidigern zur Verfügung stellte. Blassgrüne Wände, die an Erbrochenes erinnerten, zerkratzte Tische, auf denen zu lesen war, wer schon alles hier gewesen war, und altersschwache Stühle, die bei jeder Bewegung knarrten und ächzten – in dieser Atmosphäre sollte ein vertrauensvolles Gespräch entstehen. Merthin hatte daran seine Zweifel. Er riss sich von seinen Gedanken los und zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf den Mann zu konzentrieren, der eben den Raum betreten hatte.
Der lächelte leicht und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Johannes Merthin sinken.
»Wie sieht es aus?« Beyer sah Merthin an. Seine kalten grauen Augen blickten so unbeteiligt, dass es Merthin einen Schauder über den Rücken jagte. Schon während des Prozesses war ihm aufgefallen, dass es nichts gab, was diesen Mann aus der Ruhe brachte. Stets schien er desinteressiert, kalt und berechnend. Selbst seinen Charme setzte er gekonnt ein. Die Frauen, die im Prozess gesessen hatten, an jedem Tag wurden es mehr, himmelten diesen attraktiven Mann geradezu an. Die markanten Züge, das dunkle Haar und dieses unwiderstehliche Lächeln, das niemals die Augen erreichte, hatten ihm sogar den einen oder anderen in den Knast gesandten Heiratsantrag beschert.
Merthin räusperte sich. »Es ist alles vorbereitet.«
»Gab es Probleme?«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.« Zwar durften Gespräche zwischen Anwalt und Mandant nicht abgehört werden, aber Merthin war sicher, dass es einen verborgenen Lauscher gab. BND, MAD, Verfassungsschutz, irgendjemand würde es sich nicht verkneifen können. Der Lauscher an der Wand hört seine eig’ne Schand.
Was für eine blöde Redensart, und außerdem gehörte sie gar nicht hierher, dachte Merthin leicht entnervt. Alles nervte ihn, oder war er einfach nur müde?
»Ich scheine Sie zu langweilen.« Beyers Stimme war leise und verhieß nichts Gutes.
Merthin sah ihn an. Eine Antwort erübrigte sich. Beyer betrachtete scheinbar interessiert seine sorgfältig manikürten Hände. »Ich dulde keinen Fehler. Ich erwarte, dass meine Anweisungen exakt ausgeführt werden. Der Erfolg der ganzen Operation hängt von der minutiösen Planung und gewissenhaften Ausführung ab.«
»Es läuft alles wie besprochen.«
»Gut.« Der dunkelhaarige Mann lächelte und verschränkte seine Hände auf dem Tisch.
»Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen, oder?«
Max Heidrich schaltete das Tonbandgerät aus. Einen Moment herrschte Stille in dem kleinen Raum.
»Sie wussten, dass wir sie abhören.«
»Und selbst wenn nicht, Beyer überlässt nichts dem Zufall. Der Mann ist absolut paranoid.« Und das zu Recht, fügte Heidrich in Gedanken hinzu. Er sah in die Runde. Alle, die hier saßen, es waren vier Männer, hatten nur eine Aufgabe: dafür zu sorgen, dass Beyer da blieb, wo er für den Rest seines Lebens nach Auffassung des Gerichtes bleiben sollte. In Haft.
»Die Verlegung ist für die übernächste Woche geplant.«
Heidrich nickte. »In den Hochsicherheitstrakt, ich weiß. Dann werde ich hoffentlich wieder ruhig schlafen können.« Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und starrte das Tonbandgerät an, so als könne es ihm verraten, was zum Henker zwischen Beyer und seinem Anwalt vor sich ging. Dass dieser Merthin nicht ganz koscher war, wusste man seit Jahren, aber hier ging etwas vor sich, dessen Sinn ihnen verborgen blieb. Eines allerdings war klar: Es konnte sich nur um eine Schweinerei handeln.
»Sie werden versuchen ihn rauszuholen.« Frank Nessler sprach aus, was alle dachten.
»Er sitzt in Einzelhaft in einem separaten Flügel, und der Transport ist gut gesichert. Sie haben also keine Chance.« Wen wollte Max eigentlich beruhigen? Sich selbst? Oder hatte er Gewissensbisse? Die Gerüchteküche brodelte, und auch wenn er wusste, wie schnell sich Mutmaßungen durchsetzten, so steckte doch meist ein Körnchen Wahrheit darin. Vielleicht hatte er dem Gerede nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt.
»Wir ändern die Route, aber erst in letzter Minute. Die begleitenden Wachen werden verdoppelt. Das wäre es fürs Erste.«
Er stellte sich ans Fenster und sah hinaus. An dem leisen Scharren der Stühle und den gedämpften Schritten auf dem dicken Teppich, die sich leise entfernten, erkannte er, dass sich der Raum leerte. Vielleicht hätte er Ann schon vor Wochen darüber informieren sollen, dass etwas im Gange war, aber er wollte sie nicht beunruhigen.
Sie lebte nun ihr neues Leben, und sie sollte das Gefühl haben, dass die Vergangenheit hinter ihr lag und sie nicht mehr einholen konnte.
Auch wenn er es besser wusste.
Mensch Alex, ist das nicht toll?« Ann Deckert stand vor der Gartenpforte, reckte ihr Gesicht gen Himmel und atmete tief die würzige Seeluft ein. Der Sommer hatte gerade erst begonnen, und schon waren sie sonnenverwöhnt. Ein leichter Wind strich über das Land, und kein Wölkchen trübte den Himmel, es versprach ein schöner Tag zu werden. Das Rascheln der Blätter und das Rauschen der nahen Ostsee vermischten sich zu einer einzigartigen Symphonie. »Ist das Haus nicht einfach ein Traum?«
»Mami?«
»Ja, mein Schatz?« Sie drehte sich zu ihrem vierzehnjährigen Sohn um, der mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck neben ihr stand. Nein, eigentlich sollte es ein gelangweiltes Gesicht sein, in der Pubertät aber noch reichlich unerfahren, gelang ihm der gewünschte Gesichtsausdruck nicht. Sie verkniff sich ein Grinsen.
»Mami, das hier«, der schlaksige Junge mit den raspelkurzen dunklen Haaren zeigte auf das Haus und bemühte sich um einen verächtlichen Ton, »also, das hier ist eine gottverdammte Bruchbude.«
Sie legte den Kopf ein wenig schief, als wolle sie es sich noch einmal aus einer anderen Perspektive anschauen. »Zugegeben, ein wenig werden wir schon daran tun müssen. Neue Fenster, ein bisschen Farbe, hier und da eine kleine Reparatur …« Irgendwo klapperte einer der hölzernen Fensterläden, die auch nicht mehr gerade in den Angeln hingen.
»Vielleicht noch ein paar neue Wände oder ein neues Dach? Wahrscheinlich bricht uns der alte Kasten über dem Kopf zusammen.«
»Das Dach ist erst zehn Jahre alt, und die Heizung ist auch neu. Soweit ich weiß, sind alle Wände intakt, und stell dir vor«, sie blickte ihm mit gespieltem Ernst ins Gesicht, »hier gibt es sogar schon eine Toilette mit Wasserspülung. Super, oder?«
Sie wandte sich wieder ab, klatschte in die Hände und öffnete die Gartenpforte. »Herrlich, einfach herrlich.« Ann zog den Schlüssel, den sie vor ein paar Minuten von der Maklerin am Ort bekommen hatte, aus der Tasche und schritt auf die Haustür zu. Dabei hielt sie den Schlüssel so ehrfürchtig in der Hand, als sei er eine Reliquie.
Alexander gab nicht so schnell auf. »Wie hieß dieses Kaff noch mal?«
»Wie ich dir schon die vergangenen neunundneunzig Mal erklärt habe, dieser nette kleine, beschauliche Ort heißt Heiligenhain.«
»Es ist kein Ort, sondern ein Kuhdorf. Hier kann man nicht mal richtig einkaufen.« Alexander suhlte sich geradezu in seiner vorgetäuschten schlechten Laune.
»Wir sind nur zehn Kilometer von Eckernförde entfernt. Das ist doch nun wirklich ein Katzensprung. Und außerdem haben wir es hier herrlich ruhig. Und die Ostsee gleich hinter dem Garten. Nun stell dich nicht so an und sieh dir erst einmal das Haus an.«
Die Tür ließ sich leicht öffnen, das Sicherheitsschloss war noch neu, und die Tür sprang ohne quietschenden Protest auf. Für einen Moment blieb Ann in der Halle stehen – einen Flur konnte man diesen großzügigen Eingangsbereich wirklich nicht nennen – und sah sich um. Linker Hand befand sich ein holzgetäfelter Raum, der, das wusste sie noch aus dem Exposé, das Max ihr geschickt hatte, einmal als kleine Bibliothek gedient hatte, und rechter Hand war das vordere Wohnzimmer. Geradeaus lag die Treppe in den ersten Stock, und rechts von der Treppe gelangte man in die Küche. Links von der Treppe befanden sich eine Abstellkammer sowie eine kleine Gästetoilette und der Niedergang zum Keller. Oben gab es drei Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und zwei Bäder. Die Vorbesitzer hatten getrennte Schlafzimmer gehabt und jeder sein eigenes Bad. Muss ’ne tolle Ehe gewesen sein, dachte Ann. Sie und Michael hatten immer in einem Zimmer und einem Bett geschlafen.
Ein gewaltiges Krachen, begleitet von einem saftigen Fluch, riss sie aus ihren Gedanken.
»Kacke. Verdammt.«
»Alex? Alles in Ordnung?« Sie drehte sich um und sah ihren Sohn auf dem Boden knien, das heißt, mit einem Bein kniete er auf der Vortreppe, das andere steckte zur Hälfte in dem morschen Holz der Stufen. Munter spielte sie den Vorfall herunter, denn bei dem geringsten Anflug von Mitleid würde sich Alex mit schmerzverzerrtem Gesicht den ganzen Tag das Bein halten, bei jedem Schritt eine Grimasse ziehen und alles dafür tun, dass seine Mutter ein schlechtes Gewissen bekam. »He, du hast unsere Treppe kaputt gemacht.«
»Sehr witzig, Mami. Ich hab doch gesagt, dass das ’ne Bruchbude ist. Das ist lebensgefährlich hier.« Mühsam stemmte er sich hoch und versuchte, das Bein aus dem Loch zu ziehen.
»Hast du dich verletzt?«
»Nee.« Er wusste, es hatte keinen Zweck zu jammern, es sei denn, er wollte für den Rest des Tages ihren Spott über sich ergehen lassen. Er war jetzt ernsthaft verstimmt, und Ann konnte es ihm nicht ganz verdenken.
»Komm rein. Wir sehen uns das Haus erst einmal an.«
Sie nahm ihren Sohn am Arm und zog ihn hinter sich her. Er ließ es sich gefallen, und obwohl er es eigentlich nicht vorgehabt hatte, sah auch er sich interessiert um.
Sie gingen an der Treppe vorbei in die Küche, die so riesig war, dass man darin hätte Fußball spielen können. Sie war leer. Die Vorbesitzer hatten bei ihrem Auszug die Einbauküche mitgenommen. Eine Tür ging direkt in den großen Garten, der aufgrund mangelnder Pflege einem Dschungel ähnelte. Von der Küche kam man außerdem in ein kleineres Zimmer und von dort in das große Wohnzimmer, das durch eine große Schiebetür mit dem vorderen, kleineren Wohnzimmer verbunden war. Während ihres Rundgangs erzählte Ann die ganze Zeit von der Raumaufteilung und was sie oben erwarten würde. Alex sah seine Mutter misstrauisch an.
»Ich denke, du warst noch nie hier?«
»Stimmt«, sie nickte, »aber Onkel Max hat mir eine Beschreibung und Bilder des Hauses geschickt, und ich habe mir beides genau eingeprägt. Sieh mal, und hier«, Ann drehte sich im Kreis und zeigte mit den Händen auf den Holzfußboden, auf dem zentimeterdick der Staub zu liegen schien, »also hier könnten wir zwei kleine Sofas hinstellen und …«
»Hallihallo, jemand zu Hause?«
Ann sah zur Tür, für einen Moment aus dem Konzept gebracht. Dann wandte sie sich an ihren Sohn. Hallihallo?, formten ihre Lippen lautlos. Alex zuckte mit den Schultern. Noch bevor sie sich entschließen konnten, an die Tür zu gehen, wurde ihnen diese Entscheidung abgenommen. Die Frau stand plötzlich vor ihnen. Klein, rundlich, rote Bäckchen – hoffentlich von der frischen Luft und nicht von übermäßigem Alkoholkonsum, dachte Ann.
»Sie beide müssen die neuen Nachbarn sein«, strahlte sie. »Ich bin Henrieke.« Mit einem liebevollen Blick auf Alexander, begleitet von einem sehnsüchtigen Seufzen, fuhr sie fort. »Wie schön, endlich wieder Kinder in der Nachbarschaft.«
Nessler kannte Max lange genug, um zu wissen, dass ihm noch etwas anderes Sorgen bereitete.
»Du machst dir Sorgen um Ann Deckert, richtig?«
»Hm? Entschuldige … ich war wohl in Gedanken. Ja, richtig. Wie du weißt, hat sie Beyer vor anderthalb Jahren in den Knast gebracht.«
»Ja, das weiß ich, ich weiß nur nicht, wie.«
»Es war eine unglaubliche Situation.« Max lachte kurz auf, als er daran zurückdachte. »Nach dem 11. September 2001 war die ganze Welt hysterisch, und Christian Beyer war einer der meistgesuchten Terroristen weltweit. Jedenfalls bekamen wir ständig Hinweise aus allen Teilen Deutschlands. Mal wollte ihn jemand auf einem Jahrmarkt in Flensburg gesehen haben, mal ein anderer als Büttenredner beim Karneval in Köln. Es war verrückt. Na jedenfalls«, er nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und schob sich die Brille wieder auf die Nase. Es war offensichtlich, dass er die letzten Nächte nicht gut geschlafen hatte. »Jedenfalls bekamen wir einen Hinweis aus Paris, und der erschien vielversprechend. Leute wollten gesehen haben, wie eine Nachbarin, Mutter eines kleinen Kindes, des Nachts öfter Besuch bekam, und angeblich war es der Mann von den Fahndungsplakaten. Ann leitete damals die Operation. Sie überprüfte die Angaben, und alles schien zu passen. Sie fand eine Verbindung zwischen der Frau und Christian Beyer. Schon einige Jahre hatte sich das Gerücht gehalten, dass er heimlich verheiratet wäre, und so wie es aussah, hatten wir seine Frau gefunden. Wir machten eine Razzia, aber ohne Ergebnis. Wir fanden weder ihn noch Hinweise auf ihn. Die Frau und das kleine Kind nahmen wir in Gewahrsam. Und da kam Ann die Idee, eine Falschmeldung über die Presse abzusetzen. Sie behauptete einfach, es habe eine Schießerei gegeben, bei der die beiden verletzt worden seien, und das Kind schwebe nun in Lebensgefahr. Es ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung, denn schließlich war das Kind gerade mal vier Jahre alt. Polizeibrutalität und so weiter und so fort. Du kannst dir vorstellen, was los war.« Frank nickte. Max fuhr fort. »Es dauerte eine Zeit, Beyer versuchte alles, um über Dritte an seine Familie heranzukommen, aber es nutzte nichts, also wagte er sich selber aus der Deckung, und da hatten wir ihn. So einfach war das.« Beide hingen für einen Moment ihren Gedanken nach.
Frank brach als Erster das Schweigen. »Beyers Frau kam um, oder?«
Max nickte. »Stimmt. Sie flog mit ihrem Wagen in die Luft, als sie versuchte Sprengstoff zu transportieren. Sie hatte anscheinend geplant, ihren Mann aus dem Gefängnis zu befreien, aber der Plan war wohl nicht ganz ausgereift.«
»Und die Kleine?«
»Die kam erst einmal zu Pflegeeltern. Beyer wurde der Umgang verboten, und schließlich wurde die Kleine zur Adoption freigegeben, nachdem klar war, dass Beyer mehrmals lebenslänglich bekommen würde. Sie lebt heute an einem sicheren Ort und weiß von nichts.«
Heidrich holte tief Luft. »Du siehst also, wenn Beyer die Flucht gelingen sollte, haben wir mehr als nur ein Problem. Er gibt Ann die Schuld daran, dass seine Familie auseinandergerissen wurde. Und von seiner Warte aus hat er auch gar nicht mal so unrecht.«
»Willst du es ihr sagen?«
»Nein«, der ältere Mann schüttelte den Kopf. »Sie hat ein neues Leben angefangen und will nicht mehr viel mit uns zu tun haben. Ich bin die rühmliche Ausnahme, und das wahrscheinlich nur, weil ich der Patenonkel ihres Sohnes bin. Wenn alles gutgeht, und davon gehe ich aus, gibt es keinen Grund, sie zu beunruhigen.«
»Aber trotzdem würdest du sie gern im Auge behalten, oder?«
»Ja, eigentlich schon, aber wenn ich ständig bei ihr rumhänge, wird sie etwas merken.«
»Was ist mit mir?«
Heidrich sah hoch. »Was soll mit dir sein?«
»Mich kennt sie nicht. Ich könnte mich um die Sache kümmern.«
Heidrich sah ihn zweifelnd an. »Und wie willst du das anstellen?«
Frank zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht sollte ich mir in dem Ort, in dem sie lebt, eine Wohnung suchen.«
Max überlegte einen Moment. »Nein, vergiss es. Sie ist gut ausgebildet. Sie würde dich riechen, bevor sie dich sieht.« Er seufzte. »Vielleicht machen wir uns auch einfach zu viele Gedanken. Wahrscheinlich ist an der ganzen Sache nichts dran.« Hoffen wir es, dachte er.
Eigentlich war sie ja ganz okay. Für eine Mutter zumindest. Die Mütter seiner Freunde machten ständig Tamtam um Kleinigkeiten. Sie kontrollierten ihre Kinder und gingen ihnen mit Ermahnungen auf die Nerven. Seine Mutter war da ein bisschen anders, aber auch nur, weil sie ihm, wie sie immer sagte, vertrauen konnte. Solange er denken konnte, gab es nur eine Sache, mit der sie ihm ständig in den Ohren lag. Du kannst alles machen, meinetwegen auch die Schule in die Luft jagen, aber lüg mich nicht an. Und das tat er auch nicht. Er log sie nicht an, andererseits sprengte er auch keine Schulen in die Luft. Auswahl hätte er wahrlich genug gehabt. Im Laufe der vergangenen vierzehn Jahre, also sein ganzes bisheri- ges Leben, waren sie durch die Weltgeschichte gegondelt. USA, Frankreich, Großbritannien und zuletzt in der Türkei. Seine Mutter war Dolmetscherin für Englisch und Französisch, und auch wenn er nicht wusste, was sie dann eigentlich in der Türkei verloren hatten, hatte er nicht weiter nachgefragt. Zwar nervte es, ständig umziehen und sich an neue Menschen und Schulen gewöhnen zu müssen, aber er hatte sich damit abgefunden. Er konnte es kaum fassen, dass sie nun für immer hier, in ihrer Heimat, bleiben sollten. Das war auch so eine Sache. Überall, wo sie gelebt hatten, hatten sie schöne Häuser oder Wohnungen gehabt, und hier, wo sie, wie Mami sagte, den Rest ihres Lebens verbringen wollten, hatte sie sich diese Bruchbude ausgesucht. Er wagte kaum, die Treppe im Haus zu benutzen aus Angst, er würde durchbrechen und sich mit gebrochenem Kreuz im Keller wiederfinden. Er fragte sich, was sein Vater wohl zu dem Haus gesagt hätte. Alexander kannte ihn nicht. Er war bei einem Verkehrsunfall gestorben, noch bevor Alexander auf die Welt gekommen war. Zwar gab es Fotos von ihm, und Mami erzählte auch viel, aber trotzdem hatte er kein rechtes Bild von seinem Vater. Zumindest keines, das zu den Erzählungen und Fotos passte. Vielleicht war sein alter Herr ja ein bisschen verrückt gewesen. Denn das musste man sein, um mit seiner Mutter mithalten zu können. Er grinste. Eigentlich war sie ganz cool. Und sie sah auch noch richtig gut aus. Zugegeben, sie hatte nicht ganz die Figur, die sie selbst gerne hätte, aber sie war okay, zumindest musste man sich ihretwegen im Schwimmbad nicht schämen.
Er mochte ihre Haare. Lange dunkle Haare, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen. Vor ein paar Wochen hatte er die ersten grauen Haare an seiner Mutter entdeckt, und als er es beiläufig erwähnte (Du bist ja schon ganz schön grau!), war sie völlig entsetzt gewesen. Zwei Tage später waren die verräterischen Zeichen des Alters verschwunden. Und das, wo sie immer behauptete, nicht eitel zu sein.
Nun waren sie also hier gelandet. Er fragte sich, wie die neue Schule sein würde, aber das würde er frühestens in acht Wochen erfahren, denn in zwei Wochen begannen hier die Sommerferien, und Mami hatte entschieden, dass es keinen Sinn machte, wenn er jetzt schon hinginge. Wahrscheinlich brauchte sie nur seine Hilfe im Haus, dachte er grinsend.
Eine Nachbarin hatte er schon kennengelernt und für sich beschlossen, sie nicht zu mögen. Schön, dass hier wieder Kinder wohnen. Die Alte hatte sie doch nicht alle, er war doch kein Kind mehr. Es hätte nur gefehlt, dass sie ihm einen Lutscher in die Hand drückte und seine Haare verwuschelte. Aber dann wäre sie wahrscheinlich am Haargel kleben geblieben, das er heute großzügig auf seinen kurzen Stoppeln verteilt hatte. Na ja, er sah sich seufzend um. Hier waren sie nun mal, und wenn das Haus auch nicht gerade erdbebensicher aussah, so konnte es vielleicht, aber nur vielleicht, ganz schön werden.
Mal abwarten.
Er wusste nicht, ob er noch die Energie gehabt hätte, das alles aus eigener Kraft zu organisieren. Sicher, er hatte seinem Schwiegersohn geholfen, aber genau genommen hatte er nur dessen Anweisungen ausgeführt. Anweisungen, die er ihm über diesen Schlappschwanz Merthin hatte zukommen lassen.
Walter Kreissler hatte begonnen, sich alt und ausgelaugt zu fühlen, als seine Tochter Ina, sein einziges Kind und Frau von Christian Beyer, ums Leben gekommen war. Ums Leben gekommen? Das traf es nicht ganz. Er spürte, wie sein alter Hass wieder in ihm aufstieg. Sie wurde getötet, ermordet von diesem Staat, zu Tode gehetzt. Aber sie würden es büßen. Sein Schwiegersohn würde dafür sorgen, dass sie bezahlten. Er würde diesen Verrätern, diesen Terroristen in Berlin, diesen Bütteln der Amerikaner zeigen, dass sie noch nicht am Ende waren. Er selbst hatte vielleicht nicht mehr die Kraft seiner Jugend, aber er konnte seinem Schwiegersohn helfen, soweit er es vermochte.
»Herr Kreissler?« Der junge muskulöse Mann, der ihn ansprach, hatte Haltung angenommen.
»Ja, Jürgen?« Walter liebte es, gegenüber den Jungens, wie er sie insgeheim nannte, jovial und kumpelhaft aufzutreten, war er sich doch ihres Respekts sicher.
»Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie weit wir sind.«
»Sind die letzten Lieferungen eingetroffen?«
Jürgen nickte. »Ja. Die letzte Lieferung kam heute Morgen, wie angekündigt, und wir haben sie gut verstaut. Ich habe sie persönlich überprüft. Allererste Ware. Sie ist ihr Geld wert.« Jürgen war stolz darauf, der Leiter der Einsatzgruppe zu sein. Ihm war ein gerüttelt Maß an Verantwortung übertragen worden, und er hatte Kreissler bisher nicht enttäuscht. Der junge Mann wusste, worauf es ankam und dass man keine Schwäche zeigen durfte. Schon gar nicht dem Feind gegenüber. Soviel Walter wusste, war er bei der Bundeswehr gewesen, wo er als Einzelkämpfer ausgebildet worden war. Dort hatte man ihn allerdings »unehrenhaft«, wie es im Amtsdeutsch hieß, entlassen, weil er für seine Überzeugungen, für ein reines und aufrechtes Deutschland geradegestanden hatte. Ein Junge, aus dem noch einmal etwas werden würde. Er würde seinen Weg machen, da war sich Walter Kreissler sicher.
»Nun, dann zeigen Sie mal, was wir haben.« Mit auf dem Rücken verschränkten Armen ging er neben Jürgen her, der ihm den Weg in die kleine Halle, die hinter der Scheune stand, wies. Hier arbeiteten einige wenige Männer, handverlesen, das verstand sich von selbst, und verstauten Waffen in Kisten, die als Medikamentenlieferungen deklariert wurden. Alle waren sie dunkel gekleidet, mit Einsatzhosen und Kampfstiefeln. Sie hatten nur die besten ihrer Kämpfer genommen. Männer, die sich in ihren Ortsgruppen hervorgetan hatten, die gut ausgebildet waren und die keine Skrupel kannten. Keiner war hier älter als vierzig. Der jüngste war gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt.
»Beginnen wir mit den Maschinenpistolen. Wir haben zwanzig Micro-Uzis.«
Kreissler runzelte die Stirn. »Warum keine normalen Uzis?«
»Die normale Uzi-Maschinenpistole hat ein Gewicht von 3,5 Kilogramm. Die Micro-Uzi wiegt lediglich zwei Kilo. Außerdem hat sie eine theoretische Feuerkraft von 1700 Schuss pro Minute.«
»Aber ihre Schussweite beträgt nur hundert Meter.«
»Stimmt«, Jürgen nickte, »aber für unsere Zwecke reicht es. Für größere Entfernungen haben wir Sturmgewehre. Die guten alten AK 47 mit einem 30-Schuss-Magazin.« Jürgens Stimme klang fast zärtlich.
Kreissler nickte zustimmend. »Sehr gut. Und was ist mit den Faustfeuerwaffen?«
»Beretta. 9 mm. Typ 93 R. Das ist eine Reihenfeuerwaffe, sie kann einen Feuerstoß von drei Schuss abgeben. Sie hat ein Magazin mit zwanzig Schuss und einen längeren Lauf als die herkömmliche Beretta. Die Hälfte der Berettas haben wir mit Schalldämpfern ausgerüstet.«
»Was noch?«
»Eine Bazooka. Das müsste reichen. Wir sind auf alles vorbereitet.«
»Sie wissen, dass wir die erste Aktion improvisieren müssen?«
»Ja, aber auch hier versuchen wir das Risiko so gering wie möglich zu halten. Wir werden nicht von außen angreifen, das würde zu viel Aufsehen erregen. Außerdem sind wir so flexibler und müssen nicht ständig den Standort der Einsatzgruppe verlegen. Das würde womöglich die Aufmerksamkeit der Wachen auf uns ziehen.«
»Wie schnell sind wir einsatzbereit?« Kreissler fühlte sich wie in alten Zeiten. Nichts würde sie aufhalten können, und nachher wäre nichts mehr so wie zuvor. Sie würden den verräterischen Schweinen schon zeigen, dass sie ihnen nichts entgegenzusetzen hatten.
Jürgen antwortete, ohne lange nachzudenken. »Wir benötigen schätzungsweise fünfzehn Minuten nach dem Einsatzbefehl. Wir haben außerdem Einsatzübungen durchgeführt und alle Eventualitäten eingeplant. Sollten sich Komplikationen ergeben, so wird unsere kleine Kampftruppe vor Ort dafür sorgen, dass der Angriff aus dem Inneren nicht scheitert. Die ganze Aktion wird nicht länger als zwei bis drei Minuten dauern, und das ist die pessimistischste Einschätzung.« Jürgen hatte wieder Haltung angenommen und fixierte einen Fleck knapp über Kreisslers rechter Schulter.
»Ich bin sehr zufrieden, Jürgen. Weitermachen.«
Er drehte sich um und ging zurück in das kleine Büro. Er hatte noch einiges zu erledigen. Christian würde es ihm nie verzeihen, wenn er Spuren hinterließe.
Keine Unterlagen und keine Zeugen.
Die Arbeiten gingen gut voran, auch wenn das Haus jetzt schlimmer aussah als am Anfang. Aus den oberen Badezimmern, in denen die Handwerker mit dem Verlegen der Fliesen und Kacheln beschäftigt waren, dudelte Frank Sinatra von einer CD, und der Küchenbauer hörte einen Radiosender, der lautstark die neueste Popmusik präsentierte. Die Vordertreppe war endgültig kaputt und wurde provisorisch von einem als Rampe dienenden Brett ersetzt. Alle Fenster waren bereits erneuert, und auch die alten hölzernen Fensterläden waren gerichtet und frisch gestrichen worden.
Ann stemmte die Hände in die Hüften und sah sich zufrieden um. Wenn alles glattging, konnten sie in einer Woche einziehen. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, sammelte sie im Nacken und drehte einen festen Knoten, den sie mit einem Zopfgummi umwickelte. Die so entstandene Frisur war zwar alles andere als schick, aber sie war praktisch. Es war erstaunlich, wie viel Staub sich in den Haaren und den Klamotten festsetzte. Abends hatte sie immer das Gefühl, dass man sie wie einen Teppich ausklopfen könnte.
»Mami?« Die noch ziemlich hohe Stimme ihres Sohnes riss sie aus ihren Gedanken. Komisch. Kamen Jungen heutzutage nicht mehr in den Stimmbruch? Er hatte sich angeboten, im Keller Regale anzubringen, um beim Einzug die weniger wichtigen Dinge erst einmal im Keller verstauen zu können. Jetzt stand Alexander vor ihr. Das Gesicht wirkte gespenstisch unter dem weißen Bohrstaub.
»Ja?«
Er hatte die Bohrmaschine im Anschlag, als sei sie ein Revolver und er ein Cowboy aus dem Wilden Westen.
»Sorry, aber ich brauch den Bohrhammer. Da unten«, er nickte mit dem Kopf in Richtung Keller, »komme ich mit der Bohrmaschine nur einen Zentimeter weit rein.«
»Schon klar. Der Bohrhammer muss hier irgendwo sein. Warte mal«, Ann drehte sich um ihre eigene Achse und betrachtete das wachsende Chaos in ihrem künftigen Wohnzimmer. Hier lag alles durcheinander, was man für eine erfolgreiche Renovierung benötigte. Schraubendreher in jeder erdenklichen Form und Größe, verschiedene Hämmer, Schrauben, Nägel und …
»Hier ist er.« Sie bückte sich und zog an einem Kabel, dessen Stecker aus diesem wilden Haufen wie ein drohender Finger hervorstach. Sie drückte ihrem Sohn das gewünschte Werkzeug in die Hand, und der machte sich wieder auf den Weg in den Keller. Ann seufzte und wandte sich ihren Farbeimern zu. Sie mischte die Farbe für ihr Schlafzimmer. Ein warmes Sonnengelb, das dem Zimmer eine Atmosphäre von ewigem Sommer verleihen sollte.
»Juhu, hallihallo.«
Ann stöhnte auf. Sie hatte die letzten zehn Tage diese Stimme zwar nicht gerade hassen gelernt, aber Henrieke konnte einem wirklich auf die Nerven gehen. Sie erschien mindestens einmal am Tag und bot ihre Hilfe an. An und für sich eine reizende Geste, aber Ann vermutete mehr hinter diesem aufdringlichen Gebaren. Henrieke zufolge waren sie und ihr Mann auch erst kürzlich in diese Gegend gezogen, und sie beschwerte sich darüber, dass die Menschen hier im äußersten Norden Deutschlands eher dröge waren und sehr wortkarg. Sie bemängelte, dass die meisten der alteingesessenen Nachbarn kaum ein Wort mit ihr wechselten und dass es daher sehr schwer war, Bekanntschaften zu schließen. Ann fragte sich, ob die anderen Dorfbewohner Henrieke gerade wegen ihrer Art aus dem Weg gingen. Aber sie hatte einfach nicht die Nerven, Henrieke vor den Kopf zu stoßen. Noch nicht. Sie zwang sich zu einem Lächeln und richtete sich auf. Henrieke wartete wie üblich nicht, dass sie hereingebeten wurde, sondern stand ganz unvermittelt vor ihrer unfreiwilligen Gastgeberin.
»Oh, wie ich sehe, bist du schon wieder so fleißig. Ich wollte gerade einkaufen gehen, und da dachte ich …«
»Das ist sehr lieb von dir, Henrieke, aber wie brauchen wirklich nichts.« Henrieke hatte von vornherein festgelegt, dass man sich duzen solle. Schließlich seien sie alle im selben Alter, und man säße in dieser Nachbarschaft ja auch im selben Boot, nicht wahr?
»Habt ihr denn schon etwas gegessen?«
»Noch nicht. Wir wollten …«
»Dann kann ich euch doch etwas mitbringen.«
»… gleich essen gehen. Es …«
»Ich könnte euch auch etwas kochen?«
»… gibt hier eine sehr schöne Imbissbude, in der wir …«
»Ach, papperlapapp.« Henrieke wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg wie eine lästige Fliege. »Das ist doch nichts Richtiges.«
Ann lächelte gequält. Hoffentlich kam Alex nicht gerade jetzt aus dem Keller. Aber angesichts des kreischenden Bohrhammers war damit wohl nicht zu rechnen. Ann holte noch einmal tief Luft.
»Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen, aber sieh mal, wir sind so ein wenig unabhängiger und müssen auch nicht auf die schmutzigen Klamotten …«
»Ach, nun hab dich nicht so. Wir alle wissen, wie es ist, wenn man renoviert. Und es ist ja auch nicht so, dass ihr wie die Erdferkel ausseht. Also? Was ist?« Das strahlende Gesicht mit den roten Bäckchen wirkte auf Ann wie ein frisch geschrubbter Babypopo, und fast hatte sie ein schlechtes Gewissen, Henrieke schon wieder eine Absage zu erteilen.
»Sei mir nicht böse, aber ein andermal vielleicht, okay?«
»Kein Problem. Sag einfach Bescheid.« Es war nicht zu erkennen, ob Henrieke enttäuscht oder ihr böse war. Wenn ja, wusste sie ihre Gefühle meisterlich zu verbergen.
Kaum war Henrieke verschwunden, steckte Alex seinen Kopf um die Ecke.
»Wer war das denn?«
»Die personifizierte gute Laune in Gestalt der guten Fee.«
»Henrieke.« Er brummte. »Hab ich mich also doch nicht verhört.«
Fast zwei Wochen Knochenarbeit machten sich langsam bemerkbar. Jeder Muskel tat ihr weh, jeder Knochen schien zu protestieren. Aber, und das war das Größte, die Hose wurde im Bündchen ein bisschen weiter. Ann schmunzelte. Wozu sich in einem Fitnesscenter abstrampeln, wenn eine simple Renovierung denselben Effekt hatte?
Alex hatte sich trotz seiner Vorbehalte ganz schön ins Zeug gelegt. Er konnte nicht nur mit Hammer, Nagel und Bohrmaschine umgehen, er hatte auch einen guten Farbgeschmack bewiesen, als es um sein Zimmer ging. Sie konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als sie ihre Eltern mit der Bitte verschreckt hatte, ihre Zimmerwände schwarz lackieren zu dürfen. Es war ihre Hardrockzeit gewesen, und dazu gehörten einfach schwarze Wände. Dachte sie jedenfalls. Ihre Eltern sahen das ganz anders, und wenn es auch im Hause Hansen selten Verbote gegeben hatte, so war hier die Schmerzgrenze selbst bei ihrem Vater erreicht. Ein kurzes und knappes Nein hatte genügt, und Ann hatte gemerkt, dass eine Diskussion sinnlos war. Sie hielt den Mund und ließ ihre Wände so, wie sie waren. In zartem Apricot.
Ann musste lächeln. Sie fuhr sich mit der Bürste durch ihr langes, noch feuchtes dunkles Haar und stutzte einen Moment. Sie ging mit dem Gesicht näher an den Spiegel heran, um sich zu vergewissern, ob es nicht vielleicht ein Fleck auf dem Glas war. Aber egal, wie sehr sie am Spiegel rieb, das Bild veränderte sich nicht. Nun gut, also doch eine neue Falte. Aber was wollte sie eigentlich? Schließlich sah sie noch ziemlich gut aus. Als Alex sie letztens auf seine unverwechselbare Art darauf hingewiesen hatte, dass sie graue Haare bekäme, war ihr alledings ein kleiner Schreck in die Glieder gefahren. Den Schaden hatte sie dann umgehend beim Friseur beheben lassen, mit einer Falte hingegen sah das etwas anders aus. Sie seufzte. Was Michael wohl sagen würde?
Na, was glaubst du? Plötzlich hatte sie das Gefühl, er würde neben ihr stehen. Sie konnte sogar sein lächelndes Gesicht sehen.
Als du mich zuletzt gesehen hast, hatte ich noch keine Falten.
Bist du sicher?
Nun, ich muss aufpassen, unser Sohn ist sehr kritisch.
Michaels Lächeln wurde zärtlicher. Er ist ein toller Bursche. Er kann mit der Bohrmaschine besser umgehen, als ich es jemals konnte.
Kunststück, du wusstest ja nicht einmal, wie rum man so was hält. Das war die Retourkutsche, mein Lieber. Ich hatte mit dreißig noch keine Falten.
Er schien einen Moment nachzudenken. Dafür konnte ich eine Waffe schneller auseinandernehmen und wieder zusammensetzen als du. Sie ging geflissentlich über diese unqualifizierte Bemerkung hinweg.
Gefällt dir das Haus? Es ist so, wie wir es uns immer gewünscht haben. Aber ich glaube, Alex ist noch nicht so recht begeistert.
Er ist in der Pubertät. Warst du in dem Alter nicht auch gegen alles und jeden? Lass ihm Zeit.
Du fehlst mir.
Aber ich bin doch bei dir. Sein Gesicht verblasste mehr und mehr vor ihrem geistigen Auge. Und jetzt geh zu Bett und schlaf. Du hast morgen einen anstrengenden Tag vor dir.
Du hast recht. Dann war er verschwunden. Sie schloss einen Moment die Augen.
Ich liebe dich.
»Ist es so richtig, Mama?« Caroline sah kurz ihre Mutter an, bevor sie, die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben, mit dem Holzlöffel in dem immer flüssiger werdenden Kuchenteig weiterrührte.
Melanie Schlobohm musste lächeln. Caroline hatte im Kindergarten ein Backrezept gelernt, das sie unbedingt zu Hause mit ihrer Mutter ausprobieren wollte. Das kleine Gesicht der Fünfjährigen – Mama, ich bin fast sechs – war voller Mehlstaub, an dem alten Hemd ihres Vaters, als Schürze zweckentfremdet, klebte Teig.
»Du machst das ganz toll, Schätzchen. Jetzt warte, ich gebe ein wenig Mehl hinzu, und du rührst weiter. Einverstanden?«
Caroline konzentrierte sich so stark, dass sie nur nickte und, die Zungenspitze immer noch festgeklemmt, weiterrührte.
»Ob Papa den auch mag?«
»Ganz bestimmt.« Melanie dachte an ihren Mann, der den Kuchen auch essen würde, wenn Caroline Wasser mit Essig und Zucker mit Salz verwechselt hätte. Und zwischen zwei Bissen würde er seiner Tochter versichern, was für eine tolle kleine Bäckerin sie sei. Versonnen lächelte sie ihr kleines Mädchen an und strich ihr sanft über das seidige blonde Haar. Sie war fast vierzig Jahre alt gewesen, als es doch endlich mit einem Kind geklappt hatte. Sie hatten gar nicht mehr zu hoffen gewagt, aber plötzlich war dieses kleine Geschöpf Wirklichkeit geworden. Ein Gottesgeschenk, mein Kind. Melanies Mutter war dankbar gewesen, die Enkelin vor ihrem Tod noch einmal in den Arm nehmen zu können. Kurz darauf war sie für immer eingeschlafen, und Melanie hätte schwören können, dass das glückliche Lächeln auf ihrem Gesicht von dem Bewusstsein herrührte, ein Stück Unsterblichkeit weitergegeben zu haben.
»Mama, du träumst.« Carolines helle Stimme riss sie aus ihren Erinnerungen. Die Kleine sah sie mit ärgerlich gerunzelter Stirn an.
»Entschuldige bitte, ich war in Gedanken. Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt«, das kleine Mädchen betonte jedes Wort so, als spräche sie mit einer Schwachsinnigen, »du musst mehr Mehl dazugeben.« Sie warf ihrer Mutter einen strafenden Blick zu und schüttelte dann den Kopf. »Ts, ts.« Sie ahmte perfekt die Erzieherin aus ihrem Kindergarten nach. Melanie war selbst schon das Opfer einer solchen Ts-ts-Attacke dieser Frau geworden. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es außer strengen Gouvernanten in verstaubten Romanen tatsächlich Menschen gab, die das sagten.
Melanie beeilte sich, etwas Mehl zu dem Teig zu geben, und ihre Tochter war wieder besänftigt.
»Mama, was ist mit diesem Buck… Back…«, sie kratzte sich am Kopf auf der Suche nach dem vermaledeiten Wort. Dabei verschmierte sie großzügig Teig in ihrem Haar.
»Du meinst Backpulver.«
»Genau.«
»Ist schon drin. Das habe ich vorhin mit dem Mehl vermischt.«
»Oh, gut.« Die Zunge verschwand im Mund, dafür schob Caroline nun die Unterlippe vor und stülpte sie über die Oberlippe.
»So, fertig.« Sie verschränkte die Finger ineinander und drückte die Hände fest zusammen in dem Bemühen, die Teigreste von den Händen zu entfernen. Als das nicht klappte, klatschte sie in die Hände und ließ einen kleinen Regen von Mehlresten und Teigklümpchen in die Schüssel niedergehen. Melanie bemerkte, dass Caroline mit ihrer linken Hand immer besser zurechtkam. Sie entwickelte mehr Kraft, und die kleine Behinderung schränkte sie kaum noch ein. Zwar würde die Hand nie voll einsatzfähig sein, aber Caroline konnte sie gut bewegen, und nach ein oder zwei weiteren Operationen wäre der Fehler fast behoben.
»Soll ich die Backform einfetten?« Melanie kannte die Antwort schon, bevor sie fragte.
»Ist besser. Ich find das immer so eklig an den Fingern.« Urplötzlich verlor sie das Interesse am Kuchen. »Darf ich Sesamstraße sehen?« Und noch bevor Melanie nicken konnte, war Caroline im Wohnzimmer verschwunden.
Als Melanie später nach ihr sah, hatte sie sich auf dem Sessel zusammengerollt und war mit dem Daumen im Mund eingeschlafen.
Melanie betrachtete ihre Tochter eine Weile. Mutter hatte recht, dachte sie, sie ist ein Gottesgeschenk.
Und? Wat ham wir?« Eigentlich interessierte es den Fahrer nicht besonders. Er brachte die Fracht von A nach B, und damit hatte es sich. Es war ihm eigentlich egal, ob er Möbel oder Kühe transportierte, da er aber nun mal Justizvollzugsbeamter war, transportierte er eben Strafgefangene.
»Ey«, der Beifahrer pfiff durch die Zähne. »Is ja ’n echter Promi-Transport. Stell schon ma’ den Schampus kalt.«
»Wer isses denn?« Werner Schüttler hatte die meiste Zeit seines Lebens hinter dem Steuer verbracht. Eigentlich kannte er ganz Deutschland. Na ja, zumindest die Knäste. Kann schließlich nicht jeder von sich sagen. Er hatte nicht mehr lange bis zur Pensionierung, und eigentlich war das auch gut so, denn langsam wurde er zu alt für den Job und zu dick. Er hatte beinahe Schwierigkeiten, das große Lenkrad an seinem Bauch vorbei vernünftig zu lenken, aber was sollte man machen? Sollte er Hilde sagen, dass er nur noch Karnickelfutter wollte? Nee, das ginge wirklich zu weit, und das Bierchen schmeckte auch immer noch. Sein Partner Bernie, der war ein junger Spund. Mitte vierzig. Der war ziemlich fit. Lief Marathon oder so, aber in dem Alter war er selbst auch noch anders drauf gewesen.
»’s is der Christian Beyer.«
»Wer is ’n dat?«
»Na, der Terrorist der zu ’n paarmal lebenslang verknackt wurde. Weißte denn nich mehr? Hat bei der Verhandlung in so ’nem Käfig aus kugelsicherem Glas gesessen.«
»Ach?« Werner interessierte sich nicht für Terroristen. Das waren alles so Heinis, die in Israel und so rumballerten.
»Wir kriegen sogar zusätzliche Begleitung. Ey, Alter, Wahnsinn.« Bernie kriegte sich gar nicht wieder ein. Werner warf einen skeptischen Seitenblick auf den jungen Spund. Der würde auch noch ruhiger werden.
»Un wo hol’n wir den ab?«
»Hamburg-Fuhlsbüttel und dann ab nach Stuttgart-Stammheim. Boah, is ja der Hammer.«
»Nu is ma’ gut, Jung. Dann lass uns ma’.«
Werner startete den Bus und zuckelte langsam vom Hof. In Gedanken war er schon bei Hilde und bei der Frage, was es denn, wenn er nach Hause kam, zu essen gäbe.
Lieber Himmel, er würde drei Kreuze machen, wenn diese Geschichte endlich ausgestanden war. Johannes Merthin hatte die Nase gestrichen voll. Mörder und Vergewaltiger vor Gericht zu verteidigen war eine Sache, aber um das Maß seiner Publicity-Sucht vollzumachen, hatte er sich ja ausgerechnet an die Verteidigung eines Terroristen machen müssen. Als Terroristenanwalt wurde man in den Medien und der Öffentlichkeit förmlich zerrissen, aber als er merkte, dass das gewaltig an seiner Reputation kratzte, war es bereits zu spät gewesen. Alle Welt schien zu denken, dass man mit dieser Art von Mandant automatisch selber Bomben warf. Er konnte sich kaum noch retten vor Drohanrufen und Schmähbriefen, und wenn er gehofft hatte, dass die Klienten ihm weiterhin die Bude einrennen würden, so hatte er sich gewaltig getäuscht. Wer nimmt sich schon einen Anwalt, dessen Klient zu zweimal lebenslänglich verurteilt worden war? Dabei war es vollkommen unerheblich, dass die Schuldfrage geklärt war.
Wenn es nur das gewesen wäre, hätte er damit vielleicht leben können. Aber da war noch etwas anderes.
Die Angst.
Beyer jagte ihm Angst ein. Diese kalten Augen. Nein, nicht kalt, … tot.
Er hatte nicht mehr für Beyer tun können und ihm das auch gesagt, aber den hatte das nicht interessiert. Den hatte gar nichts interessiert. Vor ein paar Monaten bekam er die Mitteilung, dass der Terrorist vorhabe, aus der Haft zu fliehen. Merthin bekam Anweisungen, was er dazu beizutragen hatte, und er hatte weder die Kraft noch den Mut gehabt, sich dagegen zu wehren. Er hatte sogar das kleine Mädchen ausfindig machen müssen. Ständig hatte er sich überwacht und beobachtet gefühlt, und er versuchte vergeblich, diese Ahnung seinen überreizten Nerven zuzuschreiben. Er war sich sicher, dass da jemand war, der ihn kaum aus den Augen ließ. Merthin hatte Schlafstörungen und war nervös. Er hatte Angst vor Fehlern, denn wenn er Beyer eines glaubte, dann war es, dass der Mann keinen Fehler duldete.
Seine gottverdammte Eitelkeit hatte ihn dazu getrieben, dieses eiskalte Schwein zu verteidigen. Der Mann schwafelte von politischem Bewusstsein, von der Freiheit und von der Unterdrückung durch die Herrschenden, aber alles, was er damit kaschieren wollte, war die Lust, Menschen zu töten.
Egal, bald war es vorbei. Merthins Part war fast abgeschlossen, schon bald könnte er sich zurückziehen. Beyer wäre draußen, und er hätte seine Ruhe. Er seufzte schwer. Er hatte Mühe, sich auf sein Tagesgeschäft zu konzentrieren. Ihm war klar, dass die Polizei ihm nach Beyers Flucht die Türen einrennen würde, und auch die Medien würden ihn nicht zur Ruhe kommen lassen, aber irgendwann wäre hoffentlich alles vorbei. Der Alte, Kreissler, hatte es ihm zumindest versichert. Er müsste nur noch ein kleines bisschen durchhalten. Gerade zog er eine Akte zu sich heran, als das Piepen seines Handys eine SMS meldete. Er nahm das Telefon aus der Innentasche seines Jacketts und öffnete die Nachricht. Der Absender war unbekannt, doch Merthin wusste sofort, wer es war. Der Alte. Die Nachricht war kurz, aber unmissverständlich. Kontakt. Das war alles. Er müsste sein Büro verlassen und einen der wenigen öffentlichen Fernsprecher aufsuchen. Er hatte eine Telefonnummer. Wenn er sie wählte, wurde er aufgefordert, eine bestimmte Zahlenkombination einzugeben, und erst dann bekam er Anschluss. Er vermutete, dass es sich dabei um eine Anrufweiterleitung handelte, die man nicht zurückverfolgen konnte. Genauso wenig wie die Handys. Die Gruppe um Walter Kreissler wechselte wöchentlich die Handys. Außerdem hatten sie Prepaid-Karten. Für die Sicherheitsbehörden gab es keine Möglichkeit, den Besitzer eines solchen Gerätes zu identifizieren.
Merthin verlor keine Zeit und nahm sein Jackett, das er über die Stuhllehne gehängt hatte. Auf dem Weg nach draußen informierte er seine Sekretärin.
»Diana. Ich muss noch einmal weg.«
Die Angesprochene, eine junge und hübsche rothaarige Frau – wenigstens das gönnte er sich –, warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Sie wunderte sich nicht, dass ihr Chef ging, obwohl er gerade erst gekommen war. Sie kannte es nicht anders.
»Kommen Sie heute noch einmal wieder?«
»Keine Ahnung. Ich rufe an.«
Ein letztes Nicken, dann war er verschwunden.
»So, gleich ham wirs.« Werner Schüttler kannte den Weg zur Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel in Hamburg im Schlaf. Er hatte keine Ahnung, wie oft er schon hier gewesen war, und er kannte dort alle Kollegen. Mit einigen von ihnen traf er sich auch privat. Das war so eine Geschichte. Zu Anfang schwor man sich, dass man sich andere Freunde suchte. Freunde, die nichts mit dem Job zu tun hatten. Am besten Leute, die noch nie einen Knast von innen gesehen hatten, außer im Fernsehen. Aber das war gar nicht so einfach. Irgendwie stellte man schnell fest, dass man mit solchen Leuten kein gemeinsames Gesprächsthema fand. Und was kuckten die erst aus der Wäsche, wenn man plötzlich verletzt war? Als er anfing, war er noch sehr jung gewesen und auch schon mal ein bisschen hitzig, na ja, und da kam es schon mal zu ein paar Handgreiflichkeiten. Er tauchte dann bei einer Party, er wusste es noch, als sei es gestern gewesen, mit einem Veilchen auf. Es war eine Weihnachtsfeier gewesen, die der Chef seiner Frau, sie war damals Sekretärin, gab. Na, und als er so dastand mit diesem verfärbten und zugeschwollenen Auge, haben alle gedacht, er hätte sich im Suff geprügelt, dabei trank er höchstens mal ein Bier. In seinem Job konnte er sich nicht leisten, keinen klaren Kopf zu haben. Hilde hatte später erzählt, ihr Chef habe sie vorsichtig gefragt, ob ihr Mann denn auch ihr gegenüber gewalttätig sei. Sie habe das Ganze zwar richtigstellen können, aber es war ihm doch unangenehm gewesen. Da fühlte er sich schon wohler im Kollegenkreis, wo über solche Kinkerlitzchen höchstens mal gelacht wurde, wenn man sie überhaupt beachtete.
Er fuhr die Sengelmannstraße in Richtung Norden und wollte nach rechts in den Suhrenkamp einbiegen, als er die Bescherung sah. Hier war eine Baustelle, an der er so nicht vorbeikam.
»Verdammt.« Er konnte hier nicht wenden, dazu war es zu eng, und musste rückwärts zurück auf die Sengelmannstraße, aber da kam schon einer der Bauarbeiter mit seiner knallgelben Weste auf den Wagen zu.
»Ey, Meister«, rief der Typ und winkte.